«Arbeit am Mythos» Eine Scelsi-Zitatsammlung von Berno Odo Polzer

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«Arbeit am Mythos»
Eine Scelsi-Zitatsammlung von Berno Odo Polzer
Die Musik kann nicht ohne den Klang existieren, aber der Klang existiert sehr wohl ohne die Musik. Also scheint es,
dass der Klang wichtiger sei. Damit können wir beginnen.1
Habe ich Ihnen schon die Geschichte von der Laus erzählt? Es gibt jemanden, der das Bogenschießen erlernen möchte. Das ist eine Zen-Disziplin. Er geht also zu einem Meister und sagt zu ihm: «Meister, ich möchte das Bogenschießen erlernen.» – «Ja, das ist möglich. Aber zuerst müssen Sie lernen, das Herz einer Laus zu sehen.» – «Wie bitte?» –
«Das ist ganz einfach: Sie nehmen zwei Stöcke; Sie stellen sie in einer Entfernung von einem bis ein Meter fünfzig
voneinander auf.» – «Ja, das kann ich tun.» – «Danach nehmen Sie einen Bindfaden, den Sie an den beiden Stöcken
befestigen. Dann nehmen Sie eine Laus, es gibt hier viele davon, und setzen sie auf den Bindfaden. Die Laus wird
dann auf dem Bindfaden entlang marschieren, etwa so, bis zum Ende, dann kommt sie wieder nach vorn zurück, und
so weiter. Sie wird die ganze Zeit weitergehen, bis sie stirbt. Sie kann nicht darüber hinauskommen, sie kann nicht
fliegen.» – «Ja, das kann ich tun.» – «Danach legen Sie sich darunter, unter den Bindfaden. Sie betrachten die Laus,
die ununterbrochen wandert.» – «Wie lange, Meister?» – «Nun ja, lange, lange, bis Sie das Herz der Laus schlagen
sehen.»
Gut, der Mann sagt sich, dass er es versuchen wird. Er legt sich unter den Bindfaden. Er betrachtet die Laus, die
ununterbrochen auf und ab geht. Nun wissen Sie aber alle, dass, wenn man irgendeinen Gegenstand lange betrachtet, dieser wächst. Man sieht viele Details. Der Mann bleibt da, lange, sehr lange. (Chinesische Geschichten dauern
Jahre!) Dann, eines Tages, sieht er, wie die Laus wächst, größer wird, aber weiterhin auf und ab marschiert. Dann, an
einem anderen Tag, sieht er etwas, das schlägt, einfach so, in der Laus. Durch das lange Betrachten der Laus ist diese
sehr groß geworden, und er sieht etwas schlagen: das Herz der Laus.
Genau so hört man den Ton. Ich habe diese Erfahrung für mich selbst gemacht, ohne die Geschichte gelesen
zu haben. Es passierte, als ich krank war, mich in einer Klinik aufhielt. Es gibt dort immer kleine Klaviere, die in
der Klinik versteckt sind. Fast niemand rührt sie an. Also spielte ich ein wenig auf einem dieser Klaviere. C … C
… D … D … Währenddessen sagte einer der anderen: «Der da ist noch verrückter als wir!»
Wenn man einen Ton sehr lange spielt, wird er groß.
Er wird so groß, dass man viel mehr Harmonien hört, und er wird innerlich größer. Der Ton hüllt einen ein. […] Der
Ton erfüllt den Raum, in dem man ist, er umgibt einen, man schwimmt darin. Aber der Ton ist sowohl Schöpfer als
auch Vernichter. Er ist therapeutisch. Er kann einen heilen, aber auch zerstören. […] Wenn man in einen Ton eintritt, umgibt er einen. Man wird zu einem Teil dieses Tons. Nach und nach wird man von diesem Ton verschlungen
[…]2
Man kann den Ton als eine kosmische Kraft ansehen, die allem zugrunde liegt. Es gibt dafür die schöne Definition:
Der Ton ist die erste Bewegung des Unbeweglichen, und dies ist der Beginn der Schöpfung.3
Sie haben keine Vorstellung davon, was in einem einzigen Ton steckt! Es gibt sogar Kontrapunkte, wenn man so will,
Verschiebungen verschiedener Klangfarben. Es gibt sogar Ober­töne, die vollkommen verschiedene Effekte ergeben,
im Inneren, und die nicht nur aus dem Ton heraustreten, sondern ins Zentrum des Tons eindringen. Es gibt nach
innen und nach außen gerichtete Bewegungen in einem einzigen Ton. Wenn dieser Ton sehr groß geworden ist, wird
er zu einem Teil des Kosmos. So winzig klein er auch erscheinen mag, es ist alles darin enthalten.4
Außerdem ist der Ton kugelförmig, obwohl er beim Hören nur zwei Dimensionen zu haben scheint: Höhe und Dauer
– die dritte Dimension, die Tiefe, entgeht uns in gewisser Hinsicht immer, obwohl wir wissen, dass sie existiert. Die
Ober­töne und die Untertöne – Letztere hören wir weniger heraus – geben uns manchmal den Eindruck, dass der Ton
umfassender und komplexer zu bestimmen sei als nur durch Höhe und Dauer, aber es ist für uns schwierig, diese
Komplexität wahrzunehmen. Im Übrigen wüssten wir gar nicht, wie sie musikalisch zu notieren wäre. In der Malerei
erfand man die Perspektive, die den Eindruck von Tiefe erzeugt, aber in der Musik hat man es trotz all der Experimente mit der Stereo­phonie und anderen Versuchen aller Art bis heute nicht geschafft, den beiden Dimensionen
Dauer und Höhe zu entkommen und den Eindruck einer wirklich kugelförmigen Gestalt des Tons zu vermitteln.5
Die Musik wird heute zu einem angenehmen geistigen Zeit­vertreib: den einen Ton an den nächsten reihen, und so
weiter. Aber das ist überhaupt nicht nötig. Alles ist darin, bereits in diesem einen Ton ist der ganze Kosmos, der den
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Raum füllt. Alle möglichen Klänge sind bereits in ihm enthalten. Die Auffassung von Musik ist zurzeit belanglos, in
ihren Tonbeziehungen, in ihrer kontrapunktischen Arbeit. Die Musik wird zu einem Spiel.6
Ich würde sagen, dass die klassische westliche Musik – allgemein gesprochen – dem musikalischen Rahmen all ihre
Aufmerksamkeit gewidmet hat, dem, was man musikalische Form nennt. Sie hat vergessen, die Gesetze der Klangenergie zu studieren, die Musik als Ausdruck von Energie zu denken, als etwas Lebendiges, und so hat sie Tausende
von hübschen Rahmen produziert, die oft genug leer sind. Leer, weil sie lediglich das Resultat einer konstruierenden
Imagination waren, die sich von der schöpferischen Imagination sehr unterscheidet. Die Melodien selbst springen
von Ton zu Ton, die Intervalle aber sind leere Abgründe, weil den Noten die Klang-Energie fehlt. Der Zwischenraum
ist leer.7
Der Klang ist sphärisch, er ist rund. […] Alles, was sphärisch ist, hat ein Zentrum. Das lässt sich wissenschaftlich
beweisen. Nur wer in den Kern des Klangs vordringt, ist ein Musiker. Wem das nicht gelingt, der ist ein Handwerker.
Ein musikalischer Handwerker verdient Respekt. Aber er ist kein wahrer Musiker und auch kein wahrer Künstler.8
Künstlerische Schaffenskraft. Was ist das? Es ist die Fähigkeit, die Bewegung anzuhalten, einen Augenblick der Dauer zu kristallisieren, aus sich herauszureißen – und diesen Moment durch eine Anstrengung des ganzen Wesens in
eine verbale, klangliche oder plastische Materie zu übertragen.9
Kunst ist sehr einfach oder sie ist es nicht.10
Ich bin kein Komponist […] Komponieren heißt: Etwas mit etwas anderem zusammenfügen, componere, das tue ich
nicht.11
Ganz ehrlich, ich habe niemals etwas von irgendeiner Seite angenommen. […] ich bin nur ein Vermittler. Das ist eine
ganz andere Art, meine Musik zu sehen, zu hören und zu verstehen. Ich habe keine musikalische Ausbildung und
besitze keine Kenntnis von Dingen, die ich gelernt hätte oder die sich infolge von Studien oder irgendwelcher Interessen bei mir ausgebildet hätten. Es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Das hängt sehr stark von einem
selbst ab. Die Dinge erscheinen im richtigen Moment, nämlich dann, wenn es erforderlich ist, dass sie gehört werden
oder eben nicht.12
Ich bin Buddhist. Wenn niemand meine Musik spielen will, so soll man sie eben nicht spielen! […] Es ist sehr
schwierig, das verständlich zu machen, denn normalerweise will ein Komponist, dass seine Musik gespielt wird. Ich
will das nicht herbeizwingen. Wenn man mich spielt, umso besser. So ist die Musik. Wenn sie einmal gespielt worden
ist, reicht mir das vollkommen. Ich will nicht, dass man wiederholt, dass man noch eine andere Aufführung macht.
Es bleibt dabei, es bleibt dabei.13
Die Partituren werden übrig bleiben, leider. Sie werden aufgeführt werden, und meistens schlecht. Ich hätte das alles
wirklich nie schreiben sollen. Es hätte einfach dort, im Verborgenen, bleiben sollen. Sei’s drum. Ja, ich kann sie auch
zerstören. Aber es wäre schwierig, das Verlagshaus von Salabert abzubrennen. Jedem seine Wahrheit …14
Meine Musik ist nicht dies und nicht das. Sie ist nicht dodekaphon. Sie ist nicht pointillistisch. Sie ist nicht minimalistisch. Also: Was ist sie dann? Man weiß es nicht. Die Töne sind nur Kleider, Gewänder. Aber das, was in einem Kleidungsstück steckt, ist doch eigentlich viel interessanter, oder etwa nicht?15
Unser Leben ist auch eine Musik, mit ihren Harmonien, mit ihren Disharmonien, ihren verschiedenen Akzenten,
starken oder schwachen, mit Andante und Allegro, meditativen, rhythmischen und lebhaften Tempi, mit geplanten,
intuitiven und improvisierten Formen … auch das ist Musik, oder?16
Ich wurde im Jahre 2637 vor Christus geboren. Bilden Sie die Quersumme und Sie werden sehen, welche Zahl dabei
herauskommt. Das war in Mesopotamien. So war das. Ich war mit einer sehr hübschen Frau verheiratet, und wir sind
beide getötet worden. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, sie war ein paar Jahre jünger. Wir lebten in einem assyrischen Palast am Ufer des Euphrat. Es war dort sehr schön, ein warmer Ort und ein wundervoller Fluss. Es gibt ein
Porträt von mir, aus Stein, zwei Meter hoch, mit meinem Gesicht, vergraben im Sand. Ich könnte es vielleicht sogar
wieder finden, in der Nähe des Flusses. Vielleicht entdeckt man es eines Tages. Es gibt noch ein Foto von mir, aber
ich werde es zerstören, bevor ich sterbe. Ich will, dass nichts übrig bleibt. Die Statue im Sand wird bleiben. Die aber
kann ich nicht zerstören. Ich weiß nicht, in welchem Zustand sie zuletzt war, aber es gab diese Statue.17
Im Alter von dreieinhalb bis vier Jahren habe ich angefangen, auf dem Klavier zu improvisieren. Das ging so vor sich
(zu dieser Zeit waren Tonbandaufnahmen noch nicht möglich): Ich stürzte mich auf jedes vorhandene Klavier und
schlug drauf, sogar mit den Fäusten oder mit den Füßen. Aber niemand hat mir jemals gesagt: «Was machst du denn
da, du machst ja das Klavier kaputt. Hör doch auf!» Und die Leute kamen und waren viel zu perplex, um mich vom
Klavier wegzureißen. Der einzigen Person, die das jemals getan hat, einer Gouvernante, habe ich auf den Kopf, auf
den Schädel geschlagen, mit einem großen Stock. Sie musste ziemlich lange im Krankenhaus bleiben. Weil sie mich
vom Klavier weggezerrt hatte. Ich hatte einen fürchterlichen Schock. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tat. Ich
war in Trance, außer mir. Das wusste sie nicht.
Ich habe meine Kindheit in einem Schloss verbracht, auf einer Insel, die vor vier Jahren [1983], beim Erdbeben
von Erpigna [auf Sizilien], vernichtet worden ist. Nach tausend Jahren wurde alles zerstört, alles zerschlagen. Ich
habe dort bis zum Alter von zehn oder elf Jahren gelebt, mit einem Haus­lehrer, einem ganz jungen Priester. Er
brachte mir Latein, Fechten und Schach bei. Das war eine wirklich mittelalterliche Erziehung! Und dann gab es noch
die Gouvernanten …
Später wurde ich dazu gezwungen, Musik zu studieren. Man sagte zu mir: «Schließlich musst du veröffentlichen,
du hast doch Talent», und so weiter. Ich bin sogar in Wien gewesen, um die Zwölftontechnik zu studieren, bei
Walther Klein, einem der Schönberg-Schüler. Sogar das habe ich getan, und dann bin ich krank geworden. Natürlich,
das war die ganz normale Folge. Wenn jemand stundenlang am Klavier sitzen kann, ohne zu wissen, was er tut, und
doch etwas zustande bringt, dann heißt das, dass er von einer außergewöhnlichen Kraft beseelt wird, die ihn durchströmt. Aber wenn das blockiert wird, weil er an einen Kontrapunkt oder an eine Septimenauflösung oder an ähnlichen Quatsch denken muss, ist das sinnlos, so kommt man zu gar nichts. Das hat mich krank gemacht, vier Jahre
lang. Ich dachte zu viel nach. Seither habe ich nie wieder nachgedacht. Meine ganze Musik und meine Dichtung sind
fast gedankenlos entstanden.18
Es handelte sich um eine außerordentlich bekannte und luxuriöse Klinik. Ich kann ihren Namen nicht nennen, weil
ich dann für sie Propaganda machen würde, Schleichwerbung. Sie war in der Schweiz. Die besten Kliniken befinden
sich in der Schweiz. Aber es sind auch die, in denen am häufigsten gestorben wird. Denn die Menschen haben dort
keine anderen Ziele, keine anderen Möglichkeiten, als zu sterben. Also sterben sie, das ist bekannt. Wenn Sie in eine
Lausanner Klinik gehen, die Klinik Cecil heißt: Dort stirbt jeder, vor allem die Könige und Königinnen, die Ex-Könige
und Ex-Königinnen. […]
Man konnte in dieser Klinik enorm viele Dinge tun. Man konnte reiten, und es gab eine sehr schöne Orgel, sehr
schön. […] Es war eine ganz besondere Klinik … für die, die etwas mit sich machen ließen. Ich nicht, ich wollte
nicht. Man wollte mir Elektroschocks verpassen, Schlafbehandlungen, Insulinspritzen. Ich war eher abweisend, ich
ließ das nicht mit mir machen, draußen nicht, und auch nicht in den Kliniken. Sonst wäre ich schon längst tot. […]
Blanche Jouve, die Psychoanalytikerin war – die letzte Schülerin Sigmund Freuds, oder vielleicht die vorletzte19 –
sagte zu mir: «Man kann Sie nicht behandeln. Ihre Medizin ist es, andere zu heilen.» Vielleicht ist das wahr, jedenfalls werde ich es versuchen. Von Zeit zu Zeit habe ich schon mal jemandem helfen können. Sie können es glauben,
es ist wahr. Unter den 126 Ärzten, die ich aufgesucht habe, waren viele Psychiater. Deshalb bin ich auch noch halbverrückt, aber nicht mehr als vorher. Ein anderer sagte zu mir: «Wie soll man Sie denn behandeln? Sie sind doch nur
zur Hälfte geboren!» (Er hat da etwas sehr Intelligentes gesagt.) «Sie stecken noch halb im Bauch, im großen Bauch.
Das heißt, im Jenseits, aus dem Sie kommen.» Und ich denke, er hatte in gewissem Sinne Recht. Deshalb spielte ich
seit dem Alter von vier Jahren Klavier, und ich habe alles das getan, ohne nachzudenken. Alles fiel mir in den
Schoß. Ich habe nie gearbeitet, ich habe nie viel nachgedacht. Es gibt einen Kontakt, der bereits vorhanden war, als
ich geboren wurde. Was ich gemacht habe, als eine Persönlichkeit, die das Ergebnis vieler Faktoren ist, des Physischen, der Umwelt, der Erziehung, das macht die Persönlichkeit aus, aber im Allgemeinen hat es nichts zur Sache
beigetragen. Ich will nicht unhöflich sein, indem ich das sage. Ich bin hier, zur Hälfte, aber es ist schon meine Hälfte,
das reicht.20
Ich habe alles in Paris geliebt, die Clochards und Monsieur de Rothschild. Das sind extreme Gegensätze, nicht wahr?
Aber es sind meine extremen Gegensätze. […] Eines meiner anderen Extreme war die Geschichte mit meinem Zimmer in Paris. Ich schlief dort, sehr genüsslich, in einem Schrank. Ich hatte ein fürstliches Bett in einem vornehmen
Hotel, dessen Namen ich nicht preisgeben will. Dieses Bett hätte Sardanapal für seine Orgien mit seinen tausend
Frauen dienen können! Ein riesiges Bett! Aber ich schlief lieber in einem großen Schrank. Warum? Ich werde es
Ihnen nicht verraten. Ich habe es auch den Zimmermädchen nicht verraten, die mich bestürzt und sogar entsetzt
ansahen. Sie hatten schon alles Mögliche gesehen, diese Zimmermädchen, aber so etwas […] Ich schlief sieben
Nächte lang in diesem Schrank. Man erfuhr davon fast überall, denn ich erzählte diese Geschichte auch Freunden.
Ich war für die Uraufführung eines symphonischen Werks nach Paris gekommen. Die Kritiker sprachen zwar auch
über das Werk, aber vor allem über meine Art, in Paris zu leben … in Schränken! Bei dieser Gelegenheit schrieben
einige: «Herr Scelsi ist ein Mann der Extreme.»21
In Begleitung einer jungen Engländerin, die ich auf Capri kennen gelernt hatte, reiste ich nach Ägypten, um dort an
«digging parties» teilzunehmen. Eine Autostunde von Kairo entfernt hatte ein ganzer Haufen von Touristen die
Gewohnheit angenommen, in der Wüste Ausgrabungen zu machen. Jeder brachte seine Schaufel und ein Picknick
mit. Man grub im Sand, um dort kleine Krokodile, kleine Pharaonenköpfe und andere Dinge zu finden. Alle waren
sehr stolz und glaubten, große Entdecker oder Archäologen zu sein. Aber wenn man aufmerksam hinschaute, konnte
man manchmal auch die Aufschrift finden «Made in Germany»! Die Ägypter selbst vergruben diese Objekte im Sand,
damit die Touristen sie finden und dann stolzgeschwellt zurückkommen sollten, um gleich nebenan essen zu gehen.
Es war eine ganz schöne Farce, aber zu der Zeit war das eben Mode. […] Wie Sie sehen, bin ich ziemlich eklektisch.
Wenn man sich vorstellt, wie ich den Himalaya besteige und die Lamas besuche, stimmt das schon, aber ich habe
auch Tanzwettbewerbe gewonnen. Ich vertrat Italien mit einer englischen Partnerin.22
Ich habe etwas mehr als drei Monate in Indien verbracht, und zwar im Winter. Zu dieser Zeit interessierte ich mich
vor allem für Transzendenz, für die Wege zum Transzendentalen.23
Ich fühle mich näher an den orientalischen Philosophien, die gegen Gewalt, gegen Manifestationen des irdischen
Lebens auf der praktischen Ebene sind. Ich ziehe es vor, auf anderen Ebenen zu denken und zu leben, soweit das
möglich ist.24
Der Planet ist voll von Schwingungen, guten und schlechten. Und alles schwingt. Unsere Worte, unsere Stimmen
bleiben da, im «Verborgenen». Das «Verborgene» ist ein Wort, das [Rudolf] Steiner gebraucht. Alles bleibt da. In der
Tat kann man auch sehen, was vor tausend Jahren oder vor zweitausend Jahren passiert ist, weil es dort geblieben
ist. Ich habe diese Steiner’sche Intuition gehabt. Das heißt zum Beispiel, sich mit der Kraft zu identifizieren, die in
einer Blume wächst, in der Natur. Das ist eine dieser Steiner’schen Meditationen: zur Kraft zu werden, die die Natur
wachsen lässt. Ich übe das oft mit meiner Palme, die dort drüben steht, gegenüber von meinem Haus. Wenn man
meditiert und sich in einem Zustand der Selbstaufhebung befindet, dann geht es einem wie der Ton: Man wird größer. Wie diese Palme: Sie kommt immer näher heran, und an einem bestimmten Punkt vereinigt man sich. Dann
nimmt man die Kraft der Palme, die sehr stark ist, in sich auf. Diese Übung müsste man übrigens mit vielen Dingen
durchführen; nicht nur mit einer Palme, sondern auch mit Bildern.
Die lkonographie der Heiligen oder der großen Geister oder alles das, was durch einen Buddha oder einen Krishna
oder anderes dargestellt wird, hat in Wirklichkeit vor allem diesen Vorteil, dass man sich damit identifizieren kann.
So kann man die Tugenden dessen, was dargestellt wird, in sich aufnehmen: eines Heiligen, eines Jesus, eines Buddhas, der inneren Heiterkeit. Es reicht, auf diese Art meditieren zu können. Das ist der Grund, warum man diese Bilder hat, hier liegt ihr Vorteil. Die Buddhisten können es anders machen, indem sie die Leere praktizieren, aber das ist
auch nicht einfach. Um zu beginnen, kann man den Strom, den Durchzug der Gedanken anhalten; dann, wenn die
Ruhe da ist, die nicht etwa die Leere ist (die Leere ist etwas anderes), kann man weiter und weiter voranschreiten.
Aber es gibt auch Techniken, um dort hinzukommen. Wenn man einmal an einem bestimmten Punkt angelangt ist,
dann gibt es keine Technik mehr.25
Die Musik ist auch ein Weg dahin, ein Weg zur Erkenntnis, vorausgesetzt, man versteht sie auf eine gewisse Weise.
Es gibt viele Wege. Es gibt die christliche Mystik, die hinduistische Mystik, die chinesische Mystik. Jede Form von
Mystik ist ein Weg zur Transzendenz. Es gibt die Gnosis, es gibt den Zen. Es gibt eine ganze Anzahl von Wegen zur
Erkenntnis, darunter auch die Kunst, vorausgesetzt, dass man sie in diesem Sinne versteht, und nicht als einen Beruf
oder eine Möglichkeit, berühmt zu werden, oder ein Mittel, Geld zu verdienen, oder sonst irgendetwas.
Die Kunst ist ein sehr wichtiger Weg. Unter all diesen Wegen ist die Musik vielleicht der am leichtesten zugängliche. Man kann auch malen, ohne zu sehen, was man malt. […] In der Musik kann man auch singen, ohne zu wissen, was man singt, und sogar spielen, ohne zu wissen, was man spielt. Ein Zustand der Inspiration, um dieses alte
Wort zu verwenden, der nichts anderes nötig hat.26
Sie haben vielleicht noch keine sehr klare Vorstellung von meinen eigenen Ideen [Lachen]. Vielleicht sind sie ganz
und gar persönlich; vielleicht wahr, vielleicht falsch; aber es sind jedenfalls meine eigenen. 27
* Die vorliegende Zitatsammlung ist erstmals im Booklet zur Scelsi-CD 0012162KAI des Labels Kairos erschienen und wurde für den Wien Modern-Katalog
deutlich erweitert.
Anmerkungen
1 Klang und Musik (1953/54). Auszüge aus einem Gespräch unter Freunden. In: Programmbuch Giacinto Scelsi, im Auftrag der Philharmonie Hamburg
heraus­gegeben von Susanne Litzel und Corinna Hesse, Hamburg 1992 [Scelsi 1992],
S. 15f.
2 «Ich bin kein Komponist». Giacinto Scelsi 1987 im Gespräch mit Franck Mallet, Marie-Cécile Mazzoni und Marc Texier. In: MusikTexte 81/82, Köln 1999,
S. 64–70. Übersetzung aus dem Französischen von Annette Theis. [Scelsi 1999],
S. 68f.
3 Scelsi 1992, S. 16.
4 Scelsi 1999, S. 68.
5 Scelsi 1992, S. 15f.
6 Scelsi 1999, S. 69.
7 Scelsi 1992, S. 16.
8 Scelsi 1999, S. 64.
9 Giacinto Scelsi in einem Gespräch 1953/54 (Art et connaissance). In: Scelsi 1992, S. 20.
10 Giacinto Scelsi auf die von Jean-Noël von der Weidt gestellte Frage «Wie arbeiten Sie?». In: Scelsi 1999, S. 71.
11 Scelsi 1999, S. 70.
12 Scelsi 1999, S. 66.
13 Scelsi 1999, S. 70.
14 Scelsi 1999, S. 66.
15 Scelsi 1999, S. 64.
16 Giacinto Scelsi in einem Text ohne Titel in der Zeitschrift i suoni, le onde… 1, Rom 1990, S. 22. Zitiert nach: Giacinto Scelsi: Im Innern des Tons. Symposionsbericht des Musikfestes Hamburg 1992, im Auftrag der Philharmonie Hamburg herausgegeben von Klaus Angermann, Hofheim 1993, S. 74.
17 Scelsi 1999, S. 66.
18 Scelsi 1999, S. 64.
19 Scelsi 1999, S. 65.
20 Scelsi 1999, S. 67f.
21 Scelsi 1999, S. 65.
22 Scelsi 1999, S. 67.
23 Scelsi 1999, S. 65.
24 Scelsi 1999, S. 70.
25 Scelsi 1999, S. 68.
26 Scelsi 1999, S. 65f.
27 Scelsi 1999, S. 70.
«Arbeit am Mythos». Eine Scelsi-Zitatsammlung von Berno Odo Polzer, in: Katalog Wien
Modern 2005, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2005,
S. 47-50.
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