Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 2 Op. 10 in fis

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Yakov Borodetsky
Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 2
Op. 10 in fis-Moll, mit Sopranstimme
Künstlerische Masterarbeit
Institut 15: Alte Musik und Aufführungspraxis
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Betreuerin: Ao. Univ. Prof. Mag. phil. Dr. phil. Ingeborg Harer
März 2015
1
Abstract
Arnold Schönberg Streichquartett Nr. 2 Op. 10 in fis-Moll mit Sopranstimme (1908)
Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 2 Op. 10 in fis-Moll (1908) ist ein Schlüsselwerk
der künstlerischen Entwicklung des Komponisten, aber auch ein Wendepunkt in der
Musikgeschichte.
Schönberg durchlebte in der Entstehungszeit des Quartetts eine schwere persönliche
Krise in seiner Ehe und veränderte sowohl seinen Lebensstil als auch seinen
Kompositionsstil. Erstmals verband er in einem Streichquartett Instrumental-,
Vokalmusik und Poesie. Gleichzeitig machte er den entscheidenden Schritt von der
Tonalität zur atonalen Musik. Seine Freundschaft mit dem Maler Kandinsky mag diesen
Weg auch beeinflusst haben. Bei der Uraufführung war das Publikum zunächst irritiert,
schien jedoch schließlich im letzten Satz von der Tiefe der Gedankenwelt, die in dem
Werk zum Ausdruck kommt, berührt zu sein und den für die Musikgeschichte
epochalen Wandel zumindest zu erahnen.
Arnold Schoenberg's String Quartet No.2 in F sharp minor, Op. 10 with Soprano
(1908)
Arnold Schoenberg's String Quartet No.2 in F sharp minor, Op. 10 (1908) is not only a
key work in the composer's development, but also a turning point in music history.
Schoenberg was confronted with a marital crisis during the composition of this piece,
which lead to a change in lifestyle and composition style. For the first time, he
combined instrumental music, vocal music, and poetry. At the same time, he took the
decisive step and moved away from tonal music to atonal music, which may have been
influenced by his friendship with the painter Kandinsky. The audience received this
work´s first performance with irritation, but was however finally moved by the last
movement´s depth of contemplation and thus displayed at least some sense of the
epoch-making musical change in music history.
2
Inhalt
Vorwort
4
Entstehung
5
Form
Tonalität
Widmung
Krise
Schönheit und Wahrhaftigkeit
9
Schönberg und Kandinsky
10
Streichquartett Nr. 2 Op. 10 in fis-Moll
11
I. Satz
II. Satz
III. Satz
IV. Satz
Zusammenfassung und Rezeption
19
Literaturliste
20
3
Vorwort
Meine erste Begegnung mit diesem Streichquartett von Arnold Schönberg liegt einige
Jahre zurück. Ich besuchte die Schiele-Ausstellung im Leopold-Museum in Wien. In
einem der Ausstellungsräume lagen auf einem Sofa Bücher mit Gedichten von Egon
Schiele. Dazu wurde empfohlen, nicht nur die Gedichte zu lesen, sondern über bereit
liegende Kopfhörer Musik zu hören, und das war Schönbergs Streichquartett Nr. 2.
Mich faszinierte sofort die Kombination von Streichquartett und Gesang, eine Form, die
ich vorher nie gehört hatte.
Die Begeisterung für dieses Werk von Schönberg hat mich auch dazu veranlasst, es für
die heutige Präsentation auszuwählen.
4
Entstehung
Das Streichquartett Nr.2 Op.10 mit Sopranstimme (1907/1908) ist ein Meilenstein im
Schaffen von Arnold Schönberg. Es ist aber auch ein bedeutendes Werk für die
Entwicklung der Musik der Moderne. Es beschreibt nämlich einen Weg von tonalem zu
atonalem Komponieren über die einzelnen Sätze hinweg, und durch die Sopranstimme
werden die Gattungsgrenzen klar überschritten. Außerdem hatte Schönberg noch
niemals vorher die Gedichte von Stefan George als Kompositionsgrundlage verwendet.1
Die Emanzipation der Dissonanz geht auf Kosten der Konsonanz und bewirkt eine
Lösung von der Tonalität. Erstmals dokumentiert finden wir Opus 10 im 3. Skizzenbuch
Schönbergs in einem Eintrag am 9. März 1907 in Wien. Der 2. und 3. Satz und
vermutlich auch der 4. Satz wurden im Juli 1908 in Gmunden am Traunsee
abgeschlossen.2
Dieses Streichquartett ist wohl Schönbergs vielfältigstes Werk. So klar unterschiedliche
Sätze finden wir in keinem anderen seiner Werke. Die Tatsache, dass es als
Instrumentalwerk beginnt und als Vokalwerk aufhört, ist einzigartig. Die Sätze sind
sowohl mit als auch ohne Vorzeichen und stellen absurde Volkslieder neben todernste
Gedichte.
Arnold Schönberg hat nicht von Anfang an diese Werkform konzipiert. Es begann als
ein übliches Streichquartett und erst im Laufe der Zeit (Sommer 1908) kam ihm die
Idee, eine Singstimme einzufügen.3
Form
Das Streichquartett Nr. 1 in d-moll op. 7 und die Kammersymphonie op. 9 komponierte
Schönberg noch einsätzig, mit dem Quartett Nr. 2 wandte er sich wieder der
Mehrsätzigkeit zu. Im 3. und 4. Satz werden die Gedichte „Litanei“ und „Entrückung“
von Stefan George vertont. Sie stammen aus der Gedichtsammlung „Der siebente Ring“
aus dem Jahr 1907.
1
Vgl. Gerold Gruber, Arnold Schönberg „Interpretationen seiner Werke“, Laaber 2002, S. 124.
Vgl. Therese Muxender, Arnold Schönberg Streichquartett Nr. 2, Universal Edition Wien 2012, S. VII.
3
Vgl. Ethan Haimo, Schönberg’s Transformation of Musical Language, Cambridge 2006, S. 211.
2
5
In diesem Werk sind auch Merkmale eines Sonatenzyklus erkennbar:
Der erste Satz ist in Sonatenform und im üblichen mäßig schnellen Tempo eines
Eröffnungssatzes. Der zweite Satz ist ein Scherzo mit Trio, im tänzerischen Charakter.
Der dritte Satz ist der obligatorische langsame Satz, ein Thema mit Variationen. Der
vierte Satz passt nur schwer in das Schema des Finalsatzes in einem Sonatenzyklus. Er
ist zwar in Sonatenform geschrieben, aber viel langsamer als das übliche Rondo-Finale,
sodass er als bewusster Kontrapunkt gesehen werden kann.4
Schönberg macht dazu folgende Anmerkung:
„Das zweite Streichquartett in fis-Moll, op. 10, wurde zum Teil 1907 komponiert und 1908 vollendet. In
diesem Werk nahm ich Abschied von der einsätzigen Form. Es war eines der ersten Anzeichen dafür,
dass das Zeitalter der groß angelegten Formen, das Beethoven eingeleitet hatte – cis-moll-Quartett -,
vorüberging und dass ein neues Zeitalter nach eher kürzeren Formen hinsichtlich Umfang. Inhalt und
auch Ausdruck trachtete. Die Zyklusform war in den vier Sätzen von op. 10 zurückgekehrt.“ 5
Tonalität
Die musikgeschichtliche Bedeutung dieses Werks liegt ganz klar beim Übergang zum
atonalen Komponieren. Davor hatte die Tonalität die gleichsam sprachlichen Regeln des
Komponierens festgelegt und damit auch das Verständnis für das Werk und seinen Sinn
gesichert. Jetzt zählt die Beziehung der Einzelklänge zueinander, fern vom
herkömmlichen Terzenaufbau. Dies hat zweierlei zur Folge: Der Komponist ist
unglaublich frei in der Gestaltung, er hat aber auch keinerlei Sicherheit mehr, ob die
Zuhörer sein Werk auch verstehen werden.
Der Übergang zur Atonalität ist gleichzeitig die Ausdrucksform des Werkes. So steht
der erste Satz noch recht deutlich in fis-Moll und ist ebenso wie der zweite in d-Moll
mit den entsprechenden Vorzeichen versehen. Auch im 3. Satz sehen wir noch die am
es-moll Thema orientierten Bezeichnungen. Der vierte Satz ist aber fast vollständig
4
Vgl. Gruber, Arnold Schönberg „Interpretationen seiner Werke“, S. 126.
Arnold Schönberg, Bemerkungen zu den vier Streichquartetten, 1949, zitiert nach: Ivan Vojtech, Arnold
Schönberg, Stil und Gedanke, Aufsätze zur Musik, Frankfurt am Main, 1976, S. 424.
5
6
atonal, und hier entfallen auch die Vorzeichen. Nur am Schluss kehrt der fis-DurAkkord noch einmal zurück ,wie eine Abrundung des Ganzen.6
Widmung
Der Musikwissenschaftler Gerold Gruber zitiert in seinem Buch „Arnold SchönbergInterpretationen seiner Werke“:
„As is well known, Schönberg dedicated his Second Quartett o his wife, Mathilde. The composition of the
work coincided with a particularly painful point in their marriage, just after the end of Mathilde’s affair
with the painter Richard Gertsl (who commited suicide). Schonberg‘s apparent vacillation over the
ordering of the last two movements may well reflect his own emotional conflict over the Gerstl affair.
From an initial pessimistic despair, from an „Entrückung – „Litanei“ ordering, he moved toward a more
optimistic, life-affirming (really art-affirming) position, signified in part by the ordering „Litanei“ –
„Entrückung“.“7
Im Leben Arnold Schönbergs gab es in der Zeit um 1908 große innere Umwälzungen,
die in ihm einen künstlerischen Schaffensdrang auslösten. Seine damalige Frau
Mathilde, der er das Streichquartett Nr. 2 gewidmet hat, hatte ein Verhältnis mit dem
Maler Richard Gerstl. So komponierte er in den Jahren 1907 und 1908 sehr viel, um
seinem Unglück Ausdruck zu verleihen. So wie Mathilde mit ihm gebrochen hatte,
brach er jetzt mit der Tradition des letzten Jahrhunderts. Seine Anfänge des atonalen
Komponierens und die Missachtung der Grundtonhierarchien bedeuten einen wichtigen
Schritt für die Kompositionsgeschichte jener Zeit.8
Man muss die zeitliche Position Schönbergs atonaler Kompositionen kennen, um sie
vollends zu verstehen. Er erlebte nämlich eine Phase des Umbruchs vom Sinnlichen
zum Geistigen. In der Einleitung seiner „Harmonielehre“ schreibt er darüber an
Kandinsky und erläutert ihm seine Entwicklung vom Materialismus über den
Anarchismus zum Spiritualismus.9
6
Vgl. Gruber, Arnold Schönberg „Interpretationen seiner Werke“, S. 128.
Walter Fritsch, The early works of Arnold Schoenberg 1893-1908, Berkeley 1993, S. 258-272.
8
Vgl. Gruber, Arnold Schönberg „Interpretationen seiner Werke“, S. 130.
9
Vgl. Konrad Boehmer (Hg), Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 111.
7
7
Krise
Die Kreation eines neuen Egos in Jahren der Krise
Langsam aber sicher musste sich Arnold .Schönberg seiner Einsamkeit bewusst werden.
Im Februar 1907 wurde die Uraufführung seiner Kammersinfonie op. 9 zu einem
Skandal. Sowohl im Konzertleben als auch im privaten Leben wurde er in dieser Zeit
tief verletzt. Den Sommer 1907 verbrachte er mit dem Komponisten Alexander
Zemlinsky und dem Maler Richard Gerstl in Gmunden am Traunsee. Gerstl gab ihm
und Mathilde Malunterricht. Aus dem Unterricht mit Mathilde wurde allerdings eine
sehr viel engere Beziehung.
Das schlimmste Jahr in Schönbergs Leben war bestimmt 1908. Mathilde war nun mit
Gerstl zusammen, entschloss sich aber wegen der beiden Kinder, die sie mit Schönberg
hatte, wieder zu ihm zurückzukommen. Schönberg hatte mittlerweile mehrere
Testamente geschrieben, aus denen klar hervorgeht, wie schlecht er sich damals fühlte,
sodass er sogar an Selbstmord dachte. Er rettete sich jedoch aus dieser Depression,
indem er ein neues Selbst kreierte. Er zog eine klare Trennungslinie zwischen Körper
und Seele, Privatperson und Künstler, dem alten und dem neuen Ich, um schließlich den
Künstler als den wahren Schönberg zu bestimmen. Der Künstler kennt nicht Verletzung
oder Betrug und kennt auch Mathilde nicht.
Die unbewussten Elemente des künstlerischen Schaffensprozesses wurden von da an
immer wichtiger für Arnold Schönberg. Plötzlich hob er das Unbewusste über das
Bewusste, was seine bisherige Theorie stark in Frage stellte. Sein Prinzip der
Subjektivität, die Eigenständigkeit und Selbstherrschaft, die ihm bis dahin so wichtig
gewesen waren, wurden ungültig.10
10
Vgl. Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 111.
8
Schönheit und Wahrhaftigkeit
„Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.“11
Immanuel Kant
Schönberg sagte einmal, dass die Musik nicht schmücken, sondern wahr sein soll, was
als Grundlage seines gesamten Oeuvres und seiner Gedanken über Theorie gelten kann.
Der moralisierende Unterton dieser Einstellung ist nicht zu verleugnen, ganz klar geht
es um das Schreiben „wahrer“ Musik, anstatt der Kreation von etwas „Schönem“. Und
diese Wahrheit hat keinen Platz für Schmuck, denn dieser wird als unnützes Beiwerk
betrachtet. Schönbergs Art des Komponierens hat keinen Platz für Überfluss.12
Der expressionistische Schönberg sagt über die Schönheit: „ Der Künstler hat sie nicht
nötig. Ihm genügt die Wahrhaftigkeit. Ihm genügt es, sich ausgedrückt zu haben.“
Dieses Verdikt muss mit der historischen Entwicklung betrachtet werden. Künstler des
19. Jahrhunderts wollen immer mehr weg von formalen Zwängen, die sich aus
Traditionen und Schulen ergeben. Sie suchen unabhängige, freie Zonen, in denen die
reine Aussage des Subjekts mit nichts Anderem vermischt wird. Viele Entwicklungen
im Umgang mit musikalischen Parametern lassen sich so erklären. Am Ende steht sogar
der Versuch, vom Subjekt selbst abzulassen, um sich auf ein persönliches Zentrum zu
konzentrieren.13
„Once the gate to understanding is open, an emotional impression will not fail to appear“ (Arnold
Schönberg) 14
11
Zitiert nach: Benedikt Stegemann Arnold Schönbergs musikalische Gedanken, Analysen zu ihrer
klanglichen und tonalen Struktur, Frankfurt am Main 2003.
12
Vgl. Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An historic Encounter“, Niederlande 1997, S. 184.
13
Vgl. Stegemann, Arnold Schönbergs musikalische Gedanken, Frankfurt am Main 2003, S. 188.
14
Zitiert nach: Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 9.
9
Schönberg und Kandinsky
„Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie“ 15 (Kandinsky 1911)
Am 18. Jänner 1911 schrieb Wassily Kandinsky zum ersten Mal an Arnold Schönberg.
Anlass für seinen Brief war ein Konzert, das Kandinsky am 2. Jänner besucht hatte. Auf
dem Programm standen die Streichquartette in D-Dur, Op.7, in fis-Moll, Op. 10, 5
Lieder Op. 2 und 6, sowie die Klavierstücke Op. 11. In diesem Brief schreibt
Kandinsky:
„In your works, you have realized what I, albeit in uncertain form, have so greatly longed for in music.
The independent progress through their own destinies, the independent life of the individual voices in
your compositions, is exactly what I am trying to find in my paintings. At the moment there is a great
tendency in painting to discover the „new“ harmony by constructive means, whereby the rhythmic is built
on an almost geometric form. My own instinct and striving can support these tendencies only half-way.
Construction is what has been so woefully lacking in the painting of recent times, and it is good that it is
now being sought. But I think differently about the type of costruction. I am certain that our won modern
harmony is not to be found in the „geometric“ way, but rather in the anti-geometric, anti-logical way. And
this way is that of dissonances in art, in painting, therefore just as much in music. And „today’s“
dissonance in painting and music is merely the consonance of „tomorrow“.“16
Es ist verständlich, dass Schönberg eine große Inspiration für Kandinsky war, aber auch
umgekehrt.
So schreibt Kandinsky: „Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die
musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die
„Zukunfstmusik“.17
Und Schönberg schreibt an Kandinsky: „But art belongs to the unconscious! One must express oneself!
Express oneself directly! Not one’s taste or one’s upbringing, or one’s intelligence, knowledge or skill.
Not all these acquired characteristics, but that which is inborn, instinctive.“18
15
Zitiert nach: Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 9.
Zitiert nach: Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 9.
17
Zitiert nach: Boehmer Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 126.
18
Zitiert nach: Boehmer Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 69.
16
10
Streichquartett Nr. 2 Op. 10 in fis-Moll
1. Satz Mäßig (moderato)
2. Satz
Sehr rasch
3. Satz „Litanei“ (Stefan George) Langsam
4. Satz „Entrückung“ (Stefan George) Sehr langsam
I. Satz
Schönberg schreibt hier auf eine Weise, die es ihm erlaubt, schon im Kopfsatz des
fis-moll-Quartetts op.10 alle stimmführungstechnischen Neuheiten gelten zu lassen.
Dadurch, dass Akkorddissonanzen erlaubt sind, können Vorhalte unaufgelöst stehen
bleiben, er muss Alternationen nicht mehr über den Leitton einbetten und es macht
ihn überhaupt sehr frei in der Motivik. Die Tonalität wird Schritt für Schritt von
einer anderen Art des Tonalen durchflochten. Jeder einzelne Ton bekommt nun
mehr Autorität, tritt mit und ohne Akkordbindung in Erscheinung und hat in jeder
Situation eine Bedeutung. Die Tonalität ist nicht beständig, vielmehr bestimmt der
ständige Wechsel der Zentren ihr Wesen. Nur an einzelnen Stellen bleibt es für
längere Zeit unverändert. Somit ähnelt dieser Wechsel dem Puls, der normalerweise
auch eine klassische Harmoniefolge zeitlich ordnet. Harmonische
Durchführungsarbeit ist dann aber nur noch durch Tonartenschichtung möglich.19
II. Satz
Man braucht nicht sehr viel über den zweiten Satz zu sagen, aber eines muss
behandelt werden: Die Frage nach dem Sinn des Zitats des Liedes „O du lieber
Augustin“. Wie aus dem Nichts taucht dieses Wiener Volkslied plötzlich im
fertiggestellten zweiten Satz auf. Natürlich ranken sich viele Theorien um diese
Stelle. Eine der berühmtesten ist jene, dass sie ein „selbstbezogener Kommentar
über die Desintegration der musikalischen Sprache“ sei.
19
Vgl. Heinrich Helge Hattesen „Emanzipation durch Aneignung“, Kassel 1990, S. 328.
11
Das Volkslied „O du lieber Augustin“ erzählt von der Misere eines
Dudelsackspielers, der nach einer durchzechten Nacht in seiner Stammkneipe auf
der Straße das Bewusstsein verliert. Das wäre ja alles nicht weiter schlimm, hätte
sich dieser Vorfall nicht zur Zeit der Pest in Wien ereignet. So aber kam es, dass
sein Körper zusammen mit den Leichen der Pestopfer von den Stadtbeamten
eingesammelt und zu den Massengräbern getragen wurde. All sein Besitz wurde von
ihm genommen und in eine Grube geworfen, aber er wachte gerade noch auf, bevor
man ihn selbst auch noch lebendig begraben hätte. „Alles ist hin“ bezieht sich also
auf den Verlust seines Hab und Guts.
Zwei Teile formen das thematische Material des Scherzo in d-moll. Eine
Segmentabteilung aus dem ersten Satz ruft dessen Hauptthema in Erinnerung und
im Trio spielt die zweite Violine die berühmte Melodie aus „O du lieber
Augustin“.20
O du lieber Augustin
O du lieber Augustin, Augustin, Augustin,
O du lieber Augustin, alles ist hin.
Geld ist weg, Mensch (Mäd´l) ist weg,
Alles hin, Augustin.
O du lieber Augustin,
Alles ist hin.
Rock ist weg, Stock ist weg,
Augustin liegt im Dreck,
O du lieber Augustin,
Alles ist hin.
Und selbst das reiche Wien,
Hin ist's wie Augustin;
Weint mit mir im gleichen Sinn,
Alles ist hin!
Jeder Tag war ein Fest,
20
Vgl. Ethan Haimo Schönberg’s Transformation of Musical Language Cambridge 2006, S. 229.
12
Und was jetzt? Pest, die Pest!
Nur ein groß' Leichenfest,
Das ist der Rest.
Augustin, Augustin,
Leg' nur ins Grab dich hin!
O du lieber Augustin,
Alles ist hin!
III. Satz
Schönberg war nie ein besonders religiöser Mensch. Die Liebe der Menschen
bedeutete ihm sehr viel mehr. Doch in den Jahren seiner größten Krise, 1907 und
1908, änderte sich diese Einstellung. Bezeichnend in dieser Phase des Umbruchs ist
die Verwendung der Gedichte „Litanei“ und „Entrückung“ aus dem Gedichtband
„Der siebente Ring“ von Stefan George in seinem zweiten Streichquartett.21
Litanei
Tief ist die Trauer
Die mich umdürstet,
Ein tret ich wieder
Herr! In dein Haus - -
Lang war die Reise,
Matt sind die Glieder,
Leer sind die Schreine,
Voll nur die Qual.
Durstende Zunge
Darbt nach dem Weine.
21
Vgl. Boehmer Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, Amsterdam 1997, S. 112.
13
Hart war gestritten,
Starr ist mein Arm.
Gönne die Ruhe
Schwankenden Schritten,
Hungrigen Gaume
Bröckle dein Brot!
Schwach ist mein Atem
Rufend dem Träume,
Hohl sind die Hände,
Fiebernd der Mund - -
Leih deine Kühle,
Lösche die Brände,
Tilge das Hoffen,
Sende das Licht!
Stefan George
IV. Satz
„Ich fühle Luft von anderem Planeten…“
In der Partitur der Universal-Edition wird der 4. Satz so beschrieben:
„Der vierte Satz, „Entrückung“, beginnt mit einer Einleitung, die die Abreise von der Erde zu einem
anderen Planeten beschreibt. Der visionäre Dichter berichtet hier von Erscheinungen, die vielleicht
bald bestätigt werden. In dieser Einleitung wurde versucht, die Befreiung von der Gravitation
darzustellen – das Passieren durch die Wolken in zunehmend dünnere Luft, das Vergessen aller
Sorgen des Erdenlebens“.22
22
Therese Muxender, Arnold Schönberg Streichquartett Nr. 2, Universal Edition Wien 2012, S. IX.
14
Der vierte Satz ist sehr viel länger als die anderen drei Sätze dieses Quartetts. Mit
nahezu doppelter Dauer widerspricht Schönberg seinem eigenen Streben nach
kleiner Form, das er als ein kompositorisches Merkmal dieser Phase ansah. Die
Länge dieses Satzes ist also ganz einfach durch die Länge des Textes bedingt,
Georges Gedicht hat acht Strophen zu je drei Zeilen und Schönberg wollte alles
vertonen. Die Instrumentalstimmen fallen aber keineswegs knapper aus.
Das Finale des Streichquartetts wird dem gewagten Verkündigungscharakter des
Textes gerecht, indem in der Sonatenform große thematische Ideen dem Text
nachempfunden werden. Damit lässt Schönberg erahnen, dass er Hoffnung hat auf
Befreiung aus der persönlichen Bedrängnis, sowohl als Subjekt als auch als
Komponist. Er ging unbeirrt seinen neuen Weg.
Diese zukunftsweisenden Gedanken erkennt man auch in jenen Versen, die
Schönberg als die wichtigsten des Gedichts bezeichnete. Sie stellen das Ich ins
Zentrum und wurden auch dementsprechend subjektbezogen vertont: „Ich fühle Luft
von anderem Planeten“, „Ich löse mich in Tönen“ , „ich bin ein Funke nur vom
heiligen Feuer / ich bin ein Dröhnen nur der heiligen Stimme“. Das Ich steht in
jedem Vers am Anfang und ist immer tief in transzendente, überirdische Phänomene
verwickelt. Die Musik dazu ist hymnisch und gleichmäßig, von syllabisch
deklamativem Charakter.
Von Anfang an macht sich die Musik im Finale von all dem frei, was Musik jemals
Halt gegeben hat, sei es tonal, rhythmisch, thematisch oder periodisch, aber auch
praktisch wird für das Komponieren selbst keine zwanghafte Richtung vorgegeben.
Carl Dahlhaus bezeichnete diesen Satz als „Ursprungskunde“ der Neuen Musik. Im
allrelationalen Raum der Atonalität ist jeder Akkord frei von Ursache und Wirkung,
es gibt kein Oben und Unten und nichts ist weit, eher scheint alles nah.23
Wenn jemand protestiert, dann ist das meistens eine Ausnahme. Auch Schönberg
komponiert hier Protest und Ausnahme, man nehme die Einführung der Singstimme
zum Beispiel. Beim Umgang mit der Tonalität legt er sich nicht ganz fest, hält ihre
Aufgabe offen. Wenn er am Satzende von Moll in Dur aufhellt ist das die
Bestätigung seiner Frage und nicht der Sieg der Tradition.
23
Vgl. Hattesen Emanzipation durch Aneignung, S. 391.
15
Dadurch dass Schönberg Unendlichkeit mit Ewigkeit verglich, brauchte er auch in
seiner Musik Elemente der Ewigkeit. Im Finalsatz des zweiten Streichquartetts ist
ihm das gelungen, indem er durch die Auflösung der tonalen und rhythmischen
Schranken der Musik einen unendlichen Raum verlieh. 24
Entrückung
Ich fühle Luft von anderem Planeten.
Mir blassen durch das Dunkel die Gesichter
Die freundlich eben noch sich zu mir drehten.
Und Bäum und Wege die ich liebte fahlen
Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter
Geliebter Schatten – Rufer meiner Qualen –
Bist nun erloschen ganz in tiefern Gluten
Um nach dem Taumel streitenden Getobes
Mit einem frommen Schauer anzumuten.
Ich löse mich in Tönen, kreisend, webend,
Ungründigen Danks und unbenamten Lobes
Dem grossen Atem wunschlos mich ergebend.
Mich überfahrt ein ungestümtes Wehen
Im Rausch der Weihe wo inbrünstige Schreie
In Staub geworfen Beterinnen flehen:
Dann seh ich duftige Nebel lüpfen
In einer sonnerfüllten klaren Freie
Die nur umfängt auf fernsten Bergesschlüpfen.
24
Boehmer, Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“, S. 133.
16
Der Boden schüttert weiss und weich wie Molke - Ich steige über Schluchten ungeheuer,
Ich fühle wie ich über letzter Wolke
In einem Meer kristallnen Glanzes schwimme –
Ich bin ein Funke nur vom heiligen Feuer
Ich bin ein Dröhnen nur der heiligen Stimme
Stefan George
17
Zusammenfassung und Rezeption
„2 Faces of Schönberg“
Das Pendeln zwischen Alt und Neu, die zwei Gesichter Schönbergs, lassen sich
folgendermaßen beschreiben:
„Dieses Werk – das letzte der Alten, das erste der neuen Musik – kann in gewissem Sinne als der
„geometrische“ Ort Schönberg’s bezeichnet werden. Alle formalen, strukturellen, tonalen Probleme des
Augenblicks sind darin zum Teil in neuartiger Weise gelöst.“25
Und in der Tat hat das fis-moll-Quartett Op. 10 eine große historische Bedeutung, weil
es durch seine spezielle Stellung zwischen den Strömungen auf dem Weg zur Atonalität
in höchstem Maße einzigartig ist. Es ist unwiederholbar und gleichzeitig unvergänglich,
weil es durch seine historische Individualität über sich selbst hinausweist.
Man kann sich diesem Werk auf zwei Arten nähern: entweder aus traditioneller Sicht,
oder mit den Augen der Avantgarde. Beide Wege führen zu einem Ziel, aber nur wer
beide Wege geht, wird die wahre Seele des Werks erkennen. Denn es lebt genau von
dieser Dualität, davon, dass es „nicht mehr“ und „noch nicht“ zugleich ist, was die
Beschäftigung mit ihm äußerst attraktiv und herausfordernd macht. 26
Die Wiener Uraufführung des Zweiten Streichquartetts am 21. Dezember 1908 mit dem
Rose-Quartett und Marie Gutheil-Schoder (Bösendorfersaal) beschwor einen der
legendären Schönberg-Konzertskandale herauf. Der Erwartungshorizont, der am Beginn
des 20. Jahrhunderts als Maßstab an ein Werk für Streichquartett gelegt wurde, war
sowohl mit Schönbergs radikalem Verständnis eines zeitgemäßen Tonsatzes als auch
seiner Engführung des Klangapparats mit einem Liedsatz inkompatibel.
25
Hattesen Emanzipation durch Aneignung, Kassel 1990, S. 421.
26
Vgl. Hattesen Emanzipation durch Aneignung, Kassel 1990, S. 423.
18
Fast 30 Jahre nach der Uraufführung erinnert Arnold Schönberg in seinem „Vorwort zu
den Aufnahmen der Vier Streichquartette“ an den Wandel, der sich an jenem Abend im
Publikum während der Aufführung vollzog:
„Erstaunlicherweise gab es im ersten Satz keinerlei Reaktionen, weder dafür noch dagegen. Nach den
ersten Takten des zweiten Satzes jedoch begann ein größerer Teil des Publikums zu lachen und hörte
nicht auf, die Aufführung des dritten Satzes, „Litanei“, und des vierten Satzes, „Entrückung“, zu stören.
Am Ende des vierten Satzes jedoch geschah etwas Erstaunliches. Nach dem Ende des Gesangsteils
kommt eine lange Coda für Streichquartett allein. Indes, wie erwähnt, das Publikum keine Anstalten
machte, eine Sängerin zu akzeptieren, wurde die Coda wiederum ohne hörbare Störung aufgenommen.
Vielleicht haben sogar meine Feinde und Widersacher hier schließlich etwas gefühlt.“ 27
27
Zitiert nach: Muxender, Arnold Schönberg Streichquartett Nr. 2, Universal Edition Wien 2012, S. 3.
19
Literaturliste
Arnold Schönberg, Bemerkungen zu den vier Streichquartetten, Dezember 1949. In:
Ivan Vojtech, Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, Aufsätze zur Musik, Frankfurt am
Main 1976, S. 424.
Arnold Schönberg, Streichquartett Nr. 2 Universal Edition Wien 2012.
Konrad Boehmer (Hg), Schönberg and Kandinsky „An Historic Encounter“,
Amsterdam 1997.
Walter Fritsch, The early works of Arnold Schoenberg 1893-1908, Berkeley 1993.
Gerold W. Gruber, Arnold Schönberg „Interpretationen seiner Werke“, Band 1, Laaber
2002.
Ethan Haimo, Schönberg’s Transformation of Musical Language, Cambridge 2006.
Heinrich Helge Hattesen, Emanzipation durch Aneignung Untersuchungen zu den
frühen Streichquartetten Arnold Schönbergs, Kassel 1990.
Therese Muxender, Vorwort zu der Partitur des Arnold Schönberg Streichquartetts Nr.
2, Universal Edition Wien 2012.
Benedikt Stegemann, Arnold Schönbergs musikalische Gedanken, Analysen zu ihrer
klanglichen und tonalen Struktur, Frankfurt am Main 2003.
Ivan Vojtech, Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, Aufsätze zur Musik, Frankfurt am
Main 1976.
20
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