PROF. DR. JEAN GREISCH VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT An den Ausgang meiner Überlegungen stelle ich einen Satz aus der Papstenzyklika Fides et ratio, den Professor Anja Middelbeck-Varwick schon am vorigen Montag zitiert hatte: „Um sich in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes zu befinden, muss die Philosophie vor allem ihre Weisheitsdimension wiederentdecken, die in der Suche nach dem letzten und umfassenden Sinn des Lebens besteht.“ (Fr 81). In diesem Satz werden zwei Forderungen oder Erwartungen gegenüber der Philosophie erhoben, und es wird eine These formuliert, von der es keineswegs sicher ist, dass alle heutigen Philosophen sich in ihr wiedererkennen. Noch weniger sicher ist, ob die Philosophie imstande ist, die beiden Forderungen und Erwartungen zu erfüllen. 1. Erste Forderung: Von der Philosophie erwartet der Redaktor des ersten Kapitels der Enzyklika, in dem die persönliche Handschrift der Philosophen Karol Wojtyla ziemlich deutlich erkennbar ist, dass sie mit dem „Wort Gottes“ übereinstimmt. Rückfragen: Worin besteht diese „Übereinstimmung“, sofern es sie überhaupt gibt? Wie kann sie zustande kommen, angenommen, es gäbe sie noch nicht? Ist die Philosophie nicht eine „Weltweisheit“, die das „Wort Gottes“, anders gesagt, der logos staurou, als eine Torheit verwirft? 2. Zweite Forderung: Wiederentdeckung der „Weisheitsdimension“ der Philosophie. Rückfragen: Worin besteht diese „Weisheitsdimension“? Wann und warum wurde sie verschüttet oder preisgegeben? Unter welchen Bedingungen kann sie wiederentdeckt werden? 3. These: „Weisheit“ hat etwas mit der „Suche nach dem letzten und umfassenden Sinn des Lebens“ zu tun. Rückfragen: Was hat die Philosophie mit der „Sinnfrage“ und der Suche nach Sinn zu tun? Ist der Philosoph der einzige Sinnsucher? Welche Rolle kann man der Kategorie des Sinns innerhalb der Kategorien zuweisen, mit denen der Philosoph arbeitet? In seiner Einleitungsvorlesung in die Phänomenologie der Religion behauptet Heidegger: „Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Fasst man dieses Problem radikal, so findet man, dass die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt. Und dann springt sie in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst zurück.“1 Offenbar haben wir es hier mit einem Zirkel zu tun, wobei das Problem nicht darin besteht, wie man ihm entkommen kann, sondern wir man in ihn hineingelangen kann. Mein heutiger Vortrag ist eigentlich nichts anderes, als ein Versuch, diese Zirkelstruktur nachzuzeichnen. Es ist ein Zirkel, der mit der „Weisheit“ beginnt und zu einer anderen Weisheit hinführt. 1 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt, Klostermann, 2011, Gesamtausgabe Bd. 60, S.8. 2 RINGVORLESUNG 23.01.12 Dazu werde ich in einem ersten Schritt einige Verbindungslinien zwischen der Weisheitsliteratur und der Philosophie aufweisen. In einem zweiten Schritt möchte ich im Rückgriff auf Heidegger und Levinas den Anspruch erläutern der im Namen „Philosophie“ enthalten ist. Im dritten Schritt werfe ich einen Blick über den Tellerrand der Philosophie hinaus, um zu verstehen, wie sich das „verheißene Land“ der „Weisheit“ ausnimmt, wenn wir es ähnlich wie der sterbende Mose auf dem Berg Nebo von ferne betrachten, ohne gewiss zu sein, dass wir es jemals betreten werden.2 Zum Schluss skizziere ich dann noch kurz eine Theorie der „letzten Worte“. I. Von der Weisheit zur Philosophie: die weisheitlichen Quellen der Philosophie und der philosophische Baum des Wissens „Es war einmal“: Mit dieser Formel beginnen viele Märchen der Grimm’schen Sammlung. Die traditionellen Erzähler auf der Insel Mallorca beendeten ihre Märchen mit der Formel: „Aixo era y non era“: „So wars und so wars nicht“. „Es war einmal“ („Es gab einmal“) die „Weisheit“ und zwar überall auf der Welt und in den unterschiedlichsten Formen. Vor einigen Jahrzehnten stattete eine Touristengruppe der Pfarrei Saint-Germain-des Prés in Paris in der Stadt Douala im Kamerun einem der dort ansässigen traditionellen Weisen einen Besuch ab. Von allen Seiten mit allen möglichen Fragen bestürmt, versank der Weise, der ein hochgeschätzter Ratgeber vieler Einwohner der Stadt ist, in ein abgründiges Schweigen. Die immer zudringlicher werdenden Fragen des jungen Touristenführers, was die traditionelle Weisheit überhaupt zur Lösung der Probleme beitragen kann, welche die gesellschaftlichen Umwälzungen in Afrika nach sich ziehen, beantwortete er schließlich mit einer schlichten Gegenfrage: „Kann denn eine Zeit überhaupt mehr Zeit als eine andere Zeit sein?“. Daraufhin versank er in endgültiges Schweigen. Dass eine solche Antwort keiner wissenschaftlichen Theorie die Stirn bieten kann, versteht sich von selbst. Soll man sie daher für null und nichtig erklären? Nicht unbedingt, wenn wir bedenken, dass sie ein versteckter Hinweis auf die unaufhebbare Endlichkeit des menschlichen Daseins ist. Der Weise aus Douala schreibt sich in meinem Geist in die lange Galerie der „alten Weisen“ ein, deren Idealbild Laozi im 15. Kapitel des Tao Te King nachzeichnet: 2 „Der Verfasser sieht das unendlich offene Land, das ‚Gelobte Land’ der wahren Philosophie ausgebreitet vor sich, das er selbst nicht mehr als schon durchkultiviertes erleben wird. Mag man diese Zuversicht belächeln, aber man sehe selbst zu, ob sie nicht einigen Grund hat, in den Bruchstücken, die hier als anfangende Phänomenologie vorgelegt sind. Gerne möchte er hoffen, dass die Nachkommenden diese Anfänge aufnehmen, stetig weiterführen, aber auch ihre grossen Unvollkommenheiten bessern werden. Unvollkommenheiten, die bei wisenschaftlichen Anfängen ja nicht zu vermeiden sind.“ (Edmund Husserl, „Nachwort zu meinen Ideen I“ (1930), Hua V, S.161f.) VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 3 Die alten Weisen waren im Tao bewandert weise und tiefsinnig verborgen und unerkannt nicht zu ergründen nur zu beschreiben: Ihre Haltung war behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter vorsichtig, wie bei drohender Gefahr zurückhaltend, wie willkommene Gäste nachgebend, wie schmelzendes Eis einfach, wie rohes Holz offen, wie ein weites Tal anspruchslos, wie trübes Wasser Wer wie ein trübes Wasser sein kann kann in Stille zur Klarheit gelangen Wer in Bewegung behutsam ist kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen Wer dem Weg folgt sucht nicht den Überfluss Weil er nicht den Überfluss sucht bleibt er unvollendet weder alt noch neu.“3 „Der Ethnologe“, sagte Marcel Mauss, ist „der Astronom der menschlichen Sternkreiszeichen“. Ist das Sternkreiszeichen, das frühere Geschlechter mit dem schönen Namen „Weisheit“ bezeichneten, noch am „gestirnten Himmel über uns“ sichtbar, oder handelt es sich um einen längst erloschenen Stern, eine verglühte Supernova, von der nur Staub und Asche übrig sind? Spätestens seit der Aufklärung neigt eine mündig gewordene, selbstbewusste und selbstsichere Vernunft, die stolz auf ihre Leistungen ist, die aber auch seit Kant ein kritisches Bewusstsein ihrer Grenzen entwickelt hat, dazu, die Weisheit als eine Art Kinderstube der Vernunft zu betrachten, über die wir längst hinausgewachsen sind. Wenn es uns dennoch vorkommt, irgendwann einmal einen Weisheitstext zu lesen, stellen wir uns vermutlich ähnliche Fragen wie diejenigen, die wir uns stellen, wenn wir auf eine Photographie des Kindes stoßen, das wir einstmals gewesen sind: Kann ich mich noch in diesem fremden Kindergesicht, das mich hier anblickt, wiedererkennen, oder ist dieses einstmalige „Ich“ nicht schon längst „ein Anderer“ geworden? 3 Laozi, Tao Te King, Kap. 16, übersetzt von Bodo Kirchner. 4 RINGVORLESUNG 23.01.12 Dass wir uns die Frage in dieser Form stellen, ist ein Zeichen dafür, dass wir Kinder unserer Zeit sind, eines Zeitalters, in dem die Vernunft nur dann vernünftig ist, wenn sie vom geschichtlichen Bewusstsein getragen ist. Zugleich sind wir Erben der Aufklärung, die uns mit dem Gesetz des Selberdenkens konfrontiert das es uns verbietet, uns nur vom Gängelband der Tradition führen oder verführen zu lassen.4 Niemand kann voraussagen, welche neue Sternbilder der Vernunft in Zukunft am Nachthimmel des Geistes aufblitzen werden. Gerade deshalb lohnt sich ein Rückblick in die Vergangenheit, auf das Sternbild „Weisheit“. „Um bei sich selbst anfangen zu können“, schreibt Paul Ricoeur in einem frühen Aufsatz über das Verhältnis von Philosophie und Prophetie, „muss die Philosophie vermutlich Voraussetzungen haben, die sie in Frage stellt und kritisch in ihren Ausgangspunkt integriert. Wer anfangs über keine Quellen verfügt, der wird am Ende auch keine Autonomie haben.“5 Dieser Satz lässt sich auch auf das Verhältnis von Weisheit und Philosophie anwenden. Der Philosoph versteht sich selbst nur, wenn er sich Gedanken über die weisheitlichen Quellen des Denkens macht, denn der Bezug auf die „Weisheit“ ist schon im Namen dieser Wissenschaft festgeschrieben. Der philosophische Grundakt betont Ricœur, ist nur dann radikal wenn es ihm gelingt, auch das Nicht- oder das Vorphilosophische in sich aufzunehmen. Die hermeneutische Fähigkeit, sich als Philosoph auch mit nichtphilosophischen Texten zu befassen, ist „radikaler“, d.h. wurzelhafter, als der falsche Radikalismus derjenigen, die keine anderen Wurzeln oder Quellen anerkennen, als die, die sie sich selbst gegeben haben! Eine Philosophie, die beansprucht „eine Erste Philosophie in der Begründungsordnung zu sein“, folgert Ricœur, „kann das nur sein, wenn sie hinsichtlich ihrer Quellen, ihres existentiellen Nährbodens, und hinsichtlich ihrer Ursprünglichkeit eine zweite Philosophie ist.“6 Dazu gehört auch die Rückbesinnung auf die weisheitlichen Quellen und Wurzeln des Philosophierens, also eine Besinnung über die Quellen, die den Baum des Wissens am Leben erhalten und über das Licht nach dem er sich ausstreckt. Ohne Anspruch auf irgendwelche Vollständigkeit möchte ich zunächst einige Verbindungslinien von der Weisheit zur Philosophie aufzeigen. 4 „Fehlte (…) den philosophischen Entwürfen der Tradition ein Empfinden für den Ernst des Anfangs, so fehlte das Erste und Wichtigste: der ursprünglich selbsttätig erworbene und eigentümlich philosophische Boden und somit diejenige Bodenständigkeit oder Wurzelechtheit, die wirkliche Philosophie allein ermöglicht.“ (Edmund Husserl, Nacnwort zu meinen Ideen, Hua V, S.161). 5 Paul Ricoeur, Lectures 3. Aux frontières de la philosophie, Paris, Ed. du Seuil, 1994, S.154. 6 Ebd., S.172. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 5 a) Die Weisheit ruft auf den Straßen: Weisheit und Öffentlichkeit Ich beginne mit einer negativen Vorentscheidung, die nicht ganz unproblematisch ist: Die vorphilosophische Weisheit um die es sich hier handelt ist kein esoterisches Geheimwissen, zu dem nur wenige „Eingeweihte“ Zugang hätten. Damit soll nicht bestritten werden, dass ein solches Geheimwissen eine gewisse Rolle in der griechischen Philosophie gespielt haben mag. Ein besonders interessantes, aber schwer zu analysierendes Beispiel hierfür sind die der Orphik entlehnten Motive in Platons Denken, etwa im Phaidon. Der mainstream der vorphilosophischen Weisheit ist aber keineswegs esoterisch orientiert, wie unter anderem die biblische Weisheitsliteratur beweist. Im ersten Kapitel des Buchs der Sprüche im Alten Testament stellt sich die Weisheit (hebräisch: Hokmah), mit folgenden Worten vor: „Die Weisheit ruft laut auf der Straße und lässt ihre Stimme hören auf den Plätzen. Sie ruft im lautesten Getümmel, am Eingang der Tore, sie redet ihre Worte in der Stadt: Wielange wollt ihr Unverständigen unverständig sein und ihr Spötter Lust zu Spötterei haben und ihr Toren die Erkenntnis hassen? Kehrt euch zu meiner Zurechtweisung! Siehe, ich will über euch strömen lassen meinen Geist und euch meine Worte kundtun.“7. Wenn sie laut auf der Straße ruft und ihre Stimmen auf den Plätzen hören lässt wo Menschen ihren Alltagsgeschäften nachgehen, dann bedeutet das, dass sie mindestens einen Wesenszug mit der Philosophie gemeinsam hat: den Bezug auf die „Öffentlichkeit“. Einer „Weisheit“, die sich selbst einen Tempel baut oder sich in irgendeiner „Sakristei“ verschanzt, die vielleicht sogar eine „Geheimsprache“ spricht, sollten wir nicht über den Weg trauen. b) Die vielen Stimmen der Weisheit Ebenso wichtig ist, dass wir die Vielstimmigkeit des kulturgeschichtlichen Phänomens „Weisheit“ im Auge behalten. Diese These ist nicht nur inhaltlich gemeint: Es ist nicht sicher, ob es den in der Enzyklika Fides et ratio postulierten gemeinsamen Nenner („Sinnfrage“) wirklich gibt. Sie ist auch formgeschichtlich gemeint: Die „Weisheit“ gibt es nur in überaus unterschiedlichen literarischen Formen. Wer die Form missachtet, hat auch keine Chance, den Inhalt zu verstehen. 1. Spruchweisheit: das Kleingeld der Sprache Auf dem Titelblatt einer hebräischen Ausgabe des Buches der Sprüche, das sogenannte „Florilegium Rothschild“, sieht man König Salomo, dem die Tradition die Autorschaft des Buches der Sprichwörter zuschreibt. Er sitzt auf einem Lehrstuhl, und hält seinen Schülern und Schülerinnen eine „Vorlesung“. 7 Spr 1,20-23, Text der Stuttgarter Erklärungsbibel. 6 RINGVORLESUNG 23.01.12 Wie schön sich diese Darstellung auch ausnimmt, so wird sie den literarischen Gegebenheiten dieses Buches doch in keiner Weise gerecht. Es enthält – glücklicherweise! – keine „Vorlesungen“, sondern nur „Unterweisungen“. Auf der elementarsten Stufe bietet sich die Weisheitsliteratur uns in der literarischen Form der Spruchweisheit dar, die Levinas als „Literatur vor der Literatur“ bezeichnet. Wenn ich sage: „Eile mit Weile“, dann ist das keine wissenschaftliche Aussage, sondern Ausdruck einer Lebensweisheit, die wir, die Schnelldenker und Schnellsprecher, beherzigen sollten, wie es uns der Weise aus Douala sicher empfehlen würde. Ludwig Wittgenstein, einer der schärfsten Denker des letzten Jahrhunderts, schreibt in seinen Vermischten Bemerkungen: „Der Gruß der Philosophen unter einander sollte sein: ‚Laß Dir Zeit!’“8. Diesen Satz können wir auch als einen „Weisheitsspruch“ lesen. Sprichwörter vermitteln uns keine neuen Informationen und tragen auch nicht zum Zuwachs unseres Wissens bei weder in Gestalt einer Offenbarung noch in Form einer „Gnosis“. Sie machen uns auf das aufmerksam, was wir eigentlich schon längst wissen, aber ohne dass es uns nachdenklich machte. Das bedeutet nicht, dass es sich nur um banale Einsichten des sogenannten common sense, des gesunden Menschenverstandes handeln würde. Worum es geht, sind die niemals selbstverständlichen Bedingungen des mitmenschlichen Zusammenlebens, das unzertrennlich vom Mitfühlen-können ist. Sprichwörter sind die kleinste Münze, das Kleingeld der Sprache, das den gegenseitigen Austausch ermöglicht, weil sie uns mit den unabänderlichen Grundgegebenheiten und Schwierigkeiten des Lebens konfrontieren. Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl der Sprüche in der großen Salomonischen Spruchsammlung (Spr. 1022) sich auf den rechten Gebrauch der Sprache bezieht. Ich weiß nicht, ob es schon eine Untersuchung über den Gebrauch gibt, den Platon und Aristoteles, die Gründerväter der Metaphysik, von der griechischen Spruchweisheit ihrer Zeit machten. Sicher könnte man viel aus einer solchen Untersuchung über das Verhältnis von Philosophie und Weisheit bei den griechischen Philosophen lernen. 2. Ist die „Weisheit“ erzählbar? Neben der „Spruchweisheit“ gibt es Einsichten und „Weisheiten“, die uns nur im Medium des Erzählens zugänglich werden. Damit stellt sich die diffizile Frage nach dem Verhältnis von Weisheit und Mythus. Dass die Geburt der Philosophie in einem Entmythologisierungsprozess besteht, in dem der Logos die Oberhand über den Mythos gewinnt, ist eine unbestreitbare Tatsache. Dass der Gebrauch den Platon und Aristoteles von Mythen machen (z.T. auch, indem sie, insbesondere, Platon, neue Kunstmythen erfinden9) nicht nur in einer Mythenkritik besteht, ist aber ebenso wenig bezweifelbar. 8 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S.153. Vgl. hierzu: Jean-François Mattéi, Platon au miroir du mythe. De l’âge d'or à l'Atlantide, Paris, PUF, 2 2002. 9 VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 7 3. Phronesis: „tragische und „ethische“ Weisheit. Zum Nährboden der griechischen Philosophie gehört auch das enge Verhältnis von tragischer und ethischer Weisheit. Hierauf haben insbesondere Martha Nussbaum10, Pierre Aubenque11 und Paul Ricoeur12 in jüngster Zeit wieder sehr nachdrücklich hingewiesen. Der Philosoph, der sich bemüht, die Bedingungen eines geglückten Lebens zu untersuchen, hat ein Interesse daran, sich von der tragischen Weisheit belehren zu lassen. Ricoeur zufolge besteht diese Belehrung in erster Linie im Hinweis auf die „Unausweichlichkeit des Konflikts im moralischen Leben“13. Eine Moralphilosophie, für die Konflikte nur auflösbare logische Widersprüche sind, steht der tragischen Weisheit blind und taub gegenüber. Im Hintergrund der tragischen Weisheit steht ein Menschenverständnis, das sich in drei dialektischen Schlüsselsätzen des zweiten Chorlieds der Antigone verdichtet: „Ungeheuer (deina) ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer (deinoteron), als der Mensch (...) Allbewandert, / Unbewandert (pantaporos/aporos). Zu nichts kommt er. (...) Hochstädtisch kommt, unstädtisch (hypsypolis/apolis) / Zu nichts er, wo das Schöne / Mit ihm ist und mit Frechheit.“ (V.322f). Wer sich vom „Erleiden des Ungeheuerlichen“ [pathein to deinon] (V.96) der Antigone nicht nur beeindrucken sondern auch belehren lässt, der wird auch den Aufruf zum „rechten Denken“ und „guten Abwägen“ ernstnehmen, das wir ebenso gut als ein „verantwortliches Denken“ bezeichnen können. Es ist kein Zufall, dass Hans Jonas dieses Chorlied zum Ausgangspunkt seiner Bestimmung des „Prinzips Verantwortung“ nimmt. c) „Mitspieler im großen Spiel des Lebens“: Lebensrätsel und Lebensweisheiten „Weisheit“, so lautete meine Anfangsthese, hat nichts mit esoterischer Geheimnistuerei zu tun. Diese negative These ist ergänzungsbedürftig: „Weisheit“ ist immerhin eine Antwort auf die Rätsel, mit denen wir als „Mitspieler im großen Spiel des Lebens“ von Kind auf und bis ans Ende unseres Lebens konfrontiert sind. Die Weisheitsbücher des Alten Testamentes, ebenso wie die anderer Kulturen, kommen keineswegs der idyllischen und rousseauistischen Vorstellung einer ganz und gar problemlosen Gesellschaft entgegen, in der es noch keine Konflikte und Spannungen gibt, weil jedermann unmittelbar mit der Natur verwachsen ist, und die zwischenmenschliche Kommunikation reibungslos und ohne Missverständnisse abläuft. Wäre dies der Fall, wäre der Mensch von Natur aus weise. Das ist er aber nicht, sondern er muss es erst werden. Der eigentliche Gegenspieler des Weisen ist nicht der Unwissende und Ungebildete, sondern der Unbelehrbare und Unverständige. Wir könnten auch sagen: der 10 11 12 13 Martha Nussbaum, The Fragility of Goodness, Cambridge University Press, Cambridge, 31989. Pierre Aubenque, La prudence chez Aristote, Paris, PUF, 31986. Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München, W. Fink, 22003, S.291-303, Das Selbst als ein Anderer, S.295. 8 RINGVORLESUNG 23.01.12 „Ungewitzte“, der weder einen Witz noch ein Rätsel versteht. Dieses Unvermögen hat seinen Grund nicht in einer Geistesschwäche oder einem unzureichenden Wissen, sondern in der Unfähigkeit zu akzeptieren, dass uns der Sinn des Lebens nicht auf einem silbernen Serviertablett verabreicht wird. Er muss erst gesucht werden, denn wie Eric Voegelin immer wieder betonte, „gehört Dummheit nicht zu den Menschenrechten“! d) „Pfade des Lebens“: die „fröhliche Wissenschaft“ des Weisen Nietzsches Fröhliche Wissenschaft gehört heute zur Pflichtlektüre jedes Philosophiestudenten. Sein „homerisches Gelächter“, das mehr als einmal im Dienst der Spottlust steht, sollte uns nicht daran hindern, zu erkennen, dass von Anfang an das Lachen ein wesentlicher Bestandteil, und manchmal sogar das Markenzeichen der Weisheit ist. „Die Wissenschaft lacht nicht“, wohl aber die Weisheit und hoffentlich auch von Zeit zu Zeit die Philosophie! Wer nicht lachen oder lächeln kann, und alles – an erster Stelle sich selbst! - todernst nimmt, der hat keine Ahnung davon, welche Rolle das Lachen im Zustandekommen bestimmter Verstehensprozesse spielt. Der Weise erlaubt es sich, zu lachen, notfalls sogar den falschen Ernst des Wissenschaftlers zu belächeln, der mit dem Anspruch auftritt, alle Lebens- und Welträtsel schon gelöst zu haben. Er weiß, dass das Lachen Gemeinsamkeiten stiftet, die von einer anderen Art sind als die ironische Distanz derjenigen, die sich die Probleme vom Leib halten, und auch als das verbitterte Lachen des Zynikers, der alles und jedes verächtlich macht. e) Weisheit: eine „Geschmackssache“ Viele antike und mittelalterlichen Autoren verweisen darauf, dass das Wort sapientia seine etymologische Wurzel im Verbum sapere (schmecken) hat. „Weisheit“ ist also nicht in erster Linie eine Frage des Wissensstandes, sondern eine „Geschmackssache“. Der Weise ist jemand, der dem Leben auf den Geschmack gekommen ist, und dabei entdeckt, dass es einen honigsüßen aber manchmal auch einen sehr bitteren Geschmack haben kann. Etwas, worüber ich mich immer wieder wundere ist, dass es im biblischen Haus der Weisheit so viele unterschiedliche Wohnungen gibt. Sie hat sowohl Platz für das „Himmelhoch jauchzend“ der Sulamiterin des Hohelieds wie für das „Zu Tode“ betrübt des Kohelet. Höchste Lebensbejahung wie in Nietzsches: „Denn alle Lust will Ewigkeit“ im Hohelied; taedium vitae, „Weltkehraus“ (Hans Urs von Balthasar) im Kohelet. Wiederum bestätigt sich, dass die Weisheit viele Stimmen hat, die sich nicht unbedingt auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Worauf es letzten Endes ankommt, ist dass es sich überhaupt um eine „Geschmackssache“ handelt: Eine „geschmacklose“ Weisheit verdient diesen Namen nicht. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 9 f) „Frau Weisheit“: weisheitlicher Eros Die hebräische Bibel beginnt mit einem Schöpfungslied, dessen Kehrvers: „Und Gott sah: Es war gut“ lautet. Im christlichen Kanon ist das letzte Wort der alttestamentlichen Weisheitsbücher ein Gedicht über die Suche nach der Weisheit: (...) Ich verlangte brennend nach ihr / und wandte meinen Blick nicht ab. Ich richtete mein Verlangen auf sie, / und auf ihrer Höhe wanke ich nicht. Meine Hand öffnete ihre Tore, / und ich nahm sie leibhaftig wahr.“ (Sir 51, 13-20). „Und ich nahm sie leibhaftig wahr“: In allen Texten, in denen die Weisheit personifiziert wird, erscheint sie als eine Frauengestalt. Das Gedicht über die Suche nach der Weisheit des Sohnes Sirachs ist ein Liebesgedicht, das der Auslöser einer langen Tradition des „weisheitlichen Eros“ gewesen ist. Ein Philosoph, der um die enge Beziehung weiß, die Platon im Gastmahl zwischen Eros und Philosophie herstellt, hat gute Gründe, auch das Schlussgedicht des Buches Jesus Sirach ernst zunehmen. Im 24. Kapitel dieses Buches, das nicht mehr zum jüdischen Schriftkanon gehört, ergreift die personifizierte Weisheit das Wort und stellt sich ihren Hörern selbst in Form eines „Hohelieds der Weisheit“ vor: Anschließend heißt es von dieser offenbar übermenschlichen Weisheit: „Vor der Zeit, am Anfang hat er mich erschaffen, / und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht.“ (Sir 24, 9). In der Kunst- und Frömmigkeitsgeschichte ist diese Kennzeichnung als „Sedes sapientiae“ bekannt, ein Motiv, das die christliche Frömmigkeit mit Maria der „Himmelskönigin“ identifiziert. Der Ruf der Weisheit erschallt auf allen Straßen der Welt, und die Suche nach Weisheit führt alle Menschen zusammen. Zugleich aber wohnt sie in einer unzugänglichen Höhe. Das bestätigt auch ein Passus des König Salomon zugeschriebenen Buchs der Sprichwörter, der seinerseits als „Hohelied der Weisheit“ bezeichnet werden kann: „Ich spielte auf seinem Erdenrund, / und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.“ (Spr 8, 22-31). Dieses Spiel der schöpferischen Weisheit muss man sich wohl als einen Tanz vorstellen, der – hoffentlich – auch seine Spuren in der geschaffenen Wirklichkeit selbst hinterlassen hat. In der Weisheitsliteratur gibt es fließende Übergänge von der Weisheit (Hokmah), die am Anfang der Schöpfung gleichsam den Weltreigen als kosmische Tänzerin anführt, zur Sulamiterin des Hohelieds und schließlich zum Lob der vollkommenen Hausherrin (Spr 31, 10-31) mit dem das Buch der Sprichwörter endigt. Bis heute fragen die Bibelexegeten sich, wie es zu dieser Personifizierung und Allegorisierung der Weisheit kommen konnte, und inwiefern sie zu einem besseren Verständnis der Beziehung von Gott, Mensch und Welt beiträgt. Hiermit verbindet sich das Problem Verhältnisses von Innen und Außen, anders gesagt, der Beziehung, welche die Weisheitsliteratur des Alten Testamentes zu außerbiblischen Weisheitstraditionen unterhält. Nicht nur viele der hier gesammelten 10 RINGVORLESUNG 23.01.12 Sprichwörter finden eine Entsprechung in der altägyptischen Weisheitsliteratur, sondern auch die Personifizierung der Hokmah hat eine Vorläuferin in der göttlichen „Maat“ (Recht, Richtigkeit, Urordnung) Ägyptens. Es ist eine eigentümliche Dialektik von Ferne und Nähe, welche die biblische Weisheitsliteratur unterschwellig begleitet. Das Zusammentreffen von Salomo und der Königin von Saba können wir als Ausdruck dessen verstehen, was Nietzsche später als „Fernstenliebe“ bezeichnen wird. Es ist übrigens auch einer „Fernstehenden“, nämlich der Prophetin Diotima aus Mantinea, die einzige Frauengestalt in Platons Gastmahl, der Sokrates seine entscheidendste Einsicht über den Zusammenhang zwischen dem Eros und der philosophischen Suche nach Weisheit verdankt. Worauf es hauptsächlich ankommt, sind die Wege des Anerkennens, die man beschreiten muss, um sich zur wahren Universalität zu erheben. Die alttestamentlichen Weisheitslehrer des schärfen uns unermüdlich ein, dass der kürzeste Weg zur Universalität über die Selbsterkenntnis führt und dass es „das Universale nur für ein Selbst gibt, das ein Selbst wird, indem es einen besonderen Weg, nämlich den eigenen geht“14. g) Die Weisheit auf dem Prüfstand Die philosophische Weisheit Griechenlands findet in der Sorge um den rechten Tod (meletè tou thanatou) eines ihrer wesentlichsten Themen. Hiervon ist wenig in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur zu spüren, deren primäre Sorge eher, wie bei Spinoza, dem rechten und geglückten Leben gilt. Das bedeutet nicht, dass der Weise der Frage: „Tod, wo ist dein Sieg, wo ist dein Stachel?“ ausweichen könnte. Nicht weniger als drei Bücher der alttestamentlichen Weisheitsliteratur beschäftigen sich ausführlich von je verschiedenen Gesichtspunkten aus mit dieser Frage: Hiob, Kohelet und die griechische Weisheit Salomos. Sie tun das aus guten Gründen. Es könnte ja sein, dass der Tod jede Suche nach Weisheit, die letzten Endes eine Sinnsuche ist, endgültig zum Scheitern bringt: „Das Ergebnis: Das alles ist Windhauch und Luftgespinst. Es gibt keinen Vorteil unter der Sonne.“ (Koh 2, 11). Der Weisheit letzter Schluss lautet in diesem Fall „Enttäuschung“. Noch verbitterter klingt diese Enttäuschung dort, wo der Weise und Gerechte die Prüfung des Leidens über sich ergehen lassen muss, wie das im Buch Ijob der Fall ist, ein Buch, das die Einleitung der Jerusalemer Bibel als „literarisches Meisterwerk der Lehrweisheit“ vorstellt. Hier, wo die Enttäuschung in die Verbitterung eines Menschen umzuschlagen droht, der ähnlich wie Ödipus in der griechischen Tragödie den Tag seiner Geburt verflucht (Ijob 3, 1-13), und wo auch das gute Zureden dreier Weisheitslehrer ohnmächtig bleibt, meldet sich die Weisheit Gottes selbst mit einem gewaltigen Loblied auf die Wunder der Schöpfung zu Wort (Ijob 38, 1-41). Sie spendet keinen Trost, der das Erlittene 14 Paul BEAUCHAMP , L’un et l’autre testament. Essai de lecture, Paris, Ed. du Seuil, 1976, S.118. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 11 ungeschehen machen würde, aber bewirkt doch eine Art von Blickwendung in Form eines neuen Weges des Anerkennens. Ähnlich vielsagend klingt das Fazit, das der Autor des Buchs der Weisheit über das Schicksal des Menschen fällt: „Jagt nicht dem Tod nach in den Irrungen eures Lebens, / und zieht nicht durch euer Handeln euer Verderben herbei! Denn Gott hat den Tod nicht gemacht / und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen, / und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt.“ (Weisheit 1, 12-15). II. „Philo-sophia“: Der Philosoph als „Weisheitssucher“ Versuchen wir nun herauszufinden, worin die „Weisheitsdimension“ der Philosophie, von der die Enzyklika spricht, eigentlich besteht. Es geht nicht darum, den Begriff der Philosophie in mehr oder weniger nebelhafte Seelenzustände aufzulösen, sondern um einen Versuch, vor dem Hintergrund des bisher skizzierten Bildes der vorphilosophischen Weisheit, herauszufinden, was in der philosophischen Liebe zur Weisheit eigentlich auf dem Spiel steht. Wir sind Kinder eines Zeitalters, in dem die Wissenschaft nahezu vollständig das Feld okkupiert, das frühere Generationen mit der Suche nach Weisheit verbanden. An dieser Tatsache können wir nichts ändern, und sie ist auch kein Grund zur Klage solange wir uns nur bewusst bleiben, dass „Wissenschaft“ und „Weisheit“ nicht deckungsgleich sind, was natürlich kein Grund ist, sie gegeneinander auszuspielen, wie es die Esoteriker aller Couleur häufig tun. Gerade weil es sich um eine schwierige Frage handelt, die je nach dem Philosophen, mit dem wir es zu tun haben, sehr unterschiedlich ausfällt, ist es ratsam, mit einigen philologisch unbestreitbaren Bemerkungen zu beginnen. Im Gegensatz zu den Bezeichnungen zahlreicher Fachwissenschaften („Theologie“, „Psychologie“, „Soziologie“, „Biologie“, „Anthropologie“, usw.) enthält der Ausdruck „Philosophie“ nicht das Suffix: -logie. Das deutet darauf hin, dass die Weisheit (sophia) nicht ein Gegenstandsbereich und ein Untersuchungsobjekt neben anderen ist. Die „Philosophie“ ist keine „Sophiologie“, keine „Weisheitslehre“ sondern eben „nur“ eine Suche nach Weisheit, eine Tätigkeit und eine Einstellung, eine Haltung des „Philosophierens“, von der man sich fragen kann, unter welchen Bedingungen sie sich in eine „strenge Wissenschaft“ verwandeln kann. Der Fachterminus „Philosophie“ setzt sich aus den Worten sophia und philein zusammen. Wer sich nicht auf die „Liebe“ und nicht auf die „Weisheit“ versteht, der ist auch nicht für die „Philosophie“ gemacht, denn, so schreibt Heidegger „ etwas sentimental und großväterlich übersetzt“, bedeutet „Philosophie“ nichts anderes als „Liebe zur Weisheit“15. 15 Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, Ga 27, S.20. 12 RINGVORLESUNG 23.01.12 Die Schwierigkeiten beginnen, sobald wir uns den beiden Termini zuwenden, die sich im Ausdruck „Philosophie“ miteinander verbinden. Mit welcher Art von „Liebe“ und von „Weisheit“ haben wir es hier zu tun? 1. Weisheit als verständnisvolles Verstehen (Heidegger) 1. Das griechische Substantiv sophia verweist auf das Adjektiv sophos. Es bezeichnet das „Gespür“, das uns in die Lage versetzt, gleichsam instinktiv zu erfassen, worauf es bei einer Sache oder in einer Situation eigentlich ankommt, und was dabei auf dem Spiel steht.16 Es ist diese Art des Wissens, die einen guten und einen schlechten Arzt, einen guten und einen schlechten Kapitän, einen guten und einen schlechten Dichter voneinander unterscheidet. Der „Sachverstand“ der hier gefordert ist, besteht nicht im Fachwissen der sogenannten „Sachverständigen“, die in unserer Gesellschaft den politischen Entscheidungsträgern als gutbezahlte Berater zur Seite stehen. Wenn wir das Wort „Verstehen“ – der Weise ist der Verständige – in seiner ursprünglichen Bedeutung nehmen, bezeichnet es dreierlei: die Fähigkeit, einer Sache oder einer Situation auf den Grund zu gehen, das „Gespür“, das zugleich einen bestimmte „Wendigkeit“ und Anpassungsfähigkeit voraussetzt, und die Vorbildlichkeit, anders gesagt, die Fähigkeit, Andere in die Wege der Weisheit einzuweisen. „Weisheit“ ist kein Sonderbereich, den man erst entdecken muss, sondern sie kann in allen Lebensbereichen und Lebenslagen gefunden und praktiziert werden! Dies spiegelt sich noch in Ciceros Definition der Philosophie wieder: Sie ist die bestmögliche Erkenntnis und der bestmögliche Gebrauch, den man von allen Dingen machen kann (omnis rerum optimarum cognitio atque in iis exercitatio). Wenn Heraklit, der „Dunkle aus Ephesus“ fordert: „Gar vieler Dinge kundig müssen weisheitliche Männer sein“ (Fragment 35)17, dann ist das kein Plädoyer für eine Vielwisserei, denn Heraklit war einer der ersten Denker, die eingesehen haben, dass es auf ein Wissen des Wesentlichen und nicht auf die Anhäufung des Unwesentlichen ankommt.18 Dort, wo der Vielwisser alles komplizierter macht, als es in Wirklichkeit ist, schärft der Weise sein Auge für das Wesentliche und Einfache. Die „philo-sophische“ Suche nach Verstehen ist kein Kinderspiel, denn die Wege des Verstehens, insbesondere diejenigen, die den Namen „Weisheit“ verdienen, sind mit Dornen gepflastert – den Dornen des Missverstehens. Heidegger zufolge ist die beste deutsche Übersetzung des Wortes sophia „Verstehen“ oder „Verständnis“. Nur ein verständnisvolles und nicht ein rein verständiges Denken wird dem ursprünglichen Sinn des Wortes sophia gerecht, in dem sich die drei bereits erwähnten Zielsetzungen wiederspiegeln: „Gründlichkeit“, d.h. die 16 Vgl. hierzu die klassische Untersuchung von Bruno SNELL, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin, Weidmann, 1924. 17 „Il faut, oui, tout à fait, que les hommes épris de sagesse soient les juges des nombreux.“ (übers. v. Marcel Conche). 18 Marcel Conche, Héraclite, Fragments, Paris, PUF, S.99-101. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 13 Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen; Gespür für das, was in einer Situation auf dem Spiel steht (Pascals „esprit de finesse“); Vorbildlichkeit.19 2. Die philia, die Zuneigung, die Heidegger als „innere Freundschaft mit den Dingen selbst“20 bezeichnet, versteht sich nicht von selbst. Dort wo es eine echte Verstehensbemühung gibt, lauert immer auch die Gefahr des Missverstehens, anders gesagt die „Sophistik“: „Wo Philosophie ist, da ist auch notwendig Sophistik, nicht nur zur Zeit Platons, sondern jederzeit, und heute vielleicht mehr denn je.“21 Warum ist das so? Warum „steckt in jedem Philosophen ein Sophist“? Warum sagt Platon, dass im Zwielicht der Philosoph und der Sophist ebenso schwer zu unterscheiden sind wie Hund und Wolf22? Weil das Wort „Philosophie“ ein bestimmtes Verständnis der Endlichkeit beinhaltet. „Die, Philosophie“, sagt Heidegger, „ist nicht deshalb endlich, weil sie nie zu Ende kommt. Die Endlichkeit liegt nicht am Ende, sondern am Anfang der Philosophie, das heißt die Endlichkeit muss in ihrem Wesen in den Begriff der Philosophie aufgenommen werden.“23 Nur unter der Bedingung, dass sie sich zu ihrer Endlichkeit bekennt, kann die Philosophie – oder noch ursprünglicher: das „Philosopieren“24 dem Namen „Philosophie“ gerecht werden. 2. Philosophie als „Weisheit der Liebe im Dienst der Liebe“ (Levinas) Eine noch interessantere und provozierendere Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Namens Philosophie finden wir bei einem Denker, dessen ganzes Denken von der talmudischen Schriftlektüre geprägt ist. Emmanuel Levinas zufolge besteht die Philosophie in einem Versuch, das Unvergleichliche zu vergleichen.25 Unvergleichlich ist das Antlitz des Anderen, das uns mit der Unendlichkeit unserer Verantwortung konfrontiert. Die „Philosophie“, schreibt Levinas, ist demgegenüber „das Maß, das dem Unendlichen des Seins-für-den-Anderen der Nähe beigebracht wurde, und sie ist gleichsam die Weisheit der Liebe.“26 Es ist dieser spektakuläre Umschlag der „Liebe zur Weisheit“ in eine „Weisheit der Liebe“, bzw. in eine „Weisheit der Liebe im Dienste der Liebe“27, den wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen. 19 Ga 27, 21. Ga 27, 22. 21 Ga 27, 24. 22 PLATON, Sophistes 231a. In seiner Marburger Vorlesung über den Sophistes (Ga 19) entwickelt Martin Heidegger eine detaillierte Konfrontation zwischen dem Philosophen und dem Sophisten, die zwei grundverschiedenen Daseins- und Seinsverständnis entsprechen. 23 Ga 27, 24. 24 Vgl. Martin Heidegger Ga 61, S.49-56. 25 „comparaison de l’incomparable“ (Emmanuel LEVINAS, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La S.202, dt. von Thomas Wiemer, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S.345f). 26 Ebd., S.205 (dt. S.351). 27 Ebd. S.207 (dt. S.353). 20 14 RINGVORLESUNG 23.01.12 3. Der Philosoph als „Weisheitsjäger“ (Nikolaus von Kues) Seit der Antike wurden auch unter den Philosophen zahlreiche Loblieder auf die Weisheit angestimmt, und zwar nicht nur dort, wo die Philosophen, wie etwa Albertus Magnus in seiner Auslegung des Propheten Baruch, ihr Lob der Weisheit an Schriftzitaten festmachten.28 Unter den vielen Gesprächspartnern, die wir für unsere Frage nach der „Weisheitsdimension der Philosophie“ heranziehen können, ist mir der Kardinal Nikolaus von Kues besonders ans Herz gewachsen. Nicht weil er es bis zur Kardinalswürde gebracht hat, sondern weil er weder professioneller Philosoph noch Theologe gewesen ist (was ihm manchmal von Seiten der Berufstheologen, etwa Johannes Wenck den Vorwurf einhandelte, nur ein „Laie“, d.h. ein Dilettant zu sein) und auch weil seine Schriften und Predigten von einer Grundüberzeugung getragen sind: „In Wahrheit streben alle Menschen von Natur aus nach der Weisheit, weil die Weisheit das Leben des Geistes ist, der sich durch keine andere Nahrung am Leben erhalten kann als die Wahrheit des Wortes des Lebens, das heißt das Brot seines Verstandes, das die Weisheit ist.“29. Wie Nikolaus auf den Vorwurf reagierte, kein Fachmann zu sein, zeigen seine Schriften: Idiota de sapientia („Der Laie über die Weisheit“) und Idiota de mente („Der Laie und der Geist“), in denen er einen neuen Typus der Gelehrsamkeit verteidigt, der in der Übergangszeit des 15. Jahrhunderts, der Epochenschwelle des Mittelalters und der Neuzeit, immer einflussreicher wurde. Der Idiota, wie Nikolaus ihn versteht, nimmt die ganze und volle Wirklichkeit in den Blick, aber so, dass er alle Phänomene in den Dienst einer Weisheitssuche stellt, deren Grundmotto, ähnlich wie bei Meister Eckhart der biblischen Weisheitstradition entnommen ist: Sapientia clamat in plateis („Die Weisheit ruft auf den Straßen“, Spr. 1, 20), anders gesagt, sie ist überall, nicht nur in Bibliotheken oder auf Lehrstühlen antreffbar. Zugleich aber ruft sie „aus der Höhe“ (in altissimis: Sir 24,7), anders gesagt, sie ist letztlich auf die Gottsuche und den Begriff des Absoluten bezogen. Im Dialog Idiota de sapientia unterhalten sich ein kluger „Laie“ und ein sehr belesener, aber vom vielen Lesen ziemlich erschöpfter Redner in einem römischen Barbierladen. Es geht um die Demut, die das Wahrzeichen des wahren Wissens ist: „Wahres Wissen macht demütig“ („Vera autem scientia humiliat.“30) Der scheinbar Ungebildete tritt hier als eine Art von Sokrates redividus auf. Er ist der eigentliche Gesprächsführer, dem der Gebildete und Wortgewaltige Rede und Antwort stehen muss. 28 Albertus Magnus, „Super Baruch“ in: Albertus-Magnus-Institut (Hg.), Albertus Magnus und sein System der Wissenschaften. Ludger Honnefelder zum 75. Geburtstag, Münster, Aschendorff, 2011, S.495-528. 29 Nicolaus Cusanus, De pace fidei VI, 16. 30 Idiota de Sapientia, n.1, Schriften 2, S.3. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 15 Das Gespräch beginnt mit einem anzüglichen Vergleich: Der Vielbelesene gleicht einem Pferd, „das von Natur frei, aber mit dem Halfter kurz an die Krippe gebunden ist, wo es nichts anderes frisst, als das was ihm vorgeworfen wird“31. Jeder von uns - an erster Stelle ich selbst - ist an seine Futterkrippe namens „Bibliothek“ gebunden. Wir brauchen uns dessen nicht zu schämen, denn ein gut bestückter Futtertrog ist immer noch besser als eine Wiese, auf der kein Halm wächst! Wenn wir jedoch verstehen wollen, dass die Weisheit nicht nur in „Bücherfutter“ (de librorum patibulo) besteht, lohnt es sich, dass wir uns Gedanken über die beiden eben zitierten Bibelverse machen, die Cusanus miteinander verschmilzt. Für den, der die ewige Weisheit sucht, genügt es nicht, „das zu wissen, was man über sie lesen kann, sondern es ist notwendig, dass er, nachdem er mit Hilfe der Vernunft gefunden hat, wo sie ist, sie zu der seinen macht“32. Nirgendwo ist dieser Satz zutreffender, als dort, wo es sich um die Erfassung der göttlichen Weisheit selbst handelt: „obwohl sie sich allen aufs freigebigste mitteilt, da sie unendlich gut ist, kann sie doch von keinem gefasst werden, wie sie ist. Die unendliche Selbigkeit (identitas infinita) nämlich kann nicht in einem anderen aufgenommen werden, da sie in jedem anderen anders aufgenommen wird.“33 Hieraus ergibt sich ein Axiom, dessen Fruchtbarkeit Nikolaus in immer neuen Anläufen zu verifizieren versucht: „die nicht zu vervielfältigende Unendlichkeit wird in der mannigfaltigen Aufnahme besser entfaltet, die große Verschiedenheit nämlich drückt die Unvervielfältigbarkeit besser aus.“34 Gott, der „gesucht werden“ will, gibt „auch den Suchenden das Licht (...) ohne das sie ihn selbst nicht suchen können. Er will gesucht, und er will erfasst werden, da er den Suchenden erscheinen und sich selbst zeigen will.“35 Ein solches sehnsuchtsvolles Suchen ist Nikolaus zufolge der „rechte Weg zum Erlangen der Weisheit“, wobei der „Baum der Erkenntnis“, mit dem „Baum des Lebens“36 verschmilzt. Früher oder später muss jeder Denker sein Selbstverständnis klären. Ebenso wie Husserl hat Nikolaus von Kues das verhältnismäßig spät, in seinem 61. Lebensjahr in seiner Schrift De venatione sapientiae („Die Jagd nach Weisheit“) getan. Die Hintergrundmetapher des Jagens bildet hier den formalen Rahmen einer Betrachtung, in der Nikolaus seinen Lesern einen Schlüssel zum Verständnis seiner Hauptschriften liefert. Seiner Überzeugung nach verdienen die Philosophen ihren Namen nur, wenn sie, wie er selbst, „Weisheitsjäger“ sind: „Die Philosophen sind ja doch nur Jäger nach Weisheit, nach der jeder im Lichte der ihm angeborenen Logik in seiner Weise forscht.“37 31 Idiota de Sapientia, n.2, Schriften 2, S.5. Idiota de Sapientia, n.19, Schriften 2, S.33. 33 Idiota de Sapientia, n.25, Schriften 2, S.41. 34 „magna enim diversitas immultiplicabilitatem melius exprimit“, Idiota de Sapientia, n.25, Schriften 2, S.41-43. 35 De quaerendo deum, III, 39. 36 De quaerendo deum, III, 40. 37 „Nihil enim sunt philosophi nisi venatores sapientiae, quam quisque in lumine logicae sibi conatae investigat.“ De venatione sapientiae I, 6 (Philosophisch-theologische Schriften IV, S.11). 32 16 RINGVORLESUNG 23.01.12 Die Jagdmetapher lässt sich in mehrfacher Weise verstehen. Sie bedeutet zunächst, dass nicht jede Jagd erfolgreich ist, aber auch, dass das Wild, nachdem gejagt wird, den menschlichen Geist ernährt, und sogar, falls es sich herausstellt, dass die Weisheit eine „unsterbliche Speise“ ist, sie ihn „auf unsterbliche Art“ nährt. Trotz aller Ungewissheit, weil auch diese Jagdzüge nur „Mutmaßungen“38 sind, lässt der Denker sich nicht aufs Geratewohl auf dies Wagnis ein. Er will im Gegenteil „eine Grundgewissheit zu fassen bekommen, die alle Jäger außer Zweifel lassen und voraussetzen“, um in ihrem Licht nach dem Unbekannten zu suchen.39 III. Von der Philosophie zur Weisheit Im Sommer kommt es öfters vor, dass ich die Nase über den Rand des Bildschirms meines Computers erhebe und eine Fliege erblicke, die verzweifelt gegen das geschlossene Fenster stößt. Dazu fällt mir sofort ein Satz aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ein: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“40 Trotz meiner Bewunderung für diesen genialen Denker fällt es mir schwer, den Vergleich der Philosophie mit einer Fliegenfalle zu ratifizieren, und noch weniger die Behauptung dass „die Ergebnisse der Philosophie“ nur „die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen“ sind, „die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat“41. Eine andere Antwort auf die Frage nach dem Ziel der Philosophie liefert mir Eric Weils Logique de la philosophie. In diesem in Deutschland kaum bekannten, und auch nicht übersetzen Buch, untersucht Weil die verschiedenen Einstellungen, welche die Menschheit gegenüber der Wirklichkeit einnehmen kann und tatsächlich im Lauf der Geschichte eingenommen hat, und die Verstehenskategorien, mittels derer die Philosophen versucht haben, sie in den Griff zu kriegen. Diese Verstehensarbeit impliziert zugleich eine Absage an die Gewalt in all ihren Formen. Uns selbst und der Wirklichkeit gegenüber können wir verschiedene Einstellungen einnehmen, die nicht unbedingt bewusst zu sein brauchen: Ich kann Optimist oder Pessimist, Fatalist oder ein Willensmensch, Determinist oder Indeterminist, gläubig oder ungläubig, Buddhist, Christ oder Musulmane sein, usw. Nun gibt es aber Situationen in denen wir als Einzelne oder als Gemeinschaft gezwungen sind, Rechenschaft zu geben über die „Vernünftigkeit“ unserer Einstellung. So fordert etwa der Autor des Petrusbriefes seine Gemeinde auf, Rechenschaft von der Hoffnung zu geben (logon didonai) die sie in ihrem Herzen tragen.42 38 « venationum coniecturae »: De venatione sapientiae VII, 16 (Philosophisch-theologische Schriften IV, S.25). 39 De venatione sapientiae II, 6 (Philosophisch-theologische Schriften IV, S.11). 40 Ludwig WITTGENSTEIN , Philosophische Untersuchungen § 309. 41 Philosophische Untersuchungen, § 119, Schriften 1, S. 344. 42 1 Petr. 3, 15. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 17 In solchen Fällen ist der Mensch, der eine bestimmte Einstellung vertritt gezwungen, „das, was seinem Gefühl nach wichtig ist“43 in einer Kategorie zu reflektieren, die seine Einstellung verständlich und damit auch für andere nachvollziehbar macht. Diese Verstehens- und Verständigungsarbeit macht nur Sinn, weil es sich in erster Linie dabei um eine Wahrheitssuche handelt. Dies ist der Grund, warum Weil zufolge „Wahrheit“ die erste und grundlegendste aller Verstehenskategorien ist.44 Die achzehnte und letzte der Verstehenskategorien, die Weil analysiert, ist die der Weisheit, die seines Erachtens unzertrennlich von der des Sinnes ist. Erst wenn diese Begriffe einen konkreten Inhalt erhalten haben, hat die Philosophie das Versprechen eingelöst, das in ihrem Namen enthalten ist. Damit ist sie aber auch am Ende angelangt. Eine Philosophie, die sich als „Wissenschaft vom Sinn“45 versteht muss zugeben, dass es Sinn auch außerhalb, vor und nach der Philosophie gibt, weil „der Mensch Dichter ist, ehe er Philosoph wird, und auch nachdem er es gewesen ist“46. Wenn Alain Badiou in seinem Manifeste pour la philosophie die Philosophen davor warnt, zu viel von den Dichtern zu erwarten, dann rennt er eigentlich damit nur offene Türen ein. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich um etwas ganz anderes: die Einsicht, dass „die Philosophie als Wissenschaft vom Sinn die Geschichte der Wiedergewinnung der Spontaneität ist“47. „Weisheit“ ist ein möglicher Name für diese erst noch zu erobernde Spontaneität. Es geht nicht darum, dass die Philosophen ihren Beruf an den Nagel hängen sollen, um Gedichte zu schreiben, irgendwelchen zwielichtigen Weisheitslehrern in die Hände zu fallen oder sich in solche zu verwandeln. Es handelt sich schlicht und einfach um die Tatsache, dass „sofern es die Weisheit gibt, sie sich außerhalb der Philosophie“48 befindet, und als solche auch von den philosophischen „Liebhabern der Weisheit“ anerkannt werden muss. IV. „Letzte Worte“ Meine Berliner Vorlesungszeit (die ich, unter uns gesagt, sehr genossen habe) geht bald zu Ende. Und so flüstert mir die Stimme eines inneren Kohelet zu: „Es gibt eine Zeit für alles. Eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Schweigen. Eine Zeit für Vorlesungen und eine Zeit für...“ Hier stock’ ich schon: Ja, wofür eigentlich? In dieser Verlegenheit fällt mir das letzte Gedicht aus Paul Celans Gedichtband Zeitgehöft ein. Es entstand am 13. April 1970 eine Woche vor dem Tod des Dichters: 43 44 45 46 47 48 Eric Weil, Logique de la philosophie, Paris, Ed. Vrin, 1970, S.71. Ebd., S.86. Ebd., S.420. Ebd., S.421. Ebd., S.422. Ebd., S.433. RINGVORLESUNG 23.01.12 18 REBLEUTE graben die dunkelstündige Uhr um, Tiefe um Tiefe, du liest, es fordert der Unsichtbare den Wind in die Schranken, du liest, die Offenen tragen den Stein hinterm Aug, der erkennt dich, am Sabbath.49 Und so ergänze ich flugs den Satz meines eingebildeten Kohelet: „Eine Zeit für „Vorlesungen“ und eine Zeit für die ‚Nachlese’.“ Worin kann diese „Nachlese“ bestehen? Gewiss nicht darin, dass ich das viele und vermutlich Allzuviele, das ich als Akademiker schon geschrieben habe, nochmals überlese und durch einige Fußnoten, Randbemerkungen oder Neuausgaben ergänze. Demgegenüber scheint es mir viel angebrachter, mir einen Schatz von „letzten Worten“ anzulegen, die mir helfen, die selbstkritische Frage zu beantworten: Was bin ich als Philosoph gewesen? Ein Lehrer, ein Guru, ein Prophet, ein Selbstdenker, vielleicht sogar ein „Gott“, wie das Empedokles von sich behauptete? „Letzte Worte“ sind nicht unbedingt Schlussworte, ebenso wie alle „ersten Worte“ nicht schon notwendigerweise Anfangs- und Urworte sind. Das lakonische: „That’s it, folks“ („Das wars, Leutchen“) mit dem die klassischen amerikanischen Zeichentrickfilme endigen, ist ein Schlusswort, dem ich beim besten Willen keinen philosophischen Sinn abgewinnen kann. „Letzte Worte“ sind auch nicht nur Worte, die in der Todesstunde ausgesprochen werden, auch wenn es mit diesen eine besondere Bewandtnis hat wie zum Beispiel die rätselhafte letzte Empfehlung des Sokrates an seinen Schüler, die ihm gerade ihre Angst vor dem mourmoleikeion, dem „Knochenmann“ freimütig bekannt haben: Vergesst nicht, dem Äskulap, dem Gott der Medizin, einen Hahn zu opfern! Was also sind „letzte Worte“? Es sind Worte und Gedanken, die uns mit einem Äußersten konfrontieren, das keines weiteren Kommentars bedarf und die insofern etwas zu Ende bringen. So können wir auch die berühmten Schlusssätze von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus verstehen: 49 Paul Celan, „Zeitgehöft“ G.W. Bd.3, Frankfurt, Suhrkamp, S.123. VORPHILOSOPHISCHE UND NACHPHILOSOPHISCHE WEISHEIT 19 „6.54. Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Bedeutet das, dass der „weise“ gewordene Philosoph sich am Ende am Besten in Schweigen hüllen sollte? Das Letzte wäre in diesem Fall: „Der Rest ist Schweigen“. Vergessen wir jedoch nicht, dass das Schweigen manchmal vielsagender und beredter als viele Worte sein kann, dass es also nicht unbedingt: „Mehr nicht“ bedeutet. Ein Dichterwort, das besonders gut zu der oben zitierten These Eric Weils passt, sind die Verse Hölderlins über Sokrates und Alkibiades, die Heidegger am Anfang seiner Freiburger Abschiedsvorlesung: Was heißt Denken?50 zitiert: Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste. Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, Und es neigen die Weisen Oft am Ende zum Schönen sich. Mein Narzissmus ist noch nicht weit genug gediehen, als dass ich von mir behaupten könnte, ich hätte schon das Tiefste gedacht. Je mehr ich mich mit diesen Versen Hölderlins beschäftige, desto mehr frage ich mich, ob die Rührung die mich angesichts der Schönheit eines Menschen oder eines Kunstwerks ergreift, alle Möglichkeiten des Verbums Neigen erschöpft. In meinem letzten Gespräch mit Emmanuel Levinas im Zug von Lüttich nach Paris, sagte er mir, dass in seinen Augen das Erstaunen darüber dass etwas ist eher denn Nichts vor einem noch tieferen Erstaunen zurückweichen muss: der Verwunderung darüber, dass in einer so grausamen und unerbittlichen Welt wie der unsrigen, sich doch von Zeit zu Zeit das Wunder der Güte ereignet. Der Neigungswinkel des Verbums Neigen verstärkt sich noch, wenn wir den Bindestrich zwischen der tiefsten Tiefe des Denkens und dem lebendigsten des Lebens der höchstmöglichen Spannung aussetzen, wie dies der Apostel Paulus tut, wenn er im ersten Korintherbrief schreibt: „Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Zeugnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten.“51 Muss der Philosoph angesichts einer solch entwaffnenden und törichten Botschaft nicht die Waffen strecken? Nicht unbedingt, denn es könnte ja sein, dass die Torheit des Kreuzes auch ein Stelldichein für die Philosophen ist, und zugleich damit eine Wahrheitsprobe, die darin besteht, dass es der philosophischen Liebe zur Weisheit „am Ende“ – nicht zu früh und nicht zu spät – gelingt, sich vor der schlichten und nackten Weisheit der Liebe zu verneigen. 50 51 Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S.9. 1 Kor 2, 1-2. 20 RINGVORLESUNG 23.01.12 Es wäre kurzschlüssig, zu behaupten, dass damit die alttestamentliche Suche nach Weisheit ad absurdum geführt wird. Einige Verse weiter unterstreicht Paulus nämlich, dass auch unter dem Kreuz und vor dem Gekreuzigten die Suche nach Weisheit immer noch weitergeht: „Und doch verkündigen wir Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht die Weisheit dieser Welt und der Machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkündigen wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung.“ (1Kor 2, 6-7). Was ist dieses verborgene Geheimnis, das „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist“? Es ist „das große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1Kor 2, 9). Auch „wer das Tiefste gedacht“ hat, kann sich vor diesem Lebendigsten, das zugleich das Allertiefste ist, verneigen, weil gerade hier und vielleicht nur hier, die „Weisheitsliebe“ sich in eine „Weisheit der Liebe“ verwandelt. Also ist auch das Kreuz ein unvergleichliches Stelldichein sowohl für die vorphilosophischen „Kinder der Weisheit“ wie für die philosophischen „Weisheitsjäger“. Dichten, Denken und Danken, behauptet Heidegger, sind unzertrennlich voneinander. Ich danke Ihen dafür, dass Sie mir zugehört haben und mich gezwungen haben anders, und hoffentlich auch etwas tiefer zu denken.