Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft Richard Schaeffler Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft Herausgegeben von C. Böhr, Trier, Deutschland Weitere Informationen zu dieser Reihe finden Sie unter http://www.springer.com/series/12749 Die Reihe Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft will das Den­ ken über den Zusammenhang von philosophischer Anthropologie und politischer Theorie neu beleben. Sie ist getragen von der Überzeugung, dass nur in der Zusam­ menschau beider Sichtweisen öffentliches Handeln sinnbestimmt zu begründen ist: Keine politische Theorie, der nicht eine philosophische Anthropologie beigesellt ist, wie umgekehrt gilt: Keine Anthropologie, die folgenlos bleibt für das Selbst­ verständnis von Politik. Zur Klärung dieses – heute weithin vergessenen – Zusam­ menhangs, wie er zwischen der Vergewisserung eines Menschenbildes und dem Entwurf einer Gesellschaftsordnung besteht, will die Schriftenreihe beitragen. Im Mittelpunkt stehen dabei soziale, ökonomische und politische Gestaltungsauf­ gaben. Öffentliches Handeln bestimmt sich über Ziele. Die jedoch lassen sich nur entwerfen, wenn das Leitbild sowohl für die Ordnung des Zusammenlebens als auch für die Beratschlagung der Gesellschaft in Sichtweite bleibt: im Maßstab eines Menschenbildes. Der Bestand einer Ordnung der Freiheit hängt davon ab, dass der zielbestimmte Sinn für den Zusammenhang, wie er zwischen der Anerkennung verbindlicher Regeln und der Bereitschaft zum selbstbestimmten Handeln besteht, immer wieder neu entdeckt und begründet wird. Die Reihe verfolgt mithin die Absicht, ein neues Selbstverständnis öffentlichen Handelns entwickeln zu helfen, das von der Frage nach den Zielen, auf die hin ­unsere Gesellschaft sich selbst versteht, ausgeht. Sie will die Reflexion der Theorie mit der Praxis der Deliberation verbinden, indem sie die Frage nach dem Handeln wieder im Zusammenhang mit dessen Zielbestimmung beantwortet. Herausgegeben von Christoph Böhr, Trier, Deutschland Richard Schaeffler Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis Herausgegeben von Christoph Böhr Richard Schaeffler München, Deutschland Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft ISBN 978-3-658-15133-1 ISBN 978-3-658-15134-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-15134-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Lektorat: Frank Schindler, Daniel Hawig Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort Vorwort Vorwort Richard Schaeffler, geboren am 20. Dezember 1926 in München, gehört zu den herausragenden Religionsphilosophen im deutschen Sprachraum. Er lehrte nicht nur über viele Jahrzehnte hindurch an deutschen Hochschulen – über 20 Jahre allein an seinem Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfragen in Bochum, sondern war – und ist bis heute – Verfasser ungezählter Bücher, Aufsätze und Vorträge. Die Liste seiner Veröffentlichung ist ungewöhnlich lang. Wer seine Bücher und Aufsätze liest, der spürt schnell: Hier schreibt ein Philosoph mit jener seltenen Klarheit und einer bewundernswerten Verständlichkeit, die sich in der Gedankenführung nur dann einstellen, wenn ein Sachverhalt bis in seine Tiefen durchdrungen wurde. Nicht zuletzt das macht – neben vielem anderen, allem voran den so wichtigen Sachfragen der Gnoseologie und der Anthropologie, denen Schaeffler sich zuwendet – seine Schriften so lesenswert. Ein 2013 von Bernd Irlenborn und Christian Tapp herausgegebener Band Gott und Vernunft. Neue Perspektiven zur Transzendentalphilosophie Richard Schaefflers macht darüber hinaus eindrucksvoll deutlich, wie sehr Schaeffler die wissenschaftliche Forschung in seinem Fach, der Philosophischen Theologie, befruchtet, weiterentwickelt und vorangetrieben hat. Über zehn Promotionen aus den letzten Jahren widmen sich seinem Lebenswerk. Der hier vorgelegte Band versammelt Aufsätze aus zweieinhalb Jahrzehnten – der früheste stammt aus dem Jahr 1990 – und führt mit drei bisher unveröffentlichten Beiträgen in die unmittelbare Gegenwart. Die Bücher, denen seine übrigen Arbeiten entnommen wurden, sind in der Regel längst im Handel vergriffen. Es ist deshalb mehr als lohnend, ja, aus der Sicht des Herausgebers geradezu unverzichtbar, diese Auswahl seiner Gedanken dem Leser neu zugänglich zu machen, zumal der Verfasser selbst die Beiträge ausgewählt hat, weil sie ihm in besonderer Weise sein eigenes Denken zu spiegeln – und zusammenzufassen – scheinen. So weit gespannt auch der Zeitraum der Entstehung der hier vorgelegten Aufsätze ist, so überraschend ist die Kohärenz der in ihnen zum Vorschein tretenden Gedankenführung: als Weiterentwicklung der transzendentalen Methode in Philosophie und Theologie. V VI Vorwort Diese über Jahrzehnte festzustellende innere Schlüssigkeit der Beiträge – in denen sich, wenn man es so sagen will, Schaefflers Grundanliegen wiederfindet – macht es unvermeidbar, dass sich gelegentlich, hier und dort, Gedanken und Redewendungen wiederholen. Überschneidungen waren nicht zu vermeiden; sie haben aber den großen Vorzug, dass jeder Aufsatz für sich steht, über eine jeweils abgerundete Gedankenführung verfügt und deshalb ausnahmslos für sich gelesen werden kann, ohne dass zuvor Gesagtes als bekannt vorausgesetzt wird. In der Gesamtheit der hier veröffentlichten Beiträge zeigt sich, wie Schaeffler unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder auf eine Frage – die Frage nach dem Menschen – zurückkommt, diese in unterschiedlichen Zusammenhängen beleuchtet und dabei immer wieder jenen entscheidenden Kern der Sache – im Übrigen das Thema, dem er sich ausführlich in seinem jüngsten Buches Erkennen als antwortendes Gestalten widmet – in den Mittelpunkt rückt, von dessen Bestimmung so sehr abhängt, wie die Antwort auf die Frage nach dem Menschen im Übrigen ausfällt: Was meinen wir, wenn vom menschlichen Erkennen die Rede ist? Mit anderen Worten: Was verstehen wir unter der Erkenntnis eines Gegenstandes? Nicht zuletzt diese von der Sache her unabweisbare innere Verbindung von Gnoseologie und Anthropologie kennzeichnet Schaefflers Denken – und gerade diese Verbindung in einer ganz eigenständigen Deutung macht sein Denken gleichermaßen zukunfts- und wegweisend. Ich freue mich, dass diese Sammlung von Aufsätzen dank des Einverständnisses ihres Verfassers, dem ich für seine Einwilligung und seine Mitwirkung von Herzen danke, zustande kommen konnte. Zu danken ist dem Verlag Springer VS, allen voran dem zuständigen Cheflektor Frank Schindler, für das Wohlwollen und die Förderung, die sie dieser Veröffentlichung angedeihen ließen, sowie Herrn Daniel Hawig für die umsichtige Betreuung. Trier, im Juni 2016 Der Herausgeber Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft und die neuzeitliche Subjektivität als Problem der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Verantwortete Vorläufigkeit. Der Mut zur Partikularität und die Kritik an der Frage nach dem ‚Sinn des Ganzen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3 Die Selbstgefährdung der Vernunft und der Glaube an Gott . . . . . . . . . . . . 55 4 Grenzerfahrungen der Vernunft als Interpretamente religiöser Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5 ‚Die Wahrheit ist immer größer‘ – oder: Vom Zutrauen in die Wahrheit und von der Selbstkritik der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6 Die Ewigkeit der Wahrheit und die Veränderlichkeit der Vernunft. Ein Beitrag zum Verständnis von Wahrheit und Geschichte . . . . . . . . . . . 117 7 Die Endlichkeit der Vernunft und ihr ‚Interesse‘: Zur Weiterentwicklung von Kants vier Leitfragen der Philosophie . . . . . 139 8 Zum Ethos des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Beantwortung und Gestaltung. Die Erkenntnislehre von Richard Schaeffler: ein Weg aus den Sackgassen des Denkens der Gegenwart . . . . . . . 205 Christoph Böhr VII VIII Vorwort Veröffentlichungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 223 225 229 231 237 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft und die neuzeitliche Subjektivität als Problem der Philosophie 1 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft Immanuel Kant verwendet den Ausdruck ‚Kopernikanische Wendung‘ als eine Metapher im klassischen Sinne, mithin als ‚Kurzform eines Vergleichs‘. Wie Nikolaus Kopernikus eine Umwendung der gesamten Astronomie bewirkt und ihr eine neue Ausrichtung gegeben hat, so erhebt Kant den Anspruch, eine Umwendung der gesamten Philosophie zu bewirken und all ihren Fragen und Antworten eine neue Bedeutung zu geben.1 Aber der Terminus ‚Kopernikanische Wendung‘ bezeichnet nicht nur eine Vergleichbarkeit, sondern darüber hinaus eine Abhängigkeit. Die neue Astronomie, als deren Protagonist Nikolaus Kopernikus gilt, stellte der Philosophie die Voraussetzungen zur Verfügung, aus denen sich die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit ergab, die Philosophie auf radikale Weise umzugestalten. Was aber der kopernikanischen Astronomie ihre Bedeutung für die neuzeitliche Philosophie verschafft hat, war die Entdeckung der bestimmenden Funktion des Subjekts beim Aufbau der Welt seiner Objekte. Die Welt, die wir mit den Sinnen erfassen – und dazu gehören insbesondere die Himmelskuppel und die Umlaufbahnen der Sterne – verdankt ihre Struktur der Perspektivität unserer Anschauung. Und jenes Gefüge der Orte und Bahnen, die als die ‚wahren‘ gelten, ist das Ergebnis einer mathematischen Konstruktion, die das denkende Subjekt zustande bringt. Die Astronomen gewinnen ihre Erkenntnisse, indem sie ihre Beobachtungen in ‚Mess-Daten‘ verwandeln, die sie in einen so konstruierten Zusammenhang einordnen. Nur sofern die Beobachtungen auf solche 1 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, B XV-XIX, AA VII, 84. Kants Schriften werden in der Regel nach deren Originalpaginierung zitiert – A bezeichnet die Erste, B die Zweite Auflage –, und zwar, wenn nicht anders vermerkt, nach dem Text der Akademie-Ausgabe Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger, Berlin 1900 ff. [im Folgenden abgekürzt als AA]. Zitiert wird unter Voranstellung der Sigle AA und der Angabe des Bandes in römischen sowie der Seitenzahl in arabischen Ziffern. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 R. Schaeffler, Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-15134-8_1 1 2 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft Weise umgestaltet werden, gewinnen sie für den wissenschaftlichen Beobachter eine ‚Bedeutung‘ und können die Fragen der Forscher beantworten. Die Philosophie in ihrer Entwicklung von René Descartes bis Kant hat daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen.2 Und die letzte Konsequenz lautete: Alle objektive Geltung unserer Erkenntnisse ist das Resultat einer ‚Gesetzgebung‘ des Subjekts, das die Eindrücke, die es empfängt, in ‚Erscheinungen‘ verwandelt, die ihm als Maßstäbe des Wahren und Falschen begegnen. Diese ‚Erscheinungen‘ sind nicht ein Schleier, der die Wirklichkeit verbirgt, sondern die Weise ihrer Selbst-Manifestation. Aber diese Selbst-Darstellung des Wirklichen verdankt ihre Form einer Aktivität des Subjekts. Setzt man die kopernikanische Astronomie voraus, dann sind die Konsequenzen, die Kant gezogen hat, unvermeidlich. Was notwendig ist, ist eine kritische Interpretation dieser Konsequenzen, auch ihre Weiterentwicklung. Aber es ist nicht möglich, sie zu widerrufen. Die ‚Kopernikanische Wendung‘ ist nicht umkehrbar, in der Philosophie ebenso wenig wie in der Astronomie. Und das Ergebnis dieser Wendung ist eine Philosophie der Subjektivität. Doch muss betont werden: Diese Philosophie der Subjektivität schließt jede Form des Subjektivismus aus. Ihr Ziel besteht darin, die objektive Geltung unserer Erkenntnisse zu garantieren. ‚Die Welt erkennen‘ heißt: ein Modell konstruieren, das alle wahren Beziehungen zwischen den Gegenständen sichtbar macht. Diese Art einer Modell-Konstruktion schließt jede Art der Willkür aus, folgt den strengen Regeln der Mathematik und beweist dadurch zugleich die Autonomie der Vernunft und die strenge Unterwerfung des Individuums. Diese Unterwerfung der Individuen unter die Gesetze der Vernunft ist die Bedingung jeder objektiven Geltung unseres Erkennens. 1.1 1.1 Die neuzeitliche Astronomie und ihre philosophische Bedeutung 1.1.1 Die neuzeitliche Astronomie und ihre philosophische Bedeutung Negativer Aspekt: Das Ende eines alten Weltbildes – und die Auflösung einer scheinbaren Evidenz: Die ‚Himmelskuppel‘ ist eine Illusion Jene Kuppel, an der die Fix-Sterne ‚fixiert‘ sind und deren Umlauf wir in jeder klaren Nacht beobachten können, existiert nicht in der Wirklichkeit, sondern ist eine optische Täuschung. Nun werden nach Aristoteles die sieben Planetensphären 2 Ebd., B XII f. 1.1 Die neuzeitliche Astronomie und ihre philosophische Bedeutung 3 durch sieben ‚unbewegte Beweger‘ in Gang gehalten, während der ‚erste unbewegte Beweger‘ die Fixsternsphäre in Umlauf hält. Die kopernikanische Astronomie entzog dieser astronomischen Hypothese ihre Grundlage. Daraus zog die post-kopernikanische Philosophie die Folgerung: Nicht nur alle physikalischen, sondern auch alle metaphysischen Aussagen über den ‚ersten unbewegten Beweger‘ sind Teile eines überholten Weltbildes. Am Ende der alten physikalischen Theorie ist klar: Es gibt keine ‚natürlichen Orte‘, an denen die bewegten Körper zur Ruhe kommen. Jener Raum und jene Zeit, die wir nach mathematischen Gesetzen konstruieren und in denen wir die ‚wahren‘ Orte und Bahnen der Körper bestimmen, sind homogen. Das bedeutet: Die Maß-Einheiten des Raumes und der Zeit, zum Beispiel die Meter oder die Stunden, sind untereinander gleich. Jeder Meter ist so lang wie der andere, jede Stunde dauert solange wie jede andere. Qualitativ voneinander verschieden sind nur die subjektiv erlebten Weg-Strecken und Stunden, nicht die, die wir nach objektiven Messverfahren bestimmen. Die objektiv festgestellten Zeitpunkte und Raumpunkte, beispielsweise das ‚Jetzt‘ und das ‚Hier‘, sind durch die Schnittpunkte mathematisch konstruierter Koordinaten definiert. Daraus folgt: Kein Ort und kein Zeitpunkt haben vor irgendeinem anderen einen qualitativen Vorrang. Insbesondere gibt es keine ‚natürlichen Orte‘, an denen das ‚natürliche Streben‘ der Elemente zur Ruhe käme. Dieses veränderte Verständnis des Raumes und der Zeit verlangte eine neue Theorie der Ruhe und der Bewegung. Nach der aristotelischen Physik ergab alle Bewegung sich daraus, dass ein Körper durch äußere Einflüsse von seinem ‚natürlichen Ort‘ entfernt wird und danach strebt, diese seine verlorene Heimat wiederzugewinnen. So ‚strebt‘ jeder schwere Körper danach, an einen Ort möglichst nahe am Mittelpunkt des Kosmos zu gelangen, während das Feuer nach oben ‚strebt‘, um sich mit den überhimmlischen Flammen des Empyreum zu vereinen. So lange ein Körper an seinem natürlichen Orte ist, bleibt er in Ruhe. Die Bewegung beginnt nur dort, wo ein äußerer Einfluss am Werke ist. ‚Quidquid movetur, ab aliquo alio movetur.‘ Es ist bekannt, dass alle Versuche des ‚kosmologischen Gottesbeweises‘ von diesem Grundsatz abhängen. Wenn es deswegen in einem konstruierten Raum keine ‚natürlichen Orte‘ gibt, gibt es auch keinen Ort der ‚natürlichen Ruhe‘. Das, was der Natur eines Körpers entspricht, ist weder die Ruhe noch die Bewegung als solche, sondern die Beibehaltung seines Bewegungszustandes. Äußere Einflüsse sind nötig, um den Bewegungszustand zu ändern, sei es, dass ein ruhender Körper in Bewegung gesetzt, sei es dass ein bewegter Körper zur Ruhe gebracht werden soll. Unter dieser Voraussetzung hat in der neuzeitlichen Physik und in der ihr entsprechenden Metaphysik der Gedanke einer Bewegung ohne äußeren Beweger seine Paradoxie verloren. Und 3 4 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft mit dem Fortfall des Grundsatzes ‚Alles Bewegte wird von einer äußeren Ursache bewegt‘ verlor auch der traditionelle kosmologische Gottesbeweis seine Beweiskraft. 1.1.2 Positiver Aspekt: Die Entdeckung der Subjektivität Dem Ende der aristotelischen Kosmologie entsprach, als ihr positives Korrelat, ein neues Verständnis des Erkennens und, darin ein geschlossen, eine Neu-Entdeckung der Subjektivität, genauer gesagt: ihrer Funktion beim Aufbau der Gegenstandswelt. Die Weise, wie neuzeitliche Philosophen das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seinen Objekten begreifen, lässt sich durch folgende Fragen und Antworten charakterisieren: Was ist das sehende Auge? Es ist dasjenige, durch das die sichtbare Welt ihre Gestalt gewinnt. Was ist die sichtbare Welt? Sie ist dasjenige, das durch den Blick des Auges gestaltet wird. Ähnliches gilt aber auch für den Verstand und seine Objektwelt. Der Verstand begreift seine Gegenstände durch seine Begriffe, darunter vor allem die Begriffe der Substanz und der Kausalität. Die Kategorie der Substanz, um sich auf dieses eine Beispiel zu beschränken, zeigt die Identität eines Objekts im Wandel seiner Zustände an. Und weil der Wechsel der Zustände von mancherlei äußeren Einflüssen abhängt, ist das Beharren der Substanz zugleich das Anzeichen ihrer Eigenständigkeit im Sein. Aber diese bleibende Identität kann sich nur in einem konstruierten Kontext zeigen. Ein Beispiel dafür wird besonders häufig herangezogen: Der Satz ‚Der Morgenstern ist der Abendstern‘ behauptet eine Identität, die man nicht unmittelbar sehen kann. Ungezählte Generationen haben den bestirnten Himmel beobachtet, ohne die ‚stella mattutina‘ mit der ‚stella vespertina‘ gleichzusetzen. Dazu musste eine Planetenbahn konstruiert werden, die begreiflich machte, dass der gleiche Stern einmal kurz vor dem Aufgang der Sonne leuchtet, einmal kurz nach ihrem Untergang. Das Beispiel kann eine Regel verdeutlichen: Nur dasjenige, dessen Funktion in einem von uns konstruierten Kontext bestimmt werden kann, kann als ‚Objekt‘ gelten und von bloßen Phantasievorstellungen unterschieden werden. So definieren die Konstruktionsregeln des universalen Zusammenhangs, den wir ‚Welt‘ nennen, die Bedingungen aller objektiven Geltung. Und in diesem Sinne ist der Verstand der ‚Gesetzgeber‘ der Objektwelt und aller Gegenstände, die in ihr begegnen. Was also ist das denkende Subjekt? Es ist dasjenige, das die Fähigkeit hat, den Zusammenhang einer Welt zu konstruieren und jedes Objekt durch seinen Ort in diesem Kontext zu definieren. Was ist das Objekt, das wir mit dem Verstande erkennen? Es ist dasjenige, das durch seine Funktion innerhalb der Welt definiert wird, die der Verstand konstruiert hat. 1.2 Die neuzeitliche Metaphysik – eine Meta-Gnoseologie 5 Saverio Ricci hat in seinem Vortrag La censura romana e la filosofia moderna – Die römische Zensur und die neuzeitliche Philosophie – mit Recht betont: Wenn im Jahre 1758 der Heliozentrismus von der Androhung kirchlicher Strafen befreit wurde, dann war dies ein unvollständiger Rechtsakt, solange nicht auch die Philosophie neu bewertet wurde, die daraus die Konsequenzen zog: die Theorie der Subjektivität.3 Wenn Kant den Anspruch des Verstandes formuliert hat, eine Gesetzgebung über alle erkennbaren Objekte auszuüben, dann hat er nichts anderes getan, als die Folgerung zu ziehen, die sich aus der Entdeckung der Subjektivität am Beginn der Neuzeit ergeben hat. Freilich muss an dieser Stelle – mit Bezug auf die Konstruktion einer ‚Welt‘ – noch einmal wiederholt und betont werden, was an früherer Stelle über die Konstruktion des Raumes und der Zeit gesagt worden ist: Die Konstruktion einer Welt, in der alle Beziehungen endlicher Substanzen definiert werden, schließt jegliche Willkür aus, folgt präzisen Regeln, in diesem Falle den Regeln der Logik, und beweist auf diese Weise zugleich die Autonomie der Vernunft und die strikte Unterwerfung des Individuums. Das entscheidende und oft zitierte Beispiel dafür ist die Zahlenreihe. Sie ist ein Konstrukt der Vernunft; aber eben deshalb ist sie die Bedingung für die objektive Geltung aller Zahlenverhältnisse und schließt nicht nur jede Willkür aus, sondern auch jede Abhängigkeit von individuellen Unterschieden der Betrachter. 1.2 1.2 Die neuzeitliche Metaphysik – eine Meta-Gnoseologie Die neuzeitliche Metaphysik – eine Meta-Gnoseologie Die kopernikanische Wendung ist – sowohl im Zusammenhang der Physik als auch in dem der Metaphysik – eine ‚Wendung zum Subjekt‘ gewesen, aber keine Wendung zum Subjektivismus. Die Logik löste sich in der frühen Neuzeit nicht auf in Psychologie, und die Ontologie blieb, was sie immer war: die Wissenschaft vom Seienden als einem solchen, nicht die Beschreibung bloßer Vorstellungen. Alle Kritik am Erkennen – den cartesischen Zweifel eingeschlossen – diente dazu, die objektive Geltung unserer Erkenntnisse zu sichern. Deshalb hat auch die Kritik an einigen Momenten der aristotelischen Metaphysik – vor allem an seiner Theorie der Bewegung und ihres Bewegers – nicht zu einer Geringschätzung der Metaphysik als einer solchen geführt. Vom 16. Jahrhundert bis zu ersten Hälfte des 19. sind intensive Diskussionen über Probleme der Metaphysik 3 Saverio Ricci, La censura romana e la filosofia moderna, in: L’uomo moderno e la chiesa, hg. v. Paul Gilbert, Rom 2012, S. 99 ff. 5 6 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft geführt worden. Aber der Ausgangspunkt dieser Diskussionen hatte sich verändert. Die neuzeitliche Metaphysik war nicht länger ‚Meta-Physik‘, ein ‚Zu-Ende Denken der physikalischen Fragestellungen‘, sondern ‚Meta-Gnoseologie‘, Freilegung der Bedingungen allen Erkennens. Die leitenden Fragen einer solchen Meta-Gnoseologie lauten: Auf welche Weise muss man das ‚Seiende als solches‘ verstehen, wenn man seine ‚Wahrheit‘ begreifen will, das heißt: seine Selbst-Manifestation, an der wir unsere Urteile kritisch überprüfen? Auf welche Weise muss das erkennende Subjekt sich selber verstehen, um seine Bestimmung zu begreifen? Und welches sind die Bedingungen, die die Aufgaben erfüllbar machen, die sich aus dieser Bestimmung ergeben? Es war die letzte dieser drei Fragen, die einen neuen Zugang zu einer Philosophischen Theologie eröffnet hat. Der Gott der neuzeitlichen Philosophie war entlastet von der Aufgabe, Beweger des Fixsternhimmels zu sein, und gewann die Aufgabe eines unentbehrlichen Mittlers zwischen der Autonomie der Vernunft und der Wahrheit der Dinge. Descartes hat auf unübertreffliche Weise diese neue Bedeutung der Philosophischen Theologie ins Wort gefasst: „Ich sehe auf ganz offenkundige Weise, wie die Gewissheit und Wahrheit allen Wissens von der einen Erkenntnis des wahren Gottes abhängt. Und das gilt so sehr, dass ich von keiner Sache irgendetwas auf vollkommene Weise wissen kann, wenn ich nicht zuerst Gott erkannt habe.“4 Und in der Tat gibt es keine andere Epoche in der Geschichte der Philosophie, in der man so intensiv über ‚Gottesbeweise‘ diskutiert hätte wie in der Periode von Descartes bis Kant. Diese leidenschaftlichen Diskussionen werden daraus verständlich, dass in dieser Epoche die Gottesfrage sich nicht am Ende des philosophischen Diskurses stellte, als wäre sie deren letzte Ergänzung, sondern an deren Anfang: als die Frage, wie Erkennen überhaupt und als solches möglich sei. 1.3 1.3 Ein identisches Problem – drei Weisen seiner Lösung: Die drei Klassiker der frühen Neuzeit: Descartes, Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz Ein identisches Problem – drei Weisen seiner Lösung Die zu Beginn der Neuzeit neu entdeckte menschliche Subjektivität ist im Laufe der folgenden Jahrhunderte sehr unterschiedlich gedeutet worden. Aber die verschiedenen Auffassungen der Philosophen jener Epoche lassen sich als verschiedene 4 René Descartes, Meditationes de prima philosophia, 1641, Meditatio V, 16: „Plane video omnis scientiae certitudinem et veritatem ab una veri Dei cognitione pendere, adeo ut, priusquam illum nossen, nihil de ulla alia re perfecte scire potuerim.“ Übersetzung oben vom Verfasser. 1.3 Ein identisches Problem – drei Weisen seiner Lösung 7 Weisen verstehen, ein identisches Problem zu lösen. Wenn ‚Erkennen‘ immer bedeutet, ‚ein Modell zu konstruieren‘, wie gewinnen wir dann ein Urteil darüber, ob diese Konstruktionen objektive Geltung beanspruchen können? Und jenseits aller Differenzen liegt den unterschiedlichen Lösungs-Angeboten eine gemeinsame Überzeugung zugrunde: Die Autoren dieser Epoche waren überzeugt, dass mit dem Ende der aristotelischen Kosmologie auch seine Metaphysik, insbesondere sein Theorie der Ruhe – der Bewegung und des ersten unbewegten Bewegers – ihr Fundament verloren hat. Aber sie waren gleichermaßen davon überzeugt, dass damit weder das Ende der Metaphysik im Allgemeinen noch das Ende der Philosophischen Theologie im Besonderen gekommen sei. Nur der Kontext aller metaphysischen und theologischen Diskurse hatte sich verschoben: von der Kosmologie zu einer Theorie des Subjekts. Und die drei genannten Autoren waren weiterhin in der Überzeugung einig: Man kann den Menschen als denkendes Subjekt nicht verstehen, ohne zugleich von Gott zu sprechen. Nur wenn es uns gelingt, die menschliche Subjektivität auf eine Beziehung zu Gott zu gründen, können wir die spezifische Gefahr der neuzeitlichen Subjektivität überwinden: die Gefahr, sich in ihre eigenen Konstruktionen zu verstricken und sich der Realität der Welt zu entfremden. In jeder gelingenden Weltbeziehung des Menschen manifestiert sich zugleich seine – oft ihm selber verborgene – Gottesbeziehung. In diesem Sinne hat Costantino Esposito in seinem Aufsatz über Suárez und den Aristotelismus die erste Epoche der neuzeitlichen Philosophie treffend als ‚philosophisches Barock‘ charakterisiert.5 1.3.1 Descartes Für Descartes enthält schon die Tatsache, dass wir uns selbstkritisch fragen können, ob wir uns nicht, wie von einem Lügengeist besessen, in unsere eigenen Konstruktionen verstrickt haben, den Ansatz zu einer Lösung des Problems: Die Resultate unserer Konstruktionen sind, sofern sie nach den Regeln der Vernunft hervorgebracht worden sind, für uns unvermeidlich. Dass wir dennoch an ihrer objektiven Geltung zweifeln können, zeigt eine selbstkritische Distanz der Vernunft von sich selber an: Wir können denken, dass das, was für uns logisch notwendig ist, nichtsdestoweniger falsch sein könnte. Die Fähigkeit unserer Vernunft, auf 5 Costantino Esposito, Francisco Suárez e l’Aristelismo. Intervista a Costantino Eposito a cura di Jacopo Francesco Fallà, in: Lo Sguardo. Revista di Filosofia 5 (2001) H. 1, S. 27 ff.; abrufbar unter http://www.losguardo.net/wp-content/uploads/2016/03/aristotelismo. pdf; letzter Aufruf v. 21. Juni 2016. 7 8 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft solche Weise eine kritische Distanz zu sich selber zu gewinnen und an dem, was für uns denknotwendig zu sein scheint, zu zweifeln, beweist, dass wir nicht die Gefangenen unserer eigenen Konstruktionen sind. Diese Befreiung der Vernunft aus der Gefangenschaft in ihre eigenen Konstruktionen zeigt unsere Beziehung zu einem ‚allervollkommensten Wesen‘ an: Nur indem wir uns mit ihm vergleichen, entdecken wir unsere essentielle Unvollkommenheit. Auf solche Weise schließt die Fähigkeit zum radikalen Zweifel die Beziehung unserer Vernunft zu der befreienden Wahrheit Gottes ein. Da nun diese Beziehung wirklich und wirksam ist, zeigt sie zugleich die Wirklichkeit des befreienden Gottes an. Dieser Gott unterwirft uns nicht einer trügerischen Verzauberung. Wir können sicher sein, uns auf dem Weg der Wahrheit zu befinden, wenn wir uns sorgfältig an die Regeln halten, die unserer Vernunft durch ihren Schöpfer eingeschrieben sind. Der gleiche Gott aber bestraft uns durch Irrtümer, denen wir verfallen, wenn wir die Grenzen der strengen Argumentation überschreiten und uns auf unerweisliche Hypothesen oder sophistische Schein-Argumente einlassen.6 1.3.2 Spinoza Für Spinoza bewahren uns zwar die gottgegebenen Regeln der rationalen Argumentation vor allem Irrtum. Aber ein ausschließlich schlussfolgerndes Denken bleibt der Wirklichkeit auf befremdliche Weise fern. Diese Realitätsferne wird insbesondere in der Motivations-Schwäche derartiger Argumentationen offenbar. Nur allzu oft reicht die logische Argumentation, trotz der Wahrheit ihrer Resultate, nicht dazu aus, uns zum rechten Verhalten zu motivieren. Deshalb muss unser Denken diese Stufe des Erkennens überschreiten und eine höchste Erkenntnisstufe erreichen. Auf dieser höchsten Erkenntnisstufe sind nicht mehr wir es, die über den Gegenstand urteilen, sondern „der Gegenstand selbst ist es, der in unserem Denken etwas von sich bejaht oder verneint“.7 Zuletzt aber sehen wir ein: Es gibt nur eine einzige ‚Sache‘, die auf solche Weise im Innersten unseres Denkens zu Worte kommen kann: Gott, dessen unendliches Denken sich im menschlichen Denken als seiner endlichen Erscheinungsgestalt ausdrückt. Weil nun aber das göttliche Denken, im schlichten Akt seines Selbstbewusstseins, den Gedanken an alle Dinge einschließt, kann auch das menschliche 6 7 Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, Meditatio VI. Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, um 1660, II, Kap. 16, nr. 5. 1.3 Ein identisches Problem – drei Weisen seiner Lösung 9 Denken, endliche Ausdrucksgestalt des unendlichen göttlichen Denkens, alle Dinge erfassen, die Gott gedacht hat.8 1.3.3 Leibniz Für Leibniz sind wir Menschen nicht, wie Spinoza meinte, kraft unseres Denkens die endlichen ‚Modi‘, in denen die unendliche Substanz Gottes und ihr Denken sich ausdrückt. Wir sind selber ‚Substanzen‘, mithin Wesen, die zu Handlungen fähig sind, und zwar zu solchen Handlungen, die ausschließlich uns als den Handelnden zugerechnet werden müssen. Deshalb ist das Kriterium der Substantialität die ‚vollkommene Eigentätigkeit‘ – parfaite spontanéitée. Jede Eigenschaft, jeder Zustand und jede Verhaltensweise sind nur Akzidentien und können nur dadurch existieren, dass sie der Substanz ‚inhärieren‘. Solche Akzidentien können sich nicht von der Substanz ablösen und ‚draußen spazierengehen‘ – se promener en dehors. Ein Impuls, Eigenschaft eines bewegten Körpers, ist deshalb kein ‚Reiter, der sein Ross wechseln könnte‘. Darum kann ein solcher Impuls nicht von einem Körper auf den anderen übergehen, wie die Physiker meinen. Die Substanzen haben keine Fenster, durch die ein Einfluss von außen eintreten oder nach außen wirksam werden könnte.9 Die oft betonte ‚vollständige Eigentätigkeit des Denk-Aktes‘ ist nichts anderes als das ausgezeichnete Beispiel der vollständigen Eigentätigkeit im Akt des Seins, die das gemeinsame Merkmal aller Substanzen ist. Wie niemand den Akt des Denkens anstelle eines anderen vollziehen kann, so auch nicht den Akt des Seins. Niemand kann das Leben eines anderen leben – nicht einmal das Sein eines unbelebten anderen Seienden an seiner Stelle vollziehen. Die vollständige Eigentätigkeit des Denkens als ausgezeichnetes Beispiel für die vollständige Eigentätigkeit jeder Substanz erweist sich zugleich als geeignet, eine Lösung des Problems anzubieten, wie eine Beziehung zwischen vollständig selbstbestimmten Substanzen möglich sei. Die Antwort, die Leibniz gibt, lautet: Die Beziehung zwischen verschiedenen Substanzen ist im schöpferischen Denken Gottes begründet. Bei der Erschaffung jeder einzelnen Substanz hat Gott an alle anderen gedacht. Die Spuren dieser göttlichen Gedanken sind darum jeder einzelnen Substanz eingeschaffen. Deshalb ist jede endliche Substanz ‚ein lebendiger und beständiger Spiegel des Universums und aller seiner Teile‘.10 Und diejenigen Substanzen, die ein Selbstbewusstsein besitzen, die ‚Seelen‘, können in ihrem Selbst8 9 10 Vgl. ebd., Einleitung zum Zweiten Teil. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, 1714, nr. 7. Ebd., nr. 60-63. 9 10 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft bewusstsein diese Spiegelung aller anderen Kreaturen entdecken. Darauf beruht die Beziehung zwischen dem Denken als einem ‚vollständig selbstbestimmten‘ Akt und den äußeren Objekten. Ein solches Denken ist ‚wahr‘, das heißt: seinen Objekten angemessen, sofern es ein Bewusstsein von seiner Perspektivität einschließt. Es spiegelt alle anderen Substanzen unter seiner je besonderen Perspektive. Denn Gott hat jede Substanz in einem individuellen Schöpfungsakt als eine unverwechselbar individuelle Kreatur geschaffen. Wer den Schöpfer nicht mit seinen Geschöpfen verwechseln will, muss daher auf selbstkritische Weise unterscheiden: Zwar können wir in unserem Selbstbewusstsein alle Dinge entdecken. Aber keine Kreatur erschöpft sich in der Weise, wie das einzelne endliche Subjekt sie begreift. 1.4 1.4 Eine erste Frage an die Kirche Eine erste Frage an die Kirche Die drei Klassiker der frühen Neuzeit – Descartes, Spinoza, Leibniz – waren Menschen von lebendiger Religiosität. Und diese ihre Religiosität war keine private Angelegenheit, getrennt von ihrer öffentlichen Tätigkeit als Forscher. Diese drei Autoren haben die Fundamente der Wissenschaft selbst religiös interpretiert: als Manifestationen der göttlichen Wahrhaftigkeit – veracitas, wie Descartes schreibt; als Ausdrucksformen seiner Güte, die seine Kreaturen dazu bestimmt, seine Unendlichkeit auf endliche Weise auszudrücken – Spinoza – ; als Manifestationen seiner Gerechtigkeit, die bei der Erschaffung jedes Geschöpfs an alle anderen denkt und so keines von ihnen zugunsten eines anderen missachtet – Leibniz – . Darum kann man fragen: Warum ist die Epoche der sich erst neu etablierenden Wissenschaft, das 17. und 18. Jahrhundert, nicht – durch Beziehung auf solche großen Beispiele – zu einer Epoche der Begegnung von Glauben und Wissenschaft geworden? Gewiss: Man darf nicht vergessen, dass die genannten drei Klassiker der frühen Neuzeit sich von seiten der Religionsgemeinschaften, denen sie angehörten, vielfältigen Verdächtigungen und Angriffen ausgesetzt fanden. Während seines ganzen Lebens hat Descartes, gewiss auf eine übertriebene Weise, gefürchtet, vor einem kirchlichen Gerichtshof angeklagt zu werden wie sein Vorbild Galileo Galilei. Und in der Tat ist sein methodischer Zweifel, Ausdruck der Selbstkritik einer Vernunft, die sich ihrer Gefährdungen bewusst geworden war, verdächtigt worden, die Fundamente des Glaubens und vor allem der kirchlichen Autorität zu untergraben. Spinoza, der Bekenner der geistigen Gottesliebe – amor Dei intellectualis – , wurde von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert, nicht nur unter dem Vorwurf, Pantheist zu sein, sondern auch als einer der Begründer der 1.5 Die kantische Wendung 11 historischen und darum kritischen Interpretation der Bibel.11 Leibniz aber musste sich beständig verteidigen gegen die Angriffe der Pietisten und der entstehenden lutherischen Orthodoxie. Alle diese Vorwürfe, Einwendungen und sogar Verdächtigungen hatten ihre ernsten und gewichtigen Gründe. Und dennoch bleibt zu fragen: Rechtfertigen diese kritischen Argumente gegen die neuzeitliche Philosophie die immer neuen Versuche, zu einem prä-modernen Denken zurückzukehren? War es wirklich unvermeidlich, dass der christliche Glaube und die Menschen der Neuzeit, die sich ihrer Subjektivität bewusst geworden waren, sich fortschreitend voneinander entfremdeten? Wäre es nicht möglich gewesen, im vollen Bewusstsein von der Notwendigkeit der Kritik, von den Autoren der frühen Neuzeit zu lernen und deutlicher herauszuarbeiten, wie fruchtbar ein Dialog zwischen dem christlichen Glauben und einem religiösen Verständnis der neuzeitlichen Wissenschaft hätte sein können? Und wäre es nicht wenigstens heute der Mühe wert, den Versuch zu unternehmen, die Spuren des göttlichen Wirkens gerade im Innern der menschlichen Subjektivität zu entziffern? 1.5 Die kantische Wendung 1.5 Die kantische Wendung Kant beanspruchte nichts anderes, als die notwendigen Konsequenzen aus jener kopernikanischen Wendung zu ziehen, die die Physiker und insbesondere die Astronomen in den ersten Jahrzehnten der Neuzeit vollzogen hatten.12 Aber durch die Stringenz, mit der er diese Konsequenzen gezogen hat, unterscheidet Kant sich von den erwähnten Autoren. Insofern bezeichnet seine Philosophie eine neue Wendung des neuzeitlichen Denkens. 1.5.1 Zwei Epochen der neuzeitlichen Philosophie: Vom Selbstvertrauen der Vernunft in der Aufklärungszeit zur kantischen Kritik Mit Kant beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie: nach der Epoche der Entdeckung der Subjektivität jene ihrer Kritik. Die Kritik der reinen Vernunft bezeichnet die Schwelle zwischen diesen beiden Epochen. Aber 11 12 Vgl. dazu Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 1670. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XII-XIII. 11 12 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft der Beginn dieser neuen Epoche erinnert in mancherlei Hinsicht an den Beginn der ersten. Und es wird sich zeigen: Gerade auf dem Hintergrunde dieser Gemeinsamkeiten treten die Unterschiede beider Epochen deutlich hervor. Am Beginn der neuzeitlichen Philosophie hatte Descartes die Erfahrung gemacht, dass die Vernunft der Gefahr ausgesetzt ist, zur Gefangenen ihrer eigenen Konstruktionen zu werden. Diese Erfahrung hatte seinen radikalen Zweifel hervorgerufen. Dieser Zweifel aber galt ihm als Beweis dafür, dass die Vernunft die Kraft hat, dieser Gefahr zu widerstehen: der Zweifelnde kann Distanz nehmen gegenüber seinen eigenen Gedanken. In dieser Fähigkeit fand Kant das Zeugnis dafür, dass der Mensch sich in einer befreienden Gottesbeziehung befindet. Und das Vertrauen in Gott und seine Wahrhaftigkeit ermutigte den Menschen zu einer radikalen Selbstkritik ohne Neigung zum Skeptizismus und zugleich zu einem Selbstvertrauen der Vernunft ohne Neigung zur Selbst-Überschätzung. Für die nachfolgenden Autoren schien diese Weise, das Selbstvertrauen der Vernunft auf ein Gottvertrauen zu gründen, jeden Zweifel auszuschließen – immer unter der Voraussetzung, dass die Individuen sich den Regeln der Vernunft unterwerfen. Descartes‘ besondere Leistung wurde darin gesehen, dass er den Zweifel, den er ins Wort gefasst hat, ein für allemal überwunden hat. Für Kant dagegen lebte der radikale Zweifel wieder auf. Dem lag die Erfahrung zugrunde, dass innerhalb der Vernunft selbst unvermeidliche Widersprüche auftreten. Die zwei Weisen des ‚Gebrauchs‘ der Vernunft manifestieren sich in einer zweifachen ‚Gesetzgebung‘. Aber die Ziele dieser Gesetzgebung, der Aufbau der ‚Natur‘ und des ‚Reichs der Zwecke‘, widerstreiten einander. Dieser Widerstreit aber untergräbt das Vertrauen in die Vernunft und in die Gültigkeit ihrer Argumente. Und von Neuem war es, wie schon zu Beginn der Neuzeit, die Gottesbeziehung, die es gestattete, das verlorene Selbstvertrauen der Vernunft wiederzugewinnen. Wie aber der Zweifel bei Kant eine andere Form annimmt als bei Descartes, so unterscheidet sich auch die kantische Lösung von der cartesianischen. Der Zweifel ergibt sich nicht aus den geschlossenen Systemen, in denen die Vernunft sich selber gefangen halten könnte, sondern aus dem Selbst-Widerspruch der Vernunft, deren Ziele einander widerstreiten. Dieser Zweifel kann nicht, wie der cartesische, durch das Vertrauen auf Gott und seine Wahrhaftigkeit aufgelöst werden, die die Wahrheit der Ergebnisse des Argumentierens garantiert, sofern diese Argumentation sich an ihre Regeln hält. Die Widersprüche, die Kants Zweifel erregen, ergeben sich gerade dann, wenn das denkende Subjekt sich streng an seine Regeln hält. Es sind die Regeln selbst, die einander widersprechen, sobald es nötig wird, beide Arten des Vernunftgebrauchs miteinander zu verbinden. Und über Kant hinaus wird man sagen müssen: die so entstehenden Widersprüche betreffen nicht nur den praktischen Vernunftgebrauch, sondern auch den theoretischen. Eine Welt, in der 1.6 Einige Charakteristika der kantischen Philosophie 13 die wichtigsten Inhalte der praktischen Erfahrung nicht vorkommen, vor allem die Freiheit und das Bewusstsein der Pflicht, kann auch in theoretischer Hinsicht nicht als angemessen begriffen gelten. Diese neuen Zweifel an der Vernunft lassen sich nur durch ein neues Verständnis der Vernunft in jeder Weise ihres Gebrauchs beheben. Die durch diesen Zweifel angefochtene Vernunft gewinnt ihre Glaubwürdigkeit nur zurück, wenn sie sich als ‚intellectus ektypus‘ versteht, der auf einen von ihr verschiedenen ‚intellectus archetypus‘ verweist: auf den göttlichen Verstand. Versucht man, in einer über Kant hinausgehenden Interpretation diese Folgerung noch deutlicher zu formulieren, dann kann man sagen: Die Autonomie der Vernunft und die Gesetze, die sie dem Subjekt und seiner Erfahrungswelt vorschreibt, dürfen und müssen als die Erscheinungsgestalten einer göttlichen Gesetzgebung verstanden werden. Nur deshalb sind, wie Kant mit Recht betont hat, auch die Pflichten, die unsere Vernunft uns vorschreibt, die Erscheinungsgestalten göttlicher Gebote. Die Schritte, die zu Kants Lehre von der Vernunft-Dialektik und ihrer Aufhebung durch einen postulatorischen Gottesglauben geführt haben, und die weiterführenden Argumente, die die hier vorgeschlagene Kant-Interpration rechtfertigen, werden im Folgenden nachgezeichnet werden. Dadurch wird auch deutlich werden, welche Bedeutung einer weiterentwickelten Postulatenlehre in der geistigen Gegenwarts-Situation Europas zukommen kann. 1.6 Einige Charakteristika der kantischen Philosophie 1.6.1 Ein neues Verständnis der Wahrheit 1.6 Einige Charakteristika der kantischen Philosophie Die ‚Welt‘ – also jener all-umfassende Zusammenhang, innerhalb dessen alle Objekte unseres Erkennens ihren ‚funktionalen Ort‘ finden – ist ein Konstrukt unserer Vernunft. Unsere Begriffe, wie beispielsweise ‚Substanz‘ und ‚Kausalität‘, machen deutlich, welches die Funktionen sind, die die einzelnen Objekte in diesem Kontext erfüllen. Ausschließlich durch diese Funktionen sind die Objekte unserer Verstandes-Erkenntnis definiert. Die Objekte zeigen, ‚was sie sind‘, traditionell gesprochen: ihre ‚Quidditas‘, indem sie ihren Ort in diesem Netz von Funktionen erkennen lassen. Und es ist immer die Vernunft, die dieses Netz geknüpft hat. Um die Weise zu überprüfen, wie wir die Dinge begreifen, haben wir keinen Maßstab, der von diesen Resultaten unserer Konstruktion unabhängig wäre. Die Wahrheit unserer Urteile kann nicht dadurch bestimmt werden, dass wir unsere Gedanken mit den Sachen vergleichen, weil diese uns nicht abseits von unserem Denken zum Bewusstsein kommen. Das Wahrheitskriterium besteht insofern aus13 14 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft schließlich in der inneren Kohärenz unserer Konstruktion: „Alsdenn sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben.“13 Kant sagt: Wenn wir synthetische Einheit ‚bewirkt‘ haben. Deshalb stellt sich das Problem der Wahrheit für Kant nicht in der Form: ‚Wie können wir wissen, ob unsere Konstruktionen den extramentalen Realitäten entsprechen?‘ Denn was außerhalb des Bewusstseins ist, kann uns per definitionem nicht bewusst werden. Der Anspruch, mit den Sachen übereinzustimmen, reduziert sich auf die logische Notwendigkeit, mit der eine bestimmte Weise der Synthesis sich von allen anderen unterscheidet. Als Objekt gilt das, „was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt“ seien, so dass der Gedanke der Beziehung auf einen Gegenstand „etwas von Notwendigkeit mit sich führe“.14 Die Konsequenzen aus diesem Wahrheitsverständnis sind schwerwiegend. Um die Einheit unserer Auffassungsart zu garantieren und um nachzuweisen, dass eine bestimmte Weise der Synthesis notwendig sei, ist die Vernunft sich selber genug. In dieser Hinsicht ist es weder notwendig, auf einen ‚wahrhaftigen Gott‘ zurückzugreifen – wie Descartes – noch auf eine unendliche Substanz – wie Spinoza – noch auf das Denken eines Schöpfers aller Dinge, das seine Spuren jeder einzelnen seiner Kreaturen eingeprägt hat – wie Leibniz – . Darum ist es nicht mehr nötig, einen Gottesbeweis zu führen, um den Wahrheitsanspruch unserer Erkenntnisse zu rechtfertigen. Überdies scheint ein solcher Gottesbeweis auch unmöglich; denn unsere Begriffe sind nur Konstruktions-Anweisungen, deren Konstruktionsziele sind: die Welt als universaler Funktionszusammenhang und die einzelnen innerweltlichen Objekte, die in diesem Zusammenhang ihre Stelle finden. Wenn auch in dieser Situation eine Philosophische Theologie möglich bleiben soll, muss sie ihre Aufgabe ebenso ändern wie ihre Methode. Die Philosophen der frühen Neuzeit suchten und fanden Gott in den Fundamenten unseres Wissens. Kant hat ihn an den Grenzen dieses Wissens gefunden. Freilich sind für Kant diese Grenzen nicht nur Orte der Begegnung mit dem Unbegreiflichen, sondern vor allem Gelegenheiten, um ein neues Verständnis der Vernunft auszuformen. 13 14 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 105. Ebd. 1.6 Einige Charakteristika der kantischen Philosophie 1.6.2 15 Ein neuer Ausgangspunkt der Philosophischen Theologie: die Dialektik der reinen Vernunft und der postulatorische Vernunftglaube Die Frage: ‚Was garantiert die Übereinstimmung unserer Gedanken mit der extramentalen Wirklichkeit?‘ war, so hat sich gezeigt, durch Kants Kritik gegenstandslos geworden. ‚Extramentales‘ ist per definitionem kein Gegenstand unserer Reflexion. Aber auch unter dieser Voraussetzung bleibt die – eingangs schon gestellte – Frage bestehen: Auf welche Weise muss das denkende Subjekt sich verstehen, um seine Bestimmung zu erkennen? Und welches sind die Voraussetzungen dafür, dass die Pflichten, die aus dieser Bestimmung folgen, auch erfüllbar sind? Kant wollte, ebenso wie seine Vorgänger, deutlich machen, dass die Antwort auf diese Frage lautet: Es ist die Gottesbeziehung des Subjekts, die ihn seine Bestimmung erkennen und ihrer Erfüllbarkeit gewiss sein lässt. Aber diese Gottesbeziehung kommt nach Kants Auffassung dem Menschen in einer spezifischen Form zum Bewusstsein: in der Form eines postulatorischen Glaubens. Für Kant wie für seine Vorgänger beruht die objektive Geltung unserer Erkenntnis auf der strikten Unterwerfung der Individuen unter die Gesetze der Vernunft. Die Einheit dieser Vernunft zeigt sich daran, dass für alle vernünftigen Urteile die gleiche Regel gilt: Die Vernunft verlangt, dass jedes Individuum sich so verhält, dass jedes andere an seine Stelle treten könnte. Wer objektive Geltung beansprucht, dem ist es nicht erlaubt, irgendetwas zu behaupten oder zu wollen, was sich nicht ‚im Namen aller‘ behaupten beziehungsweise wollen lässt. ‚Objektive Geltung‘ ist gleichbedeutend mit ‚allgemeiner Geltung‘. Diese aber ist erst erreicht, wenn die Frage: ‚Wer sagt denn das?‘ jede Bedeutung verliert. Aber, und darin geht Kant über seine Vorgänger hinaus, diese Vernunft verlangt – trotz der Einheit ihrer Natur – zwei Weisen ihres Gebrauchs: den theoretischen und den praktischen. Jede dieser Weisen des Vernunftgebrauchs führt zum Aufbau einer ‚Welt‘, also eines Zusammenhangs, der alle Objekte umfasst. Aber jede Weise des Vernunftgebrauchs führt zum Aufbau einer besonderen Welt: der ‚Natur‘ als des Ganzen aller Objekte des theoretischen Erkennens und der ‚Welt der Zwecke‘ als der Ganzheit aller derjenigen Objekte, die uns zur praktischen Verwirklichung aufgegeben sind. Die Natur und die Welt der Zwecke unterscheiden sich aber durch ihre Struktur. Deshalb scheint es unmöglich zu sein, in derjenigen Welt, die wir theoretisch erkennen, die Zwecke zu realisieren, die die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch uns vorschreibt. Aber gerade dies verlangt das Sittengesetz. Folglich scheint das Sittengesetz in sich widersprüchlich zu sein.15 15 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, A 205. 15 16 1 Die ‚Kopernikanische Wendung‘ in der Wissenschaft Diese Konsequenz lässt sich nur durch das folgende Postulat vermeiden: Unsere Pflichten, die die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch uns vorschreibt, können und müssen als die Erscheinungsgestalten der Gebote jenes Gottes verstanden werden, der zugleich der Schöpfer ist und dessen Gesetzgebung über seine Kreaturen ihre Erscheinungsgestalt in den Naturgesetzen findet, die die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch unserem Denken und all seinen Gegenständen vorschreibt.16 1.6.3 Eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen Im Laufe des 18.Jahrhunderts gewann die Wissenschaft eine so große Selbstgewissheit, dass die Forscher jene selbstkritischen Fragen vergaßen, auf die die Philosophen mit ihren meta-gnoseologischen Theorien geantwortet hatten. Damit ging der Zusammenhang zwischen neuzeitlicher Wissenschaft und neuzeitlicher Metaphysik verloren, und die Wissenschaft nahm mehr und mehr positivistische und naturalistische Züge an. Damit aber nahm zugleich die Entfremdung der Wissenschaft vom Glauben in solchem Maße zu, dass in der ‚Welt der Wissenschaft‘ weder für die Freiheit des Menschen noch für das Wirken eines Gottes ein Platz zu bleiben schien. Es war diese positivistisch und naturalistisch gewordene Wissenschaft, die Kant zu dem Urteil veranlasst hat: „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“.17 Doch führte die Aufhebung dieser positivistisch und naturalistisch gewordenen Wissenschaft weder zur Ablehnung der Wissenschaft im Allgemeinen noch zu einem irrationalistischen Verständnis des Glaubens. Im Gegenteil: Das, was Kant freilegen wollte, waren ‚die metaphysischen Anfangsgründe der Wissenschaft‘, sei es der Naturwissenschaft oder der moralischen Wissenschaften. Und was er auf diesem Wege aufzeigen wollte, war die Legitimität eines Vernunftglaubens. Kant konnte die Wissenschaft in derjenigen Gestalt, in der er sie vorfand, ‚aufheben‘, weil er gezeigt hatte: Die Wissenschaft hat es mit Erscheinungen zu tun, das heißt mit den Weisen, wie das Wirkliche sich uns zeigt. Diese Weisen des Sich-Zeigens aber hängen von Bedingungen ab, die das erkennende Subjekt ihnen vorgibt. Die Wissenschaft sichert die objektive Geltung dieser Erscheinungen, also ihre Maßgeblichkeit, so dass sie für uns zu Maßstäben werden können, an denen wir die Wahrheit unserer Urteile überprüfen. Aber das gilt nur so lange, wie die Vernunft, auf deren Gesetzen der Aufbau der Gegenstandswelt beruht, sich nicht 16 17 Ebd., A 233. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXX.