MEDIZIN IN DER PRAXIS ❘ DEPRESSION Depressiv Erkrankte erkennen und behandeln Am Anfang stehen oft nur diskrete Signale Marion Torge, Monika Peitz, Martin Beyer, Ferdinand M. Gerlach, Harm van Marwijk, Jochen Gensichen Depression – Licht am Ende des Tunnels? Erhöhtes Depressionsrisiko bei Patienten mit: ❚ Z. n. depressiver Störung oder Suizidversuch oder betroffenen Verwandten 1. Grades ❚ schwerer körperlicher Erkrankung ❚ Alkohol- oder Drogenproblemen ❚ Angst- oder Panikstörungen Hoffnungs-, Freud- und Interessenverlust sind Symptome einer Depression, die zuerst erfragt werden sollten, wenn Patienten niedergeschlagen wirken. Auch bei einem ungewöhnlichen Anstieg der Arztkontakte oder unerklärlichem „Ärztehopping“ sollten Sie an Depression denken, die Symptomatik strukturiert erfassen und eine systematische Therapie mit dem Patienten entwickeln. ■ Dieser Beitrag zur Depressions-Diagnostik und -Therapie durch den Hausarzt ist eine Hilfe bei Patienten mit Verdacht auf diese Erkrankung. Da es derzeit noch keine deutsche Leitlinie für die Hausarztpraxis zum Thema gibt, haben wir die Empfehlungen der evidenzbasierten Leitlinie unserer holländischen Kollegen für Deutschland angepasst. Wir wählten diese aus 22 internationalen Leitlinien aus, weil sie sich u. a. als besonders praktikabel für unsere tägliche Arbeit erwiesen hat. Sind keine Hinweise angegeben, so ist die Leitlinie der niederländischen Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin (Nederlands Huisartsen Genootschap, NHG, 2003) als wissenschaftliche Quelle hinterlegt. Problemfeld Depression Depressive Patienten sind häufig im Praxisalltag: Es wurden Stichtagsprävalenzen von 5 – 11 % ermittelt [1]. Depressionen sind zudem schwerwiegende Erkrankungen. So schätzt die WHO, dass Depression im Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für eine dauerhafte Behinderung sein wird. Im Alltag ist das Erkennen einer Depression eine Herausforderung für den Hausarzt, denn kaum ein Patient kommt mit der Aussage „Herr Doktor, ich habe eine Depression!“ Zudem ist auch die adäquate Therapie in der Diskussion, z. B. „Tricyclische Antidepressiva (TCA) oder Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)?“ oder „Erhöhte Suizidalität unter SSRI?“; „Wann überhaupt (noch) Antidepressiva?“. Solche Kontroversen können zu Unsicherheiten in Diagnostik und Therapie führen. Unterstützung können hier hochwertige Leitlinien bieten. Vergleich und Auswahl von Leitlinien Wir haben im Jahr 2004 22 internationale Depressions-Leitlinien für Hausärzte verglichen, unter 40 · Der Hausarzt · 5/06 anderem bezüglich der Darstellungsform, den Angaben zur Evidenz, eines durchgeführten PilotTests mit Hausärzten und spezifischen Hinweisen zur Einführung [2]. Die niederländische NHG-Leitlinie [3] konnte als besonders hochwertig eingestuft werden. Sie ist von Hausärzten für Hausärzte entwickelt und erprobt worden, bevor sie verbreitet wurde. Wir haben diese Leitlinie um aktuelle Aussagen der von uns ebenso als hochwertig eingestuften britischen NICE-Guideline (National Institute for Health and Clinical Excellence) [4] ergänzt bzw. Anpassungen für die spezifische deutsche hausärztliche Arbeit vorgenommen. Zudem wird aktuell für Deutschland eine S-3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie zur Depression von den entsprechenden Fachgesellschaften, auch unter Mitwirkung der DEGAM, erarbeitet. Wann an eine depressive Störung denken? An eine Depression sollte man vor allem bei Patienten mit gedrückter Stimmung oder bei Patienten, die einen niedergeschlagenen Eindruck machen denken. Seltener Blickkontakt, monotones Sprechen oder reduzierte Mimik sollten aufmerksam machen. Häufig ist der Eindruck vom Patienten jedoch nicht ausreichend oder trügt. Darüber hinaus können spezifische „Signalsituationen“ Hinweise geben, wann es sinnvoll ist, eine exakte Depressionsdiagnostik durchzuführen. Solche Situationen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Das Risiko, an einer Depression zu leiden, ist bei Patienten mit einer depressiven Störung oder einem Suizidversuch in der Vorgeschichte, bei Patienten mit Verwandten 1. Grades mit bekannter depressiver Störung oder Suizidversuch, bei Patienten mit schwerer körperlicher Erkrankung, mit Alkohol- oder Drogenproblemen oder mit Angstoder Panikstörungen erhöht. Der Hausarzt sollte Tab. 1 hier frühzeitig abklären, ob aktuell eine depressive Störung vorliegt. Bei diesen Patienten ist ein regelmäßiges Screening mit einem Fragebogen (z.B. PHQ-D, WHO-5) zur Depression hilfreich [4]. Ein langfristiger Nutzen für die Gesundheit durch ein ungezieltes Screening aller Patienten einer Hausarztpraxis ist nicht nachgewiesen. Angesichts einer eventuellen Stigmatisierung, aber auch wegen unverantwortlicher zusätzlicher Arbeitsbelastung für die Praxis, kann ein Depressions-Screening für alle Patienten nicht empfohlen werden. – wechselnde Beschwerden bei häufigem Sprechstundenbesuch – anhaltende Müdigkeit oder Beschwerden ohne körperliche Ursache – chronische Schmerzen – Nervosität oder Schlaflosigkeit; Verschreibungswunsch von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln – soziale Destabilität (z.B. alleinstehend, verwitwet) [2] – erfolglose Primärbehandlung bzw. erfolglose Mitbehandlung durch Kollegen anderer Fachdisziplinen [2] – Therapieabbrüche und Arztwechsel [2] – Verlust von wichtigen Bezugspersonen (z. B. Verlust des Ehepartners) [2] – Abnahme der Wahrnehmung, Abnahme der körperlichen oder funktionellen Kompetenz [2] – medizinisch unerklärte körperliche Symptome [2] – neurologische Erkrankungen (Demenz, M. Parkinson) [2] – Opfer von körperlicher, sexueller oder emotionaler Gewalt [2] – verstärkte Belastung durch zu pflegende Angehörige [2] Tab. 2 Worauf im Anamnesegespräch zu achten ist Im Anamnesegespräch sollte geklärt werden, ob eine depressive Störung tatsächlich vorliegt, wie groß Leidensdruck und Funktionseinschränkungen sind und welche Vorstellungen und Erklärungen der Patient zu seiner Situation hat. Auch sollte geklärt werden, ob nicht eine andere Erkrankung (Ko- oder Multimorbidität) oder ein Medikament Ursache der Beschwerden ist. Im Gespräch sollte der Hausarzt besonders auf Verhalten und Psychomotorik achten. Hier findet er unter Umständen schon Hinweise auf das Vorliegen einer Ruhelosigkeit (Agitiertheit) oder Verlangsamung (Hemmung) des Patienten. Wichtig ist, sich ausreichend Zeit zu nehmen und den Patienten im Gespräch nicht zu unterbrechen. Eine gute Gesprächsführung, Empathie und eine „aktiv zuhörende“ Haltung sind förderlich im Umgang mit depressiv Erkrankten. Eine Diagnose Depression sollte beim Patienten offen angesprochen werden. Zwei Kernfragen im Anamnesegespräch: Der Hausarzt klärt zunächst, ob eine gedrückte Stimmung oder ein Interessens- bzw. Freudeverlust vorliegt. Diese beiden Hauptsymptome können durch folgende Kernfragen erfasst werden: 1. Haben Sie sich in den vergangenen Wochen niedergeschlagen, deprimiert oder hoffnungslos gefühlt? 2. Haben Sie in den vergangenen Wochen bemerkt, dass Sie wenig Interesse aufbringen konnten oder keine Freude an dem empfinden konnten, was Sie taten? Werden beide Fragen verneint, so ist eine Depression unwahrscheinlich. Wird mindestens eine bejaht, sollte der Hausarzt die Nebensymptome abklären (Tab. 2). Die Symptome sollten über die Dauer von mindestens zwei Wochen beinahe täglich vorhanden sein. Eine depressive Störung liegt vor, Signalsituationen für eine Depressionsdiagnostik Diagnosekriterien depressive Störung (NHG/DSM-IV) Hauptsymptome: Nebensymptome: Depressive Störung angelehnt an die NHG u. nach DSM-IV: bei 1 Hauptsympt. – mind. eine der 2 Fragen bejaht – plus mind. 4 Nebensympt. o. beide Haupsympt. plus mind. 3 Nebensympt. (mind. 14 Tage fast tgl.) 1. Haben Sie sich in den vergangenen – Eindeutige Gewichtsab- oder -zunahme Wochen niedergeschlagen, deprimiert – Schlafstörungen oder übermäßiges Schlafen oder hoffnungslos gefühlt? JA – Psychomotorische Erregung oder Hemmung– 2. Haben Sie in den vergangenen Wochen Müdigkeit oder Verlust von Energie bemerkt, dass Sie wenig Interesse auf– Gefühle von Wertlosigkeit oder unbegründete bringen konnten oder keine Freude an Schuldgefühle dem empfinden konnten, was Sie – Konzentrationsprobleme oder Entscheidungstaten? JA schwierigkeiten – Gedanken an den Tod, Suizidgedanken oder -pläne Die in Deutschland geläufige ICD-10-Klassifikation macht folgende Angaben für die analog zu verstehende depressive Episode: Mind. 2 von 3 Hauptsympt. müssen 14 Tage bestehen plus 2 Nebensymptome. – gedrückte, depressive Stimmung – Interessenverlust, Freudlosigkeit – Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit Verlust von Selbstvertrauen / unbegründete Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle / Gedanken an Tod oder Suizidalität/ Aufmerksamkeits-, Konzentrations- oder Entscheidungsschwierigkeiten / Änderung der psychomotorischen Aktivität / Schlafstörungen / Appetitänderung wenn mindestens eines der Hauptsymptome erfüllt ist und mindestens 4 Nebensymptome erfüllt sind („Major Depression“ nach DSM-IV). Werden sogar beide Hauptsymptome bestätigt, sind auch schon 3 Nebensymptome ausreichend (Tab. 2). Der Hausarzt sollte auf jeden Fall berücksichtigen, dass eine gedrückte, depressive Stimmung auch eine vorübergehende, normale Reaktion auf Enttäuschung oder Verlust sein kann. Bei Trauer z. B. kann ein der depressiven Störung sehr ähnliches Bild entstehen. Erst wenn die Trauerreaktion zeitlich oder inhaltlich ungewöhnlich ist, ist an eine psychische Störung zu denken. Lebensumstände sind zu berücksichtigen Im Gespräch sollte der Hausarzt nach schwerwiegenden Ereignissen („life events“) und aktuellen Lebens- und Arbeitsumständen (Beziehungsprobleme oder Probleme am Arbeitsplatz, verminderte Selbst- Der Hausarzt · 5/06 · 41 MEDIZIN IN DER PRAXIS ❘ DEPRESSION sorge, Einstellung von Aktivitäten, Reduzierung von sozialen Kontakten, gehäufte Krankschreibungen) fragen. Zur Differentialdiagnostik bzw. Klärung einer eventuellen Komorbidität sollte noch erfragt werden, ob Wahnvorstellungen (depressive Episode mit psychotischen Merkmalen) oder manische Episoden (bipolare Störung) vorliegen, ob eine Angst- oder Panikstörung bekannt ist, ob Alkohol- oder Drogenprobleme bestehen oder eine relevante körperliche Komorbidität oder Erkrankungen wie Hypothyreose, Demenz und Morbus Parkinson vorhanden sind. zum Screening, z. B. auf Schilddrüsenfunktionsstörungen, werden nicht empfohlen. Bei anamnestischen Hinweisen auf andere Erkrankungen ist hingegen eine körperliche oder ergänzende Untersuchung zwingend durchzuführen. Auch bei älteren Patienten sollte eher eine körperliche Untersuchung erwogen werden, um das Vorliegen anderer Ursachen auszuschließen, ebenso bei Patienten, die auf eine antidepressive Behandlung nicht ansprechen oder langandauernde Beschwerden haben. Abklärung der Suizidalität Was bei der körperlichen und ergänzenden Untersuchung zu beachten ist Wichtig: Depression ist eine Krankheit und keine persönliche Schwäche Tab. 3 Für die Diagnosestellung der depressiven Störung selbst ist eine körperliche oder ergänzende Untersuchung nicht erforderlich. Laboruntersuchungen Therapiestrategien Leichte bis mittelschwere Depression* – Wiedervorstellung innerhalb von 2 Wochen unverzichtbar, ggf. engmaschigere Kontakte – bei Bedarf aktive Kontaktaufnahme durch Praxis – Aufbau eines Gesprächskontaktes, aktivierende Zielvereinbarungen, regelmäßige Beurteilung des für den Patienten erträglichen Symptomlevels – bei Patienten mit günstiger Prognose – bei Patienten, die keine der oben genannte 17_Marginale_TN Maßnahmen akzeptieren ❚ 17_Marginale_TN Psychotherapie – kann genauso effektiv wie die Behandlung mit einem Antidepressivum sein – notwendige Voraussetzung: ausreichende Motivation und Krankheitseinsicht des Patienten – empfohlene Einzel-Psychotherapien: Kognitive Verhaltenstherapie, Interpersonelle Psychotherapie, Psychodynamische Kurzzeittherapie [5] – empfohlene Gruppentherapie: Kognitiv-verhaltenstherapeutische Gruppentherapie [5] Medikation – Einzelfallentscheidung, da nicht zwingend indiziert (unklare Evidenz zum Risiko-Nutzen-Verhältnis) [4] – bei unzureichendem Therapieerfolg unter nichtmedikamentöser Therapie ist eine medikamentöse Therapie gerechtfertigt – auch bei mittelschwerer bis schwerer depressiver Episode in der Vorgeschichte ist eine medikamentöse Therapie indiziert Abwartendes Offenlassen („watchful waiting“) Mittel- bis schwere Depression* – nicht indiziert Was bei der Betreuung und Therapie von depressiven Patienten zu beachten ist – Kombination von medikamentöser und Psychotherapie bei schweren Depressionen empfohlen [5] – notwendige Voraussetzung: ausreichende Motivation und Krankheitseinsicht des Patienten – Kombination aus individueller kognitiver Verhaltenstherapie und medikamentöser Therapie ist am kosteneffektivsten im Vergleich zu den einzelnen Therapien [4] – bei mittelschweren bis schweren depressiven Episoden ist eine medikamentöse Therapie indiziert *„...“leichte“ Depressionen im DSM-IV bei Vorliegen von fünf bis sechs, in der ICD-10 von vier bis fünf Depressionssymptomen und einer geringgradigen Leistungsbeeinträchtigung. Oft kann das bisherige Leben mit gesteigerter Anstrengung beibehalten werden. Bei „schweren“ Depressionen liegt meist das gesamte Symptomspektrum vor, was das tägliche Leben deutlich beeinträchtigt. „Mittelschwere“ Depressionen benennen den Zwischenbereich.“[6] 42 · Der Hausarzt · 5/06 Die Suizidalität ist ein sehr ernstzunehmendes Problem, da sie bis zu 15 % der Patienten mit schwerer Depression betrifft [6]. Bei Todesgedanken oder Suizidplänen muss das Suizidrisiko etwa durch folgende Fragen weiter abgeklärt werden: ❙ Wie stark ist der Todeswunsch? ❙ Wie zwingend sind die Suizidgedanken („Tunnelblick“)? ❙ Besteht ein konkreter Suizidplan? ❙ Gab es Suizidversuche in der Familie? ❙ Gibt es einen eigenen Suizidversuch in der Vorgeschichte? (Je kürzer ein Suizidversuch zurückliegt, desto höher ist das Risiko eines erneuten Versuches.) Der Hausarzt sollte seinen Patienten über die Erkrankung informieren, z. B.: „Depressive Störungen kommen häufig vor“, „Die Störung ist eine Krankheit und keine persönliche Schwäche“ oder „Der Verlauf ist günstig, bei der Hälfte der Patienten bilden sich die Symptome innerhalb von drei bis vier Monaten zurück“. Der Hausarzt sollte seinen Patienten dazu ermuntern, eine Bezugsperson über die Erkrankung zu informieren. Mit dem Patienten sollten realistische Ziele vereinbart werden, die er im Alltag gut erreichen kann (z. B. Sport, soziale Kontakte). Erreichte Ziele kann der Patient als Erfolg erleben, was sich positiv auf den Verlauf auswirkt. Für den Therapieerfolg ist es entscheidend, dass der Patient über das Vorgehen gut informiert wurde und mit den Therapieschritten einverstanden ist („informed consent“) [4]. Zur Begleitung von depressiven Patienten werden anfangs wöchentliche bis 14-tägige Kontakte empfohlen, die dann je nach Verlauf weniger werden. Therapeutisches Vorgehen Die wissenschaftliche Diskussion um Effekte und Nebenwirkungen ist im Fluss. Wir können derzeitig keine pauschale Empfehlung für eine Sub- stanzklasse geben. Bei der Entscheidung für oder gegen eine Therapie sollten die Wünsche des Patienten, die Vorerfahrungen und evtl. Erfolge von früheren Behandlungen berücksichtigt werden. Der Patient muss darüber informiert werden, dass die Wirkung erst nach zwei bis vier Wochen spürbar ist und dass am Anfang Nebenwirkungen auftreten können, die sich aber meist nach wenigen Tagen deutlich zurückbilden. Auch sollte der Patient ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es unter Therapie mit Antidepressiva zu keiner Toleranzentwicklung oder Gewöhnung kommt [4]. Die Notwendigkeit einer regelmäßigen und gewissenhaften Einnahme der Medikamente sollte betont werden [4]. Hier können individuell – an den Alltag des Patienten angepasste – Einnahmepläne unterstützen. Die Wahl zwischen TCA und SSRI ist eine individuelle Abwägung, bei der u.a. potentielle Nebenwirkungen, Komorbidität, die persönliche Präferenz des Patienten und dessen Vorerfahrung mit Antidepressiva bei früheren depressiven Episoden beachtet werden (Tab.3). Bei älteren Patienten ist stets an das erhöhte Risiko von Arzneiinteraktionen zu denken, zudem sollte ein sehr sorgfältiges Monitoring bezüglich Nebeneffekten, vor allem bei Gabe von TCA, durchgeführt werden [4]. Auf die Gefahren der zusätzlichen individuellen Selbstmedikation muss geachtet werden. Erstverschreibung eines Antidepressivums ❙ Trizyklische Antidepressiva Aus dieser Gruppe werden Amitriptylin, Imipramin und Nortriptylin empfohlen, da bei diesen Wirkstoffen die größte Erfahrung vorliegt. Amitriptylin ist wegen vieler Risiken (u. a. Wechselwirkungen, Niereninsuffizienz, Arrhythmien Herzinsuffizienz) meist für ältere Patienten nicht empfohlen. Clomipramin ist Mittel der Wahl bei depressiver Störung in Zusammenhang mit Angst. Für die Therapie mit TCA entscheidet man sich zudem bei Vorliegen von extrapyramidalen Erkrankungen (z. B. M. Parkinson). Bei gleichzeitiger Gabe von Neuroleptika sollte ein (geeignetes) TCA gegeben werden, da bei der Kombination von SSRI bzw. MAO-Hemmern und Neuroleptikum das Risiko eines Serotonin-Syndroms (Unruhe, psychoseartige Bilder, Bewusstseinstrübung, Rigor, Tremor, Myoklonie und Hyperthermie bis hin zum Tod) erhöht ist. Auch bei notwendiger NSAR-Therapie sollte eher ein TCA verordnet werden, da bei der gleichzeitigen Gabe von einem SSRI und einem NSAR das Risiko für gastrointestinale Blutungen ansteigt. Bei TCA treten als mögliche Nebeneffekte Schwin- Zu Beginn einer antidepressiven Therapie ist wöchentlicher Arzt-Kontakt ratsam Tab. 4 Empfohlene Dosierungen bei TCA und SSRI [6] TCA Meist wird mit einer Dosis von 50 mg /d begonnen und schrittweise in den nächsten Tagen auf 150 – 200 mg/d gesteigert. Bei älteren Patienten sollte mit 25 mg/d begonnen werden. SSRI Bei Citalopram und Paroxetin wird mit 20 mg/d, bei Sertralin mit 50 mg/d begonnen, meist kann dies auch beibehalten werden, Einnahme morgens. Die Dosierung von Fluvoxamin entspricht der von Trizyklika. del, Obstipation, Mundtrockenheit, Verschwommen-Sehen und Schwitzen auf. (Dosierung Tab. 4) ❙ Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Die empfohlenen Präparate aus dieser Gruppe sind Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin. In Deutschland hat Citalopram eine große Verbreitung, weil hier, ähnlich wie beim Sertralin, das Interaktionsrisiko geringer ist als bei den anderen SSRIs (hemmende Wirkung auf das Cytochrom-P450-Enzymsystem mit erheblichen Interaktionen bei gleichzeitiger Gabe von Neuroleptika, TCA und Phenprocoumon) [6]. Bei starken vegetativen Problemen, nach einem kürzlich erlittenen Herzinfarkt, bei Herzinsuffizienz, Herzrhythmus-, Harnentleerungsstörungen oder unbehandeltem Glaukom und nötiger antidepressiver Therapie entscheidet man sich eher für ein SSRI. Die häufigsten Nebeneffekte von SSRI sind Übelkeit, Diarrhoe, Angst, Nervosität, Erregung, Schlaflosigkeit und Kopfschmerz. Kommt es in der Einstellungsphase zu starken Unruhezuständen, ist zur Suizidprävention ein Therapieabbruch zu erwägen (Dosierung Tab. 4). Johanniskraut (Hypericum perforatum, engl.: St. John´s Word) kann angesichts der heterogenen Studienlage zu den Effekten, zur optimalen Dosis, zu Langzeiteffekten und zu möglichen Arzneimittelinteraktionen (u. a. mit Digoxin, oralen Antikoagulantien, Paroxetin, Sertralin und Cyclosporin) derzeit nicht empfohlen werden. Patienten müssen vor Antidepressivatherapie wissen, dass: ❚ die Arzneiwirkung erst nach zwei bis vier Wochen spürbar ist ❚ am Anfang Nebeneffekte auftreten können, die sich aber meist nach wenigen Tagen deutlich zurückbilden ❚ es zu keiner Toleranzentwicklung oder Gewöhnung kommt ❚ eine regelmäßige und gewissenhafte Einnahme wichtig ist Betreuung bei Antidepressiva-Verordnung Zu Beginn einer medikamentösen Therapie sollten alle zwei Wochen mögliche Nebenwirkungen und die bestehenden Symptome evaluiert werden. Eine Beurteilung der therapeutischen Effekte sollte nach vier bis sechs Wochen erfolgen. Bei zufriedenstellendem Erfolg (Abnahme der de- Der Hausarzt · 5/06 · 43 MEDIZIN IN DER PRAXIS Die Therapie bei Sucht ist der einer zusätzlichen Depressionserkrankung gleichberechtigt Bei Unsicherheit in der Diagnose, bei Nichtansprechen auf eine Arzneitherapie und /oder auf eine Psychotherapie sollte der Patient zum Psychiater überwiesen werden ➔ ❘ DEPRESSION pressiven Symptome) und akzeptablen Nebeneffekten wird die Medikation sechs Monate in gleicher Dosis fortgesetzt (Erhaltungstherapie). Danach kann in enger Abstimmung mit dem Patienten ein erster Absetzversuch geplant werden (über vier Wochen und mit engmaschiger Kontrolle). Gelingt er, bleibt der Hausarzt aufmerksam für Signalsituationen, die auf Wiedererkrankung hindeuten. Bei unbefriedigendem Ergebnis wird die Dosis erhöht, bis ein Effekt eintritt, vorausgesetzt, dass die Nebeneffekte akzeptabel bleiben. Bei Nichtansprechen auf die Medikation oder unakzeptablen Nebeneffekten wird die Arznei ausgeschlichen und mit dem Patienten das weitere Vorgehen geplant (alternative Substanzklasse, Überweisung zu Psychiater, Psychotherapie). Bei Depression mit starker Agitation, Angst (-störung) oder Schlaflosigkeit kann der Hausarzt bis zum erwarteten Wirksamkeitseintritt des Antidepressivums über zwei bis max. sechs Wochen ein Anxiolytikum oder Hypnotikum hinzugeben. Situationen mit besonderem Vorgehen Eine besondere Vorgehensweise ist in folgenden Fällen erforderlich: Ein Patient mit einem stark erhöhten Suizidrisiko muss in stationäre psychiatrische Behandlung eingewiesen werden. Bei einer bipolaren oder depressiven Störung mit psychotischen Merkmalen sollte eine Überweisung zum Psychiater erfolgen. Bei hohem Leidensdruck und stark ausgeprägten Dysfunktionen sollte eine medikamentöse Therapie möglichst frühzeitig in Erwägung gezogen bzw. begonnen werden. Liegt eine Komorbidität von depressiver Störung und Angststörung vor, hat die Depression in der Behandlung Priorität [4]. Psychotherapie bei Depression reduziert oft die Ängste. Zudem haben viele Antidepressiva sedierende und angstlösende Effekte. Bei zusätzlichen Alkohol- oder Drogenproblemen ist sowohl bei der depressiven Störung als auch der Fazit für die Praxis ❙ Derzeit gibt es noch keine deutsche Leitlinie für die Hausarztpraxis zum Thema Depression, daher wurde aus 22 internationalen Leitlinien die der niederländischen Kollegen für Deutschland angepasst. ❙ Zwei Kernfragen im Anamnesegespräch nach gedrückter Stimmung oder einem Interessens- bzw. Freudeverlust führen bei Bejahung durch den Patienten auf die Spur einer Depression, besonders wichtig ist die Abklärung einer Suizidalität. ❙ 3 mögliche Therapiestrategien: abwartendes Offenlassen (mit engmaschiger Kontrolle u. aktivierender Zielvereinbarung), Medikation und Psychotherapie ❙ Bei der Entscheidung für/gegen eine (Arznei-) Therapie sollten Wünsche des Kranken, Vorerfahrungen und evtl. frühere Therapieerfolge berücksichtigt werden. 44 · Der Hausarzt · 5/06 Abhängigkeit und ihren evtl. Folgen optimal zu behandeln. Besteht die Depression in Zusammenhang mit einer relevanten körperlichen Erkrankung, sollte wegen beidem behandelt werden. Überweisung zur Psychotherapie Eine Überweisung zur Psychotherapie (Tab. 3) sollte erfolgen, wenn in Rücksprache mit dem Patienten primär diese Behandlung gewählt wird, bei ungenügender Wirkung durch die Begleitung und Behandlung des Hausarztes selbst oder bei unakzeptablen Nebeneffekten der Antidepressiva. Auch bei ernsthaften psychosozialen Problemen oder bei Persönlichkeitsstörungen, die die Genesung erschweren, sollte die Überweisung erfolgen, vorausgesetzt, der Patient ist ausreichend motiviert und krankheitseinsichtig. Bei stark erhöhtem Suizidrisiko ist im Zweifel immer die Einweisung in eine psychiatrische Klinik indiziert. Bei Unsicherheit in der Diagnose, bei Nichtansprechen auf eine Arzneitherapie und/oder auf eine Psychotherapie sollte der Patient zum Psychiater überwiesen werden. Aber auch bei ernsthaften psychosozialen Problemen, trotz Begleitung und eingestellter Behandlung, sowie bei einer bipolaren Störung oder psychotischen Depression erfolgt das ■ Hinzuziehen des fachärztlichen Kollegen. Literatur (Auswahl, Weiteres beim Verfasser) 1. Becker N, Abholz H-H. Prävalenz und Erkennen von depressiven Störungen in deutschen Allgemeinarztpraxen – eine systematische Literaturübersicht. Z Allg Med 2005; 81: 474 – 481 2. Gensichen J , Huchzermeier C, Aldenhoff JB, Gerlach FM, Hinze-Selch D. Signalsituationen für den Beginn einer strukturierten Depressionsdiagnostik in der Allgemeinarztpraxis. Z. ärztl. Fortbild. Qual. Gesundh. Wes. 2005; 99; 57-63 3. NHG – Nederlands Huisartsen Genootschap, Harm van Marwijk et al (2003). NHG-Standaard Depressieve stoornis (depressie). M 44. Huisarts & Wetenschap 46 (11). 614-23. Culemborg. (26.01.2006), http://nhg. artsennet.nl/upload/104/standaarden/M44/start.htm 4. National Institute for Clinical Excellence. Depression – Management of depression in primary and secondary care. Clinical Guideline 23. December 2004, www.nice.org.uk/page.aspx?o=cg023niceguideline 5. Leitlinie „Psychotherapie der Affektiven Störungen“ der Fachgruppe Klinische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 2004, www.dgps.de, (24.01.2006) 6. Berger M (Hrsg.), Psychische Erkrankungen – Klinik und Therapie, 2. Auflage; Urban und Fischer. München 2005 Korrespondenz: Dr. Marion Torge Institut für Allgemeinmedizin Arbeitsbereich Chronic Care und Versorgungsforschung Johann Wolfgang Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt am Main E-mail: [email protected] Homepage: www.prompt-projekt.de www.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de Leiter der NHG-Leitlinengruppe: Dr. Harm van Marwijk Dept for General Practice, VU University Medical Centre, 1081 BT Amsterdam, The Netherlands Mögliche Interessenkonflikte: keine