Kommunikative Freiheit und negative Theologie

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Kommunikative Freiheit
und negative Theologie
Fragen an Michael Theunissen
Kof!Imunikative Freiheit und negative Theologie
Fragen an Michael Theunissen
Michael Theunissen verdankt die verhaltene Radikalität sei­
nes Denkens dem Umstand, daß er sich gleichzeitig für
Kierkegaard und für Marx geöffnet hat - für jene beiden
Geister also, die sich ihrerseits dem spekulativen Gedanken
Hegels radikaler als alle anderen ausgesetzt hatten. So zie­
hen die beiden Philosophen, die in unserem Jahrhundert
Kierkegaard und Marx erst wieder zu philosophischem Le­
ben erweckt haben, Theunissens besonderes Interesse auf
sich: die Existentialontologie und der Hegelmarxismus. Mit
beiden Traditionen setzt sich Theunissen im Rückgriff auf
deren ursprüngliche Motive auseinander: Aus seiner Sicht
behalten der authentische Kierkegaard und der kritisch an­
geeignete Marx recht sowohl gegen Heidegger und Sartre
wie gegen Horkheimer und Adorno.1 Dabei kann sich
Theunissen auf Ergebnisse einer schon früh vollzogenen
kommunikationstheoretischen Wende stützen, die gegen­
über der durch Einstellungen der ersten und der dritten Per­
son bestimmten Subjekt-Objekt-Beziehung die Relevanz
der zweiten Person - des Anderen in der Rolle des Du - zur
Geltung bringt.
Die dialogische Begegnung mit dem angesprochenen Ande­
ren, dessen Antwort sich der eigenen Verfügung entzieht,
eröffnet dem Einzelnen erst den intersubjektiven Raum für
sein eigentliches Selbstsein. Theunissen hat seine Dialogphi­
losophie in der Auseinandersetzung mit der transzendenta­
len Intersubjektivitätstheorie von Husserl bis Sartre entwik­
kelt. Sie läßt sich nicht nur durch Bubers »Theologie des
Zwischen« anregen, sondern lebt selbst aus theologischen
II2
Motiven. Theunissen versteht nämlich jene »Mitte« des in­
tersubjektiven Raums, den die dialogische Begegnung er­
schließt und der seinerseits die dialogische Selbstwerdung
von Ich und Anderem ermöglicht, als »Reich Gottes«, das
der Sphäre der jeweiligen Subjektivität vorausgeht und zu­
grunde liegt. Mit Bezugnahme auf Lukas 17,21
-
»das Reich
Gottes ist mitten unter euch« - erklärt Theunissen: »Es ist
zwischen den Menschen, die zu ihm berufen sind, als gegen­
wärtige Zukunft.« Theunissen hat zeitlebens versucht, den
Gehalt dieser einen zentralen Aussage philosophierend ein­
zuholen. Denn »vermutlich ist die Wirklichkeit, als die sich
der Dialogik das Zwischen in theologischer Sicht zeigt, die
Seite am Reich Gottes, deren Philosophie überhaupt ansich­
tig werden kann: die Seite nicht der >Gnade<, sondern des
>Willens<. Der Wille zum dialogischen Selbstwerden gehört
so zum >Trachten< nach dem Reich Gottes, das in der gegen­
wärtigen Liebe der Menschen zueinander seine Zukunft
verheißt.«2
Später hat Theunissen versucht, dieses theologische Motiv
mit Hilfe des Begriffs der »kommunikativen Freiheit« in die
kritische Gesellschaftstheorie einzubeziehen, um so Kierke­
gaard mit Marx kompatibel zu machen. Der Alternative, die
sich letztlich doch stellte, ist er freilich nicht ausgewichen der Wahl zwischen der theologischen und der materialisti­
schen Lesart von Versöhnung..Einer rational ermutigten
Transzendenz von innen hat er stets den proleptischen Vor­
schein eines Eschaton vorgezogen, das in der Gegenwart
Zuversicht einflößen kann. Auch diese Option soll noch
philosophisch begründet werden können. Das ist der An­
spruch, den ich im folgenden prüfen möchte. Gründe sieht
Theunissen vor allem bei Kierkegaard, und er scheint sie
insbesondere in einer durch Kierkegaard erneuerten Fichte113
sehen Denkfigur zu finden. Natürlich will sich Theunissen
nicht hinter dem Autor der »Krankheit zum Tode« und des­
sen Autorität verstecken. Seine Argumente geben aber den
Anstoß für Theunissens negativistische Begründung eines
authentischen Selbstseins.
Zunächst möchte ich den Anspruch charakterisieren, we­
sentliche Gehalte der christlichen Heilserwartung unter Be­
dingungen nachmetaphysischen Denkens zu rechtfertigen.
Anschließend erörtere ich die Argumente, mit denen Theu­
nissen auf den heute »noch gangbaren Wegen philoso­
phischen Denkens« diesen starken Anspruch einzulösen
versucht. Meine kritischen Anfragen berühren nicht die So­
lidarität mit einem bewundernswerten Unternehmen, dem
ich mich in seinen praktischen Antrieben und Intentionen
verbunden weiß.
Das Christentum ist in der Geschichte des abendländischen
Denkens seit Augustin mit den metaphysischen Überliefe­
rungen platonischer Herkunft auf vielfache Art Symbiosen
eingegangen. In Übereinstimmung mit Theologen wie Jür­
gen Moltmann und Johann Baptist Metz3 bemüht sich
Theunissen darum, den ursprünglichen eschatologischen
Gehalt eines aus seinen hellenistischen Hüllen befreiten
Christentums wiederherzustellen. Dessen Kern ist ein
mit Wesensbegriffen unvereinbares, radikal geschichtliches
Denken: »Die Herrschaft des Vergangenen über das Zu­
künftige macht überhaupt erst den Zwangscharakter der er­
lösungsbedürftigen Realität aus. Die erlösungsbedürftige
Realität bildet einen universalen Zwangszusammenhang,
weil in ihr die Zukunft ständig von der Vergangenheit über114
wältigt wird.«4 Dieser Satz hat bei Theunissen einen ge­
nauen, über Adornos »Negative Dialektik« hinausreichen­
den theologischen Sinn: »Wenn es die Herrschaft des Ver­
gangenen ist, durch die der Mensch in die Ohnmacht des
Nicht-Handeln-Könnens versinkt, so erwacht er aus dieser
Ohnmacht durch das befreiende Handeln Gottes. Sein Da­
sein in der Zeit, das die von Platon auf den Weg gebrachte
Metaphysik unter dem negativen Gesichtspunkt des Ver­
änderlichen betrachtet, nimmt die positive Gestalt des Ver­
änderbaren an.«5 Was Theunissens Position auch von den
benachbarten Theologen trennt, ist nun der Anspruch, die
gemeinsame Intention mit nicht-theologischen Mitteln ein­
zulösen. Diese entlehnt Theunissen der metaphysischen
Grundbegrifflichkeit des gleichzeitig zu überwindenden
Platonismus. Dabei läßt er jene vorsichtige Unterscheidung
zwischen Aspekten der »Gnade« und des »Willens«, unter
denen sich das Reich Gottes nur dem Theologen oder auch
dem Philosophen erschließen sollte, fallen. Inzwischen
scheint er sich zuzutrauen, die Kluft, die zwischen dem Ap­
pell an die im Glauben erfahrene Realität einerseits, der
Überzeugungskraft philosophischer Gründe andererseits
besteht, ihrerseits mit Argumenten zu schließen.
Die Benjaminsche Intuition, daß das schlechte Kontinuum
aller bisherigen Geschichte aufgebrochen werden muß - der
Schrei der gequälten Kreatur, daß alles »anders werden
müsse« - hat nach den Katastrophen unseres Jahrhunderts
gewiß eine mehr als nur suggestive Kraft. Heute bedrängen
uns die Regressionen, die der Zerfall des Sowjetimperiums
ausgelöst hat. Auch angesichts dieser Phänomene bedarf der
Impuls, sich gegen die Herrschaft der Vergangenheit über
die Zukunft aufzulehnen6, bedarf sogar der Imperativ, die
Kette der fatalen Wiederkehr des Gleichen zu sprengen, kei1I 5
ner weitläufigen Rechtfertigung: »Benjamin hat die unsägli­
che Traurigkeit beschrieben, die der Anblick der zur Natur
erstarrten Geschichte hervorruft. Wirkliche Geschichte
gäbe es erst, wenn die Zeit eine andere würde.«7 Allein, in
welchem Sinne läßt sich eine solche Erwartung verstehen als Aussicht auf ein bevorstehendes Ereignis, als Zuversicht
in eine verheißene Wende, als Hoffnung auf das Gelingen ei­
nes begünstigten, gar begnadeten Unternehmens? Oder soll
das semantische Potential der Heilserwartung nur eine Di­
mension offenhalten, aus der wir auch in profanen Zeiten ei­
nen Maßstab für die Orientierung am jeweils Besseren ge­
winnen und aus der wir Mut schöpfen können?
Die Hoffnung, daß das eigene Zutun nicht a fortiori sinnlos
ist, kann dem Pessimismus, ja der Verzweiflung durch mehr
oder weniger gute Gründe abgerungen werden. Eine derart
rational motivierte Ermutigung darf jedoch nicht verwech­
selt werden mit existentieller Zuversicht, die aus dem voll­
brachten Skeptizismus einer gegen sich selbst gewendeten
Verzweiflung hervorgeht. Die Hoffnung, daß doch noch
»alles anders wird in der Zeit«, unterscheidet sich eben von
dem Glauben, »daß die Zeit selbst anders wird.« Die zwei­
deutige Formulierung vom »Anderswerden der Zeit« ver­
deckt die Differenz zwischen dem Vertrauen auf eine escha­
tologische Wende der Welt und der profanen Erwartung,
daß unsere Praxis in der Welt eine Wendung zum Besseren
trotz allem befördern könnte. Diesseits einer spes fidei, die
sich aus einer Kierkegaardschen Dialektik der Verzweifl�ng
nährt, bleibt Raum für eine fallible, von einer skeptischen,
aber nicht-defaitistischen Vernunft belehrte Hoffnung.
Diese docta spes ist unverächtlich, wenn auch nicht unver­
wüstlich. Theunissen würde wohl diese Differenz kaum
leugnen, aber an der Aufgabe festhalten, daß die profane
II6
Hoffnung mit philosophischen Gründen in der eschatologi­
schen zu verankern sei.
In seiner jüngsten Publikation nennt Theunissen drei Wege
des philosophischen Denkens, die ihm heute noch gangbar
erscheinen. Die Philosophie soll sich die kritische Aneig­
nung der Geschichte der Metaphysik im ganzen zumuten;
sie kann Beiträge zur Reflexion der Fachwissenschaften lei­
sten und sogar metaphysische Gehalte der Tradition, die
sich wissenschaftlicher Objektivierung entziehen, aus ihrer
nachmetaphysischen Stellung heraus retten. Nach diesem
Programm versichert sich die Philosophie auf dem Weg der
historischen Selbstreflexion zunächst der Gedanken, die sie
sodann im Durchgang durch die Wissenschaften wie auch
über diese hinaus systematisch entfaltet.8 So verraten schon
die beiden Themen, die Theunissen historisch beschäftigen,
die systematische Absicht. Unter dem Stichwort kommuni­
kative Freiheit analysiert er das Verhältnis von Subjektivität
und lntersubjektivität im Durchgang durch die »Logik«
Hegels. Und mit dem Blick auf die proleptische Zukunft der
in die Gegenwart hereinragenden christlichen Verheißung
analysiert er die zeitvergessenen Begriffe der Metaphysik
von Parmenides bis Hegel. Unter beiden Aspekten verfolgt
Theunissen die Ontologisierung der Theologie, also eine
Hellenisierung des Christentums, die den soteriologischen
Gehalt des radikal geschichtlichen Denkens verschüttet.
Wie Heidegger bemüht sich Theunissen um eine Dekon­
struktion der Geschichte der Metaphysik. Dabei hat er aber
nicht das »archäologische« Ziel vor Augen, mit einem
Sprung aus der Modeme hinter Jesus und Sokrates zurück­
zukehren. Theunissen zielt vielmehr auf eine philosophisch
begründete negative Theologie ab, die eine mit sich zerfal­
lende Modeme aus ihrer Zerstreuung zurückrufen und für
I17
die unverständlich gewordene Heilsbotschaft doch noch
sensibel machen soll.
II
Theunissen trägt an Hegels »Logik«, die die Geschichte der
abendländischen Metaphysik auf ihre Weise resümiert, eine
aus der nachhegelschen Dialogphilosophie gewonnene Hy­
pothese heran: »Die gesamte Logik gründet Hegel auf die
Hypothese, daß alles, was ist, nur in der Beziehung und
letztlich als die Beziehung auf >sein Anderes< es selbst sein
könne.«9 Diese in der intersubjektiven Beziehung zum An­
deren sich realisierende Selbstbeziehung setzt Theunissen
dem Für-sich-Sein der Subjektivität entgegen. Das wahre
Selbstsein äußert sich als kommunikative Freiheit - als lm­
Anderen-bei-sich-se/bst-sein; dazu verhält sich die Liebe das Bei-sich-selbst-sein-im Anderen - komplementär. Der
Zusammenhang - oder gar die Koinzidenz - von Freiheit
und Liebe charakterisiert die unversehrte lntersubjektivität
eines Verhältnisses symmetrischer wechselseitiger Anerken­
nung. Darin ist einer für den anderen nicht die Schranke sei­
ner Freiheit, sondern eine Bedingung gelingenden Selbst­
seins. Und die kommunikative Freiheit des einen kann nicht
ohne die realisierte Freiheit aller anderen vollkommen sein.
Mit diesen Begriffen einer solidarischen und zwanglos in­
dividuierenden Vergesellschaftung gibt Theunissen dem
konkret Allgemeinen eine dialogische Fassung, die kritisch
gegen Hegel selbst gewendet werden kann. »Abstraktion«
bedeutet dann eine »Gleichgültigkeit gegen anderes«, die die
»Beziehung zum Anderen« neutralisiert. Diese Indifferenz
wiederum bedeutet, weil sie kommunikative Freiheit ver­
hindert, Herrschaft. In ihrer kommunikationstheoretischen
II8
Lesart erhält deshalb Hegels Dialektik einen herrschaftskri­
tischen Sinn.
Theunissen argumentiert mit Hegel gegen Hegel. Er mar­
kiert die Stellen, an denen Hegel vom Pfad einer dialekti­
schen Untersuchung der »Praxis des Miteinanderspre­
chens« abweicht und die zum Greifen nahe Dimension der
Sprachpragmatik zugunsten der logischen Analyse von
»bloßem Urteil oder Satz« vernachlässigt.10 Hegels logisch­
semantische Engführung kommt der Aufspreizung des Re­
flexionsmodells entgegen, welches das Bei-sich-Sein der
epistemischen Selbstbeziehung gegenüber der Beziehung
zum Anderen privilegiert. Wo die kommunikative Freiheit
die wechselseitige Anerkennung von Differenz und Anders­
heit fordern würde, erzwingt das Reflexionsmodell Einheit
und Totalisierung. 11
Theunissen sträubt sich auch gegen den affirmativen Zug ei­
ner in der dialektischen Logik versteckten Theodizee, wo­
nach das Wirkliche das Vernünftige sei. In Hegels Begriff
des Unwahren verschwindet die Differenz zwischen dem
Inhaltslosen und dem erst Unentwickelten. Diese Differenz
will Theunissen mit Hilfe der von Marx entlehnten Unter­
scheidung zwischen Darstellung und Kritik wiederherstel­
len. Die Auflösung eines objektiven Scheins bringt nicht im­
mer die Wahrheit einer neuen Positivität zum Vorschein; oft
genug behält sie den destruktiven Sinn einer Enthüllung der
Wahrheit über etwas.12 Interessanterweise zeigt sich schon
an dieser Stelle, was Theunissen bei aller Kritik an Hegel
gleichwohl von Kritik verschont - den Begriff des Absolu­
ten.
Wohl präjudiziert Hegel mit seinem Begriff der bestimmten
Negation eine Einheit von Kritik und Darstellung, die der
Darstellung den kritischen Stachel zieht. Aber Theunissen
119
spielt das zu einer bloß methodischen Frage herunter, ob­
wohl Hegel die Einheit von Kritik und Darstellung auf die
substantielle Annahme einer logischen Verfassung des Welt­
prozesses im ganzen stützt. An diesen metaphysischen Kern
des Problems - daß aus der Orthogenese der Natur keine
Pathogenese der Geschichte entspringen kann, wenn sich
das Prozessieren der Geschichte in denselben logischen
Formen wie der Naturprozeß vollzieht - rührt Theunissen
nicht. Seine Kritik macht halt vor der Totalisierung des Bei­
sich-Seins-im-Anderen zur kommunikativen Verfassung
der Welt im ganzen. Die Idee der Einheit von Selbstbezie­
hung und Beziehung zum Anderen regiert die Bewegung
der gesamten Logik und erstreckt sich auf eine im ganzen
intersubjektivistisch begriffene Wirklichkeit. Sie beschränkt
sich keineswegs auf die Sphäre zwischenmenschlicher Be­
ziehungen. Dem stimmt Theunissen zu, auch wenn die als
universale Kommunikationstheorie begriffene »Logik« er­
kennen lassen soll, »daß sie eine Struktur freilegt, die ihre
einzig angemessene Realität in den Verhältnissen menschli­
cher Subjekte zueinander hat«.13 Der metaphysischen An­
nahme, daß die an der dialogischen Verständigung abgele­
sene Grundstruktur des Bei-sich-seins-im-Anderen über
den Horizont der Lebenswelt hinaus auf die Welt im ganzen
übergreift, widerspricht Theunissen nicht.
Er ist nämlic-h davon überzeugt, daß jede interpersonale
Beziehung in die Beziehung zu einem ganz Anderen einge­
bettet ist, die dem Verhältnis zum konkreten Anderen zu­
vorkommt. Dieser ganz Andere verkörpert eine absolute
Freiheit, die wir voraussetzen müssen, um zu erklären, wie
unsere kommunikative Freiheit überhaupt möglich ist:
»denn absolut könnte nur sein, was das Andere so aus sich
entläßt, daß dessen Freiheit zugleich seine eigene Freiheit
120
von und zu ihm ist«.14 Diese Denkfigur geht auf die jüdische
und protestantische, durch den schwäbischen Pietismus
vermittelte Mystik zurück: Gott bestätigt sich in seiner Frei­
heit dadurch, daß er ein ebenso freies Alter ego aus sich her­
aussetzt. Indem er die Menschen in die Freiheit, ihr Selbst­
sein verfehlen und aus eigener Kraft erringen zu können,
entläßt, zieht er sich aus der Welt in sich zurück. In der
Kommunikationsgeschichte der Menschen ist Gott nur
noch als ermöglichende und zugleich richtungsweisende
Struktur der Versöhnung präsent - und zwar im Modus der
Verheißung, eben der »vorfallenden« Gegenwärtigkeit einer
erfüllten Zukunft.15
Wie man sieht, kann eine systematische Aneignung der Ge­
schichte der Metaphysik vielleicht unüberholte Problem­
stellungen vergegenwärtigen. Aber kann sie unsere Distanz
zu Lösungsvorschlägen, die in der Sprache der Metaphysik
vorgetragen werden, tilgen? Auch die kommunikations­
theoretische Lesart der Begriffslogik macht uns bestenfalls
vertraut mit der Idee, daß die kommunikative Freiheit des
Bei-sich-seins-im-Anderen die absolute Freiheit der ganz
Anderen voraussetzt. Es bleibt am Ende unentschieden, wie
dieses in die Struktur unverzerrter Intersubjektivität einge­
lassene Potential zu verstehen sei: als ein idealisierender
Überschuß, der den kommunikativ Handelnden ein von ih­
nen selbst zu vollziehendes Transzendieren zumutet - oder
als der Einbruch eines vorgängigen Geschehens kommuni­
kativer Befreiung, das von den in die Freiheit Entlassenen
Hingabe verlangt. Wenn Gott, der sich einst in die über­
schießende Struktur sprachlicher Verständigung zurückge­
zogen haben soll, den zur kommunikativen Freiheit verur­
teilten Geschöpfen den Prozeß der Geschichte überlassen
hätte, müßte ihrer profanisierenden Arbeit auch dieser My121
thos vom sich selbst begrenzenden Gott am Ende selber an­
heimfallen. Wenn Gott jedoch in der Geschichte einziger
Garant für die offengehaltene Möglichkeit bleibt, aus der
Kontinuität des naturwüchsigen Kreislaufs einer vergan­
genheitsbeherrschten Geschichte auszubrechen, dann harrt
der Begriff des Absoluten, der mit jedem Akt gelingender
Verständigung schon präsupponiert ist, einer angemessenen
philosophischen Erklärung. Diese Aufgabe ist auf dem
Wege einer Destruktion der Geschichte der Metaphysik
nicht zu lösen.
III
Deshalb bemüht sich T heunissen um eme nachmetaphy­
sisch ansetzende Begründung des metaphysischen Gehalts
kommunikativer Freiheit. Er entfaltet sein Argument im
Anschluß an den Text »Krankheit zum Tode«.
a) Zunächst grenzt Theunissen sein »negativistisches« von
einem »normativistischen« Vorgehen ab. Nach der Verab­
schiedung der Substanz- und Wesensbegriffe der Metaphy­
sik, mit denen das Seinsollende in der Ordnung der Dinge
selber verankert worden war, ist in der Neuzeit die Archi­
tektonik der Vernunft an die Stelle der objektiven Teleologie
getreten. Seitdem lassen sich normative Gehalte nicht mehr
ontologisch aus dem Seienden selbst, sondern nur noch re­
konstruktiv aus notwendigen subjektiven Bedingungen für
die objektive Gültigkeit unserer Erfahrungen und Urteile
gewinnen. Die sprachpragmatische Wende vom Bewußt­
seins- zum Verständigungsparadigma hat freilich dieser Un­
tersuchung normativ gehaltvoller transzendentaler Bedin­
gungen nochmals eine neue Richtung gegeben. Nun soll das
Faktum gelingender intersubjektiver Verständigung aufge!22
klärt werden. In den allgemeinen und unvermeidlichen
pragmatischen Voraussetzungen kommunikativen Han­
delns stoßen wir auf den kontrafaktischen Gehalt von
ldealisierungen, die alle Subjekte, sofern sie ihr Handeln
überhaupt an Geltungsansprüchen orientieren, vornehmen
müssen. Die Nicht-Beliebigkeit dieses im weiteren Sinne
normativen Gehalts unausweichlicher Kommunikations­
voraussetzungen ist weder ontologisch durch die zweckmä­
ßige Verfassung des Seienden noch epistemologisch durch
die vernünftige Ausstattung der Subjektivität gesichert; sie
wird allein durch die Alternativlosigkeit einer Praxis be­
glaubigt, in der sich kommunikativ vergesellschaftete Sub­
jekte immer schon vorfinden. Auf diesem formalpragmati­
schen Wege habe ich selbst versucht, in der Geltungsbasis
verständigungsorientierten Handelns ein Vernunftpotential
ausfindig zu machen, auf das sich die kritische Gesell­
schaftstheorie als normative Grundlage berufen kann.16
Diesen »Normativismus« lehnt T heunissen ab, aber nicht
etwa deshalb, weil er darin die metaphysischen Spuren von
Wesensbestimmungen und objektiver Teleologie argwöhn­
te.17 Vielmehr führt der »Negativismus«, der sein eigenes
Vorgehen leiten soll, den normativen Gehalt wiederum ins
Ontische ein, allerdings auf dem Wege einer Inversion des
dem Seienden inhärierenden Seinsollens. W ährend sich die
logische Operation der Verneinung auf den affirmativ erho­
benen Geltungsanspruch bezieht, den eine zweite Person
für ihre Aussage erhebt, soll die »ontische Negativität« dem
von uns negativ Bewerteten selber zukommen: »Unter dem
>Negativen< verstehen wir hier das, womit wir nicht einver­
standen sind, oder das, wovon wir nicht wollen (können),
daß es ist. In diesem (ontologischen) Sinne soll es nicht
sein.« 18 Freilich bezieht sich die Negativität des Nichtsein123
sollenden oder objektiv Unwahren nicht mehr wie die ob­
jektiveTeleologie auf das in der Welt Seiende oder den Kos­
mos des Seienden im ganzen. Im Sinne einer invertierten
Geschichtsphilosophie ist die Verfassung der historischen
Welt, in der die Menschen leben und leiden, negativ. Die Ne­
gativität der Seinsverfassung ist die von uns oder von mir er­
fahrene Negativität von Lebenswelt und Lebensgeschichte.
Deshalb soll die Untersuchung beim »Negativen der beste­
henden Welt« ansetzen und aus ihm den Maßstab der Kritik
erst gewinnen. Theunissen rechtfertigt dieses »negativisti­
sche« Verfahren damit, daß die lückenlose Pathologie des
herrschenden Weltzustandes die Kriterien für eine unver­
dächtige Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krank­
heit, Wahrheit und Unwahrheit, Idee und Erscheinung
längst verdorben hat. Ist erst einmal die Krankheit der Ge­
sunden entlarvt, verfällt jede Diagnose, die im Lichte einer
unbefragt vorausgesetzten Normalität vorgenommen wird,
der Hermeneutik des Verdachts.
b) Im Anschluß an Marx und an Kierkegaard bieten sich
zwei Ausgangspunkte an für den Versuch, das in kommuni­
kativer Freiheit angelegte Potential von Versöhnung und
Verbesserung negativistisch zu rechtfertigen: die soziale
Entfremdung in kapitalistisch rationalisierten Gesellschaf­
ten und die existentielle Verzweiflung des in der säkulari­
sierten Moderne vereinzelten Individuums. Den ersten Weg
hatTheunissen weitgehend seinen Schülern überlassen19; er
selbst konzentriert sich auf die Ausarbeitung eines Argu­
mentes, das Kierkegaard für die Identität von Gottesglau­
ben und Selbstsein anführt. 20 Die Rekonstruktion dieses
Gedankengangs kennzeichnet zunächst das Phänomen der
Verzweiflung als ontische Negativität. Die Verzweiflung ra­
dikalisiert das in Langeweile, Sorge, Angst und Schwermut
124
erfahrene Negative eines mißlichen oder bedrückenden Zu­
standes zu einem defizienten Modus des Daseins selber. In
der Verzweiflung manifestiert sich das Mißglücken des
menschlichen Lebens im ganzen. Als dieses schlechthin
Nichtseinsollende verrät die Verzweiflung auch etwas über
ihr verfehltes Gegenteil: das gelingende »Selbstsein«. Des­
halb kann die Fülle der Verzweiflungsphänomene als Aus­
gangsmaterial dienen, an dem Kierkegaard seine Analyse
unter dem Gesichtspunkt einer Erkrankung des Selbst auf­
nimmt, noch bevor er über einen normativen Begriff des
Selbst verfügt.
Nach dieser methodischen Klärung trägt Theunissen eine
transzendentale Fragestellung an das Phänomen der Ver­
zweiflung heran: »Wie muß der Mensch beschaffen sein und
auf welche Weise ist sein Selbst zu denken, wenn die Ver­
zweiflung möglich sein soll, die er als seine Wirklichkeit er­
fährt ?«21 Diese Frage impliziert sogleich die weitere Frage:
wie das Selbstsein möglich ist, das im Prozeß der Befreiung
aus dem stets gegenwärtigen Sog der Verzweiflung voraus­
gesetzt werden muß. Was macht das Selbstsein als Prozeß
des »ständigen Vernichtens der Möglichkeit von Verzweif­
lung« möglich? Dem Selbst kann, so lautet Kierkegaards
Antwort, sein Selbstsein nur dadurch gelingen, daß es sich
im Sich-selbst-Setzen zu einem Anderen verhält, durch das
es selber gesetzt worden ist. Der Mensch entgeht seiner Ver­
zweiflung nur, indem er sein Selbst »durchsichtig in der
Macht, die es gesetzt hat«, gründet. Diese These wird mit
Bezugnahme auf zwei Grundmodi der Verzweiflung exi­
stenzdialektisch begründet. Im verzweifelten Nicht-man­
selbst-sein-Wollen erfahren wir, daß wir uns nicht loswer­
den können, daß wir zur Freiheit verurteilt sind und uns
selbst setzen müssen. Aber im nächsten Stadium des ver125
zweifelten Man-selbst-sein-Wollens erfahren wir die Ver­
geblichkeit der eigenwilligen Anstrengung, uns aus eigener
Kraft als Selbst zu setzen. Dieser Verzweiflung trotziger
Selbstbegründung können wir uns schließlich nur dadurch
entwinden, daß wir uns der Endlichkeit unserer Freiheit
inne werden und dabei unsere Abhängigkeit von einer un­
endlichen Macht erkennen: »Die Bedingungen des Nicht­
verzweifeltseins sind zugleich die des gelingenden Selbst­
seins. Daß der Mensch im Sich-Setzen das Andere sich
voraussetzen muß, das ihn ins Sich-Setzen eingesetzt hat,
definiert also sein Selbstsein.«22
c) Theunissen hält diesen existenzdialektischen Nachweis
einer Fundierung des Selbstseins im Glauben für »ein
schwer widerlegbares Argument«. Auch aus seiner Sicht be­
darf das Argument im Hinblick auf die kommunikative Ver­
fassung des Selbstseinkönnens freilich einer Ergänzung. Für
die Explikation der grundlegenden Struktur des Bei-sich­
seins-im-Anderen besagt nämlich die Erklärung bisher nur
so viel: der Mensch könne in seiner endlichen Freiheit er
selbst sein, wenn er sich, indem er die absolute Freiheit Got­
tes anerkennt, von einem narzißtisch in sich geschlossenen
Selbstsein befreit und aus der unendlichen Entfernung einer
gläubigen Kommunikation mit dem schlechthin Anderen
auf sein eigenes Selbstsein zurückkommt. Unvollständig
bleibt die Erklärung im Hinblick auf jenen trivialen inner­
weltlichen Aspekt des Bei-sich-seins-im-Anderen, unter
dem uns doch kommunikative Freiheit zunächst und zu­
meist begegnet. Theunissen kritisiert die eigentümliche
Weltlosigkeit des Selbstseins, das Kierkegaard im Nega­
tionsverfahren gegen die Verzweiflung abgehoben hat:
»Wohl begreift auch Kierkegaard, wie Hegel, das Selbstsein
oder die Freiheit als Bei-sich-sein-im-Anderen, aber das
126
Andere ist in seinem Verständnis ausschließlich Gott, nicht
mehr die Welt.«23 Die bloße Reflexivität eines Sich-Verhal­
tens zum Selbstverhältnis muß in die
Intersubjektivität ei­
nes Sich-Einlassens-auf-den-Anderen erst noch eingeholt
werden: »In der Liebe eröffnet sich demnach die Ur­
sprungsdimension jener Freiheit des Menschen von sich
selbst, als die sich uns auch der Glaube dargestellt hat.«24
So kehrt Theunissen mit einem rekonstruierten Kierkegaard
zu einem zuvor kommunikationstheoretisch gelesenen He­
gel zurück, um das komplementäre Verhältnis von kommu­
nikativer Freiheit und Liebe in der absoluten Freiheit und
Liebe Gottes zu begründen. Denn »alle wirkliche Liebe zu
anderen Menschen (ist) Liebe zu Gott«.
IV
Auch wenn man dieser kommunikationstheoretischen Er­
weiterung des existenzdialektischen Gedankenganges folgt,
bleibt die Frage, ob das von Theunissen umsichtig rekon­
struierte Kierkegaardsche Argument, das die eigentliche Be­
weislast tragen muß, leistet, was es leisten soll - eben den
Nachweis, daß der Mensch, um ganz er selbst sein zu kön­
nen, seiner eigenen kommunikativen Freiheit eine Ermächti­
gung durch die absolute Freiheit Gottes voraussetzen muß.
Meine Bedenken richten sich sowohl gegen das negativisti­
sche Verfahren wie gegen eine Übertragung transzendentaler
Fragestellungen auf anthro'pologische Tatsachen.25
Wir ziehen es gewiß vor, nicht verzweifelt zu sein. Aber aus
der Ablehnung des negativ bewerteten Phänomens der Ver­
zweiflung ergibt sich noch keine positive Auszeichnung der
bloßen Abwesenheit des Phänomens - also des Nichtver­
zweifeltseins. Dieser Zustand mag eine notwendige Bedin127
gung für eigentliches Selbstsein darstellen, aber nicht ohne
weiteres eine hinreichende. Nur wenn wir von vornherein
mit klinischen Begriffen wie seelischer Gesundheit einen
starken internen Zusammenhang zwischen dem Phänomen
der Verzweiflung und dem Modus des Selbst-sein-Wollens
in Anschlag bringen, kann die überwundene Verzweiflung
von sich aus gelingendes Selbstsein indizieren. Dann er­
schließt aber erst das normativ gehaltvolle hermeneutische
Vorverständnis die Verzweiflung als Symptom einer Krank­
heit; und die derart ansetzende Interpretation kann nicht
mehr als durchgängig negativistisch gekennzeichnet wer­
den.
Des weiteren läßt sich die transzendentale Frage nach den
Bedingungen des Selbstseinkönnens auf eine existentielle
Stimmung wie das verzweifelte Man-selbst-sein-Wollen nur
anwenden, wenn wir die Universalität und Nicht-Substi­
tuierbarkeit dieser »Grundbefindlichkeit« unterstellen dür­
fen. Die transzendentale Bedingungsanalyse ist allein im
Hinblick auf Leistungen sinnvoll, die allgemeiner Natur
sind, für die es also keine funktionalen Äquivalente gibt. Die
Transzendentalisierung von Tatsachen oder existentiellen
Selbsterfahrungen hat die mißliche Konsequenz, daß wir für
etwas, das in der Welt vorkommt, einen für die Welt selbst
konstitutiven Rang nachweisen müssen. Wenn die transzen­
dentale Begründung des Selbstseins als Nicht-Verzweifelt­
seins funktionieren soll, muß das verzweifelte Man-selbst­
sein-Wollen zur condition humaine gehören und so etwas
wie eine allgemeine anthropologische Tatsache darstellen.
Wir müssen zudem ausschließen können, daß sich andere
Phänomene
eines
nicht-verzweifelten
Man-selbst-sein­
Wollens als Kandidaten für eine analoge Begründung des
Selbstseins namhaft machen lassen.
128
Damit nicht genug. Die eigentliche Schwierigkeit ergibt sich
aus dem Umstand, daß das aufklärungsbedürftige Faktum,
an dem die Frage nach Ermöglichungsbedingungen nur an­
setzen kann, ein irgendwie schon bewährtes Resultat sein
muß. Die transzendentale Frage stellt sich im Hinblick auf
validierte Erzeugnisse, die entsprechende Gültigkeitsbedin­
gungen erfüllen: wahre Aussagen, grammatische Sätze, gül­
tige Sprechakte, richtige Normen, einleuchtende Theorien,
gelungene Werke der Literatur und Kunst usw. Aus der re­
konstruktiven Sicht Theunissens fragt auch Kierkegaard
nach den Bedingungen der Möglichkeit wenn nicht eines ge­
lungenen Produktes, so doch eines Prozesses gelingenden
Selbstseins: Wie ist Selbstsein als Prozeß der Bewältigung
einer immer wieder aufsteigenden Verzweiflung möglich?
Aber bei der Kantischen Frage, wie objektive Erfahrung
möglich ist, geht es um das Durchsichtigmachen der Genese
einer bereits als gültig akzeptierten Leistung, deren Ergeb­
nis wir als aufklärungsbedürftiges Faktum antreffen und in
beliebig vielen Beispielen reproduzieren können. Kierke­
gaard geht aber von einem Faktum ganz anderer Art aus vom verzweifelten Man-selbst-sein-Wollen, wobei das Ge­
lingen dahingestellt bleibt. Für das, was Kierkegaard in sei­
ner Genese durchsichtig machen will, steht die Validierung
noch aus. Denn das Normale ist die Krankheit, auf deren
Kontrastfolie sich eine Art von »gesunder« menschlicher
Existenz erst abzeichnet. Der Modus eines gelingenden
Selbstseins kann für den Zweck der transzendentalen Auf­
klärung seiner Ermöglichungsbedingungen nur hypothe­
tisch in Anschlag gebracht werden. Unter dieser Prämisse
könnte man den Glauben allenfalls funktional, als geeigne­
tes Mittel zur Erreichung des vom Man-selbst-sein-Wollen
implizierten Zieles rechtfertigen. Eine funktionale Begrün129
dung reicht aber nicht hin für das, was Theunissen mit Kier­
kegaards Argument begründen möchte, nämlich die These:
»Das Werden der Freiheit
zu
sich aus der Freiheit von sich
geschieht im Grunde des Glaubens selbst als kommunika­
tive Genese des Selbstseins.«26 Der Glaube, der sich funk­
tional begründet, destruiert sich selbst.
Theunissen überschätzt die Tragweite des von ihm rekon­
struierten Kierkegaardschen Argumentes. Auch die dialog­
philosophische Ergänzung der vertikalen Kommunikation
mit Gott durch die horizontale Achse der interpersonalen
Beziehung bringt nicht den erhofften Gewinn. Aus der Sicht
einer formalpragmatischen Analyse sind gewiß die kommu­
nikativ Handelnden, die sich an transzendierenden Gel­
tungsansprüchen orientieren, mit jedem gelingenden Akt
der Verständigung zu einer Transzendenz von innen heraus­
gefordert. Mit dieser spröden Wahrheit will sich aber Theu­
nissen nicht zufriedengeben. Er möchte in gelingenden Ak­
ten der Verständigung eine in die Geschichte einbrechende
Transzendenz, die verheißungsvolle Gegenwart einer abso­
luten, unsere endliche Freiheit erst ermöglichenden Macht
erkennen. So bietet er immer neue Argumente auf, um den
Kierkegaardschen »Sprung« in einen rational nachvollzieh­
baren Übergang zu verwandeln.27 Denn Theunissen ist zu
sehr Philosoph, als daß er den Satz Dostojewskis (in einem
Brief an Natalja Vonwisin vom 20. Februar 1854) akzeptie­
ren könnte: »Würde mir jemand beweisen, daß sich Chri­
stus außerhalb der Wahrheit befände, und wäre es wirklich
so, daß die Wahrheit außerhalb Christi läge, so würde ich
lieber mit Christus bleiben als bei der Wahrheit.« Theunis­
sen glaubt, philosophische Gründe zu haben, die ihn berech­
tigen und darin bestärken, an einem enthellinisierten Begriff
des Eschaton festzuhalten. Ich vermag diese Gründe nicht
130
zu erkennen, allenfalls rationale Motive für die Überzeu­
gung, solche Gründe zu haben.
V
Ein Motiv für diese Gewißheit entnehme ich der harschen
Polemik, die T heunissen in den Spuren der Hegelschen Kri­
tik an Kant gegen den Formalismus der Sollensethiken aus­
trägt.28 Freiheit im moralischen Sinn der Selbstbestimmung
manifestiert sich im freien Willen; und frei nennt Kant den
Willen, der sich an moralische Einsichten bindet und das tut,
was im gleichmäßigen Interesse aller liegt. Die Aufgabe der
Moraltheorie besteht in einer Erklärung, wie richtige mora­
lische Urteile möglich sind. Grundsätzlich trauen wir uns
die rationale Entscheidung praktischer Fragen immer schon
zu. Da nun die Ideen von Gerechtigkeit und Solidarität mit
der Form kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt
verwoben sind, versucht die Diskursethik diese Tatsache aus
allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen des kommu­
nikativen Handelns und der Argumentation zu erklären.
Gegen dieses schwache Moralkonzept erneuert T heunissen
Hegels Kritik an der Ohnmacht des abstrakten Sollens. In
der Tat müssen sich moralische Einsichten, wenn sie prakti­
sche Wirksamkeit erlangen sollen, des Entgegenkommens
konkreter Lebensformen vergewissern.29 Sie appellieren
nämlich allein an die ermutigungsbedürftigen Kräfte autono­
mer Menschen, die wissen können, daß sie, obgleich abhän­
gig von der Gunst der Umstände, auf sich gestellt sind.
Anders verhält es sich mit Freiheit im ethischen Sinne der
Selbstverwirklichung. Sie manifestiert sich in einer bewuß­
ten Lebensführung, deren Gelingen nicht ausschließlich
der Autonomie endlicher Wesen zugemutet werden kann.
131
Theunissen scheint davon auszugehen, daß die Ethik die
Aufgabe hat, das gelingende Selbstsein in analoger Weise zu
erklären wie die Moraltheorie die Tatsache, daß wir uns
richtige moralische Urteile immer schon zutrauen. Dann
muß sie aber eine Instanz benennen, die für jeden die gleiche
Möglichkeit eines nicht-verfehlten Lebens garantiert, damit
wir das Selbstseinkönnen in ähnlicher Weise als ein tran­
szendentales Faktum unterstellen dürfen wie die Fähigkeit,
richtige moralische Urteile zu fällen. Nun steht ein nicht­
verfehltes Leben nicht in gleicher Weise wie das richtige mo­
ralische Urteilen und Handeln in unserer Macht. Wenn es
aber in gleicher Weise der transzendentalen Frage nach den
Bedingungen seiner Möglichkeit unterzogen wird, erklärt
der Umstand seiner Unverfügbarkeit, warum das gelin­
gende Selbstsein durch eine andere Macht garantiert wer­
den müßte. Diese Problemlage macht verständlich, warum
Theunissen auf den Bezug zur absoluten Freiheit schon
aus argumentationsstrategischen Gründen nicht verzichten
kann. Aber Kant hat gesehen, daß sich aus der Logik dieser
Art von Fragestellung Gott bestenfalls als ein praktisches
Postulat rechtfertigen läßt. Unser Bedürfnis, nicht verzwei­
felt zu sein und uns auch unter der Herrschaft der Zeit die
Aussicht auf Glück zu erhalten, ist kein ausreichender
Grund dafür, daß die Philosophie eine zuversichtliche Aus­
kunft erteilt.
Diese Überlegung macht wenigstens den Streitpunkt klar:
Können wir unter Bedingungen nachmetaphysischen Den­
kens die klassische Frage nach dem guten Leben - in ihrer
modernen Lesart als Frage nach dem gelingenden Selbst­
sein - nicht nur formal, sondern beispielsweise so beantwor­
ten, daß wir einen philosophischen Schattenriß der evangeli­
schen Botschaft zeichnen?
132
Ein weiteres Motiv für Theunissens affirmative Antwort auf
diese Frage vermute ich in der selektiven Beschreibung von
Kommunikation. Die Dialogphilosophie tauscht nämlich
die Subjekt-Objekt-Beziehung, also das in der Bewußt­
seinsphilosophie ausgezeichnete Verhältnis zwischen dritter
und erster Person, lediglich aus gegen das Verhältnis zwi­
schen erster und zweiter Person, statt den vollen Sinn des
Systems der Personalpronomina auszuschöpfen. Die episte­
mische Selbstbeziehung war zunächst nach dem Modell der
Selbstbeobachtung gedacht worden; an die Stelle dieses Re­
flexionsmodells tritt nun eine kommunikativ vermittelte
Selbstbeziehung, die nach dem Vorbild der dialogischen
Ich-Du-Beziehung strukturiert ist. Sie wird als praktisches
Selbstverhältnis konzipiert, und zwar je nach Akzentuie­
rung der zweiten oder der ersten Person als Liebe oder als
kommunikativ vermittelte Freiheit, d. h. als Bei-sich-selbst­
sein-im-Anderen oder als Im-Anderen-bei-sich-selbst-sein.
Damit wird freilich ein Spezialfall, nämlich die wechselsei­
tige ethische Selbstverständigung darüber, wer man ist und
sein möchte, zum Prototyp von Verständigungsprozessen
überhaupt erhoben. Die Dialogphilosophie zieht sogar die
Aufmerksamkeit von der Struktur der Verständigung selbst
ab und verlagert sie auf die existentielle Selbsterfahrung der
Beteiligten, die sich in der Folge einer gelingenden Kom­
munikation einstellt. Sie vernachlässigt an der Struktur des
Sich-miteinander-über-etwas-Verständigens vor lauter In­
tersubjektivität den Bezug zur objektiven Welt, zu dem,
worüber kommuniziert wird. Damit schließt sich die Di­
mension der Wahrheitsgeltung zugunsten von Authentizi­
tät. Und selbst diese Dimension kann gegen den narzißti­
schen Sog eines weltlosen Selbstverständigungsdiskurses
nur noch durch ein gleichsam hinterrücks eingeführtes All133
gemeines offengehalten werden, das die Kommunikation als
solche erst ermöglichen soll.
Aus diesem Grund hatte Theunissen bereits 1969 eine »ab­
solute Objektivität« eingeklagt, »die über lntersubjektivität
hinausreicht und das Subjekt schlechthin begründet«.30 In
einer späteren Studie, die dem »dunklen« Verhältnis von
Allgemeinheit und lntersubjektivität gewidmet ist, wieder­
holt er die These, »daß wir in unserer Selbstverwirklichung
Allgemeinheit zu realisieren haben«.31 Den fundamentali­
stischen Bezug zu einer Objektivität und Wahrheit verbür­
genden Instanz glaubt Theunissen nicht aufgeben zu dürfen,
weil sonst »die lntersubjektivität ... nur erweiterte Subjek­
tivität ist«.32 Die Notwendigkeit eines solchen Korrek­
tivs entfällt aber, sobald wir die Struktur des Sich-miteinan­
der-über-etwas-Verständigens aus der dialogphilosophi­
schen Engführung auf »den Anderen« befreien. Wenn wir
die Dritte-Person-Einstellung zu etwas in der objektiven
Welt mit den performativen Einstellungen der teilnehmen­
den ersten und zweiten Person zueinander integrieren, zer­
fällt auch die Komplementarität, die Theunissen für das Ver­
hältnis von kommunikativer Freiheit und Liebe behauptet.
Die kommunikative Freiheit nimmt dann nämlich die pro­
fane, aber unverächtliche Gestalt der Zurechnungsfähigkeit
kommunikativ handelnder Subjekte an. Sie besteht darin,
daß die Beteiligten ihr Handeln an Geltungsansprüchen ori­
entieren können, indem sie Geltungsansprüche erheben, zu
anderen Geltungsansprüchen mit»Ja« oder»Nein« Stellung
nehmen und illokutionäre Verpflichtungen eingehen.
Im Wechselspiel der kommunikativen Freiheit endlicher
Subjekte eröffnet sich der Horizont, in dem wir auch die
Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft als Wund­
mal sowohl der gesellschaftlichen wie der lebensgeschicht1 34
liehen Realität erfahren. Ob wir uns ihr zynisch anpassen
oder melancholisch unterwerfen, ob wir an ihr und uns ver­
zweifeln, darüber geben jene Phänomene Aufschluß, an de­
nen Theunissen zu Recht ein brennendes Interesse nimmt.
Der Philosoph wird aber von diesen Phänomenen wenn
auch keineswegs eine entmutigende, so doch eine andere
Beschreibung geben müssen als der Theologe. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben sind Sache des einen so gut wie
des anderen; aber sie unterscheiden sich nach Status und
Anspruch, wenn die theologisch-philosophischen Diskurse
erst einmal entmischt sind.33 Die philosophischen erkennt
man daran, ob sie diesseits der Rhetorik von Verhängnis und
Verheißung verharren.
Wenn freilich, was Theunissen für gegeben hält, die Anoma­
lien selber zur Norm geworden sind, beginnen die Phäno­
mene zu verschwimmen. Um die relevanten Phänomene
überhaupt noch zu Gesicht zu bekommen, mag es dann an­
gebracht sein, Philosophie in der Art, aber doch nur in der
Art einer negativen Theologie zu betreiben.
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