Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts Heinz Dieterich Abstract1 Die drei Grundpfeiler des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts; Doppelte Epochenwende: Ende der Chrematistik und des Kapitalismus; Reversion des Marktes, Evolution der Demokratie; Umkehrung der Dialektik von Markt und Planung; Dialektik der Komplexität überwindet formale bürgerliche Demokratie. 1. Drei Grundpfeiler des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts Das erste wissenschaft liche Paradigma gesamtgesellschaft licher Entwicklung der Neuzeit, das in seiner erkenntnistheoretischen und methodologischen Bedeutung den Paradigmen Isaac Newtons in der Physik und Charles Darwins in der Biologie gleichkommt, wurde von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelt. Formuliert in der philosophisch-wissenschaft lichen Sprache des 19. Jahrhunderts wurde es bekannt als Dialektischer Materialismus und später als Historisch-Dialektischer Materialismus. Sein epistemologisches „Genom“, d. h. seine erkenntnistheoretische Herkunft und Struktur, wurden 1913 in Lenins berühmten Essay, „Drei Quellen und Drei Bestandteile des Marxismus“ identifiziert als das Beste, was die Menschheit im 19. Jahrhundert „in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat“, namentlich: die Anwendung der Dialektik, also der Lehre „von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt“, auf die Evolution menschlicher Gesellschaften; die Weiterentwicklung der Arbeitswerttheorie von David Ricardo und Adam Smith zur Mehrwerttheorie, dem „Grundpfeiler der ökonomischen Theorie von Marx“ sowie die französischen Lehren des (utopischen) Sozialismus und des Klassenkampfes als Triebkraft gesellschaft licher Evolution. 1 2 Dank an unseren Freund Paul Cockshott für seinen Beitrag zu dieser Abhandlung. Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen Nun, da die Evolution des utopischen Sozialismus, über den Wissenschaft lichen Sozialismus von Marx und Engels und das sowjetische Modell des „real existierenden“ Sozialismus des 20. Jahrhunderts hindurch, in die Lehre des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts (DS21) einmündet, ist es an der Zeit die Leninsche Frage nach den konstitutiven wissenschaft lichphilosophischen Bestandteilen dieses neuen postkapitalistischen Historischen Projektes erneut zu stellen. Versteht man das Marx-Engels-Modell nicht in der historischen Sprache des 19. Jahrhunderts, sondern mittels der gegenwärtigen Wissenschaftsterminologie, so ist offensichtlich, dass es den Grundelementen des Zeit-Raum-Bewegungs-Paradigmas entspricht, welches die erkenntnistheoretische und methodologische Grundlage aller modernen empirischen Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert (Galileo) darstellt. „Dialektisch“ ist, nach Lenins adäquater Definition, „die Lehre von der Entwicklung“. Da Entwicklung, sei sie evolutiv oder involutiv, das Resultat von Bewegung ist und alle Materie sich in ständiger Bewegung befindet, können Dialektik und Bewegung strukturell als äquivalente Kategorien verstanden werden. „Historisch“ entspricht der „Zeit“, also der „Dauer eines Verbleibens“, das durch Bewegung gemessen wird (Newton). „Materialismus“ kann in der menschlichen Erfahrung verstanden werden als das realistische Verständnis des Raumes, das heißt der Extension, Ausgedehntheit oder Körperform der Materie, einschließlich der zwischen ihr sich befi ndenden Regionen. In diesem Sinne ist der Materialismus von Marx direkt auf die physische Existenzform der Materie, den Raum, bezogen. Dialektischer Materialismus, angewendet auf das Phänomen menschlicher Geschichte, stimmt daher in wissenschaftslogischer Hinsicht essentiell mit dem Wissenschaftsparadigma der Neuzeit überein, das in der lingua franca der Gegenwart als Time-Space-Motion Paradigma bezeichnet wird. Unter den drei kosmischen (ontologischen) Bedingungen menschlicher Existenz, Raum-Zeit-Bewegung, die gleichzeitig das elementare kognitive Grundmodell empirischer wissenschaft licher Arbeit (Forschung) darstellen, nimmt die Zeit eine Sonderstellung ein, insofern sie nicht durch menschliche Praxis veränderbar ist. Diese klassische Newtonsche Konzeption der Zeit ist zwar durch die Arbeiten Einsteins und Minkowskis und ihr vierdimensionales Raumzeit-Paradigma theoretisch relativiert worden, doch gilt für menschliche Praxis und gesellschaft liche Transformation weiterhin die rigorose Wahrheit, dass alle biologischen Prozesse, also alles Leben auf der Erde, entlang einem unilinearen Zeitpfeil verlaufen. … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 3 In diesem Sinne ist Zeit die einzige absolute Bedingung unseres Seins. Menschliche Individuen, Gruppen oder Gesellschaften können in der Regel ihren physischen Habitat verändern oder verlassen und, bis zu einem gewissen Grad, die Bewegung (Evolution) der Realität beeinflussen. Zeit ist jedoch eine eindirektionale (aus der Vergangenheit in die Zukunft), absolute, nicht beeinflussbare und nicht-reproduzierbare Bedingung menschlichen Lebens. Sie ist, in anderen Worten, die wertvollste Ressource der Existenz des homo sapiens. Die Implikationen der absoluten Bedingung der Zeit für Sinn, Ethik und Organisation des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, sind transzendental. Und sie gelten für jeden der drei konstitutiven Bestandteile, auf denen der Demokratische Sozialismus des 21. Jahrhunderts beruht: der materialen Lebensethik, der rationalen wissenschaft lichen Erklärung der Welt und der Selbstverwirklichung des Subjekts durch partizipative Demokratie. Als moralische Kategorie bedeutet Zeit, dass vor ihr alle Personen gleich sind, unabhängig von den empirischen Charakteristika dieser Personen wie Geschlecht, Alter, Einkommen, Ethnizität, Produktivität, sozialer Status und Nationalität. Daraus folgt, dass eine Stunde im Leben eines Bankiers, Managers, Universitätsprofessors oder Bundesministers den gleichen moralischen oder vitalen Wert besitzt wie eine Stunde im Leben eines Arbeiters, Bauern oder Hartz-IV-Empfängers, da, wenn sie abgelaufen ist, jedes dieser Subjekte unwiderruflich sechzig Minuten seines begrenzten Lebenszyklus verloren hat. Diese grundlegende moralische Gleichheit aller BürgerInnen der Weltgesellschaft vor dem Stundenglas der Zeit, stellt die elementarste und unverletzliche ethische Basis jeder Gesellschaft dar. Sie zu garantieren ist daher absolute Verpflichtung von Staat und Gesellschaft. Doch unser Leben realisiert sich nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum. Wir sind Materie und leben eine materielle Existenz in einem interaktiven Raum-Zeit-Bewegungs-Kontinuum. Es ist aufgrund dieser zweiten Bedingung unserer Existenz – die weniger absolut ist als die vorhergehende, gleichwohl jedoch unser gesamtes Sein essentiell mitgestaltet (mitkonfiguriert) – das Zeit als moralische Kondition und abstrakt gleiche Ressource jeden Individuums (Menschenrecht) nicht hinreicht 4 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen zur philosophisch-ethischen Grundlegung einer neuen solidarischen Gesellschaft. Es sei denn, sie sei organisch und untrennbar eingebunden in die drei Dimensionen, die unsere Lebensqualität definieren: materielles Sein, Lebenssinn (Transzendenz) und subjektive Selbstbestimmung. Moralische oder vitale Zeit als notwendige und materielle Subsistenz als hinreichende Bedingung führen uns nun an den Knotenpunkt, an dem sich die ethische Dimension einer gerechten und demokratischen Gesellschaft mit der faktischen Dimension der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit trifft. Und an diesem Schnittpunkt entsteht die hier entscheidende Frage: Wie kann die postkapitalistische Gesellschaft und der postkapitalistische Staat des 21. Jahrhunderts dergestalt organisiert werden, dass die grundlegenden Bedürfnisse von Gerechtigkeit, Demokratie und Lebenssinn ihrer BürgerInnen befriedigt werden? Die allgemeine Antwort liegt in der bewussten und integralen Zusammenarbeit materialer Lebensethik, moderner Wissenschaft und partizipativ-repräsentativer Demokratie. Diese drei Dimensionen unserer gesellschaft lichen Realität, die zugleich die Subsysteme für die Konstruktion der neuen Gesellschaft des Sozialismus des 21. Jahrhunderts darstellen, sind verbunden durch die Kategorie der Zeit. Da materielle Bedürfnisse und Lebensqualität nur durch gesellschaft liche Arbeit befriedigt werden können und der ökonomische Wert der Arbeit sich in Zeit ausdrückt (ArbeitsWert), fallen hier die allgemeine ethische Fundierung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts und seine praktische ökonomische Fundierung zusammen: als übergeordnete moralische Bedingung gesellschaft lichen Lebens und als elementares Operationsprinzip der Ökonomie. Zusätzliche Attribute dieser Koinzidenz liegen darin, dass die ultimative gesellschaft liche Ressource im Produkt von Zeit-Bevölkerung liegt, als Ergebnis des 24 Stunden-Tages und der Gesamtheit der arbeitsfähigen Bevölkerung, und das jedes physisch überhaupt mögliche Unternehmen durch kollektive menschliche Arbeit in Raum und Zeit durchgeführt werden kann. Lenin paraphrasierend können wir nun sagen, dass die „Drei Quellen und Drei Bestandteile“ des Sozialismus des 21. Jahrhunderts bestehen in der materialen Lebensethik, der arbeitswertbasierenden Äquivalenzökonomie und der Selbstbestimmung durch partizipative Demokratie, welche die Subjektkondition und den Lebenssinn der Staatsbürgerinnen ermöglichen. … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 5 Das allgemeine Wissenschaftsparadigma des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts stellt sich dann folgendermaßen dar als: 1. Eine auf den fortgeschrittensten Wissenschaften und der fortgeschrittensten Ethik des neuen Jahrtausends beruhende RaumZeit-Bewegungs-Analyse und Lehre, die wissenschaftslogisch dem Dialektisch-Historischen Materialismus äquivalent ist und die Gesetzmäßigkeiten der komplexen Interaktion zwischen dem homo sapiens, der Gesellschaft und der Natur erforscht, zum Besten von Menschheit und Natur. Die materiale Lebensethik ist die moralische Basis des Sozialismus des 21. Jahrhunderts; die auf dem Arbeitswert operierende demokratisch geplante Äquivalenzökonomie ist seine wirtschaft liche Basis und die partizipatorisch-repräsentative Demokratie in den vier elementaren Lebenszusammenhängen des Menschen – Politik, Ökonomie, Kultur und Militärwesen – konstituiert den institutionellen Grundrahmen für ein friedliches und solidarisches Zusammenleben der WeltbürgerInnen. Dies sind die drei institutionellen Grundpfeiler des Sozialismus des 21. Jahrhunderts. 2. Im weiteren werden wir zeigen, dass diese drei institutionellen Grundelemente des Neuen Historischen Projektes der nachhaltigen demokratischen Weltgesellschaft nicht auf utopischer Philanthropie beruhen, sondern das objektive Resultat des Evolutionsprozesses der bürgerlichen Zivilisation und ihrer kapitalistischen Produktionsweise darstellen. 3. Dass diese objektiven institutionellen Evolutionsresultate der kapitalistischen Moderne sich deutlich machen in der zunehmender Konvergenz der Forschungserkenntnisse der fortgeschrittensten Wissenschafts-Paradigmen, vor allem in der Komplexitäts-Theorie, der kybernetischen Kontrolltheorie, der Evolutionstheorie, der kognitiven Anthropologie, der heterodoxen Wirtschaftswissenschaften und der Entropie-orientierten Ökologie-Ökonomie. 4. Dass eine Ressourcen-adäquate, mathematisch gestützte (kommensurable monetäre, physische und Zeit-Input Output Tabellen (IOTs), Computer-Modelle), demokratisch geplante nachhaltige Weltökonomie, die den Wert der Produkte und Dienstleistungen nicht über den Marktwert (Preise) sondern über Arbeitswerte bestimmt; mit dem Äquivalenzprinzip als operativem Regulationsmechanismus der Tausch-, Aneignungs- und Verteilungsverhältnisse und einer partizipatorisch-repräsentativen Demokratie, deren personelle 6 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen Besetzung höherer öffentlicher Entscheidungspositionen im legislativen, juristischen und exekutiven Bereich, mit einem kombinierten System von Wahlen und Zufallsprinzip-Repräsentationen durchgeführt wird, dass all dies nicht nur objektiv möglich ist durch die fortgeschrittene Wissenschaft und Technologie des neuen Jahrtausends, sondern objektiv notwendig um die Biosphäre und die Menschheit vor der gegenwärtigen Zivilisation zu retten. 2. Doppelte Epochenwende: Ende der Chrematistik und des Kapitalismus Wenn sich die historische Durchführbarkeit (Historizität) eines etablierten sozialen Gesamtsystems erschöpft, wie z. B. die Sklavenhaltergesellschaft, der Feudalismus, der sowjetische Sozialismus oder der gegenwärtige Kapitalismus, dann öff nen sich die Potentiale für eine qualitative Veränderung in seinem Evolutionsprozess, d. h. für eine Zustandsänderung des Systems oder einen Quantensprung; sei es über den Weg einer Implosion wie im Fall des sowjetischen Sozialismus, einer internen Weiterentwicklung (Evolution) oder der Zerstörung seitens der globalen Umgebung. Für den Eingriff menschlicher Praxis in diese objektiven Entwicklungsprozesse sind daher das Konzept und die konkrete Bestimmung des Existenzzyklus einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung, weil sie entscheiden, ob ein Transformationssubjekt in der historischen Szenerie als heroische Figur agiert oder als tragikomische. Ein wissenschaft lich fundiertes Urteil über die endzeitliche lebenszyklische Situation der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich mit Hilfe der Systemtheorie, der fortgeschrittenen Physik und der geschichtlichen Evolutionslogik erstellen. Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Übergangs einer gesamtgesellschaft lichen Zivilisationsform sind dann gegeben, wenn erstens, die Entropie (Dysfunktionalität) ihrer Subsysteme – ihrer tragenden Institutionen – die Reproduktion des Gesamtsystems fortschreitend in Frage stellt und zweitens, wenn sich konstitutive Strukturen und Subsysteme der neuen Zivilisation im Schoße der alten Gesellschaft bereits entwickelt haben. … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 7 Wie wir an anderer Stelle nachgewiesen haben2 ist keines der vier entscheidenden Subsysteme der bürgerlichen Gesellschaft heute mehr in der Lage, die großen Probleme der Gattung angemessen zu lösen: weder die auf dem Tauschwert basierende nationale Markt-Bereicherungswirtschaft (Chrematistik), noch die plutokratische formal-repräsentative parlamentarische Demokratie, der der ökonomischen Elite verpflichtete Klassenstaat noch auch das liberale Besitzbürgertum. Statt Quelle systemstabilisierender Inputs und konfliktregulierender Mechanismen für das Gesamtsystem zu sein, werden sie fortschreitend zu Konfliktzonen gesellschaft licher Widersprüche, die die herrschende Klasse nicht mehr adäquat lösen kann. Diese Widersprüche, die nur noch mittels eines Quantensprungs des Systems zu überwinden sind, also seiner Überführung in eine postkapitalistische Zivilisation, finden ihre Lösung in der postchrematistischen Menschheitsgeschichte durch vier neue, zentrale Institutionen (Subsysteme), die im Schoß der alten Gesellschaft bereits erkennbar sind: 1. der auf dem Gebrauchswert und der Arbeits-Werttheorie basierenden nicht-marktwirtschaft lichen, demokratisch von den unmittelbar Wertschaffenden bestimmten Äquivalenzökonomie; 2. der Mehrheits-Demokratie, die die vier elementaren gesellschaft lichen Beziehungen des Menschen (Ökonomie, Politik, Militär, Kultur) umfasst und in den wesentlichen gesamtgesellschaft lichen Fragen plebiszitär verfährt; 3. dem basisdemokratischen Staat als Repräsentant der Allgemeininteressen mit angemessenem Minderheitenschutz und 4. dem kritisch-verantwortlichen Subjekt, dem rational-ethisch-ästhetisch selbstbestimmten Staatsbürger. Der Lebenszyklus der bürgerlichen Gesellschaft geht nun nach dreihundert Jahren seinem Ende entgegen. Das kosmische Gesetz ewiger Bewegung, dass sich in ihr manifestiert als das Getriebensein ständiger Zerstörung des Bestehenden auf der Suche nach dem plus ultra des Profits, von Schumpeter euphemistisch als „creative destruction“ bezeichnet, hat sie an die strukturellen Grenzen ihrer Entwicklung getrieben. Und am 2 8 Heinz Dieterich, Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, 2. Auflage, Kai Homilius Verlag, Berlin, 2006 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen Ende dieser Evolution, in der Produktivkräfte und Natur sich gegen ihre Produktionsverhältnisse erheben, lässt sie der Gattung nur drei Wege offen: den atomaren Holocaust, das kapitalistische Terrorsystem, konfiguriert in den Visionen von Orwell, Huxley und Bradley, oder die neue Gesellschaft der partizipativen Demokratie. So wie Gutenberg und Galileo eine neue, postfeudale Epoche der Menschheit einläuteten, so stehen wir heute vor der Neuen Welt der postkapitalistischen und postchrematistischen Epoche, dessen Paradiese und Dämonen den Nachlass der untergehenden bürgerlichen Klasse darstellen. Diese Neue Welt ist die interaktive elektronische Zivilisation der Weltgesellschaft – 2.0. In der Ökonomie, wo die Informationstechnologie gleichzeitig zum transversalen und transzendentalen Sektor geworden ist, ebenso wie auf dem militärischen Schlachtfeld, wo Sun Tzu, Clausewitz und Napoleon heute nur noch elektronisch geführt als Sieger das Kriegstheater verlassen könnten, ist diese Wirklichkeit bereits unübersehbar. Doch auch in den anderen beiden Elementarbeziehungen des Menschen, der Kultur und der Politik wird die 2.0 Zivilisation immer dominierender, wie unter anderem die Tatsache zeigt, dass in den USA die Jugendlichen zwischen 8 und 18 Jahren im Durchschnitt 11 Stunden täglich in der virtuellen elektronischen Welt verbringen, sei es am Smartphone, Computer oder am Fernseher3 und dass US-Außenministerin Hillary Clinton den Neuen Kalten Krieg der Obama-Regierung gegen China und das größte Militärbudget der Menschheitsgeschichte, unter anderem mit der Internet-Freiheit begründet, in Anlehnung an Franklin Delano Roosevelts Four Freedom Speech, der den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg begründete (1941), und an Winston Churchills Iron Curtain Diskurs, der den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion initiierte (1946).4 Wir leben im doppelten Epochenübergang von der dreitausendjährigen chrematistischen Zivilisation zur nachchrematistischen solidarischen Ökumene oder, was das Gleiche ist, zur klassenlosen Gesellschaft; und vom Kapitalismus der Moderne – mit seiner dichotomischen Endofferte des atomaren Holocaustes oder der Brave New World – zum Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Es ist in dieser Transition zur Weltgesellschaft – 2.0, in der sich die Konkurrenz beider Systeme erneut konfiguriert und jedes gesellschaft liche Subjekt entscheiden muss, auf welcher Seite des Kampfes um die Zukunft der Menschheit es stehen will. 3 4 Kayser Family Foundation Study, The New York Times, 20.1.2010 The New York Times, 23.1.2010 … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 9 3. Reversion des Marktes, Evolution der Demokratie Diese Prozesse in der Evolution der Gattung und das Profil der Zukunft sind objektiven Charakters und spiegeln sich daher in den fortgeschrittensten Wissenschaften und Technologien wieder deren konvergierende Ergebnisse zeigen, dass die objektive Evolutionsmöglichkeit der Menschheit auf die partizipative solidarischen Demokratie hinausläuft, einerseits als Notwendigkeit zunehmender Komplexität der gesellschaft lichen Beziehungen, wie im Fall der Systemeigenschaft die wir Demokratie nennen, oder aufgrund zunehmender Dysfunktionalität historisch gewachsener Institutionen, wie im Fall des Marktes. 4. Umkehrung der Dialektik von Markt und Planung Das zentrale Argument der neoliberalen Urväter Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek gegen die sowjetische Revolution war, dass der humanistische Versuch des Genossen Lenin und seiner Partei, soziale Gerechtigkeit über kollektive Planung herzustellen, zum Scheitern verurteilt war. Keine Planungsbehörde könne im Besitz aller zu effizienter Planung relevanten Parameter einer Nationalökonomie sein und mit der Aufhebung des Privateigentums werde das entscheidende kybernetische Element des Systems, der Marktpreis, zerstört. Die effiziente „Allokation der knappen Ressourcen“ und ihre Optimierung bliebe daher besser dem Markt überlassen der sich über tausendjährige Evolution hindurch perfektioniert habe und den höchsten Grad materiellen Wohlbefi ndens aller Bürger garantiere. In der Tat ist der Markt, also der physische (Agora) oder virtuelle Ort (eBay) des Austausches von Gütern und Dienstleistungen, die ursprüngliche Institution des freien Tauschaktes von Waren, im Gegensatz etwa zur späteren staatlichen Fiskalisation des Mehrproduktes der Produzenten. Und unzweifelbar hat er eine etwa zehntausendjährige Entwicklungsgeschichte hinter sich, in der er von einer lokalen Stätte des Tauschhandels zum nationalen ökonomischen Clearingsystem der modernen Nationalstaaten avancierte, um heute als Weltmarkt das wirtschaft liche Geschehen der Gattung zu regulieren. Und schließlich ist er, unbestreitbar, ein interaktives Regulationssystem, die „invisible hand“ der ökonomischen Koordination 10 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen von Millionen Wirtschaftssubjekten, wie Adam Smith visionär den kybernetischen Effekt der Interaktion profitorientierter Marktpreise bezeichnete. Der Markt der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft ist unter bestimmten Bedingungen erstaunlich koordinationseffektiv. Zu diesen Bedingungen gehört eine nicht-monopolistische Marktstruktur, eine kaufk raftgestützte Nachfrage, eine relativ freie Preisbildung, gut ausgebildete Arbeitskader und ein effi zienter Staat, der die funktional notwendigen Rahmenbedingungen der politischen Ökonomie garantiert. In dem Maße, in dem diese Konditionen nicht erfüllt werden, zum Beispiel, im Fall kaufk raftschwacher öffentlicher Güter wie Arbeitsplatzsicherung, Altersversorgung usw., oder die freie Preisbildung zu sehr durch Monopolbedingungen oder administrative Preise des Staates eingeschränkt wird, verliert der Markt seine Rückkoppelungskapazität und -effi zienz und wird zum Pseudomarkt. Aus der Perspektive der Systemlogik ist der Markt das institutionelle wirtschaft liche Umfeld, in dem die herrschende Klasse mittels des ökonomischen Verfassungsprinzips des Eigentums und des operativen Prinzips der Preisdeterminierung die Raison ihrer Klassenexistenz realisiert: die Profitmaximierung. Unlösbar verbunden mit dieser unseligen Dreifaltigkeit von Privateigentum, Preisbestimmung und Profit ist das institutionelle politische Umfeld des bürgerlichen Parlamentarismus und der plutokratischen Formaldemokratie. Markt, plutokratische Formaldemokratie, herrschende Klasse und Klassenstaat sind die Essenz bürgerlicher Zivilisation und bilden als solche eine unteilbare Einheit. Unter herrschaftspolitischen Gesichtspunkten ist „der Markt“ heute nicht mehr als ein linguistischer Code für das ökonomische Entscheidungsmonopol der Großinvestoren, welches drei wesentliche Funktionen für den Bestand bürgerlicher Zivilisation erfüllt: die ungleiche (asymmetrische) Akkumulation des Kapitals; den bestimmenden Einfluss der Kapitalmagnaten auf den politischen Entscheidungsprozess und die kybernetische Regelung der wichtigsten ökonomischen Systemparameter, wie die Verteilung der gesellschaft lichen Arbeit und des gesellschaft lichen Mehrprodukts. Es ist die dritte Funktion, die von den neoliberalen Ökonomen seit von Mises als Hauptargument gegen eine demokratische, nicht auf Privateigentum beruhende gesamtwirtschaft liche Planung, ins Feld geführt … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 11 wird. Doch es ist ein Argument, dass durch die Entwicklung der interaktiven elektronischen Cybersphäre seine historische Berechtigung verloren hat. Die moderne Informationstechnologie hat das Verhältnis der Obsoleszenz der Planung und des Marktes auf den Kopf gestellt. Was heute obsolet ist, ist nicht die Dialektik der Planung, sondern die Dialektik des Marktes. Die prinzipielle Schwäche des dynamisch komplexen Systems das wir Markt nennen besteht darin, dass seine inneren Entwicklungstendenzen zur Asymmetrie tendieren, ähnlich der Entwicklungslogik vieler Natursysteme. Zur Beschreibung und Analyse dieser Natursysteme wird häufig der Zweite Satz der Thermodynamik und das in ihm enthaltene Phänomen der Entropie benutzt. Neuerdings wird dieses Procedere auch auf das Verhalten des Marktes angewandt. Der Markt fungiert jedoch als Subsystem eines menschlich-gesellschaft lichen Zusammenhangs und dieses Faktum, der homo sapiens als Grundelement des Systems, verleiht seiner Kybernetik eine besondere Komponente. Die asymmetrischen Tendenzen der modernen Chrematistik und die aus ihr resultierenden rekurrenten Krisen bedeuten nicht, dass das System deterministisch in der Selbstzerstörung oder im qualitativen Sprung in eine höhere Gesellschaftsformation endet. Marx und Engels waren sich dieser Besonderheit der Beziehung zwischen Chrematistik und kapitalistischem Staat bewusst und diagnostizierten hundert Jahre vor dem Auftauchen der wissenschaft lichen Kybernetik korrekt die interaktive Wechselbeziehung zwischen der Evolutionslogik des Marktes und der Verhaltenslogik des Staates. Sie nannten diese Interaktion „dialektisch“. Die prinzipielle Schwäche des Marktes als selbstregulierendes System besteht darin dass seine Mechanismen und Zeiten negativer Rückkopplung – die Korrektion von Dysfunktionalitäten im Systemverhalten – derart destruktiv und langsam sind, dass sie die Stabilität des sozio-politischen Gesamtsystems in Frage stellen und damit der konstanten Intervention des klassenbasierten Herrschaftsapparates „Staat“ bedürfen; sei es um das System zu stabilisieren, sei es um es zu revolutionieren. Der Markt ist, wie die Neoliberalen korrekt anführen, ein Produkt gesellschaft licher menschlicher Evolution. Er hat sich jedoch, wie Marx sagt, „hinter dem Rücken der Menschen entwickelt“ und ist daher blind gegenüber den Bedürfnissen, Ängsten und Notwendigkeiten seiner grundsätzlichen Funktionseinheiten: den Menschen. In dieser Hinsicht ist er ein quasi-natürliches Feedback-System, dessen positive oder entropische 12 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen Rückkopplungsmechanismen eher denen der Natur entsprechen, als jene die geplant und humanistisch orientiert zur Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung gestaltet werden. Daraus resultiert seine außerordentliche Brutalität. Das folgende Beispiel illustriert das Problem. Wird ein Waldstück von einer Plage befallen und seine Mechanismen negativer Rückkopplung sind nicht in der Lage die Plage zu neutralisieren, sterben die Bäume ab und trocknen aus. In diesem neuen Zustand steigt ihre Entflammbarkeit an, so dass früher oder später ein Waldbrand die Plage vernichten wird und das System sich regeneriert -- es sei denn die Destruktion wäre so groß, dass es für immer ausgelöscht ist. (Die gleiche Logik gilt für die gegenwärtigen Klimawechsel, die Desertifi kation usf.) Welches der beiden Resultate eintritt ist auf jeder der drei Größenskalas (mikro, meso, makro) des Kosmos irrelevant: für die betroffenen Individuen (Bäume = Objekte), für das übergeordnete System, die Biosphäre des Planeten und für das Universum. Diese Situation ist qualitativ anders in der menschlichen Gesellschaft, denn ihre Individuen sind keine Objekte (Bäume) sondern Subjekte-Objekte (homo sapiens), die sich angesichts der Zerstörung ihrer Existenz durch die institutionalisierte Barbarie des Marktes nicht damit begnügen eine Gemeinde von Opfern zu sein, sondern dazu tendieren eine Gemeinde des Widerstands zu konstituieren. In dieser Subjektkondition des Menschen liegt die Quelle aller Reformen und Revolutionen. Der Markt, mit seiner naturgemäßen „darwinistischen“ Verhaltenslogik, dem eisernen Ausbeutungswillen seiner herrschenden Klassen und der brutalen Repressivität ihres Staatsapparates, ist heute eine von der gesellschaft lichen Evolution überholte Dysfunktionalität der Geschichte. Die zentrale Frage des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, ob der Marktmechanismus durch ein anderes kybernetisches System ersetzt werden kann, das ähnlich koordinationseffektiv ist, aber demokratischer und humaner fungiert, kann daher eindeutig mit Ja beantwortet werden. Die schöne Ironie an dieser „Umwertung aller Werte“ der Neoliberalen ist, dass die Bourgeoisie selbst ihren Totengräber – und den der Chrematistik – hervorgebracht hat: die Informationstechnologie mit der die demokratische Wirtschaftsplanung in Zeit und Raum sich effizienter durchführen lässt als mit dem Markt. Und Gleiches gilt für die Evolutionslogik zur partizipativen Demokratie. Ein schöner Morgen der Dialektik, ganz sicher applaudiert von ihrem Gründungsvater Hegel und allen Opfern und Gegner der dreitausendjährigen Barbarei der Chrematistik. … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 13 5. Dialektik der Komplexität überwindet formale bürgerliche Demokratie Innerhalb der Evolutionslogik gattungsgeschichtlicher Entwicklung kann Demokratie als eine Charakteristik Dynamisch Komplexer Menschlicher Systeme (DKMS) verstanden werden.5 Diese Systemeigenschaft lässt sich mittels dreier Dimensionen oder Magnituden messen –sozial, formal und partizipativ – die den Grad der Einflussnahme der grundsätzlichen Systemeinheiten, der Bürger und Bürgerinnen, auf die öffentlichen Angelegenheiten zum Ausdruck bringen; und damit, indirekt, ebenfalls den Grad der Selbstbestimmung der gesellschaft lichen Subjekte. Die DKMS und ihre Eigenschaften unterliegen, wie alle Phänomene des Kosmos, den allgemeinen und besonderen Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und der Evolution, die für die unterschiedlichen ontologischen Dimensionen der Wirklichkeit von der Physik, der Chemie, der Biologie, den Sozialwissenschaften und der Philosophie festgestellt worden sind. Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten fungiert die Eigenschaft „Demokratie“ als Anpassungsmechanismus an die Prozesse ständiger Veränderung, die sowohl innerhalb der Strukturen der DKMS wie in seinem Habitat ablaufen. In dem Maße wie das gesellschaft liche System seiner Evolutionslogik folgt, von einfacheren zu komplexeren Strukturen und Dynamiken, folgt ihm die Entwicklung seiner Demokratie-Eigenschaft, die ihm zunehmend bessere Adaptationskapazitäten zur Erhöhung seiner Reproduktionschancen vermittelt. In diesem Sinne sind die Entwicklung des modernen europäischen Staates im 15. Jahrhundert und der modernen bürgerlichen Demokratie im Europa des 18. Jahrhunderts keine Zufallsphänomene, sondern notwendige Anpassungsentwicklungen an zunehmende Komplexitätsgrade der Entwicklung seiner internen Komponenten (Produktivkräfte, Bevölkerungsdichte, Urbanisierung, Entwicklung des Handels, Entwicklung der Klassen- und Schichtenstruktur, neue Kommunikationsmittel, etc.) und der Interaktion mit seinen natürlichen und sozialen Umfeldern. 5 14 Vgl. dazu unser Buch, El Nuevo Proyecto Historico. Fin del Capitalismo Global, Txalaparta, Estado Espanhol, 1999. Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Europa ist ein Beispiel dieser evolutionären Gesetzmäßigkeit. Die formale Leitungs-, Kontroll- und Exekutivstruktur des Feudalismus war außerordentlich einfach. Der Feudalherr beherrschte und organisierte in vertikaler Form seinen fast autarken sozioökonomischen Mikrokosmos, sekundiert durch die reaktionäre Gedankenkontrolle des Klerus und die drakonische Strafandrohung des Schwertes. Dieses einfache Leitungs-, Ausbeutungsund Herrschaftssystem war ungeeignet die Kohärenz und Stabilität dieser drei Dominationsfunktionen in der sich entwickelnden Mannigfaltigkeit ökonomischer und sozialer Beziehungen der heraufkommenden kapitalistischen Gesellschaft zu garantieren. In diesem Zusammenhang erscheint die repräsentative moderne Demokratie („emerge“ in der Sprache der Komplexität) auf der geschichtlichen Bühne, nämlich als Ausdruck funktionaler Organisations- und Kohärenznotwendigkeiten des Kapitalismus. Diese ihre Genesis als Kind des Kapitalismus macht klar, dass sie dazu verurteilt ist mit ihm unterzugehen. Die funktionale Notwendigkeit dieser Demokratie, dokumentiert durch Marx, Engels und andere bedeutende Sozialwissenschaft ler, lässt sich heute ebenfalls über die Prinzipien der kybernetischen Kontrolltheorie ableiten. W. R. Ashby, einer der Gründungsväter der Kybernetik, hat diesen Zusammenhang in seinem berühmten „law of requisite variety“ (Gesetz der notwendigen Varietät oder Diversität) formuliert, dergestalt das in der aktiven Regulierung eines Systems lediglich „Vielfältigkeit (variety) Vielfältigkeit zerstören kann“. Die Kontrollinstanz des Systems muss daher über eine genügend große Vielfalt von Aktionen verfügen um im Falle von Systemkomplikationen, eine angemessen kleine Variation in den essentiellen Variablen des Systems zu garantieren. Da die Anzahl der Störungen (Perturbationen) eines Systems im Grunde unbegrenzt ist, sollte man immer versuchen seine interne Diversität zu maximieren, um für jede vorhersehbare oder nicht vorhersehbare Notsituation (contingency) optimal vorbereitet zu sein. Mit anderen Worten, eine Kontrollinstanz kann ein System nur dann angemessen modellieren oder kontrollieren, wenn es über genügend interne Vielfältigkeit verfügt um das System zu repräsentieren. Zum Beispiel, wenn das System dichotomisch (binomial) ist und nur über zwei Alternativen verfügt, dann muss die Kontrollinstanz in der Lage sein, wenigstens zwei … des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts 15 Möglichkeiten zu repräsentieren und damit, eine Unterscheidung. Die Quantität der Vielfältigkeit die das Modellierungs- oder Kontrollsystem besitzt, stellt die Obergrenze für die Variationsquantität dar, die kontrolliert oder modelliert werden kann. In der Sprache des Dialektischen Materialismus können wir also sagen, dass die Partizipative Demokratie die Negation einer Negation darstellt und einen zweitausendjährigen Entwicklungszyklus der Demokratie auf eine neue Stufe hebt. Von der griechischen Demokratie, mit ihrer partizipativen aber selektiven Demokratie-Organisation (Frauen, Zwangsarbeiter, Sklaven hatten keine politischen Rechte), über deren Negation im Mittelalter und dem Aufkommen der universalen, aber formalen bürgerlichen Demokratie, führt der gattungsgeschichtliche Weg der Evolution zur universalen partizipativen Demokratie des 21. Jahrhunderts – sofern die Bourgeoisie nicht Zuflucht zum nuklearen Armageddon nimmt. Demokratie stellt also nicht nur eine positivere und ethisch höherwertigere Form politischer Organisation der Gattung dar als alle anderen Staatsstrukturen der vier bekannten historischen Klassengesellschaften (Sklaverei, Feudalismus, staatszentralistische Agrardomination und Kapitalismus), sondern ist zugleich, in ihrem partizipativen Modus, die funktional notwendige politische Organisation für die nachchrematistische, nachkapitalistische Zukunft der Menschheit. Materiale Lebensethik und praktisch-funktionale Systemnotwendigkeiten fallen erneut zusammen, im Neuen Historischen Projekt des Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. 16 Heinz Dieterich – Die wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen