173 2.2.3 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie In den vorangegangenen beiden Essays hatte Dmitriev immer wieder betont, dass die Preisbildung nicht allein von der Angebotsseite (aus den notwendigen bzw. Gesamtkosten) her erklärt werden könne, sondern dass je nach Lage der Nachfragekurve (bzw. Erlöskurve) sich ein anderer Gleichgewichtspreis ergebe. Die Nachfragefunktion selbst führte er jedoch als empirisches Datum in die Analyse ein. Damit dürfe sich eine Preistheorie aber nicht zufrieden geben, weil der Verlauf dieser Kurve ökonomisch erklärt werden müsse, nämlich aus dem Nutzenmaximierungskalkül der Konsumenten. Erst wenn die Untersuchung einen Punkt erreicht, an dem andere Disziplinen zu Rate gezogen werden müssen, kann sie für die Wirtschaftswissenschaft als beendet angesehen werden (S. 107). Folgerichtig widmet Dmitriev seinen dritten Essay den Bestimmungsgründen der Nachfrage sowie dem Zusammenspiel jener mit dem Angebot. 2.2.3.1 Dmitrievs Argumentation Sein erstes Kapitel enthält eine beachtenswerte lehrgeschichtliche Betrachtung der Thematik. Dmitriev betont, dass die so genannten „Angebots-Nachfrage-Theoretiker“, wie z.B. Mill (1848) oder Cairnes (1874), nicht zufrieden stellend, sondern geradezu unpräzise und naiv argumentierten (S. 109 f., 120). Nicht nur ließen sie in der Regel1 das den Preis bestimmende Verhältnis von Nachfrage und Angebot mathematisch unbestimmt, sie konnten darüber hinaus ebenso wenig den Mechanismus des Ausgleichs beider Größen erklären. Auch die Benutzung des Begriffs der „Intensität“ von Nachfrage sowie Angebot durch Steuart (1767) bzw. Storch (1815) ändere an dieser Einschätzung grundsätzlich nichts. Alle diese Theorien beschränkten sich darauf, einzelne Preisfaktoren zu beschreiben, ohne deren Wechselbeziehungen und Preiseinfluss zu erklären. Des Weiteren seien die von ihnen benutzten Daten unzulänglich, um mehr als eine verbale sowie nur scheinbare 1 Als Ausnahmen erwähnt Dmitriev die im 18. Jahrhundert lebenden italienischen Ökonomen Valeriani, Genovesi und Verri, auch wenn jene teilweise „eigenartige“ Definitionen verwendeten (S. 109). 174 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie Problemlösung zu erlauben (S. 111 f.). Denn für eine korrekte Preistheorie hält Dmitriev die Berücksichtigung psychologischer und psycho-physiologischer Faktoren im Konsumsektor für erforderlich. Dies konnten die angeführten Theoretiker aber nicht leisten, weil sie nicht imstande waren, den angeblichen Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert eines Produktes zu lösen. Dieses lange als unüberwindlich geltende, z.B. von Smith (1776), Le Trosne (1777), Ricardo (1817) sowie Proudhon (1846) behandelte so genannte „klassische Wertparadoxon“ führt Dmitriev teilweise auf ein inkorrektes Verständnis der Begriffe „Nutzen“ und „Gebrauchswert“ zurück (S. 113). Andererseits konnte es nur aus Unkenntnis der bereits vorhandenen Literatur die Gemüter bewegen, denn bereits Mitte des 18. Jahrhunderts existierten nutzentheoretische Vorstellungen, welche diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert zu lösen in der Lage waren (S. 117). Schon Galiani (1750) wies nämlich darauf hin, dass es für die Ermittlung des Preises auf die subjektiven Bewertungen eines Gutes durch die Konsumenten ankommt. Diese Einschätzungen werden zum einen von der Wichtigkeit des Bedürfnisses nach dem Erzeugnis, zum anderen vom Bedürfnisbefriedigungsgrad beeinflusst (S. 114 f.). Darüber hinaus spielt die vorhandene Menge des Produktes eine entscheidende Rolle. Ist es knapp, wird es bei vorhandenem ungesättigten Bedürfnis einen hohen Nutzen – für den Galiani als Erster eine richtige Definition liefere (S. 113, Fn. 12) – und infolge dessen einen hohen Preis erzielen. Damit löse Galiani das Preisproblem ganz im Sinne der Grenznutzentheorie, ohne freilich deren ausgefeilte Terminologie zu besitzen (S. 116). Deshalb liege der Ursprung jener Schule in diesem bislang nicht genügend gewürdigten Werk.2 2 Wie scharfsinnig dieser Hinweis Dmitrievs ist und welch geringer Konsens über die Geschichte der Grenznutzenlehre immer noch existiert, verdeutlicht ein Blick in die Ausführungen zweier bekannter Theoriehistoriker: Schumpeter stützt die These Dmitrievs, indem er Galiani für „einen der fähigsten Geister, die sich jemals auf unserem Gebiet betätigt haben“ und sein Werk für eine „Spitzenleistung“ hält, die bei größerer Bekanntheit „alle Polemiken und Mißverständnisse des neunzehnten Jahrhunderts zum Thema des Wertes hätte vermeiden können“ (Schumpeter, J. A., Geschichte ..., a.a.O., Bd. 1, S. 372 und 382 f. sowie Bd. 2, S. 1280). Stigler dagegen ist in seinem „fairly complete account of the major developments“ der Grenznutzenanalyse dieser italienische Ökonom keine Silbe der Erwähnung wert (Stigler, G. J., The Development of Utility Theory, in: Stigler, G. J., Essays in the history of economics, Chicago / London 1965, S. 66 ff., S. 148). Dmitrievs Argumentation 175 Die Grenznutzenlehre entstand nicht erst durch eine „marginalistische Revolution“ zu Anfang der 1870er Jahre quasi über Nacht, sondern hatte viele Vorläufer. Dazu zählt Dmitriev auch Senior (1836), welcher über abnehmende Grenznutzen mit zunehmender Menge sprach, Rossi (1843), der eine verbale Beschreibung des Grenznutzenausgleichs beim isolierten Tausch gab sowie Dupuit (1844) mit seiner erstmaligen graphischen Analyse zur Darlegung des Verhältnisses von Gesamt- und Grenznutzen sowie seiner expliziten Formulierung des heute als „Konsumentenrente“ bezeichneten Wohlfahrtskonzeptes3 (S. 117 ff.). Schließlich wurden diese rudimentären Grenznutzentheorien von den Betrachtungen Molinaris (1851) zu psychophysiologischen Gründen für Nutzenveränderungen bei Mengenvariationen ergänzt, der darüber hinaus versuchte, den Preis aus seiner Historie mittels statistischer Daten zu erklären, wovon Dmitriev jedoch nichts hält (S. 122 f.). Ein Meilenstein in der Theoriegeschichte war dann das Werk des „Stammvaters“ der Grenznutzentheorie Gossen (1854), der die Gesetze des abnehmenden Grenznutzens sowie des Ausgleichs der gewogenen Grenznutzen formulierte. Alle nachfolgenden Arbeiten – mit Ausnahme mathematischer Ökonomen – verblassen für Dmitriev vor diesem „Original“ (S. 108, 123). Insbesondere die oftmals zu den Gründern der Grenznutzenlehre gezählte Österreichische Schule mit ihren Protagonisten Menger (1871), Wieser (1884/1889) sowie Böhm-Bawerk (1886/1892) leiste, abgesehen von einer verbesserten Terminologie, keinen originellen Theoriebeitrag und zeichne sich durch eine „seltsame Unkenntnis der vorhandenen Literatur“ aus (S. 108, 116 f., 123). Einzig die Anwendung der Mathematik führe zu einer fruchtbaren Weiterentwicklung der Grenznutzentheorie. Dmitriev hebt diesbezüglich die Schriften Walras’ (1874), Launhardts (1885), Auspitz’ und Liebens (1889) sowie teilweise Jevons’ (1871) hervor, welche neben dem Nutzenprinzip auch den Einfluss der Kaufkraft (Einkommen, Vermögen) auf den Marktpreis berücksichtigen (S. 108 f., 124). Diese „Grenznutzentheorie in ihrer entwickelten Form“ (S. 109) bildet den Gegenstand des zweiten Kapitels des dritten Essays. Dmitriev zeigt darin, wie die Nachfragefunktion p = f(D) mathematisch abgeleitet werden kann und wie mittels eines vereinfachten Walrasianischen Modells gleichgewichtige Mengen sowie Preise in einer reinen Tauschwirtschaft ermittelbar sind. 3 Vgl. hierzu auch Stigler, G. J., The Development ..., a.a.O., S. 79 ff. 176 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie Er geht davon aus, dass die Gesamtnachfrage nach einem Gut sich aus der Addition der individuellen Nachfragen ergibt und nur vom Preis des betrachteten Gutes abhängt. Mit Walras lasse sich die partielle Nachfrage nun aus dem Grenznutzen der jeweiligen Güter bestimmen, wobei Dmitriev die Jevons’sche Definition des Grenznutzens als Differentialquotient der Nutzenfunktion eines Gutes anerkennt. Dmitriev betont, dass die zur Ableitung des Grenznutzens benötigten individuellen Nutzenfunktionen in der Wirtschaftstheorie als empirisches Faktum angesehen werden müssen, weil die Nutzenhöhe selbst sich einer ökonomischen Analyse entziehe und psychologisch zu erklären sei (S. 127 f.). Grundsätzlich hält er den Nutzen allerdings für kardinal mess- und interpersonell vergleichbar, wie unten dargelegt wird.4 Den Nutzen eines Gutes betrachtet er dabei als allein von der Menge dieses Gutes abhängig. Schwierigkeiten der Messung bzw. der Berechnung, die dadurch entstehen könnten, dass der Nutzen eines Gutes von den Mengen aller anderen Waren des zu beurteilenden Güterbündels beeinflusst wird, geht er damit aus dem Weg. Des Weiteren verlangt Dmitriev, dass die Nutzenfunktionen dem 1. Gossen’schen Gesetz („Sättigungsgesetz“)5 gehorchen. Das Nutzenmaximum eines Haushalts sei erreicht, wenn das 2. Gossen’sche Gesetz6 (das 4 Vgl. zur Messbarkeit des Nutzen aber bereits Dmitrievs Entgegnung zu Ingram auf S. 130, Fn. 3. 5 „Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt.“ (Gossen, H. H., Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854, S. 4 f.) 6 „Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehreren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muß, wie verschieden auch die absolute Größe der Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältnis, daß die Größe eines jeden Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt.“ (Ebenda, S. 12) Ist nicht die Zeit, sondern das Einkommen beschränkt, bedeutet das für den Güterkauf: „Wenn seine Kräfte nicht ausreichen, alle möglichen Genußmittel sich vollaus zu verschaffen, muß der Mensch sich ein jedes so weit verschaffen, daß die letzten Atome bei einem jeden noch für ihn gleichen Werth behalten.“(Ebenda, S. 33) Oder anders formuliert: „Ein Mensch erlangt .. ein Größtes von Lebensgenuß, wenn er sein ganzes erarbeitetes Geld ... der Art auf die verschiedenen Genüsse vertheilt, ... daß bei jedem einzelnen Genuß das letzte darauf verwendete Geldatom den gleich großen Genuß gewährt.“ (Ebenda, S. 93 f.) Dmitrievs Argumentation 177 „Theorem der maximalen Befriedigung“ Walras’ bzw. das von Dmitriev benutzte „Grundgesetz des Tausches“ Launhardts) gelte. Die Zusammenfassung der aus dem Ausgleich der gewogenen Grenznutzen bei variierenden Preisen ermittelten individuellen Konsumoptima führe zu den partiellen Nachfragefunktionen, deren Summation die Gesamtnachfragekurve ergibt (S. 129 ff.). Als Alternative zur Ableitung der Gesamtnachfragekurve à la Walras betrachtet Dmitriev die graphische Analyse Auspitz’ und Liebens (1889).7 Jene definierten den Nutzen eines Gutes – wobei sie auf ähnliche Konzepte bei Dupuit8 und Launhardt9 hinwiesen10 – als maximale Geldsumme, welche ein Wirtschaftssubjekt dem Besitz einer bestimmten Gütermenge beimisst (Zahlungsbereitschaft). Dabei nahmen sie an, dass der Grenznutzen des Geldes konstant sei.11 Unter dieser Voraussetzung kann Geld (eine diskrete, aber kardinale, verhältnisskalierte Größe) als unveränderlicher Maßstab des Nutzens angesehen werden.12 Tatsächlich messen sie jedoch den Nutzen nur indirekt, indem von den Konsumenten die Angabe ihrer Zahlungsbereitschaft verlangt wird. Auf diese Weise benötigte es einer Präferenzanalyse für die Ableitung der Nachfragefunktion nicht. Jene ließe sich z.B. experimentell ermitteln.13 7 Auspitz, R. / Lieben R., Untersuchungen über die Theorie des Preises, Leipzig 1889. Für eine Interpretation und Würdigung dieses ein Jahrhundert lang von der theoriegeschichtlichen Forschung vernachlässigten Werkes siehe Jäggi, S., Die Preistheorie von Auspitz und Lieben, Bern u.a. 1992. 8 Vgl. Dupuit, J., De la mésure de l′utilité des travaux publics, in: Annales des ponts et chausseés, tome VIII, No 116, Paris 1844, S. 343 ff. 9 Vgl. Launhardt, W., Mathematische Begründung der Volkswirthschaftslehre, Leipzig 1885, S. 2 f. 10 Vgl. Auspitz, R. / Lieben, R., Untersuchungen ..., a.a.O., S. XV sowie S. XXIV. 11 Vgl. ebenda, S. 8 und S. IX. Zu den Konsequenzen der Annahme eines konstanten Grenznutzen des Geldes vgl. Jäggi, S., Die Preistheorie ..., a.a.O., S. 44 ff. 12 Vgl. Jäggi, S., Die Preistheorie ..., a.a.O., S. 47. 13 So schlagen Marketingexperten vor, die „wahre“ Zahlungsbereitschaft von Konsumenten und damit die Preis-Absatz-Funktion mit Hilfe einer Vickrey-Auktion („secondprice, sealed-bid auction“) zu ermitteln: Von den Versteigerungsteilnehmern werden gleichzeitig Gebote für ein bestimmtes Produkt in verdeckter Form erhoben. Den Zuschlag erhält der Bieter mit dem höchsten Gebot, wobei der Kaufpreis dem zweithöchsten Gebot entspricht. Auf diese Weise können die Probanden des Marktforschungsexperiments den Kaufpreis nicht direkt beeinflussen, so dass für sie ein Anreiz zur Abgabe von Geboten in Höhe ihrer tatsächlichen Zahlungsbereitschaft besteht. Die Aufdeckung 178 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie Dmitriev erläutert nun, wie die individuelle Nachfragefunktion aus dem Kurvenapparat Auspitz’ und Liebens erhalten werden kann (S. 131 f., darin Abb. 3.4-3.6):14 Ausgangspunkt bildet die Kurve der Zahlungsbereitschaft (deren „Nützlichkeitskurve“ N; siehe Abbildung 9 auf der nächsten Seite), für welche die beiden Österreicher einen konkaven Verlauf annahmen. Einen fallenden Ast dieser Kurve nach Erreichen der Sättigungsmenge xS, d.h. negative Grenznutzen, bestreitet Dmitriev im Gegensatz zu Auspitz und Lieben allerdings. Er ist der Meinung, dass zwischen erworbenen und konsumierten Mengen unterschieden werden müsse und der Konsum aufhört, wenn Sättigung eintritt. Danach stifte jede zusätzlich erworbene Gütereinheit keinen Nutzen mehr, die Nutzenfunktion verlaufe ab ihrem höchsten Punkt parallel zur Mengenachse, wie in Abbildung 9 punktiert angedeutet (S. 131, Fn. 4). Eine Begründung, warum überhaupt mehr Güter erworben als konsumiert werden sollten, liefert er nicht. Ein weiterer Unterschied zwischen Dmitriev sowie Auspitz und Lieben besteht darin, dass Letztere ihr Nutzenkonzept nicht auf interpersonelle Vergleiche anwendbar halten, weil es sich trotz des der „wahren“ Zahlungsbereitschaft ist ebenfalls bei folgender Modifikation der direkten Preisbefragung (der so genannten ICPOP-Methode – „Incentive Compatible Point-ofPurchase“) die beste Strategie: Nachdem eine Information des potentiellen Kunden über das Verfahren der Preisermittlung erfolgte, wird jener danach gefragt, welchen Preis er für das Gut entrichten würde. Anschließend zieht ein Zufallsgenerator eine Zahl (Preis). Liegt diese unterhalb der Wertschätzung des Konsumenten, erhält er das Produkt zu diesem Preis, liegt die Zufallszahl über der geäußerten Zahlungsbereitschaft, geht er leer aus. Bei dieser Erhebungsmethode lohnt es sich für den potentiellen Käufer nicht – wegen dem Risiko das Gut nicht zu erhalten bzw. zuviel zu bezahlen – eine andere als die tatsächliche Zahlungsbereitschaft anzugeben. Vgl. Skiera, B. / Revenstorff, I., Auktionen als Instrument zur Erhebung von Zahlungsbereitschaften, in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 51 (1999), S. 225 f. und S. 241 sowie Skiera, B., Mengenbezogene Preisdifferenzierung bei Dienstleistungen, Wiesbaden 1999, S. 163 ff. 14 Zum Kurvenapparat Auspitz’ und Liebens vgl. Jäggi, S., Die Preistheorie ..., a.a.O., S. 39 ff. sowie Auspitz, R. / Lieben, R., Untersuchungen ..., a.a.O., S. 14 ff. Dmitriev beginnt mit der Betrachtung von Einzelkurven, bezieht sich bei seiner Darstellung von Auspitz und Lieben aber auf deren Gesamtkurven. Dies ist jedoch insofern unschädlich, als die beiden Letztgenannten später ihre Prinzipien auf Einzelgrößen übertrugen und die Gesamtfunktionen durch Addition ableiteten (siehe Auspitz, R. / Lieben, R., Untersuchungen ..., a.a.O., S. 25 ff.). Dmitrievs Argumentation 179 kardinalen Maßes um einen Ausdruck subjektiver Wertschätzung handele,15 während Dmitriev in der Gegenüberstellung individueller Güterbewertungen keine Schwierigkeiten sieht (S. 132 f.). Geld p = f(x) N tanα tanβ N′ 0 α β γ x1 x2 x3 tanγ xS Menge 0 x1 x2 x3 xS x Abbildung 9 Aus der Zahlungsbereitschaftskurve N lässt sich nun eine Ausgabenkurve (Auspitz’ und Liebens „Nachfragekurve“ N') konstruieren. Diese ist als Produkt der marginalen Zahlungsbereitschaft (des Anstiegs der „Nützlichkeitskurve“ N) mit der jeweiligen Menge definiert und symbolisiert das „marginalistische Prinzip“: Die Konsumenten kaufen bei einem gegebenen Marktpreis gerade jene Menge, bei welcher der „Grenznutzen“ (die marginale Zahlungsbereitschaft) dem Preis entspricht. Damit maximieren sie die Differenz zwischen der Geldsumme, die sie auszugeben bereit wären, und dem tatsächlich zu entrichtenden Geldbetrag. Diese „Konsumentenrente“ findet ihren Ausdruck im vertikalen Abstand zwischen N und N'.16 Der Marktpreis wird durch die Steigung der Ursprungsgeraden zu einem Punkt der Ausgabenkurve dargestellt und ist gleich dem Anstieg der Zahlungsbereitschaftskurve. In der linken Hälfte von Abbildung 9 wurde dieser Zusammenhang für die Gütermengen x1, x2 sowie x3 mit den Preisen tanα, tanβ und tanγ skizziert. Durch Verbindung der verschiedenen Preis-Mengen-Kombinationen ergibt sich auf diese Weise die individuelle Nachfragefunktion p = f(x) in der rechten Hälfte 15 Vgl. Auspitz, R. / Lieben, R., Untersuchungen ..., a.a.O., S. VIII f. 16 Vgl. ebenda, S. 19 und S. 22 f. sowie Jäggi, S., Die Preistheorie ..., a.a.O., S. 40 f. 180 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie von Abbildung 9 als Kurve marginaler Zahlungsbereitschaft.17 Deren Summation führt wiederum zur Gesamtnachfragekurve (S. 132). Im Anschluss an die Ableitung der Nachfragefunktion betrachtet Dmitriev ein einfaches Walrasianisches Gleichgewichtsmodell: Gehe man von einer reinen Tauschwirtschaft aus, in der n Subjekte m Güter tauschten,18 setze die Anfangsbestände sowie die individuellen Nutzenfunktionen als gegeben voraus und ergänze die für jedes Individuum geltenden Konsumoptimumbedingungen (das Verhältnis der Grenznutzen jeweils zweier Güter entspreche ihrem Preisverhältnis) durch n Budgetgleichungen (Gleichheit der bewerteten Güterverteilung am Anfang und Ende des Tausches) sowie m Erhaltungsgleichungen (Gesamtanfangsbestand gleich Gesamtendbestand), dann ergebe sich ein Gleichungssystem, welches die Ermittlung der m(n + 1) gesuchten Endbestände und Marktpreise im Tauschgleichgewicht erlaube. Dafür brauche man nur die Gleichungen und die Unbekannten zu zählen, was hier zum gleichen Ergebnis führt (S. 133 f., darin Gleichungen 〈12〉-〈14〉). Weiterführende Untersuchungen zu Existenz, Eindeutigkeit und Stabilität des allgemeinen Gleichgewichts interessieren Dmitriev nicht.19 Der Grund hierfür liegt in seiner Ablehnung der generellen Gültigkeit der Walras-Lösung. Dmitriev ist der Ansicht, dass sie ein Gleichgewicht beschreibt, in dem die Preise auf die „notwendigen“ Produktionskosten (inklusive eines „Normalprofits“) gefallen sind (S. 134). Seine Wettbewerbsanalyse des vorangegangenen Essays zeigte jedoch, dass dies nur ausnahmsweise der Fall ist. In der Regel wird der Preis diese Kosten übersteigen. Dann jedoch befände sich das System Walras’ im Ungleichgewicht und die Frage der Überschussverteilung würde virulent. Die Antwort darauf liegt für Dmitriev „außerhalb des Bereiches der ökonomischen Forschung“ und müsse deshalb in der Wirtschaftstheorie als gegeben angenommen werden. Denn die gesellschaftliche Profitverteilung ergebe sich aus der Auseinandersetzung verschiedener Anbieterklassen und das Resultat dieses „Kampfes“ hänge somit 17 Bei Dmitriev findet sich diese Graphik nicht. Er beschränkt sich auf S. 132 auf die verbale Beschreibung der Ableitung der Nachfragekurve. 18 Der Eigenverbrauch wird von Dmitriev vernachlässigt (S. 134). 19 Zu den diesbezüglich auftretenden Problemen in der Walras-Wirtschaft siehe Helmedag, F., Ohne Werte ..., a.a.O., S. 47 ff. Dmitrievs Argumentation 181 von der jeweiligen sozialen Stärke ab. Die Verteilungstheorie kann deshalb nur eine soziologische Lösung besitzen (S. 135 f.). Im dritten Kapitel geht Dmitriev abschließend kurz auf die Ableitung der für die Nachfragetheorie essentiellen Nutzenfunktionen ein. Wie oben angedeutet, müsse deren Analyse außerökonomisch vorgenommen werden, da sie von subjektiven Güterbewertungen abhängen und somit psychologisch zu bestimmen sind. Dmitriev warnt jedoch davor, für die Nutzenbeschreibung voreilig Gesetze aus anderen Wissenschaftsdisziplinen zu übernehmen. Insbesondere lehnt er – kategorischer als Tugan-Baranovskij20 – die einfache Übertragung des „psycho-physischen Grundgesetzes“ von E. H. Weber (1795-1878) und G. T. Fechner (1801-1887) auf die Grenznutzentheorie ab.21 Das Weber-Fechner’sche Gesetz analysiert die Beziehung zwischen einem physischen Reiz sowie der ihm zugeordneten psychischen Reaktion, und es besagt, dass die Stärke der Empfindung proportional zum natürlichen Logarithmus der entsprechenden Reizstärke anwächst.22 Ein Gut stellte dann den physischen Reiz und das sich durch seine Nutzung einstellende subjektive Befriedigungs- bzw. Sättigungsgefühl die entsprechende psychische Reaktion dar. Dmitriev meint, dass eine solche Interpretation irreführend wäre, weil Weber und Fechner sich mit objektiven Erscheinungen befassten, während die Grenznutzentheorie subjektive Phänomene zum Gegenstand hat. Darüber hinaus gelte der von ihnen postulierte logarithmische Zusammenhang nicht allgemein für alle Güter (S. 137 f. und 139, Fn. 4). Der letzte Einwand treffe gleichermaßen die mit dem „psycho-physischen Grundgesetz“ formal identischen Hypothesen Bernoullis (1738) und Laplaces (1812) zum Grenznutzen 20 Vgl. 1.2.2, S. 38. 21 Vgl. für eine ähnlich ablehnende Haltung in Deutschland zur etwa gleichen Zeit Weber, M., Die Grenznutzlehre und das „psychophysische Grundgesetz“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 27 (1908), S. 546 ff. Weber hebt insbesondere die unterschiedlichen Fragestellungen hervor, die von der Psychophysik/Psychologie sowie der Nationalökonomie bearbeitet werden und schon aus diesem Grunde das WeberFechner’sche Gesetz nicht als Basis der Grenznutzentheorie dienen könne: Ersteres untersuche den Einfluss eines äußeren Reizes auf psychische Zustände, während die Volkswirtschaftslehre sich damit befasse, wie derartige psychische Zustände bestimmte äußere Handlungen hervorrufen (Ebenda, S. 550). 22 Vgl. Fechner, G. T., Elemente ..., a.a.O., S. 33. 182 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie des Einkommens23 sowie die mathematische Formulierung der subjektiven Wertlehre durch Buffon,24 welche damit ebenfalls nicht als Grundlage der Nutzenkurven geeignet seien (S. 138 ff.). Es gebe kein Gesetz, mit dem die Form der Nutzenkurven allgemeingültig beschrieben werden könne. Die subjektiven Güterbewertungen seien einfach zu verschieden, um daraus eine Regelmäßigkeit der Grenznutzenveränderung bei Mengenvariationen ableiten zu können. Alles, was man laut Dmitriev für jedes Konsumgut sagen kann, ist, dass der Nutzen der letzten Einheit mit zunehmender Menge sinke, diese bis zu einem Grenznutzen von Null erhöhbar und an jener Stelle stets endlich ist sowie negative Grenznutzen nicht existieren (S. 140 f.). Das genüge jedoch, um trotz der individuellen Verschiedenheit der Nutzenfunktionen eine exakte Lösung des Preisproblems zu ermöglichen. Daran ändere auch die Unstetigkeit der Nutzenfunktionen bei unteilbaren Gütern nichts, welche diskontinuierliche partielle Nachfragefunktionen zur Folge haben, weil deren Aggregation aufgrund des „Gesetzes der großen Zahlen“ zu einer stetigen Gesamtnachfrage führe (S. 138). 2.2.3.2 Zur Synthese von Arbeitswertlehre und Grenznutzentheorie Dmitriev entwickelt keinen eigenen nutzentheoretischen Ansatz. Im Unterschied zu seinen ersten beiden Aufsätzen begnügt er sich mit der Darstellung sowie Verteidigung der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vorgenommenen Analysen (in der Regel nicht-englischsprachiger) mathematischer Ökonomen. Weil er sich dabei vorbehaltlos „in die Arme von Walras wirft“25 und 23 Vgl. hierzu auch Schumpeter, J. A., Geschichte ..., a.a.O., Bd. 1, S. 385 und Bd. 2, S. 1285 sowie Stigler, G. J., The Development ..., a.a.O., S. 109 ff. 24 Über die werttheoretischen Positionen des französischen Naturwissenschaftlers G. L. L. Buffon (1707-1788), insbesondere seine Auffassung von der Asymmetrie zwischen der subjektiven Beurteilung des (geringer geschätzten) Gewinns und des (höher bewerteten) Verlusts einer Gütermenge („Buffon’sche Regel“), deren wirtschaftspolitischer Bedeutung sowie den Bezug Buffons zu D. Bernoulli (1700-1782) berichtet im Detail Zinn, K. G., Buffons Beitrag zur Sozialwissenschaft, Die Entdeckung der meßbaren Psyche im 18. Jahrhundert und die wertsubjektivistische Konsequenz, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 181 (1967/68), S. 345 ff. 25 Denis, H. in Dmitriev, V. K., Essais Économiques …, a.a.O., S. 268. Zur Synthese von Arbeitswertlehre und Grenznutzentheorie 183 wie die meisten seiner Zeitgenossen keinen Zweifel an der kardinalen Messung26 sowie interpersonellen Vergleichbarkeit des Nutzens äußert, wird der dritte Essay „als der am wenigsten originellste“27 angesehen. Einzig Dmitrievs „mustergültige“28, „feine theoretische Bemerkungen“29 zur Genesis der Grenznutzenlehre wussten die Fachwelt zu „faszinieren“30 und erfuhren deshalb in der Literatur lobende Erwähnung, obwohl man ihm mehrheitlich eine Unterschätzung der Österreichischen Schule vorwarf.31 Nur eine wissenschaftliche Arbeit widmet sich einer näheren Analyse Dmitrievs nutzentheoretischer Kapitel.32 Darin geht es vor allem um die Frage, ob es ihm gelang, sein im Untertitel benanntes Ziel einer organischen Synthese von Arbeitswertlehre und Grenznutzentheorie zu erreichen. Dmitriev kam am Ende seines ersten Essays zu dem Ergebnis, dass die Produktionskostentheorie Ricardos nur bei Annahme konstanter Stückkosten und der Wettbewerbshypothese, dass zunehmende Konkurrenz den Preis tendenziell auf die „notwendigen“ Produktionskosten senke, eine von den Nachfragebedingungen unabhängige Preiserklärung liefere.33 Die preissen- 26 „Dmitriev shows no Paretian awareness that utility need not be cardinally measur- able” (Samuelson, P. A., Review …, a.a.O., S. 494). Für einen ersten Überblick sowie eine ausführliche Bibliographie zur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heftig geführten Ordinalismus-Kardinalismus-Debatte vgl. Weber, W. / Streißler, E., Nutzen, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8, Stuttgart / Tübingen 1964, S. 4 ff. Zur Messbarkeitsproblematik und für eine Kritik der ohne eine Quantifizierung von Nutzendifferenzen auch nicht auskommenden, in den Lehrbüchern vorherrschenden ordinalen Nutzentheorie sowie die Unzulänglichkeit des Indifferenzkurvensystems siehe darüber hinaus Carell, E., Der „Ordinalismus“ in der Nutzentheorie, Über die Konsequenzen und Inkonsequenzen des Indifferenzkurvensystems des Haushalts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 111 (1), 1955, S. 27 ff. sowie Zinn, K. G., Die Einschränkung von Indifferenzbereichen durch soziale Substitutionsgrenzen, in: Schmollers Jahrbuch, 90. Jg., I. Halbband, Berlin 1970, S. 303 ff. 27 Šapošnikov, N. N., Svobodnaja konkurrencija ..., a.a.O., S. 88 f. Vgl. ebenso Zauberman, A., A Few Remarks …, a.a.O., S. 445. 28 Šapošnikov, N. N., Pervyj russkij ..., a.a.O., S. 6. 29 Čuprov, A. A., Recenzija …, a.a.O., S. 4. 30 Nuti, D. M. in Dmitriev, V. K., Economic Essays …, a.a.O., S. 26. 31 Vgl. Bortkiewicz, L. v., Dmitriev …, a.a.O., S. 186, Zauberman, A., A Few Remarks …, a.a.O., S. 444 sowie Samuelson, P. A., Review …, a.a.O., S. 494 f. 32 Vgl. Skourtos, M., Der “Neoricardianismus” ..., a.a.O., S. 190 ff. 33 Siehe 2.2.1.1, S. 106. 184 Der dritte Essay: Die Grenznutzentheorie kende Wirkung unbeschränkter Konkurrenz sei aber nicht nur realitätsfern, sondern widerspreche auch dem ökonomischen Prinzip. Dieses werde gemäß Dmitrievs Analyse des zweiten Essays nämlich dafür sorgen, dass sich ein Preis über den „notwendigen“ Kosten ergibt, weil sich jeder Anbieter gezwungen sieht, mittels Schaffung von Lagern und/oder Überkapazitäten bzw. verstärkten Werbemaßnahmen zusätzliche Ausgaben zu tätigen, um im freien Wettbewerb bestehen zu können. Wo sich das Gleichgewicht (Preis gleich Gesamtstückkosten) letztendlich einstellt, ist stets von der Lage der Nachfragekurve abhängig.34 Jene lasse sich mittels der Grenznutzentheorie exakt bestimmen, wie Dmitriev im dritten Essay zu zeigen versuchte. Schließlich sei die allgemeine Gleichgewichtstheorie Walras’ wegen des aufgezeigten Konkurrenzmechanismus genauso ein Spezialfall wie die Ricardianische Produktionspreisanalyse. In der Regel hänge der Marktpreis vom mit den eben geschilderten Maßnahmen geführten Kampf um Marktanteile und soziale Macht ab. Der Ausgang jener, aus Sicht des Einzelnen rationalen, gesamtgesellschaftlich jedoch zu Ressourcenverschwendung führenden Auseinandersetzung entziehe sich allerdings einer ökonomischen Erklärung. Diese Unbestimmtheit der Lösung des Verteilungsproblems erweist sich nun als das Haupthindernis für die von Dmitriev angestrebte Synthese. Die funktionelle Einkommensverteilung wird von ihm – genauso wie von TuganBaranovskij und anfänglich Struve35 – als nicht in der Preistheorie integriert angesehen. Grundsätzlich behält er die klassische Bestimmung von Lohn sowie Profit des ersten Essays bei. Falls das „eherne Lohngesetz“ ausnahmsweise nicht gelte, müsse die Aufteilung des Einkommens auf die beiden sozialen Klassen der Arbeiter und Kapitalisten als Verteilungskampf soziologisch erklärt werden.36 In beiden Fällen jedoch stellen die Verteilungsparameter für die Preisbestimmung eine exogene Variable dar.37 34 Siehe 2.2.2.2, S. 147. 35 Siehe 1.3.2, S. 56 und 1.3.3, S. 63 f. 36 Vgl. 2.2.1.1, S. 102. 37 In einer späteren Schrift bezieht Dmitriev eine ambivalente verteilungstheoretische Position: Während er einerseits die Profitbestimmung nicht unabhängig von der Preistheorie durchgeführt sehen möchte sowie die Grenzproduktivitätstheorie Clarks in der Lohnfrage gegen die Kritik Tugan-Baranovskijs verteidigt, meint er andererseits, dass der Preis der Ware Arbeitskraft sowohl außerökonomisch (Konkurrenz der Arbeiter um Anstellung) als auch nutzentheoretisch (Ausgleich des Grenzleids der Arbeit mit Zur Synthese von Arbeitswertlehre und Grenznutzentheorie 185 Im dritten Essay begründet er die von ihm zur Ermittlung des Marktpreises benutzte fallende Nachfragefunktion aus dem Nutzenmaximierungsprinzip. Die Grenznutzenlehre zieht er aber nur bei der Konsumgüterwahl heran, während die Faktornachfrage außerökonomisch determiniert und deshalb nicht weiter thematisiert wird. Dennoch betrachtet er das allgemeine Gleichgewichtsmodell Walras’ als Basisansatz der Preisanalyse, wenn auch in vereinfachter Form und nicht als generell gültig. Darin werden alle Preise, also auch die Faktorpreise, simultan bestimmt, die Erklärung der Einkommensverteilung mithin als Aufgabe der Preistheorie formuliert. Die Einbeziehung der Nachfrage in Gestalt einer Kurve basiert somit sowohl auf der neoklassischen Theorie der Verteilung (Grenzproduktivitätstheorie) als auch der Marktform vollkommener Konkurrenz. Dmitriev dagegen lässt die Faktoreinkommen klassisch bestimmt und stellt in seinem zweiten Essay unvollständigen Wettbewerb als die Norm dar. Dann wären die Nachfragefunktionen als „Reaktionskurven“ zu interpretieren, die nicht mehr organisch mit der neoklassischen Angebots-Nachfrage-Analyse zusammenhängen. Seine produktionspreis-, konkurrenz- und nutzentheoretischen Vorstellungen vertragen sich nicht miteinander. Vom Standpunkt der analytischen Geschlossenheit gilt seine versuchte Synthese deshalb als misslungen.38 Unabhängig davon enthalten die „Ökonomischen Essays“ jedoch eine Reihe origineller Ideen, über die es sich auch heute noch nachzudenken lohnt. Sie erinnern an die Notwendigkeit, Aspekte der Preis-, Wettbewerbs- und Verteilungstheorie zu betrachten, welche von der einen oder der anderen Schule vernachlässigt wurden. Damit bieten sie genügend Inspiration für die Anhänger verschiedener Lehrmeinungen, „um an ihrer Selbstgefälligkeit zu rütteln“.39 Dies sollte die Besprechung Dmitrievs verdeutlicht haben. dem Grenznutzen des durch Arbeit geschaffenen Produktes) zu erklären ist. Vgl. Dmitriev, V. K., Novyj russkij ..., a.a.O., S. 107, 112 ff. Siehe Kapitel 2.3.5, S. 239, 244 ff. 38 Vgl. zum gesamten Abschnitt Skourtos, M., Der “Neoricardianismus” ..., a.a.O., S. 156, 167, 195 f., 279 f. 39 Vgl. Nuti, D. M. in Dmitriev, V. K., Economic Essays …, a.a.O., S. 7 sowie S. 28: „But there is enough in these Essays to shake anybody’s complacency.”