Aufsätze Die Zwecke der Gesellschaft Vier Modelle sozialer

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- jahrgang 8 - ausgabe 1 - 2012
Aufsätze
Die Zwecke der Gesellschaft
Vier Modelle sozialer Teleologie
Klaas Schüller
Jacobs University Bremen / Universität Bremen
E-Mail: [email protected]
Abstract
How do societies define their goals? What status do these goals have?
How do they change? Who is involved in this process? These questions
are addressed in social teleologies, i. e. theories about the goals of society.
In this text, three ideal-typical social teleologies – traditionalism, totalitarianism and liberalism – are outlined and discussed. Since none of these
approaches provides a convincing teleological conception, a fourth approach named critical republicanism is introduced. The critical-republican
teleology implies a dynamic and participatory understanding of collective
goals, thereby facilitating a mutual relatedness of individual and society.
Schlüsselwörter
Teleologie, Traditionalismus, Totalitarismus, Liberalismus, Republikanismus,
Kritizismus
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Klaas Schüller
Wenn Personen Handlungen ausführen, so tun sie dies, um bestimmte Sachverhalte zu erreichen, aufrechtzuerhalten oder zu verhindern. Handlungen sind somit auf die Realisierung von Zwecken ausgerichtet.1 Häufig beziehen sich diese
Zwecke ausschließlich auf die zwecksetzende Person selbst oder ihr enges privates
Umfeld. In diesem Fall haben wir es mit individuellen Zwecken zu tun. Doch inwieweit gibt es darüber hinaus auch kollektive Zwecke, die auf Sachverhalte von
gesellschaftlicher Relevanz verweisen? Wie entstehen diese kollektiven Zwecke
und wer ist an ihrer Festlegung beteiligt? Was beinhalten sie und auf welche Art
und Weise verändern sie sich? Mit diesen Fragen beschäftigen sich soziale Teleologien, d. h. Lehren von den Zwecken der Gesellschaft.
In diesem Text entwickle ich zunächst drei idealtypische Modelle sozialer Teleologie. Erstens handelt es sich dabei um den Traditionalismus, in dem kollektive
Zwecke implizit durch die Ausübung überlieferter sozialer Praktiken entstehen
und weitergegeben werden. Zweitens wird der Totalitarismus betrachtet, in dem
eine übergeordnete Autorität umfassende kollektive Zwecke aus einem letztgültigen ideologischen System herleitet und für verbindlich erklärt. Drittens kommt
der Liberalismus zur Sprache, in dem die Festlegung kollektiver Zwecke abgelehnt
wird, um eine freie Wahl individueller Zwecke zu ermöglichen.
In der folgenden Diskussion komme ich zu dem Ergebnis, dass keines dieser drei
teleologischen Modelle überzeugen kann. Anschließend entwerfe ich daher ein
viertes Modell. Dieses grenzt sich scharf vom Traditionalismus und vom Totalitarismus ab und befindet sich gleichzeitig in kritischer Distanz zur liberalen (Anti-)
Teleologie, wie sie etwa in Anknüpfung an John Rawls auch in der zeitgenössischen Politischen Theorie vertreten wird. Anstatt in der prinzipiellen Verneinung
kollektiver Zwecke zu verharren, werden im von mir befürworteten vierten Modell
Zwecke mittlerer Reichweite angestrebt, die in einer pluralistischen Öffentlichkeit
definiert und fortlaufend revidiert werden. Durch eine Verbindung von Aspekten
des Republikanismus mit dem Prinzip des Kritizismus wird darauf abgezielt, die
Unzulänglichkeiten des Liberalismus zu vermeiden und ein wechselseitiges Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu fördern.
1 Vgl. Hartmann, Dirk: Kulturalistische Handlungstheorie. In: Hartmann, Dirk / Janich,
Peter (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne.
Frankfurt am Main 1996, S. 70–114, hier S. 78 f.
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Traditionelle, totalitäre und liberale Teleologie
Das erste Modell ist das der traditionellen Teleologie. In diesem Modell existiert
kein ausformuliertes Gedankengebäude, aus dem ausdrückliche kollektive Zwecke
ableitbar wären. Stattdessen entstehen die kollektiven Zwecke implizit durch die
alltäglichen gesellschaftlichen Interaktionen. Sie werden »gelebt« und sind den
überlieferten sozialen Praktiken eingeschrieben. Den Bezugspunkt der kollektiven
Zwecke bildet die unmittelbare Lebenswelt des Gemeinwesens.
Aufgrund des impliziten Charakters der kollektiven Zwecke gibt es im traditionellen Modell keine eindeutig identifizierbare zwecksetzende Instanz. Zwar nehmen gewisse Autoritätspersonen eine herausgehobene Position bei der Stützung
der kollektiven Zwecke ein, aber in erster Linie werden sie durch Fortschreibung
von Traditionen beiläufig vererbt und erlernt. Entsprechend verändern sich die
kollektiven Zwecke vor allem durch graduelle Verschiebungen der Alltagspraxis.
Bewusste Abweichungen vom Zweckkonsens sind hingegen sozial geächtet und
werden gegebenenfalls sanktioniert.
Das zweite Modell ist das der totalitären Teleologie. Hier steht eine herausgehobene Autorität in Gestalt einer kleinen Elite hierarchisch über der restlichen
Gesellschaft. Sie allein legt fest, welche Zwecke das Gemeinwesen als Ganzes verfolgen soll. Diese Zwecke werden aus einem allgemeinen ideologischen System
hergeleitet und beziehen sich auf umfassende gesellschaftliche Idealzustände. Sie
verfügen über den Status sicherer Erkenntnisse und unumstößlicher Bestimmungen, von denen nicht abgewichen werden darf. Ändern können sich die kollektiven
Zwecke daher nur, wenn die herausgehobene Autorität dies so anordnet.
Die Mitglieder der Gesellschaft werden von dieser Autorität in einen vollständigen
und einheitlichen Sinnkontext eingebunden. Obwohl die Menschen im Gesamtgefüge der Gesellschaft verschiedene Funktionen übernehmen, gelten doch für alle
die selben übergeordneten kollektiven Zwecke, zu deren Erreichung jeder Einzelne ein Stück beiträgt. Damit ist letztlich das ganze Dasein darauf abgestimmt,
den vorgegebenen Zwecken näherzukommen; alle Lebensbereiche sind von der
Ausrichtung auf die kollektiven Zwecke durchdrungen.
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Es lassen sich zwei Varianten der totalitären Zwecksetzung unterscheiden. In der
diesseitigen Spielart strebt die Gesellschaft einen als ideal betrachteten irdischen
Zustand an, der sich im Vergleich zur Vergangenheit und zur Gegenwart durch signifikante politische, wirtschaftliche oder kulturelle Vorzüge auszeichnet. In dieser Variante nimmt ein säkularer Staat die Position der zwecksetzenden Autorität
ein. Er definiert den Sinnhorizont der Gesellschaft und verbreitet ihn in allen Bereichen des Gemeinwesens. In der metaphysisch-jenseitigen Variante totalitärer
Zwecksetzung wird hingegen ein Zustand anvisiert, der in einer übernatürlichen
Sphäre verortet wird. Die irdische Gesellschaft stellt in diesem Sinnkontext eine
Art Vorstufe zu dem jenseitigen Ideal dar. In der metaphysisch-jenseitigen Modellvariante sind es institutionalisierte Religionen oder klerikale Staaten, die die
Rolle der übergeordneten Autorität einnehmen und ihre Ideologie und ihre Praktiken allen gesellschaftlichen Bereichen überstülpen.
Das dritte Modell ist das der liberalen Teleologie, in dem die Festlegung kollektiver Zwecke abgelehnt wird. Es existieren kein Ziele, die die Gesellschaft als solche
anstrebt.2 Stattdessen ist die Definition von Zwecken völlig den einzelnen Menschen überantwortet, die als autonome und selbstbestimmt handelnde Personen
begriffen werden. Diese setzen sich individuelle Zwecke, die auf ihr eigenes Leben
und ihr privates Umfeld abstellen.
Da im liberalen Modell jeder frei in der Wahl seiner persönlichen Zwecke ist, kann
eine Vielzahl unterschiedlicher individueller Zwecksetzungen entstehen. Jegliche Akteure, die der Gesellschaft allgemeinverbindliche Zwecke vorgeben wollen,
stehen hingegen unter dem Verdacht der anti-liberalen Bevormundung. Entsprechend verfügt auch der Staat nur über einen eng begrenzten Kompetenzbereich.
Er schreibt seinen Bürgern keine Zwecke vor, sondern garantiert einen rudimentären rechtlichen Rahmen, in dem die Angehörigen der Gesellschaft ihre individuellen Zwecke definieren und verfolgen können. Es herrscht ein Politikverständnis,
das sich vom Streben nach großen gesellschaftlichen Entwürfen distanziert. Neben der Bereitstellung des rechtlichen Rahmens begnügt sich die staatliche Politik
2 Zum anti-teleologischen Charakter des Liberalismus vgl. Rawls, John: Gerechtigkeit als
Fairneß: politisch und nicht metaphysisch. In: Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Frankfurt am Main 1994, S. 255–292, hier S. 288 f.
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mit der Moderation partikularer Interessen und der reaktiven Bearbeitung von
Einzelproblemen.
Stärken und Schwächen des Traditionalismus, Totalitarismus und Liberalismus
Wo liegen nun die Stärken und Schwächen dieser drei Modelle sozialer Teleologie? Kehren wir zunächst zum traditionellen Szenario zurück. Dabei ist es wichtig,
sich ins Bewusstsein zu rufen, dass die Frage, an welchen kollektiven Zwecken
sich das Gemeinwesen orientieren soll, in diesem Modell als solche gar nicht auftaucht. Kollektive Zwecke existieren hier eher implizit und sind den alltäglichen
sozialen Praktiken eingeschrieben. Sie werden beiläufig weitergegeben und sind
kein Gegenstand einer bewussten Wahl oder einer allgemeinen Diskussion. Da die
überlieferten Zwecke als selbstverständlich erscheinen, sind alternative Zwecksetzungen – verkörpert in abweichenden Praktiken – selten.
Je nach Perspektive birgt diese Situation nun bestimmte Vor- und Nachteile. Aus
dem Blickwinkel der ihr ausgesetzten Personen erscheint sie als weitgehend akzeptabel. Die Frage der Zwecksetzung wird nicht problematisiert, und daher gibt
es am bestehenden Zustand augenscheinlich auch nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Die Mitglieder wachsen in eine Gesellschaft hinein, die ihnen einen relativ
verlässlichen normativen Orientierungsrahmen bietet und die »Last« der individuellen und kollektiven Zwecksuche erst gar nicht entstehen lässt.
Dieser Vorzug verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn eine externe Perspektive eingenommen wird, die vom Wert der persönlichen Autonomie ausgeht. Dann
erscheint eine Gesellschaft, die tradierte Zweckvorstellungen lebt und unbeirrt
weitergibt, als potenzielle Einschränkung der selbstbestimmten Entwicklung der
Individuen. Sobald Mitglieder der Gesellschaft tatsächlich mit den überlieferten
Zwecken in Konflikt geraten, wird dies auch aus dem Blickwinkel der Beteiligten
zu einem realen Problem, da wenig Raum für Abweichungen besteht. Es existiert
kein anerkanntes Verfahren, mittels dem alternative Ansichten und Praktiken in
die bestehende Struktur integriert werden können. Auch gibt es keinen Mechanismus, der die bewusste Modifikation der kollektiven Zwecke vorsieht; sie wandeln
sich lediglich implizit und graduell. Aus diesem Grund ist eine Gesellschaft, in
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der eine traditionelle Teleologie wirksam ist, schlecht darauf vorbereitet, sich an
veränderte natürliche und kulturelle Bedingungen anzupassen.
Noch stärker als im traditionellen Modell finden sich die Gesellschaftsmitglieder
im totalitären Modell in einem festgefügten telelogischen Bezugssystem wieder.
Hier sind die kollektiven Zwecke nicht nur in sozialen Praktiken verkörpert; sie
sind in ein ausdrückliches ideologisches Gerüst eingeflochten, klar identifizierbar
und aus der Sicht ihrer Verfechter wohlbegründet. Idealtypisch verstehen sich alle
Individuen und gesellschaftlichen Gruppen als Teil eines Kollektivs, das auf diese
umfassenden, von einer übergeordneten Autorität vorgegebenen Zwecke hinarbeitet. Der totalitäre Ansatz kann daher als Versuch gedeutet werden, den im traditionellen Modell organisch entstehenden dichten Sinnkontext bewusst herbeizuführen und zu intensivieren. Entsprechend entfällt auch im totalitären Modell
die mitunter schwierige eigenständige Suche nach individuellen und kollektiven
Zwecken. Zusätzlich soll die Einbindung in eine einheitliche Struktur, in der alle
Beteiligten gemeinschaftlich zur Verwirklichung der gleichen Zwecke beitragen,
die gesellschaftsinterne Solidarität sicherstellen und die soziale Geborgenheit
stärken.
Diesen gefühlten Vorteilen des totalitären Modells stehen jedoch mehrere schwerwiegende Nachteile entgegen. Ein Kernproblem stellt hierbei der dogmatische
Status der kollektiven Zwecke dar. Sie bilden die obersten Ziele der Gesellschaft
und sind als Teil einer offiziellen Ideologie immun gegen Kritik. Weder findet eine
offene theoretische Auseinandersetzung statt, noch gibt es alternative Lebensweisen, die die kollektiven Zwecke durch ihr praktisches Beispiel in Zweifel ziehen
könnten. Dieser Zustand der Homogenität kann nur aufrechterhalten werden,
indem Abweichungen von vornherein unterdrückt werden. Damit wird die autonome Festlegung von Zwecken, die gegen das vorgegebene ideologische System
verstoßen, unmöglich. Das Individuum wird zum Baustein eines übermächtigen
Kollektivs erklärt und erfüllt Funktionen, die ihm von außen auferlegt werden. Es
wird zum Objekt eines Denkens, in dem die alles überragenden kollektiven Zwecke die Mittel heiligen und in dem jede Einschränkung in der Gegenwart mit dem
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Verweis auf einen in der Zukunft liegenden Idealzustand gerechtfertigt werden
kann.3
Die Verabsolutierung der offiziellen Zwecke und die Verhinderung des Pluralismus haben zudem Folgen, die über den individuellen Bereich weit hinausgehen.
Wenn keine alternativen Denk- und Lebensweisen zugelassen werden, fehlen genau jene Mechanismen der Kritik, durch die die ideologischen und praktischen
Schwachstellen des herrschenden Systems erst sichtbar würden und auf deren
Grundlage Verbesserungen stattfinden könnten. Weil sie die fundamentale Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis nicht in Rechnung stellt, birgt die Strategie der
Dogmatisierung der Zwecksetzungen das Risiko, auch gravierende Irrtümer dauerhaft fortzuschreiben.4 Noch stärker als im traditionellen Modell tritt in diesem
Szenario daher das Problem der mangelnden Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft auf, das sich insbesondere bei raschen Veränderungen von Rahmenbedingungen als existenzbedrohend erweisen kann.
Das Problem der geringen Flexibilität wird zusätzlich durch den hohen Grad der
Durchdringung der gesamten Gesellschaft von der Verfolgung der kollektiven
Zwecke verschärft. Alle gesellschaftlichen Bereiche sind darauf programmiert,
einen Beitrag zur Annäherung an die absolut gesetzten Zwecke zu leisten. Da jegliche Ressourcen in eine Richtung gelenkt werden, entstehen massive institutionelle Pfadabhängigkeiten. Eine Kurskorrektur wäre äußerst kostspielig, da sie
die Neuausrichtung sehr vieler Ressourcen implizieren würde. Ein Verbleiben auf
dem alten Kurs wird daher nahezu unausweichlich.5
Zwei weitere Schwächen des totalitären Modells sind als Folge der Monopolstellung anzusehen, die in Bezug auf die Setzung von Zwecken vorliegt. Nur die übergeordnete Autorität ist dazu berechtigt, die kollektiven Zwecke festzulegen. Hier3 Vgl. Popper, Karl R.: Utopie und Gewalt. In: Popper, Karl R.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Teilband II: Widerlegungen.
Tübingen 1997, S. 515–527, hier S. 520–523.
4 Vgl. Albert, Hans: Die Idee der kritischen Vernunft. In: Albert, Hans: Plädoyer für kritischen Rationalismus. München 1971, S. 11–29, hier S. 15–17.
5 Zum allgemeinen Gedanken der Pfadabhängigkeit siehe Pierson, Paul: Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics. In: The American Political Science
Review XCIV (2000), S. 251–267.
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aus resultiert erstens ein Wissensproblem: Eine solche zentrale Instanz kann nicht
über alle Informationen verfügen, die dafür notwendig wären, um umfas­sende
gesellschaftliche Zwecke sicher bestimmen oder auch nur ihre Erreichung verlässlich planen und steuern zu können. Das hypothetisch dafür benötigte Wissen ist
nämlich auf zahllose Träger verteilt oder schlichtweg inexistent.6 Zweitens impliziert die Monopolstellung der übergeordneten Autorität, dass die Zwecksetzung
ausschließlich von »oben nach unten« verläuft. In dieser Konstellation besteht
das hohe Risiko, dass sich auf Dauer eine Lücke zwischen den Zweckvorgaben
der Elite und den Sichtweisen der breiten Bevölkerung auftut. Die übergeordnete
Autorität kann zwar für sich in Anspruch nehmen, stellvertretend für die ganze Bevölkerung zu handeln; da aber keine direkte Artikulationsmöglichkeit von
»unten nach oben« vorgesehen ist, müssen die Interessen der Bevölkerung von
der Elite unterstellt und im Lichte der offiziellen Ideologie interpretiert werden.
Dadurch tritt die Situation ein, dass die Interessen der Bevölkerung seitens der
übergeordneten Autorität falsch eingeschätzt oder ganz ignoriert werden.7 Dies
erscheint unter normativen Gesichtspunkten als fragwürdig, und es stellt die dauerhafte Stabilität einer solchen Gesellschaftsform in Frage.
Einige dieser Nachteile des Totalitarismus sind im liberalen Modell aufgehoben.
Hier gibt es keine staatlichen oder religiösen Autoritäten, die der Gesellschaft
oder den Individuen Zwecke auferlegen. Die klassischen Bedrohungen der Freiheit sind damit ausgeschaltet, und die Mitglieder der Gesellschaft können ihre
individuellen Präferenzen besser zur Geltung bringen. Eine Vielfalt von Denk- und
Lebensweisen kann sich entfalten, ohne dass diese willentlich eingeschränkt oder
gar mit Gewalt unterdrückt wird. Darüber hinaus ist der Dogmatismus, der im totalitären Modell zu verheerenden Folgen führt, im liberalen Szenario unbekannt.
Auch fehlt die starke soziale Kontrolle, die in der traditionellen Teleologie Veränderungen erschwert. Im Optimalfall hindert niemand die Individuen daran, ihre
Ziele laufend zu überdenken und sie bei Bedarf anzupassen.
6 Vgl. Hayek, Friedrich August: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism. London 1988,
S. 85 ff.
7 Vgl. Albert, Hans: Aufklärung und Steuerung. Gesellschaft, Wissenschaft und Politik in
der Perspektive des kritischen Rationalismus. In: Albert, Hans: Kritische Vernunft und
menschliche Praxis. Stuttgart 1984, S. 180–210, hier S. 202–204.
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Den Hauptbezugspunkt des Modells bilden damit eindeutig die individuellen Zwecke einzelner Personen. Dies ist der Bereich, den es aus liberaler Perspektive zu
schützen gilt. Es gibt hingegen keine kollektiven Zwecke, die festlegen, in welche
Richtung sich die Gesellschaft insgesamt bewegen soll. Der gesellschaftliche Sinnhorizont ist gewollt leer: Wo es keine verbindlichen Traditionen und keine autoritären Institutionen gibt, die der Gesellschaft allgemeingültige kollektive Zwecke
auferlegen, so die liberale Idee, verfügen die Individuen über einen ungestörten
Spielraum zur Setzung ihrer eigenen Zwecke. Der Liberalismus »erkauft« sich die
Freiheit zum individuellen Sinn durch den Verzicht auf kollektiven Sinn.
Eine Implikation des Fehlens kollektiver Zwecke im liberalen Modell besteht jedoch darin, dass es keine Orientierungspunkte gibt, an denen sich die Gesellschaft
in ihrer Gesamtentwicklung ausrichten könnte. Dies hat zur Folge, dass sich die
Gesellschaft zwar verändert, dies aber ohne kollektive Steuerung tut. Die faktische Entwicklung der Gesamtgesellschaft ist nicht das Ergebnis zielgerichteter
Eingriffe, sondern die unbeabsichtigte Nebenfolge der eigentlich auf individuelle
Zwecke ausgerichteten Handlungen einzelner Akteure. Ob dies aus der Sicht der
Betroffenen zu positiven oder zu negativen Konsequenzen führt, ist letztlich dem
Zufall überlassen.
Diese Situation stellt die bereits angesprochene Flexibilität – und damit auch die
Problemlösungsfähigkeit – des liberalen Modells in Frage. Idealtypisch können
die Gesellschaftsmitglieder ihre persönlichen Zwecke hier in der Tat schneller
und ungestörter anpassen als in den anderen Modellen. Doch diese Anpassungsfähigkeit bezieht sich ausschließlich auf den individuellen Bereich. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann nur sehr schwer eine bewusste Anpassung stattfinden,
da hierzu die institutionellen und ideellen Voraussetzungen fehlen; es existieren
weder Instanzen, die zu einer gesamtgesellschaftlichen Steuerung fähig und befugt wären, noch liegen kollektive Zwecke vor, an denen sich eine solche Steuerung orientieren könnte. So kann etwa der Staat nicht eigenmächtig auf kollektive
Probleme reagieren, sondern erst, sobald die Probleme mit den individuellen Zwecken der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in Konflikt kommen. Genuin kollektive Probleme, die sich nicht auf die individuelle Ebene »herunterbrechen« lassen,
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bleiben aus diesem Grund dauerhaft ungelöst.8 Somit sind die Einzelpersonen
in der liberalen Gesellschaft zwar frei, ihre individuellen Zwecke zu setzen und
diese flexibel zu ändern, aber dies reicht zur Bewältigung kollektiver Probleme
nicht aus. Die isolierte Anpassung des persönlichen »Lebensstils« als Reaktion
auf kollektive Probleme bleibt ein hilfloser Versuch, auf der individuellen Ebene
das nachzuholen, was auf der gesellschaftlichen Ebene unterbleibt.
Das Fehlen kollektiver Zwecke in einer an der liberalen Teleologie ausgerichteten
Gesellschaft verändert darüber hinaus das Selbstverständnis der in ihr lebenden
Menschen und ihre Beziehungen untereinander. Anders als im traditionellen und
im totalitären Modell werden den Gesellschaftsmitgliedern keine verbindlichen
Zwecke überliefert oder vorgegeben. Stattdessen wird von den Individuen erwartet, dass sie sich als autonom denkende und handelnde Personen eigenständig ihre
persönlichen Zwecke setzen. Da keine vorgefertigten sozialen Rollen an sie herangetragen werden, werden ihnen erhebliche »biographische Eigenleistungen«9
abverlangt; die Individuen müssen ihren Platz in der Gesellschaft selbst finden.
Die Folgen dieses strukturellen Individualismus sind ambivalent. Einerseits ermöglicht er den Menschen, sich von den erzwungenen Bindungen an die Gemeinschaft zu emanzipieren. Die Individuen sind frei von staatlicher und religiöser
Unterdrückung, und sie werden reflektierter und selbstständiger. Auch kann die
eigenständige Zwecksuche durchaus als befriedigender und seinerseits sinnvoller
Prozess gesehen werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass die freigesetzten
Individuen sich ohnmächtig und isoliert fühlen, da sie sich mit einer Gesellschaft
konfrontiert sehen, die ihnen keinerlei Sicherheit und soziale Geborgenheit bietet.10 Da jede Person sich ihre eigenen individuellen Zwecke setzt, ist der Bestand
an geteilten Werten, Deutungsmustern und Identitäten gering, und die Menschen
erleben sich nicht als Bestandteil eines integrierten Ganzen. Infolgedessen wird
ein instrumentelles Verständnis sozialer Beziehungen begünstigt. Anstatt wechselseitig aufeinander bezogen zu sein, treten die »atomistischen« Subjekte11 aus8 Der Bereich der Umweltzerstörung bietet hierfür zahlreiche empirische Beispiele.
9 Honneth, Axel: Individualisierung und Gemeinschaft. In: Zahlmann, Christel (Hrsg.):
Kommunitarismus in der Diskussion. Berlin 1992, S. 16–23, hier S. 19.
10Vgl. Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. München 2010, S. 32 f.
11 Vgl. Taylor, Charles: Atomism. In: Avineri, Shlomo / De-Shalit, Avner (Hrsg.): Commu-
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schließlich miteinander in Verbindung, weil es der Realisierung ihrer jeweiligen
individuellen Zwecke nützt.12 Die Menschen handeln zwar im Hinblick auf ihre
individuellen Zwecke sinnhaft, aber aus der gesellschaftlichen Perspektive verhalten sie sich aneinander vorbei.
Jenseits von Sinndiktat und Sinnvakuum
Wie wir gesehen haben, sind alle bislang diskutierten Modelle sozialer Teleologie mit Schwächen behaftet. Im traditionellen Modell ist es das Fehlen eines anerkannten Mechanismus des Zweckwandels, der zu einer mangelnden Dynamik
und zu einer geringen Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft führt. Die kollektiven Zwecke ändern sich lediglich implizit durch die graduelle Verschiebung der
­sozialen Praktiken. Es bleibt zudem wenig Spielraum für den Einzelnen, sich bewusst seine eigenen vom sozialen Konsens abweichenden Zwecke zu setzen. Im
totalitären Modell sind zwar explizite kollektive Zwecke vorhanden, aber ihre Definition obliegt ausschließlich einer übergeordneten Autorität. Die Verpflichtung
der gesamten Gesellschaft auf die von der Autorität gesetzten Zwecke führt zu
einem sehr dichten, aber ebenfalls starren und nur durch die Unterdrückung von
Alternativen aufrechtzuerhaltenden Sinnkontext. Im liberalen Modell liegen hingegen überhaupt keine kollektiven Zwecke vor, und die Sinnsuche ist völlig den
Einzelpersonen übertragen. Dies führt einerseits zu mehr individueller Freiheit,
andererseits aber auch zu einem Mangel an wechselseitiger Bezogenheit und Gemeinschaftlichkeit. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber dem Kollektivismus
läuft der Liberalismus damit Gefahr, von einem Extrem ins andere zu verfallen.
An die Stelle des überlieferten oder des diktierten Sinns tritt ein kollektives Sinnvakuum.
Doch haben wir es wirklich mit einem Nullsummenspiel zu tun, in dem ein Mehr
an individueller Freiheit nur auf Kosten des kollektiven Sinns erreicht werden
nitarianism and Individualism. Oxford 1992, S. 29–50.
12 Dies bedeutet, dass die Menschen auch im liberalen Modell nicht immer rein isoliert voneinander handeln. Vielmehr bilden sie in bestimmten Fällen Handlungszusammenhänge
mit anderen Menschen, d. h. sie stimmen ihre Handlungen aufeinander ab. Sie tun dies
jedoch nicht, um gemeinsam kollektive Zwecke zu erreichen, sondern um ihre jeweiligen
individuellen Zwecke besser zu realisieren. Aus diesem Grund haben wir es im liberalen
Modell lediglich mit einer egoistisch-instrumentellen Form der Kooperation zu tun.
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kann, und ein Zuwachs an kollektivem Sinn nur durch die Preisgabe individueller
Freiheit? Dies muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Im Folgenden skizziere ich
ein viertes, an republikanischen Ideen orientiertes Modell sozialer Teleologie, in
dem individuelle und kollektive Zwecke in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Es geht damit um eine Teleologie, an der die in einer Gesellschaft
lebenden Menschen teilhaben können, ohne dass sie dabei ihre Individualität und
ihren Spielraum zur Setzung selbstgewählter individueller Zwecke aufgeben müssen.
Vom Zweckabsolutismus zu intermediären Zwecken
Um uns einem vierten Modell sozialer Teleologie anzunähern, müssen wir zunächst den Begriff des kollektiven Zwecks genauer analysieren. Kollektive Zwecke
zeichnen sich nach dem oben entwickelten Verständnis dadurch aus, dass sie auf
Sachverhalte von gesellschaftlicher Relevanz verweisen. Damit ist jedoch lediglich
der Bezugsrahmen kollektiver Zwecke angedeutet, während über ihren epistemischen Status nichts ausgesagt ist. Wie in der Darstellung des totalitären Modells
gezeigt wurde, kann kollektiven Zwecken der Status sicherer Erkenntnisse zugeschrieben werden. Sie verfügen dort über den Charakter unbezweifelbarer Dogmen und »endgültige[r] Ziele«13. Diesem absolutistischen Verständnis muss man
jedoch keineswegs folgen. Ebenso denkbar sind Zwecke, die über den Status vorläufig akzeptierter regulativer Ideen verfügen. Sie sind zu jeder Zeit kritisierbar
und revidierbar und dienen als Orientierungspunkte des sozialen Handelns, aber
sie schreiben keine allgemeinverbindlichen Ziele dauerhaft fest. Die durch den
Dogmatismus verursachte Inflexibilität und Lernresistenz wird damit vermieden.
Darüber hinaus können sich kollektive Zwecke im Hinblick auf ihren Zustimmungsgrad unterscheiden. Sie müssen nicht wie im traditionellen und totalitären
Modell von nahezu allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden. Es ist ohne
Weiteres vorstellbar – und auch empirisch immer wieder zu beobachten –, dass
auch zahlenmäßig kleinere Gruppen als Träger kollektiver Zwecke auftreten und
dabei eine beträchtliche gesellschaftliche Signifikanz erreichen. Eine »öffentliche
Übereinstimmung«14 im Sinne eines allgemeinen Konsenses über die kollektiven
13 Popper, Karl R.: Utopie und Gewalt, S. 520.
14 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß, S. 289.
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Zwecke ist hierzu nicht erforderlich. Wenn nicht die gesamte Gesellschaft auf dieselben Zwecke festgelegt ist, kann sich vielmehr ein Pluralismus unterschiedlicher
kollektiver Zweck-Angebote entwickeln. Abweichungen müssen in dieser Situation nicht sanktioniert oder gewaltsam unterdrückt werden, sondern können in
eine bestehende Landschaft konkurrierender oder komplementärer kollektiver
Zwecke integriert werden.
Neben dem epistemischen Status und dem Zustimmungsgrad kann auch der Umfang kollektiver Zwecke variieren. Offensichtlich lässt sich nicht exakt bestimmen, ab wann ein Sachverhalt, auf den sich ein Zweck bezieht, weitreichend genug
ist, damit er als »gesellschaftlich relevant« bezeichnet werden kann. Keinesfalls
muss jedoch – wie im Totalitarismus – ein gesamtgesellschaftlicher Idealzustand
postuliert werden, damit dieses Kriterium erfüllt ist. Bei kollektiven Zwecken geht
es somit nicht zwangsläufig um »umfassende Lehre[n]«15 oder um eine »Konzeption des Guten«16 schlechthin. Sie können sich ebenso auf anspruchsvolle, aber
eher bereichsspezifische gesellschaftliche Zustände beziehen, die vergleichsweise
besser bewertet werden als die Alternativen. In diesem Fall sind die Zwecke weniger umfangreich, und sie verlieren ihren metaphysisch-absoluten Charakter, über
den sie mitunter im Kontext politischer Utopien oder religiöser Systeme verfügen.
Der Umfang kollektiver Zwecke wirkt sich schließlich auch auf ihr Verhältnis zu
individuellen Zwecken aus. Im traditionellen und insbesondere im totalitären Modell überlagern die umfassenden kollektiven Zwecke die individuellen Zwecke und
haben Vorrang vor diesen; die soziale Rolle des Einzelnen und seine individuellen
Zwecke sind aus den kollektiven Zwecken ableitbar. Haben wir es jedoch mit weniger umfassenden kollektiven Zwecken zu tun, lassen diese genügend Spielraum
für die selbstbestimmte Setzung individueller Zwecke. Die Individuen verfügen
dann über eine – beispielsweise durch personenbezogene Grundrechte geschützte – Sphäre, die nicht zwangsweise von den kollektiven Zwecken beeinträchtigt
werden darf. Anstatt in einem hierarchischen Verhältnis zueinander zu stehen,
15 Rawls, John: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. In: Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989. Frankfurt am Main 1994, S. 333–363, hier S. 344.
16 Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß, S. 289.
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ergänzen sich die kollektiven und die individuellen Zwecke in diesem Fall gegenseitig.
Wie wir gesehen haben, kann der Begriff des kollektiven Zwecks in unterschiedlicher Weise interpretiert werden. Die Ausdeutung des Begriffs im traditionellen
und vor allem im totalitären Modell lässt sich zusammenfassend als zu weitgehend bewerten. Kollektive Zwecke führen dort zu negativen Konsequenzen, weil
sie von einem zu hohen Grad an Gewissheit, zu hoher Allgemeinverbindlichkeit
und einem zu großem Umfang gekennzeichnet sind. Das alternative Verständnis
des Begriffs zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass kollektive Zwecke nichtdogmatisch (sondern vorläufig akzeptiert), nicht für alle zustimmungspflichtig
(sondern lediglich von signifikanten Gruppen unterstützt) und nicht allumfassend
(aber dennoch gesellschaftlich relevant) sind. Sie befinden sich folglich im Hinblick auf ihren epistemischen Status, ihren Zustimmungsgrad und ihren Umfang
auf einer mittleren Ebene. Aus diesem Grund sollen kollektive Zwecke dieses Typs
als intermediäre Zwecke bezeichnet werden.
Die Entstehung intermediärer Zwecke in der Öffentlichkeit
Ein gewichtiger Nachteil der traditionellen und totalitären Teleologien besteht
im jeweiligen Modus der Zwecksetzung und des Zweckwandels. Kollektive Zwecke entwickeln sich im traditionellen Modell durch soziale Praktiken und deren
graduelle Verschiebung, und im totalitären Modell werden sie von einer übergeordneten Autorität festgelegt und gegebenenfalls von dieser verändert. In beiden Modellen fehlt somit ein dynamischer und flexibler Mechanismus, der die
bewusste Veränderung der kollektiven Zwecke ermöglicht. Zurückzuführen ist
dies auf einen Mangel an zweckbezogener Kommunikation. Während diese im
traditionellen Modell aufgrund des impliziten Charakters der kollektiven Zwecke
weitgehend unterbleibt, vollzieht sie sich im totalitären Modell lediglich einseitig,
indem die übergeordnete Autorität der übrigen Gesellschaft die kollektiven Zwecke verkündet. In beiden Fällen fehlt demzufolge Kommunikation im Sinne einer
wechselseitigen und im Hinblick auf ihre Teilnehmer und ihre Ergebnisse offenen
Verständigung. Doch gerade diese eine Vielzahl von Perspektiven einbeziehende
Form der Kommunikation wäre notwendig, um kollektive Zwecke immer wieder
modifizieren zu können.
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Der Ort, an dem eine in diesem Sinne kommunikative Auseinandersetzung über
die kollektiven Zwecke einer Gesellschaft stattfinden kann, ist die politische Öffentlichkeit. Diese stellt ein allgemein sichtbares Forum dar, in dem die das Gemeinwesen als solches betreffenden Belange beraten werden. Jedem Akteur steht
es frei, seine gesellschaftlich relevanten Ideen in der Öffentlichkeit vorzubringen.
Die anderen an der Öffentlichkeit teilhabenden Gesellschaftsmitglieder greifen
diese Ideen auf, beleuchten sie unter allen erdenklichen Gesichtspunkten und analysieren sie auf ihre Tragfähigkeit. Es entsteht mithin ein öffentlicher Diskurs, in
dem Vorschläge zur Fortentwicklung der Gesellschaft vorgebracht, rezipiert und
diskutiert werden. Dieser Diskurs umfasst einerseits öffentliche sprachliche Äußerungen. Andererseits schließt er aber auch bestimmte nicht-sprachliche Praktiken ein. So kann eine Auseinandersetzung innerhalb eines Diskurses nicht nur
in Form von (sprachlichen) Argumenten geführt werden, sondern auch mittels
nicht-sprachlicher symbolischer Praktiken und mittels der öffentlich wahrnehmbaren Praktizierung voneinander abweichender Handlungs- und Lebensweisen.
In einem solchen kontroversen und vielgestaltigen Diskurs manifestiert sich das
Prinzip des Kritizismus, das ausgehend von der Fehlbarkeit und der inhärenten
Unvollständigkeit menschlicher Erkenntnis auf die beständige Prüfung jeglicher
Problemlösungsversuche setzt.17
In dem öffentlichen Diskurs kristallisieren sich vielfältige kollektive Zwecke heraus, die aufgrund der prinzipiell niemals abgeschlossenen Kritik stets über einen vorläufigen und verbesserungswürdigen Charakter verfügen. Da der öffentliche Diskurs uneingeschränkt zugänglich für unterschiedliche Perspektiven ist,
herrscht ein struktureller Pluralismus, der erstens eine vergleichende Beurteilung
kollektiver Zwecke ermöglicht und zweitens verhindert, dass es zu einem völligen
Konsens und zur Verabsolutierung bestimmter kollektiver Zwecke kommt. Der
Pluralismus sorgt gleichsam für eine wohltuende Relativierung der kollektiven
Zwecke und führt ununterbrochen vor Augen, dass immer auch Alternativen möglich wären. Bei den kollektiven Zwecken, die in einer dem Kritizismus verpflichte17Zum Kritizismus vgl. Albert, Hans: Die Idee der kritischen Vernunft, S. 15–24; Albert,
Hans: Traktat über rationale Praxis. Tübingen 1978, S. 7 ff.; Albert, Hans: Traktat über
kritische Vernunft. Tübingen 51991, S. 42–44; sowie Niemann, Hans-Joachim: Die Strategie der Vernunft. Rationalität in Erkenntnis, Moral und Metaphysik. Braunschweig /
Wiesbaden 1993, S. 7 ff.
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ten Öffentlichkeit entstehen, handelt es sich demzufolge um intermediäre Zwecke
im oben erläuterten Sinn. Sie bieten gesellschaftliche Orientierung, sind dabei
aber flexibel genug, um laufend an veränderte Problemsituationen angepasst zu
werden.
Eine nach diesem Muster funktionierende Öffentlichkeit impliziert, dass es sich
bei der Setzung und beim Wandel von Zwecken um einen irreduzibel gemeinschaftlichen Vorgang handelt. Der öffentliche Diskurs ist ein Prozess, in dem sich
Ansichten im Lichte der von anderen Personen vorgebrachten Kritik weiterentwickeln und sich wechselseitig inspirieren. Folglich bilden sich in diesem Modell
Vorstellungen über die kollektiven Zwecke erst in menschlicher Interaktion und
durch die Konfrontation mit einer Vielfalt von Perspektiven heraus. Niemand
kennt bereits die Ziele, die er mit Anderen erreichen will, bevor er mit diesen in
einen Diskurs und in ein gemeinsames politisches Leben eingetreten ist. 18 Dies
bedeutet, dass kollektive Zwecke nicht einfach aus einem vorpolitischen Raum
in die Öffentlichkeit hineingetragen werden, sondern sich zu einem wesentlichen
Teil erst in ihr herausbilden. Dieses konstitutive Verständnis von Öffentlichkeit
als zentralem Ort der politischen Auseinandersetzung bildet das republikanische
Element des vierten Modells.19
Damit die Öffentlichkeit als eigenständige Sphäre fungieren kann, in der sich
kollektive Zwecke herauskristallisieren, muss sie als umfassendes Forum verstanden werden, in dem unterschiedlichste Ansichten, Argumente und Praktiken
aufeinandertreffen. Alle Arten von Beiträgen können in den öffentlichen Diskurs
eingebracht werden, sind dabei aber auch gleichermaßen Gegenstand von Befürwortung, Abgrenzung und Kritik.20 Erst in einer solchen Situation des echten
Pluralismus, der auch miteinander inkompatible Sichtweisen einschließt, kann
18 Vgl. Dewey, John: The Future of Liberalism. In: The Journal of Philosophy XXXII (1935),
S. 225–230, sowie Taylor, Charles: Atomism, S. 43–49.
19Vgl. Bonacker, Thorsten: Die politische Theorie des freiheitlichen Republikanismus:
Hannah Arendt. In: Brodocz, André / Schaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorien der
Gegenwart I. Opladen 2002, S. 183–219, hier S. 186 ff.
20Dies impliziert, dass auch weltanschaulich und religiös fundierte Beiträge im öffentlichen
Diskurs auftauchen können. Da sie keinen Sonderstatus genießen, sind sie allerdings
auch in gleicher Weise der Kritik ausgesetzt wie alle anderen Diskursbeiträge. Vgl. Dacey,
Austin: The Secular Conscience. Why Belief Belongs in Public Life. Amherst 2008, S. 39
ff.
105
- jahrgang 8 - ausgabe 1 - 2012
eine leidenschaftliche und kontroverse Auseinandersetzung über die Zwecke einer
Gesellschaft geführt werden. Die Gegensätzlichkeit der Positionen sorgt für eine
ständige Dynamik, trägt zu einer fortlaufenden Willensbildung der Beteiligten bei
und ermöglicht ihnen, sich im Hinblick auf die Zwecke der Gesellschaft zu orientieren und zu positionieren.21
Dieses expansive Verständnis von politischer Öffentlichkeit unterscheidet sich
offensichtlich grundlegend von den traditionellen und totalitären Modellen, die
keine bzw. nur eine einseitig strukturierte Öffentlichkeit umfassen. Es ist jedoch
ebenso vom oben diskutierten liberalen Modell abzugrenzen. Dieses beinhaltet
zwar aufgrund seines freiheitlichen Charakters eine allgemein zugängliche Öffentlichkeit, doch diese hat nicht die eigenständige Konstitution kollektiver Zwecke zur Aufgabe, sondern lediglich die Aggregation und Vermittlung vorpolitisch
entstandener individueller Zwecke. Anstatt eine kollektive Auseinandersetzung
über die Zwecke der Gesellschaft zu beherbergen, ist die Öffentlichkeit dort angefüllt mit Partikularinteressen, die, weil sie nicht im gemeinschaftlichen Diskurs
entstanden sind, inhaltlich unverbunden nebeneinander stehen.22 Ferner ist das
expansive Verständnis von Öffentlichkeit abzugrenzen von liberalen Konzeptionen, die auf eine Beschneidung der politischen Sphäre hinauslaufen. Während
diese darauf abzielen, fundamentalen Dissens aus einem eng gefassten »Bereich
des Politischen«23 auszuklammern, geht es im hier bevorzugten vierten Modell
um eine Ausweitung des politischen Diskurses im Hinblick auf die zugelassenen
Themen, Argumente und – indem die Sprachfixierung liberaler Diskursmodelle
überwunden wird – Praktiken. Ein solcher umfassender Diskurs ist folglich nicht
darauf festgelegt, eine »vernünftige Übereinstimmung«24 der Beteiligten über
21Dieses dynamische Verständnis öffentlicher Diskurse bedeutet nicht, dass alle Themen
permanent Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen sind. Themen, die gegenwärtig nicht als problematisch wahrgenommen werden oder unstrittig sind, brauchen
nicht ständig öffentlich diskutiert zu werden. Es besteht aber jederzeit die Möglichkeit,
sie in den öffentlichen Diskurs einzubringen und sie damit zu (re-)politisieren.
22Vgl. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003, S. 47–54.
23Rawls, John: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses. Vgl. Ackerman, Bruce: Warum Dialog? In: van den Brink, Bert / van Reijen, Willem
(Hrsg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie. Frankfurt am Main 1995, S. 385–
410, hier S. 399 ff., sowie Larmore, Charles: Patterns of Moral Complexity. Cambridge
1987, S. 50 ff.
24Rawls, John: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsen106
Klaas Schüller
ohnehin relativ unkontroverse Einzelheiten herbeizuführen; vielmehr hat er die
Funktion, eine Vielfalt voneinander unterscheidbarer intermediärer kollektiver
Zwecke hervorzubringen. Den verödeten Varianten liberaler Öffentlichkeit wird
damit ein genuin politischer Ort im Sinne eines permanenten produktiven Konflikts entgegengestellt.
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
In den vorangegangenen Abschnitten wurde zunächst verdeutlicht, um welche Art
von kollektiven Zwecken es sich im vierten Modell sozialer Teleologie handelt.
Anschließend wurde skizziert, wie diese Zwecke entstehen und sich weiterentwickeln. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun das Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft präzisieren. Im traditionellen, totalitären und liberalen Modell haben wir es jeweils mit einer einseitigen Beziehung zwischen diesen beiden Polen
zu tun. Während die Gesellschaft in den ersten beiden Modellen das Leben der
Individuen bestimmt, nutzt das Individuum die Gesellschaft im dritten Modell
instrumentell zur Verwirklichung seiner autonom gesetzten persönlichen Zwecke.
Im Gegensatz dazu ermöglicht das vierte Modell eine in beide Richtungen verlaufende Beziehung. Einerseits prägt das Individuum die Gesellschaft, aber gleichzeitig wirkt diese auf das Individuum zurück. Dies geschieht in einem niemals vollendeten, von beiden Seiten fortgeschriebenen Prozess. Das Verhältnis zwischen
Individuum und Gesellschaft im vierten Modell kann demzufolge als iterativ und
zirkulär beschrieben werden.
Inwiefern ist dies der Fall? Wir haben gesehen, dass im vierten Modell sozialer Teleologie eine Öffentlichkeit existiert, die für alle Gesellschaftsmitglieder
zugänglich ist. Es steht ihnen frei, ihre Ideen, Argumente und Praktiken in den
öffentlichen Diskurs einfließen zu lassen. Diese Offenheit der Öffentlichkeit ist
die Grundbedingung dafür, dass die Individuen Einfluss auf die Entwicklung der
Gesellschaft nehmen können. Die Besonderheit des vierten Modells besteht jedoch darin, dass wir es mit einer Öffentlichkeit zu tun haben, die nicht nur vom
Input der Individuen mitgeformt wird, sondern auch inhaltlich auf die Beiträge
der Individuen reagiert. An der Öffentlichkeit haben Akteure teil, die den »Input«
der Individuen rezipieren und sich von ihm affizieren lassen, ihn gleichzeitig aber
ses, S. 340.
107
- jahrgang 8 - ausgabe 1 - 2012
auch kommentieren und kritisieren. Mit anderen Worten handelt es sich um eine
resonanzfähige Öffentlichkeit, d. h. eine Öffentlichkeit, die in einer verständigungsorientierten Weise antwortet. Die Reaktion der Öffentlichkeit wirkt wiederum auf das Individuum zurück, das seine Ansichten nun gegebenenfalls revidieren und sich von seinem veränderten Standpunkt aus erneut an die Öffentlichkeit
wenden kann. Es ist genau dieses fortwährende Antworten auf beiden Seiten, das
die Iterativität und die Zirkularität der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ausmacht.
Dieses allgemeine Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft spiegelt sich
auch im Verhältnis von individuellen und kollektiven Zwecken wider. Das Individuum prägt durch sein öffentliches Engagement die kollektiven Zwecke der Gesellschaft mit. Gleichzeitig wirken die kollektiven Zwecke auf seine individuellen
Zwecke zurück, indem sie als Orientierungsangebote fungieren, die Implikationen
für den persönlichen Bereich haben können. Individuelle und kollektive Zwecke
stehen im vierten Modell mithin in einem produktiven Austausch, ohne sich gegenseitig zu determinieren.
Individuelle Implikationen
Zu welchen weiteren Konsequenzen führen die geschilderten Eigenschaften des
vierten Modells nun für die Stellung des Individuums? Die erste Konsequenz besteht darin, dass das Individuum durch die Möglichkeit des öffentlichen Engagements zu seinem gesellschaftlichen Umfeld in eine echte – und nicht nur einseitig-instrumentelle – Beziehung treten kann. Bereits die Entwicklung kollektiver
Zwecke ist ein gemeinschaftlicher, in der Öffentlichkeit vorangetriebener Prozess,
in den sich das Individuum aus freien Stücken einschalten kann. Die kollektiven
Zwecke, die sich in diesem Prozess herausbilden, sind in diesem Fall so beschaffen, dass sich das Individuum aufgrund seiner eigenen Mitwirkung in ihnen wiedererkennen kann. Durch diese Identifikation begreift sich das Individuum nicht
länger als eine von der Gesellschaft getrennte, isolierte Einheit. Es kann stattdessen teilhaben am Projekt einer gemeinsam gestalteten Gesellschaft, und dieses Hinausgehen über den privaten Bereich verleiht seinem Leben Orientierung
108
Klaas Schüller
und eine zusätzliche Ebene von Sinn.25 Wir haben es also mit einem Individuum
zu tun, das produktiv mit seinem gesellschaftlichen Umfeld verwoben sein kann,
ohne dabei seine Persönlichkeit zu verlieren oder völlig in einem Kollektiv aufgehen zu müssen.
Die zweite Konsequenz für die Stellung des Individuums bezieht sich auf dessen
persönliche Freiheit. Wie wir gesehen haben, führt das Vorhandensein kollektiver
Zwecke im traditionellen und im totalitären Modell zu einer Verringerung der individuellen Freiheit; der Zuwachs an kollektivem Sinn wird durch den Verzicht auf
individuelle Selbstbestimmung erreicht. Das vierte Modell zeichnet sich hingegen
dadurch aus, dass dieser Zusammenhang durchbrochen und der individuelle Freiheitsspielraum durch die Existenz kollektiver Zwecke sogar erweitert wird. Die
Grundbedingung hierfür ist zunächst, dass die negative Freiheit ähnlich wie im
liberalen Modell erhalten bleibt. Da es sich bei den kollektiven Zwecken des vierten Modells um intermediäre Zwecke mit begrenzter Reichweite handelt, ist sichergestellt, dass das Individuum über eine autonome persönliche Sphäre verfügt,
die nicht gegen seinen Willen von den kollektiven Zwecken berührt wird. Darüber
hinaus bieten sich dem Individuum im vierten Modell jedoch größere Möglichkeiten zur Realisierung positiver Freiheit als im liberalen Modell. Dies ist der Fall,
weil das Individuum im vierten Modell nicht darauf beschränkt ist, sich seine persönlichen Zwecke zu setzen. Es kann zudem den privaten Bereich transzendieren,
indem es an der gemeinschaftlichen Gestaltung der Gesellschaft mitwirkt. Dies
stellt eine erhebliche Erweiterung seines positiven Handlungsspielraums dar, und
das konzertierte Handeln mit Anderen konstituiert eine Form von Macht, die ein
Einzelner für sich allein niemals erreichen könnte.26
Gesellschaftliche Implikationen
Zwei weitere Implikationen des vierten Modells beziehen sich auf die Ebene der
Gesellschaft. Die erste betrifft die Steuerungsfähigkeit des Gemeinwesens. Die
Kritik des liberalen Modells hatte ergeben, dass genuin kollektive Probleme, die
25Vgl. Singer, Peter: Wie sollen wir leben? Ethik in einer egoistischen Zeit. München 2004,
S. 250–254.
26Vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München / Zürich 1970, S. 45, sowie Arendt,
Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2007, S. 252 ff.
109
- jahrgang 8 - ausgabe 1 - 2012
sich nicht auf die individuelle Ebene »herunterbrechen« lassen, dauerhaft ungelöst bleiben, sofern eine Gesellschaft über keine kollektiven Zwecke verfügt. Im
vierten Modell kann sich die Gesellschaft hingegen an den vorhandenen intermediären Zwecken orientieren, um auf kollektive Probleme zu reagieren. Unter Berufung auf diese intermediären Zwecke kann sie kollektive Probleme bekämpfen,
bevor sich diese so verschärft haben, dass sie die individuellen Zwecke der Gesellschaftsmitglieder direkt tangieren. Die intermediären Zwecke bilden somit die
ideelle Voraussetzung dafür, die Entwicklung der Gesellschaft in einem stärkeren
Maße bewusst und planvoll gestalten zu können.
Kommen wir nun zur zweiten Implikation des vierten Modells auf der gesellschaftlichen Ebene. Oben wurde dargelegt, dass eine wesentliche Funktion der Öffentlichkeit in der Hervorbringung intermediärer kollektiver Zwecke besteht. Darüber
hinaus ist die Öffentlichkeit jedoch auch im Hinblick auf die Konstitution und
die Integration der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Die Öffentlichkeit stellt
ein Forum dar, in dem die Ansichten und Praktiken unterschiedlichster Diskursteilnehmer aufeinandertreffen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der
öffentliche Diskurs verbindet also Menschen miteinander, die ansonsten durch
geographische und lebensweltliche Trennung gar nicht miteinander in Kontakt
gekommen wären. Die Öffentlichkeit trägt daher einen wesentlichen Teil dazu bei,
die Gesellschaft, über deren kollektive Zwecke sie berät, als soziale Einheit erst zu
erschaffen.
Diese durch die Öffentlichkeit ermöglichte gesellschaftliche Integration vollzieht
sich einerseits dadurch, dass die Diskursteilnehmer in positiver Weise aufeinander Bezug nehmen. Durch die allgemein sichtbare und zugängliche Suche nach
kollektiven Zwecken bilden sich Gemeinsamkeiten zwischen den Gesellschaftsmitgliedern heraus, und der Bestand an übereinstimmenden Ansichten und Werten wächst. Andererseits wird die gesellschaftliche Integration unter bestimmten
Bedingungen auch – was in den Diskussionen über dieses Thema oftmals ignoriert
wird – durch den öffentlichen Konflikt vorangetrieben. Denn gerade die kritische
Auseinandersetzung mit abweichenden Vorstellungen erfordert ja, sich mit diesen
ernsthaft zu beschäftigen und mithin intensiv auf diese bezogen zu sein, anstatt ihnen gleichgültig und somit unverbunden gegenüber zu stehen. Dies bedeutet, dass
auch die Abgrenzung, sofern sie auf inhaltlichen Gründen basiert, eine Verknüp110
Klaas Schüller
fung zwischen Individuen und Gruppen herstellen und somit zur gesellschaftlichen Integration beitragen kann. Hierfür bildet eine pluralistische und kritische
Öffentlichkeit, in der auch grundlegend konträre Ansichten aufeinandertreffen
und in einen friedlichen Diskurs überführt werden, einen passenden Rahmen.
Ein kritischer Republikanismus
In der Gesamtschau lassen sich mehrere spezifische Eigenschaften des vierten
Modells sozialer Teleologie festhalten. Bei den kollektiven Zwecken des vierten
Modells handelt es sich um intermediäre Zwecke, die zwar gesellschaftlich relevant, dabei aber nicht-dogmatisch, nicht für alle zustimmungspflichtig und nicht
allumfassend sind. Diese intermediären Zwecke entstehen und wandeln sich dynamisch in den kritischen Diskursen einer expansiv verstandenen pluralistischen
Öffentlichkeit. Durch die Resonanzfähigkeit der Öffentlichkeit wird ein Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ermöglicht, das als iterativ und zirkulär beschrieben wurde. Das Individuum kann infolgedessen mit der Gesellschaft
in eine produktive Beziehung treten und sich in ihren kollektiven Zwecken wiederfinden. Aufgrund erweiterter kollektiver Handlungsmöglichkeiten vergrößert
sich zudem seine positive Freiheit. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind durch
die Existenz intermediärer kollektiver Zwecke die ideellen Voraussetzungen für
die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft gegeben. Schließlich trägt das Zusammenspiel der Akteure in der Öffentlichkeit zur Konstitution und Integration der
Gesellschaft bei.
Diese Eigenschaften unterscheiden das vierte Modell grundlegend von den zuvor
erörterten Ansätzen. Der Liberalismus wurde insbesondere wegen seiner kollektiven Sinnleere und der daraus resultierenden Probleme kritisiert. Die Diskussion
der Alternativen hat jedoch verdeutlicht, dass es vor dem Hintergrund der liberalen Pathologien weder um eine sozialromantische Beschwörung der traditionellen Gemeinschaft noch um eine Rehabilitierung totalitärer Kollektivismen gehen
kann. Vielmehr gilt es, die Konturen einer sozialen Teleologie herauszuarbeiten,
die ein als sinnhaft wahrgenommenes Bezogensein des Individuums auf die Gesellschaft unter Beibehaltung negativer persönlicher Freiheiten ermöglicht.
111
- jahrgang 8 - ausgabe 1 - 2012
Während sich das vierte Modell demnach klar von traditionellen, totalitären und
liberalen Ansätzen abhebt, bestehen wie bereits angedeutet Anknüpfungspunkte
an republikanische Theorien der Politik. Deren kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, dass das Politische als eine allgemeine Beratung über die öffentlichen
Angelegenheiten einer Gesellschaft gedeutet wird.27 Genau dies stellt auch den
Kern des hier entwickelten vierten Modells dar: Im Gegensatz zum »Implizitismus« des traditionellen Modells, zum Elitismus des totalitären Modells und zum
Privatismus des liberalen Modells wird die Definition der kollektiven Zwecke in
den öffentlichen Raum verschoben und zum Gegenstand einer allgemeinen Auseinandersetzung gemacht. Jenseits dieser Gemeinsamkeit ist das vierte Modell
jedoch von Varianten des Republikanismus abzugrenzen, die insbesondere auf
die »patriotische Identifikation«28 des Bürgers mit der Gesellschaft abstellen. Die
Pointe des hier vorgeschlagenen Modells besteht gerade nicht darin, Traditionen
»zu ehren und zu bewahren«29, sondern sie zu kritisieren und zu revidieren. Dies
geschieht in einem in die Zukunft gerichteten, niemals abgeschlossenen Prozess,
und genau dieses gemeinschaftliche Ringen um die kollektiven Zwecke ermöglicht
eine aufgeklärte Identifikation mit dem Gemeinwesen und das Entstehen eines reflexiven Sinns. Es ist folglich eine Verbindung von Republikanismus und Kritizismus, die die besten Voraussetzungen für eine akzeptable soziale Teleologie bietet.
27Vgl. Brunkhorst, Hauke: Republikanismus. In: Gosepath, Stefan / Hinsch, Wilfried /
Rössler, Beate (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie.
Band 2: N–Z. Berlin 2008, S. 1117–1121.
28Taylor, Charles: Aneinander vorbei. Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main 1993, S. 103–130, hier S.
117.
29Ebd., S. 123.
112
Klaas Schüller
Traditionalismus
alltägliche
Lebenspraxis
Totalitarismus
übergeordnete
Autorität
Anhang: Kollektive Zwecke im Vergleich
Zwecksetzende
Instanz
umfassender
gesellschaftlicher
Idealzustand
sichere, explizite
Erkenntnisse
hoch
Bezugsrahmen Lebenswelt des
Gemeinwesens
Epistemischer implizite Normen
Status
Zustimmungsgrad eher hoch
niedrig
Anordnung der
übergeordneten
Autorität
eher niedrig
Modus des
unbewusste graduelle
Zweckwandels Änderung sozialer
Praktiken
Flexibilität
-
mittel/variabel
anspruchsvolle, aber
eher bereichsspezifische
gesellschaftliche Zustände
revidierbare regulative Ideen
kritischer Republikanismus
in der Öffentlichkeit
interagierende Individuen und
gesellschaftlich-politische Akteure
-
öffentlicher Diskurs einschließlich
sprachlicher und nichtsprachlicher Praktiken
Liberalismus
(keine kollektiven
Zwecke
vorhanden)
-
eher hoch
-
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