Witold Lutosławski

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62. JAHRGANG / HEFT 11–12 / NOVEMBER–DEZEMBER 2012
Witold Lutosławski
Ein Leben in der Musik
Editorial
Der Klang der Moderne
3
Danuta
Gwizdalanka
Klassiker der Avantgarde
Witold Lutosławski: Leben und Werk
5
Anne-Sophie
Mutter
„Ein neuer musikalischer Kosmos“
Über Witold Lutosławski
21
Dorota
Szwarcman
Auf den Schultern von Riesen
Lutosławski und seine Vorgänger
29
Dorota Kozińska
Gründe und Abgründe
Lutosławski und der Sozialistische Realismus
39
Lutosławski auf der Suche
Elemente und Ursprünge des Frühwerks
47
Pan Lutosławski
Erinnerungen an meinen Lehrer und Freund
57
Sebastian
Borchers
Von Warschau nach Darmstadt und zurück
Lutosławski, Penderecki und Górecki
73
Rüdiger Ritter
Heißhunger auf Neue Musik
Das Ende des Stalinismus und der
Warschauer Herbst
85
Unsortierte Bemerkungen
Von Lutosławski zur schlesischen
Komponistenschule
103
Maciej Gołąb
Krzysztof Meyer
Wojciech Kuczok
Adrian Thomas
Izabela Antulov
Vladimir
Tarnopol’skij
Das Cello-Konzert lesen
Lutosławski und die Literatur
111
Wütender Antagonismus
Lutosławskis Cello-Konzert
131
„Ein Symbol der Freiheit“
Lutosławskis Einfluss auf die Sowjetunion
143
Adam Wiedemann Heiliger Witold, bitte für uns
147
Abstracts
153
CD-Beilage
Witold Lutosławski: Konzert für Cello und Orchester (23’42)
Andrzej Bauer, Cello; Polnisches Nationales
Radio-Symphonieorchester/Antoni Wit
Krzysztof Meyer: Farewell Music, op. 88 (12’36)
Polnisches Radio-Orchester/Ulrich Windfuhr
Abstracts
Danuta Gwizdalanka
Klassiker der Avantgarde
Witold Lutosławski: Leben und Werk
Witold Lutosławski (1913–1994) ist einer der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er kam in der Geburtsstunde der Moderne zur Welt und hatte doch Zeit
seines Lebens ein ambivalentes Verhältnis zur musikalischen Avantgarde. In den
1950er Jahren verwendete er in der Tradition Bartóks Volksmelodien, was ihm als
Anpassung an den Sozialistischen Realismus ausgelegt wurde. In den 1960er
Jahren machte er sich mit Techniken wie der kontrollierten Aleatorik einen Namen. Später versuchte er Harmonie und Melodie als Fundamente der ernsten
Musik zu rehabilitieren.
Anne-Sophie Mutter
„Ein neuer musikalischer Kosmos“
Gespräch über Witold Lutosławski
Die Geigenvirtuosin von Weltrang Anne-Sophie Mutter erinnert sich an ihre Qualen vor der Uraufführung von Chain II. Sie hatte mit unbekannten Hieroglyphen in
Witold Lutosławskis Partitur zu kämpfen, doch bis heute faszinieren sie die wunderbaren Klangbilder und die Farbigkeit seiner Musik. Mutter gewann dank Lutosławski den Zugang zur zeitgenössischen Musiksprache und neue interpretatorische Freiheiten. Sie hält nichts von der schematischen Einteilung in Strömungen,
Epochen oder nationale Schulen und plädiert für eine Musik, die aus der Stille
kommt: „Diese brauchen wir dringend, denn es lärmt ganz gewaltig!“
Dorota Szwarcman
Auf den Schultern von Riesen
Lutosławski und seine Vorgänger
Witold Lutosławski hat sich offen zu seiner Beschäftigung mit der Musik seiner
Vorgänger bekannt. Inspirationsquellen waren für ihn neben der Wiener Klassik
die französische Musik mit Claude Debussy und Albert Roussel, Béla Bártók,
John Cage und Frédéric Chopin. In seinem Werk erscheinen diese Einflüsse jedoch in so stark bearbeiteter Form, dass sie auf den ersten Blick kaum erkennbar
sind.
Dorota Kozińska
Gründe und Abgründe
Witold Lutosławski und der Sozialistische Realismus
Kaum war Witold Lutosławskis Erste Sinfonie in Polen öffentlich erklungen, setzte
das Regime sie auf die Liste der verbotenen Werke. Nach den Vorgaben des Sozialistischen Realismus galt sie als „formalistisch“ – ein Euphemismus für experimentell und avantgardistisch. Doch damit war Lutosławskis Schaffen nicht beendet. Er suchte einen Kurs, um den ideologischen Vorgaben gerecht zu werden,
ohne seine künstlerische Freiheit zu verleugnen. Hierzu griff er zum Mittel des
Folklorismus. Diese Phase beendete er mit seinem technisch avancierten und
vielbeachteten Konzert für Orchester. Zu den dunklen Seiten in Lutosławskis
Schaffen gehören die Massenlieder und die Soldatenlieder. Sie waren sein Zugeständnis an das kommunistische Regime.
Maciej Gołąb
Lutosławski auf der Suche
Elemente und Ursprünge des Frühwerks
Lutosławskis Frühwerk ist von zahlreichen Einflüssen geprägt. Es gibt Elemente
der Zwölftonmusik, die an Schönberg erinnern, der Ursprung anderer Werke ist
wie bei Béla Bartók in der Volksmusik zu suchen. Weitere Stücke erinnern an den
Neoklassizismus, der vor allem mit Igor’ Stravinskij verbunden ist. Die Verwendung folkloristischer Elemente wurde Lutosławski als Unterordnung unter den
Sozialistischen Realismus ausgelegt. Der Komponist selbst lenkte die Musikwissenschaftler oft auf eine falsche Fährte, indem er sich etwa von der Dodekaphonie distanzierte und manche seiner Werke als „stalinistischen Pfusch“ verwarf.
Wer jedoch genauer auf die vor 1960 entstandenen Kompositionen Lutosławskis
schaut, erhält Einblick in die Werkstatt eines Komponisten, der auf der Suche
nach einem eigenen Stil vielfältige Traditionen aufnimmt.
Krzysztof Meyer
Pan Lutosławski
Erinnerungen an meinen Lehrer und Freund
Der Krakauer Komponist Krzysztof Meyer lernte Witold Lutosławski 1965 nach
seinem Debüt beim Warschauer Herbst kennen. Der dreißig Jahre ältere Kollege
wurde sein Mentor; mit den Jahren wurde aus der Lehrer-Schüler-Beziehung eine
Freundschaft. Lutosławski gewährte Meyer Einblick in seine Arbeit und seine politischen Ansichten; beide arbeiteten in der Programmkommission für den Warschauer Herbst zusammen. Meyer wurde Zeuge von Lutosławskis Strenge und
Überzeugungskraft, seinem Humor und seiner enormen Bedeutung für das polnische Musikleben.
Sebastian Borchers
Von Warschau nach Darmstadt und zurück
Lutosławski, Penderecki, Górecki und die Neue Musik
Die polnische Musikszene unterschied sich in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts fundamental von jener der anderen kommunistischen Staaten.
Polnische Komponisten entledigten sich rasch der Vorgaben des Sozialistischen
Realismus und fanden Anschluss an die Neue Musik. Sie besuchten die Darmstädter Ferienkurse und präsentierten ihre Werke auf dem international angesehenen Festival Warschauer Herbst. Als radikalste Vertreter der Polnischen Komponistenschule galten bald Henryk Górecki und Krzysztof Penderecki. Als sie sich
vom geräuschorientierten Sonorismus abwandten, machte man ihnen dies zum
Vorwurf. Geradliniger verlief der Weg des zehn Jahre älteren Witold Lutosławski,
der eine einzigartige Form der kontrapunktischen Arbeit mit einer „kontrollierten
Aleatorik“ entwarf.
Rüdiger Ritter
Heißhunger auf Neue Musik
Das Ende des Stalinismus und der Warschauer Herbst
Der 1956 ins Leben gerufene Warschauer Herbst war ein Ergebnis des Aufbruchs
der polnischen Gesellschaft und Kunst nach dem Ende des Stalinismus. Auf dem
Festival wurde zeitgenössische Musik polnischer und internationaler, auch westlicher Komponisten aufgeführt. Vorreiter der internationalen Öffnung der polnischen Musikkultur, Mitbegründer des Festivals und langjähriges Mitglied der Programmkommission war Witold Lutosławski. Bis 1990 fungierte das enorm populäre Festival als Schaufenster des „Westens im Osten“ und als zentraler Ort der
Begegnung für Musikschaffende aus allen sozialistischen Ländern. Heute hat es
seine Ausnahmestellung eingebüßt, genießt aber bei Musikinteressierten noch
immer hohes Ansehen.
Wojciech Kuczok
Unsortierte Bemerkungen
Von Lutosławski zur schlesischen Komponistenschule
Musique funèbre, das sind vierzehn Minuten totaler Musik. Es ist ein Meisterwerk,
der höchste Flug einer polnischen Kompositionsidee. Geschaffen hat sie ein piekfeiner Herr mit grauen Haaren und einer sanften Stimme, einem scharfen Intellekt
und einem heiteren Gemüt: Witold Lutosławski. Manche meinen, seine Musique
funèbre sei soviel wert wie die gesamte polnische Musik des 20. Jahrhunderts.
Doch das ist ein Irrtum. Vor allem die schlesische Komponistenschule umfasst
Namen und Werke, an die es zu erinnern gilt. Lutosławski war ein herausragender
Künstler. Aber zur Vollkommenheit fehlte ihm eines: Er war kein Oberschlesier.
Adrian Thomas
Das Cello-Konzert lesen
Lutosławski und die Literatur
Seit der Uraufführung im Oktober 1970 gibt es Streit darüber, wie Witold Lutosławskis Cello-Konzert zu interpretieren ist. Einige Hörer sehen in ihm eine musikalische Darstellung des Kampfes zwischen Künstler und repressiver Macht. Der
Cellist Mstislav Rostropovič, der die Uraufführung spielte, machte diese Lesart
populär. Dabei hatte Lutosławski ihm zuvor seine kompositorischen Intentionen
brieflich in „literarischen“ Worten dargelegt. Später wehrte er sich dagegen, das
Werk auf eine politisch-programmatische Aussage zu verkürzen. Lutosławskis
Brief gibt Anlass zu einer Suche nach den literarischen Bezügen des CelloKonzerts.
Izabela Antulov
Wütender Antagonismus
Lutosławskis Cello-Konzert als politische Programm-Musik
Das Cello-Konzert von 1970 ist eines der bekanntesten Werke Witold Lutosławskis. Seine Berühmtheit verdankt es neben seinen musikalischen Eigenschaften
vor allem der politischen Interpretation, die es begleitete: Das sehr expressiv gestaltete Spannungsverhältnis zwischen Solo-Instrument und Orchester wurde gemeinhin als Darstellung des Konflikts zwischen Individuum und Kollektiv im
Staatssozialismus gedeutet. Der Widmungsträger und erste Solist Mstislav
Rostropovič trug entscheidend zu dieser Deutung bei. Der Komponist selbst dagegen hat seine Kommentare zum außermusikalischen Gehalt des Konzerts später mehrfach relativiert.
Vladimir Tarnopol’skij
„Ein Symbol der Freiheit“
Lutosławskis Einfluss auf die Sowjetunion
In der bleiernen Brežnev-Ära war Polen für sowjetische Künstler und Intellektuelle
das Fenster zum Westen. Witold Lutosławski ließ niemanden gleichgültig. Das
Regime erklärte seine Musik als „Zur Aufführung nicht empfohlen“, weil sie als
avantgardistisch galt. In den 1980er Jahren war sie wegen der Solidarność aus
politischen Gründen unerwünscht. Doch für die Komponisten in Moskau und im
Baltikum war Lutosławski ein Symbol der Freiheit und strenger intellektueller Disziplin. Sie studierten ihn und knüpften an seine kompositorischen Techniken an.
„Westliche“ Neuerer und „slawophile“ Musiker gleichermaßen begeisterten sich für
ihn.
Adam Wiedemann
Heiliger Witold, bitte für uns
Dieses ganze Werk von Witold, sage ich, ist im Grunde ein einziger großer Betrug, den wir akzeptieren, weil Witold genial ist und uns zu überzeugen weiß und
wir selber auch schon durch und durch verdorben sind von diesem Verkehr mit
der modernen Kunst. Aber das, woraus er seine Werke macht, ist ja doch alles
von Grund auf unästhetisch, eine Geschmacklosigkeit jagt die andere, sowohl
diese – wie man’s auch dreht und wendet – ihrer Natur nach grässlichen Zwölftöne und Gleichklänge von ihm als auch diese kontrollierte Aleatorik, die in intellektueller Hinsicht wirklich sensationell ist, aber es hört sich an wie das allergewöhnlichste Chaos im Orchester.
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