Jean Sibelius Die Persönlichkeit, das eigene musikalische Schaffen und die Bedeutung für die Nation Finnland kann nur ermessen werden, wenn die spezifischen Charakteristika Finnlands berücksichtigt werden, wie die I Geschichte Finnlands Die früheste menschliche Besiedlung nach der letzten Eiszeit ist ab 8'500 v. Chr. nachweisbar. Die nacheiszeitlichen Einwanderer stammten aus dem westlichen Sibirien oder aus verschiedenen Richtungen. Sie führten eine Jagd- und Ackerbaukultur ein und verdrängten die jagende und sammelnde Urbevölkerung der Samen (Lappen) nach Norden. Ab 5'000 v. Chr. sprachen die Bewohner Finnlands finno-ugrische Sprachen, eine nicht-indogermanische Sprachfamilie, zu welcher auch das Estnische, das Ungarische, das sibirische Samojedisch, usw. gehören. Bereits in vorchristlicher Zeit bestanden Kontakte zwischen Schweden und Finnland, in historischer Zeit als friedliche Handelsbeziehungen, aber auch als gegenseitige kriegerische Aktionen und Plünderungen. Mit den Wikingern belebte sich ab 800 nach Chr. der Osthandel, dabei geriet die finnische Bevölkerung auch mit dem christlichen Glauben in Berührung -- im Westen mit dem römisch-katholischen, im Osten mit dem orthodoxen. Ab 1154 beginnt die Beherrschung Finnlands durch das Königreich Schweden, was zu Auseinandersetzungen mit der Republik Nowgorod, die Karelien kontrollierte, führte. In der Folge wurde Karelien geteilt, wobei Schweden den westlichen Teil Kareliens als neue schwedische Provinz sowie Finnland erhielt. Während der folgenden Jahrhunderte bewegte sich die finnische Ostgrenze dauernd vor und zurück. Nach dem „Grossen nordischen Krieg“ - der von 1700 – 1721 dauernden Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im Ostseeraum, die mit dem Sieg der Allianz des russischen Zarenreichs + Sachsen/Polen + Dänemark und der Niederlage Schwedens endete -- wurde Finnland mehrfach ganz oder teilweise vom russischen Kaiserreich unter Peter I. besetzt. In der nachnapoleonischen Zeit wurde Finnland 1809 dem Kaiserreich Russland angegliedert, konnte aber als „Grossfürstentum Finnland“ Teile 1 seiner Selbständigkeit behalten. Die gleichzeitige Ablösung von Schweden liess allmählich ein eigenständiges Nationalbewusstsein Finnlands entstehen, begründet auch dadurch, dass Zar Alexander I. die alten Rechte und die Religion Finnlands nicht antastete. Der russische Zar war seit dieser Zeit das verehrte Staatsoberhaupt des autonomen „Grossfürstentums Finnland“. Das sich entwickelnde finnische Nationalbewusstsein fand Rückhalt durch das gesamteuropäische Vordringen nationaler Gedanken und der Stärkung der eigenen kulturellen und politischen Identität. Die zentrale Rolle spielte die Entwicklung und Förderung der finnischen Sprache -bis dahin war das Schwedische die einzige Verwaltungs- und Kultursprache. Das 1835 entstandene Nationalepos „Kalevala“ legte den Grundstein für eine eigenständige finnische Literatur. Erst 1902 wurde Finnisch neben dem Schwedischen zur offiziellen Amtssprache. 1917/18 erlangte Finnland seine Eigenständigkeit zurück. Gleichzeitig brach im Sog der russischen Revolution der finnische Bürgerkrieg aus. Die siegreiche bürgerliche Seite verhinderte den kommunistischen Umsturz und gründete die parlamentarische Republik. Noch Jahrzehnte litt Finnland unter den psychischen und materiellen Verwüstungen, die der Bürgerkrieg angerichtet hatte. Trotz des Nichtangriffspaktes wurde Finnland in den zwei sowjetischfinnischen Kriegen zwischen 1939 und 1944 von der Sowjetunion überfallen und verlor als Folge einen beträchtlichen Teil Kareliens und weitere Gebiete. Seit 1995 ist Finnland Mitglied der europäischen Union, seit 2002 wurde der Euro als Währung übernommen. II Das „Kalevala“ -- das Nationalepos Das „Kalevala“ ist das von E. Lönnrot im Jahre 1835 veröffentlichte, auf der Grundlage der mündlich überlieferten finnischen Mythologie zusammengestellte Epos. Es gilt als finnisches Nationalepos und zählt so zu den wichtigsten literarischen Werken in finnischer Sprache -- in seiner literarischen Bedeutung ist es vergleichbar mit der nordischen Edda, dem Nibelungenlied, der Ilias, usw. Das „Kalevala“ als Quelle und Urgrund war das Mittel zur Volkswerdung und zur Entwicklung des finnischen Nationalbewusstseins. 2 Die erste Fassung erschien 1835 und umfasste 22'795 Verse in 50 Gesängen. Verbreitet wurde die traditionelle Volksdichtung durch wandernde Sänger, deren letzte Vertreter durch E. Lönnrot noch befragt werden konnten. „Kalevala“ bedeutet so viel wie „das Land Kalevas“. Das Werk ist eine Zusammenstellung verschiedener Überlieferungen über Heldensagen und Mythen. Im Wesentlichen geht es um das Werben um die Tochter von Louhi, der Herrscherin des Nordlandes „Pohjola“ -- eingebettet in einen Konflikt zwischen dem Volk von Kalevala und dem Nordland um den mythischen Gegenstand „Sampo“. Dieser rätselhafte Gegenstand vermag es, Gold, Getreide und Salz herzustellen und den ihn Besitzenden ein gutes, glückliches Leben zu garantieren. Weiterer Erzählstränge betreffen den Mythos zur Schöpfung der Erde und des Eisens, vor allem aber die Sage um „Kullervo“, ein Heros, der den blutigen Streit von Vater und Onkel überlebt, auf Rache sinnt und unwissentlich seine Schwester verführt, was zum Tode aller Beteiligter führt. Der wichtigste Protagonist des „Kalevala“ ist der alte und weise Sänger „Väinämöinen“ -- ein Sagenheld, Schamane und mythische Gottheit -weitere Figuren sind der Schmid „Ilmarinen“, der den „Sampo“ schmiedet und der streitbare Frauenheld „Lemminkäinen“. Manche Inhalte des „Kalevala“ weisen Parallelen zu Mythen aus anderen Kulturräumen auf -- „Kullervo“ erinnert an den griechischen ÖdipusMythos, „Lemminkäinen“ an den ägyptischen Osiris-Mythos, „Ilmarinen“ an „Wieland der Schmied“, usw. Im Unterschied zu anderen Sagenzyklen zeichnen sich die Figuren des „Kalevala“ weniger durch kriegerisches Geschick aus, als durch Wissen und Sangeskunst. Die älteste Schicht sind die magischen Beschwörungslieder und die Schöpfungsmythen, während des Mittelalters entstanden die Heldenlieder und Balladen, schliesslich die christlichen Epen und die politischen Lieder. Philosophie- und literaturgeschichtlich bildet das „Kalevala“ eine Projektionsfläche für Eros und Thanatos -- für Liebe und Tod. Sibelius’ Beschäftigung mit dem „Kalevala“ fand ihren Niederschlag in der „Kullervo-Sinfonie“, der „Lemminkäinen-Suite“ mit dem „Schwan von Tuonela“, „Pojohlas Tochter/ Die Tochter des Nordens“ und „Tapiola“. 3 III Jean Sibelius -- Finnlands Nationalkomponist III.1 Einleitung: Sibelius Bedeutung für Finnland „Da dehnen sich des Nordlands düstre Wälder. Uralt-geheimnisvoll in wilden Träumen; In ihnen wohnt der Wälder grosser Gott, Waldgeister weben heimlich in dem Dunkel“. So lautet der Beitrag eines unbekannten Dichters als Motto in der Partitur von „Tapiola“ der letzten grossen Orchesterkomposition von Jean Sibelius aus dem Jahr 1926. Sibelius wurde als „Komponist der nordischen Welt“ -- der finnischen Landschaft, von Natur und Heimat, verbunden mit der finnischen Sagenwelt und Mythologie und der finnischen Volksmusik zum „Nationalkomponisten“ -- aber er liess sich nicht ausschliesslich als Komponist der nationalen Befreiung und des „Erwachen Finnlands“ festlegen, denn Sibelius sah seine Aufgabe nicht in der künstlerischen Konservierung der finnischen Natur -- sondern als Schöpfer absoluter zeitgenössischer Musik! Er war ein Städter, der sich der Natur näherte -- das harte Leben und die Gefahren auf dem Lande kannte er nicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts strebte Finnland nach eindeutiger nationaler Identität und Unabhängigkeit. Begriffe wie Nation und Volk wurden neu definiert und die finnische Sprache kultiviert. Sibelius Stärke war die Fähigkeit, mit allen Kräften umgehen zu können -- so auch mit dem russischen Nationalismus und dem Panslawismus, ebenso wie mit der Dominanz der schwedischen Tradition. In dieser Konstellation entwickelte Sibelius seine unverwechselbare Handschrift mit nationaler und romantischer Ausstrahlung, sein Stil wirkte sowohl finnisch wie gleichzeitig auch kosmopolitisch. Zu Sibelius nationaler Präsenz trugen vor allem zahlreiche Werke mit und für Chor bei, die über Finnland hinaus viel zu wenig bekannt sind. Sie bilden immer noch die Grundlage der in Finnland nach wie vor grossen und lebendigen Chormusik. Ein musikalischer Pionier war oder gar ein revolutionärer Neutöner war Sibelius nicht. Natürlich war er prädestiniert, musikhistorisch Finnland zu vertreten. Er war der bekannteste finnische Komponist von europäischem Format auf dem Niveau der führenden Komponisten seiner Zeit. 4 III.2 Herkunft und Leben Am 8. Dezember 1865 wurde Johan Julius Christian, genannt Janne (ab 1886 Jean) Sibelius in Hämeenlinna geboren. Im gleichen Jahr wurden auch Alexander Glazunow, Paul Dukas und Carl Nielsen geboren -- in München wurde „Tristan und Isolde“ unter Hans von Bülow uraufgeführt. Schwedisch war die Sprache der Gebildeten, bzw. der Elite, zu welcher auch die Familie Sibelius zählte. Der Tradition entsprechend gehörte man der evangelisch-lutheranischen Kirche an. Noch in Sibelius’ Kindheit wurde Finnisch zur gleichberechtigten Verwaltungssprache, aber auch Russisch war zu hören, war Finnland doch noch russisch besetzt. 1868 starb sein Vater, der Arzt aus bäuerlich-bürgerlichem Geschlecht an der Südküste, als Folge der Hungersnot und schwerer Epidemien. Janne wuchs bei seiner Mutter auf. Als kleiner Junge bewundert Janne die Werke von Anton Bruckner, ab 1882 lernt Janne Violine und Tonsatz, erste kleine Kompositionen erscheinen. 1884 beendet Sibelius sein erstes Streichquartett d-moll, gleichzeitig beginnt er mit dem Jura- und Musik-Studium. 1888 erscheint die erste gedruckte Komposition, ein Lied. 1889 beginnt Sibelius ein musikalisches Privatstudium in Berlin, ein Jahr später studiert er bei Karl Goldmark in Wien. Der Plan, bei Anton Bruckner zu studieren, wird durch dessen Krankheit und Tod obsolet. 1891 kehrt er nach Helsinki zurück. Erst als er Jahre später eine Staatsrente erhält, etabliert er sich als freischaffender Komponist. 1892 heiratet Sibelius Aino Järnefelt. Im Lauf der Jahre werden dem Paar sechs Töchter geboren. Mit seinen sechs Kindern wohnte die Familie seit 1904 in Ainola bei Helsinki. Aino Järnefelt war die Schwester des Komponisten Arvid Järnefelt. Sibelius’ Schwiegervater Alexander Järnefelt war General, Gouverneur und Senator. Die meisten Mitglieder dieser alten Adelsfamilie waren Künstler oder Akademiker, die einen enormen Einfluss auf Sibelius ausübten. Nun folgen Kompositionen in rascher Folge, 1900 unter anderem die Tondichtung „Finlandia“. 1901 bedeutet für Sibelius den Durchbruch in der Alten und der Neuen Welt. Neben den ersten Sinfonien entsteht 1904 das berühmte Violinkonzert. Wie J. Brahms, A. Bruckner, usw. war Sibelius bezüglich der Sinfonik ein „Spätentwickler“ -- übermächtig wirkte das geniale Werk Beethovens, namentlich das Sinfonische im 19. Jahrhundert nach. 5 1908, 1909, 1912 und 1921 wurde er nach England eingeladen, 1914 in die USA. Als Folge dieser Reisen nahm sein Ruhm gewaltige Züge an und 1935 wurde Sibelius in New York zum wichtigsten Komponisten der Gegenwart erkoren. 1912 lehnt Sibelius den Ruf ans Wiener Konservatorium ab – gleichzeitig weigern sich die Wiener Philharmoniker, Sibelius 4. Sinfonie aufzuführen(!). 1924 erfolgt die Uraufführung von Sibelius 7. Sinfonie unter seiner Leitung. Nachdem die Komposition der 8. Sinfonie nicht zu Ende geführt wird, beendet Sibelius Ende der 1920er-Jahre seine kompositorische Tätigkeit. Für das letzte Lebensdrittel kann zumindest für die Themen „ Krankheit und Geldnöte“ von einer Stabilisierung gesprochen werden, da erst die Einführung des internationalen Urheberrechts Ende der 1920er-Jahre für ökonomische Besserung sorgte (noch heute partizipieren die Nachkommen der Familie Sibelius an Tantiemen in einer siebenstelligen Summe pro Jahr). Am 16. Januar 1957 stirbt Jean Sibelius mit 92 Jahren an einem Hirnschlag -- ein erstaunlich langes Leben in Anbetracht der oftmals ungesunden Lebensweise und des übermässigen Alkoholgenusses. Im Laufe seines langen Lebens wurde Sibelius zur Legende -- seine Musik wurde auch zum politischen Programm, obwohl er ein unpolitischer Mensch war. III.3 Zum Werk und der musikhistorischen Bedeutung Sibelius war kein Naturbursche -- er war vielmehr ein vielfältig kultivierter Mensch, der die Natur besser und anders kannte als andere. Zu keinem Zeitpunkt wohnte er in der Mitte eines finnischen Waldes oder an einem einsamen See. Auch war sein Muttersprache Schwedisch, Finnisch sprach er nur wenig und mühsam. Anfänglich noch von der Spätromantik und der finnischen Volksmusik beeinflusst, findet Sibelius zu seinem eigenen Stil, der sich durch herbe Schroffheit, eigenwillige Rhythmik, melodisches Pathos, nuancierte Orchesterfarben und offene, avancierte Harmonik mit der Gleichzeitigkeit von Dur- und Mollakkorden auf demselben Grundton auszeichnet. Charakteristisch ist ferner auch der Einbezug von Kirchentonarten und po6 lyphoner Geflechte und von Elementen der finnischen Volksmusik. Kirchentonarten waren eine Möglichkeit, die bereits nahezu verbrauchten Möglichkeiten der klassischen Tonalität zu erweitern, ohne atonal komponieren zu müssen. Nach der „Entdeckung“ seiner sinfonischen Begabung blieb die sinfonische Dichtung, die „Tondichtung“ -- bis ins Spätwerk erhalten. Sie bringt poetische Inhalte in die Musiksprache ein. In diesem Sinne ist Sibelius der „Neudeutschen Schule“ um R. Wagner, F. Liszt, H. Berlioz, usw. verpflichtet, ohne sich aber gegenüber der „Akademischen Schule“ um J. Brahms, J. Joachim, E. Hanslick, usw. feindlich zu positionieren. Im Unterschied zu E. Grieg suchte Sibelius nicht danach, Menschen, Gegenstände, konkrete Landschaften, usw. musikalisch zu beschreiben -- seine Sprache war die Schilderung seelischer Zustände, „Seelenlandschaften“, usw. Zeit seines Lebens war Sibelius fasziniert von der Tonsprache Anton Bruckners, bei welchen er studieren wollte, was aber durch die Krankheit und den Tod Bruckners verunmöglicht wurde. Aber auch Johannes Brahms gehörte -- namentlich in den frühen Werken -- zu Sibelius Vorbildern, so dass gelegentlich in Sibelius’ Werken der Brahms’schen Gestus aufleuchtet. Sibelius setzte sich aber auch mit Arnold Schönberg auseinander, dessen völlige Andersartigkeit er interessant fand. Über den Einfluss Richard Wagners, der zu Lebzeiten Sibelius’ die Musikwelt dominierte, ist viel gerätselt und geschrieben worden -- allerdings ohne zu schlüssigen Erkenntnissen zu gelangen. Zutreffend ist aber Beider Position, dass die Musik dort beginne, wo die Worte enden. Bereits in den 1920er-Jahren beendete Sibelius sein kompositorisches Schaffen, über 30 Jahre vor seinem Tod. Die zeitgenössische Rezeption sah in ihm einen „antimodernen Modernisten“, was immer dies bedeuten soll. Sibelius hinterliess ein opulentes Oeuvre -- von populären Kompositionen wie der „Finlandia“ oder des „Valse triste“ bis hin zu unzähligen Chören, Salon-, Wohnzimmer-, Konzert- und Bühnenwerken. Verzeichnet sind 116 Opuszahlen sowie weiterer 225 Kompositionen ohne Opuszahlen, die teilweise aber nicht abgeschlossen wurden. Die Forschung schreibt ihm heute rund 700 Werke zu. Die Vokalmusik von Sibelius, mit welcher er weithin bekannt wurde, zeichnet sich durch ihren klassizistischen und zugleich expressiven Klang aus. 7 Sibelius Welt ist die Welt von gestern -- so liess er sich literarisch von der nordischen Mythologie, der Edda, vor allem aber von „Kalevala“, dem aus einer Vielzahl von Heldensagen und Mythen wie der Figur des „Lemminkäinen“ bestehenden finnischen Nationalepos anregen. Zeitlebens eng befreundet war Sibelius mit Ferruccio Busoni, freundschaftliche Kontakte ergaben sich mit „unmodernen Komponisten“ wie Antonin Dvorak, Josef Suk, Richard Strauss, der die Uraufführung des Violinkonzertes leitete, sowie mit Alexander Siloti, Sergei Rachmaninoff, Ralph Vaughan Williams, usw. Unter den berühmten Dirigenten, die Sibelius Wege zum Erfolg beförderten, waren unter anderen Felix Weingartner, Herbert von Karajan, Wilhelm Furtwängler, Richard Strauss, Arturo Toscanini, Bruno Walter, Eugen Ormandy, Otto Klemperer, Sir John Barbirolli, usw. Legendäre Einspielungen seines Klavierwerks erfolgten unter anderem durch Wilhelm Kempff, Glenn Gould, Olli Mustonen, Vladimir Ashkenasy, usw. Ein wirkungsvoller Gegner der musikalischen Auffassung Sibelius’ war vor allem Theodor Wiesengrund Adorno, der die musikphilosophischen Grundlagen für Arnold Schönbergs Zwölftonmusik legte -- und damit viel Neid über den Erfolg von Sibelius Musik ausdrückte und auslöste. Grundsätzlich blieb der tiefe Konflikt zwischen der radikalen Avantgarde und der Tradition -- mit dem Resultat, dass die Musik von Sibelius als Alternative bis heute zu der weltweit am meisten aufgeführten Sinfonikern -- vor allem im englischsprachigen Gebiet -- gehört. IV Zum musikalischen Oeuvre Signifikante und berühmte Werke aus dem kompositorischen Schaffen von Sibelius wurden: Die „Kullervo-Sinfonie“; die 7 Sinfonien; die sinfonischen Dichtungen, vor allem „Finlandia“, Tapiola“, Lemminkäinen, usw. das Violinkonzert d-moll, op. 47; das Streichquartett d-moll, „Voces intimae“; die Valse triste; 8 IV.1 Die Sinfonien Zeit seines Lebens fühlte sich Sibelius als Sinfoniker. Allerdings war mit Mitte Dreissig, als er die 1. Sinfonie 1899 vorlegte, bezüglich der Sinfonik ein kompositorischer „Spätentwickler“ wie Johannes Brahms oder Anton Bruckner. Sinfonien waren Sibelius’ Leidenschaft, hier fand er die höchste Konzentration des Ausdrucks. So bildet denn das sinfonische Oeuvre mit den 7 Sinfonien und den 15 sinfonischen Dichtungen das Zentrum seines Schaffens. Ein Spezialfall ist das Jugendwerk „Kullervo“ op. 7, eine Sinfonie-Kantate für Mezzosopran, Bariton, Männerchor und Orchester. Das sinfonische Gesamtwerk steht bei Sibelius von der ersten Sinfonie an als vielschichtiges Monument aus sieben beinahe gleichwertigen Bestandteilen, die keinen Zyklus, aber ein Gefüge von unterschiedlichen Werken ähnlichen Anspruchs bilden. Charakteristisch in Sibelius’ Sinfonik ist die von der Musikforschung (Prof. L. Lütteken, Univ. Zürich) als „Fusionsform“ bezeichnete sukzessive Komprimierung und Ineinanderschachtelung der Sätze -- so führt der Weg von der viersätzigen 1. Sinfonie kontinuierlich zur Einsätzigkeit der 7. Sinfonie IV.1.1 „Kullervo“, Sinfonie-Kantate für Sopran, Bariton, Chor und Orchester, op. 7 (1892) Als „Geburtsstunde der finnischen Musik“ wurde 1892 Sibelius’ SinfonieKantate „Kullervo“, gefeiert -- ein gewaltiges Chorwerk, welches das Leben und Sterben eines Helden aus dem „Kalevala“-Epos schildert. „Kullervo“ ist eine tragische Gestalt, deren Schicksal Züge des ÖdipusMythos trägt. „Kullervo“ kann als Sinfonie (1., 2. und 4. Satz sind reine Orchesterstücke) oder als sinfonische Kantate (3. und 5. Satz mit Vokalsolisten und Männerchor) gelesen werden. Das in der Tradition einer „Vokalsinfonie“ nach L. van Beethoven stehende Werk ist das umfangreichste Orchesterwerk Sibelius’ „in finnischem Geist“ -- ein ehrgeiziges Jugendwerk von überladenen Proportionen. 9 IV.2.1 Die 1. Sinfonie Die 1. Sinfonie als Abgrenzung zur „Kullervo“-Sinfonie-Kantate Die 1. Sinfonie in e-moll (1898/1900) zeigt den entscheidenden Schritt zum eigenen Stil. Pathos und Pomp mischen sich mit dramatischen Visionen, noch spürbar ist ein gewisser Eklektizismus mit Anklängen an E. Grieg und P. Tschaikowsky. Auffallend ist der Beginn des Werks durch den Monolog der Soloklarinette, der sich jeglicher Motivik entzieht. Sibelius baut hier den Sonatenhauptsatz völlig um -- es gibt keinen thematischen Aufbau mehr, die traditionelle Form der Sinfonie ist höchstens als Erinnerung vorhanden. IV.2.2 Die 2. Sinfonie Die „Lyrische“ oder „Pastorale“ Sinfonie Der 2. Sinfonie in D-Dur (1900/02) wird heute eine besondere patriotische Bedeutung unterstellt, wohl weil Sibelius’ Gestus in dieser Schaffenszeit bis 1905 noch pompöse Details enthält, die später verschwinden. Sibelius bleibt noch Romantiker. IV.2.3 Die 3. Sinfonie Neue Wege: Dreisätzigkeit und Verschmelzung von Satzcharakteren In der 3. Sinfonie in C-Dur (1904/07), Sibelius „Schneewittchen“ schlägt sich das Interesse Sibelius’ an der katholischen Liturgie nieder, ebenso auch die Nachwirkung und Erinnerung daran, dass seine Mutter eine äusserst fromme Pfarrerstochter war. Die 3. Sinfonie ist ein Übergangswerk, in welchem neue sinfonische Perspektiven ausgelotet werden, das aber nicht die Originalität und Eigenständigkeit der 2., 4. und 5. Sinfonie erreicht. 10 IV.2.4 Die 4. Sinfonie Das Hauptwerk: Der Protest gegen die Gegenwartsmusik Die 4. Sinfonie (1909/11) ist der Meilenstein der Befreiung von der Tradition und hält dadurch eine besonders zentrale Stellung im kompositorischen Schaffen Sibelius’ inne. Kollegen und Musikkritiker hatten dieses „dissonante“, in radikaler Modernität stehende Werk schon früh hoch eingestuft. Womöglich ist die 4. Sinfonie tatsächlich eine der reinsten Ausprägungen seiner eigenen, unverwechselbaren Handschrift, seines Personalstils, die keine Vorbilder hat, dafür aber in die Zukunft weist. Sibelius nannte die 4. Sinfonie seine „psychologische Sinfonie“, sie sei „der einsamer Höhepunkt“ seiner Sinfonik. In dieser Sinfonie nähert sich Sibelius der entgrenzenden Musiksprache Mahlers an und beschwört auch den Tonfall der späten Quartette und Sonaten Beethovens, die anstelle von Motiven und Themen mit Intervallkonstellationen arbeiten -- bei Sibelius mit dem Tritonus(!). Der dritte Satz ist von hohem artifiziellem Gewicht, der Klangeindruck der grossen inneren Ruhe und Abgeklärtheit hat manche Kritiker dazu geführt, nicht zu Unrecht eine gewisse Nähe zu R. Wagners „Parsifal“ erkennen zu können. IV.2.5 Die 5. Sinfonie Die Rückkehr In der 5. Sinfonie in Es-Dur (1915-19) ging Sibelius -- nach dem Höhepunkt der 4. Sinfonie -- das Problem „Sinfonie“ aus neuer Perspektive an. Diese „Krise“ dauerte sieben Jahren. Nach drei Umarbeitungen gelang der Durchbruch erst mit der Umformung zu einem dreisätzigen Werk, wobei der 1. und der 2. Satz vereinigt wurden. IV.2.6 Die 6. Sinfonie Die Sinfonie als „symfonische Fantasie I“ „Die 6. Sinfonie in d-moll (1914-23) ist wild und leidenschaftlich im Charakter. Düster mit pastoralen Kontrasten, Wahrscheinlich in vier Sätzen mit einem Schluss, der zu einem düsteren Toben des Orchesters gesteigert wird“ ... so bezeichnete Sibelius das Werk. Nach dem grossen sin11 fonischen Pathos der 5. Sinfonie besticht die 6. Sinfonie durch den eigentümlich verhaltenen Charakter. Dem Werk wurden der Gebrauch von Kirchentonarten und „einer Art Renaissancepolyphonie“ attestiert -dennoch verliert sich die 6. Sinfonie nicht im Eklektizismus -- Sinfonisches und Fantastisches verbinden sich hier noch einmal zu einem bewegenden Ausklang und Abgesang. IV.2.7 Die 7. Sinfonie Die Sinfonie als offenes Formexperiment, als „symphonische Fantasie II“ In der 7. Sinfonie in C-Dur (1924) in der völlig atypischen Tonart C-Dur (!) werden die Abstraktionsprinzipien weit vorangetrieben. Eine zielgerichtete Entwicklung fehlt, an deren Stelle dominieren thematische und rhythmische Rotationen. Mit der radikalen Verdichtung zu einem Satz ohne abgrenzbare Bereiche stösst Sibelius in Grenzbereiche vor -- alles hängt mit allem zusammen, alles entwickelt sich aus dem Vorangegangenen. Sibelius erreicht damit eine bisher unerreichte Einheitlichkeit von Form, Harmonik und melodischem Fluss, die alle Konventionen damaliger Musik ignorierte und von Sibelius als „wunderbare Logik (Gott!)“ bezeichnet wurde. Damit stand er im denkbar grössten Gegensatz zur bisherigen Auffassung, die durch die „Wiener Klassik“ geprägt wurde, welche unter „Logik“ die rationale Nachvollziehbarkeit verstand. Das Suchen und Experimentieren mit der Gattung „Sinfonie“ erinnert an die späten sinfonischen Dichtungen wie „Tapiola“. Die 7. Sinfonie ist Sibelius’ „ultimo ratio“. IV.2.8 Die vernichtete 8. Sinfonie Die 8. Sinfonie (vermutlich in B-Dur) wurde nie fertig gestellt und 1943 von Sibelius eigenhändig zerstört. Das darauffolgende Schweigen könnte durchaus als Gefahr, im Vergleich zu seinen letzten Werken zu versagen, verstanden werde -- aber auch als das Erreichen der Grenzen neuzeitlichen Komponierens. Vielleicht fehlte -- in Anbetracht seines Lebenswandels -- nun auch die Kraft und/oder die Inspiration, eine weitere Sinfonie als Werk höchster geistiger Anstrengung noch schaffen zu können. Ist dies eine Parallele zur 9. Sinfonie von A. Bruckner? 12 IV.2.9 Sibelius’ Urteil „Apropos Sinfonien: Für mich sind es Glaubensbekenntnisse aus meinen verschiedenen Altersstufen. Deswegen sind die meinigen auch so verschieden. Ein besserer Name für die Sinfonien wäre Gebet“ -- so äusserte sich Sibelius in seinem Tagebuch. Die Vollendung einer Komposition identifizierte Sibelius oft mit Gott und Natur. Der Kompositionsprozess war für ihn „eine unermüdliche Suche nach der wunderbaren Logik (lass uns sie Gott nennen), die das Kunstwerk beherrscht“. 1914 meinte er zur Sinfonie: „Der Begriff muss erweitert werden. Habe zumindest dabei geholfen“. Diese originalen Äusserungen Sibelius’ charakterisieren ihn als typischen Vertreter der „Kunstreligion“ -- zugleich widerspiegelt sich in seinem Werk die moderne Destabilisierung der Menschheit im persönlich-individuellen Bereich -- wie sich das auch im berühmten „Schrei“ von Edvard Munch bildlich ausdrückt. IV.3 Die sinfonischen Dichtungen IV.3.1 Im Spannungsfeld -- „Nationale Schulen“ Auch wenn Sibelius’ einsätzige Orchesterwerke jeweils eine deutliche inhaltlich-programmatische Ausrichtung aufweisen, folgen Sibelius’ sinfonische Dichtungen, Tondichtungen, Orchesterballaden, usw. keiner plumpen Nachahmungsästhetik -- sie stellen „ein im Geiste deutlich vorhandenes Bild als eine Folge von Seelenzuständen dar“. In Sibelius’ orchestraler Instrumentalmusik zeigt sich generell die Spannung zwischen der absoluten Instrumentalmusik und der Instrumentalmusik, der ein poetisches Programm unterlegt ist. Anders ausgedrückt: Es steht sich die „neudeutsche Schule“ R. Wagners, F. Liszt, H. Berlioz, A. Bruckners, usw. als Vertreter einer „modernen, poetisch ausgerichteten Schule“ der Stilrichtung der „Akademiker, den Vertretern der traditionellen absoluten Musik“ um J. Brahms, Eduard Hanslicks, usw. spinnefeind gegenüber. Zweifellos ist die Entwicklung der sinfonischen Dichtung eine der herausragenden Leistungen der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts, die mit einer Vielzahl von ästhetischen und zeitbezogenen politischkulturellen Aspekten verbunden war -- insbesondere im Ringen um eine nationale Identität. Auf Finnland bezogen erfüllt insbesondere die Tondichtung „Finlandia“ op. 16 oder „Finnland erwacht“ den Status einer nationalen Identifikationsmusik zur Abwehr der bedrohlichen Russifizierung. 13 Gleichzeitig entwickelten sich „nationale Schulen“ in ganz Europa, beispielsweise in Russland Polen Tschechei Ungarn Skandinavien Spanien IV.3.2 mit Tschaikowsky, Mussorgsky, Borodin, Skrjabin, usw. mit Chopin, Szymanowsky, usw. mit Smetana, Dvorak, Janacek, usw. mit Bartok, Kodaly, usw. mit Grieg, Gade, Nielsen, usw. mit Albeniz, Granados, de Falla, usw. Die sinfonischen Dichtungen Von den sinfonischen Dichtungen Sibelius’ sind „Der Schwan von Tuonela“, „Finlandia“ und „Tapiola“ die bekanntesten: „En Saga“, op. 9 (1892); „Frühlingslied“, op. 16; „Skograet“ / die Waldnymphe, op. 15 (1894); „Lemminkäinen Suite“, vier Stücke aus „Kalevala“ -- sinfonische Dichtungen: 1. Lemminkäinen und die Mädchen auf Saari; 2. Der Schwan von Tuonela; 3. Lemminkäinen in Tuonela; 4. Lemminkäinen zieht heimwärts; „Finlandia“, op. 26, 1899); „Der Driade“, op. 45,1; „Pohjolan tytär“ / Tochter des Nordens op. 49, (1906); „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, op. 55, (1909); „Barden“ / Der Barde, op. 64, (1913/14); „Luonnotar“, sinfonische Dichtung für Sopran und Orchester, op. 70, (1913); „Aallottaret“ / Die Okeaniden, op. 73, (1914); „Tapiola“, op. 112, (1926); IV.3.3 „Finlandia“ In der „Finlandia“ op. 26 manifestiert sich die Idee einer programmatisch ausgerichteten Nationalmusik, als deutlicher Ausdruck des erstarkenden Nationalbewusstseins. Die Entstehung des Werkes war durchaus politisch motiviert: 1899 erhöhte Russland den politischen Druck auf Finnland massiv, was zum passiven Widerstand führte. Dazu gehörten auch 14 Veranstaltungen, an welchen gezielt Werke zur Aufführung gelangten die an das finnische Nationalbewusstsein appellierten. Um nicht russische Repressionen zu gewärtigen, insbesondere dem Aufführungsverbot der russischen Behörden zu umgehen, wurde „Finlandia“ vorerst -- als patriotischer Weckruf -- unter dem finnischen Namen „Suomi“ aufgeführt. Bei der Weltausstellung 1900 in Paris wurde „Finlandia“ mit triumphalem Erfolg aufgeführt. Dies rückte nicht nur Sibelius, sondern auch die „finnische Frage“ in die Aufmerksamkeit Europas. Das schnell populär gewordene Werk erlebte zahlreiche Umarbeitungen zu neuen Fassungen mit teilweise neuen Texten -- so erschienen Fassungen für Klavier, für Orgel, für Männerchor, gemischten Chor, Chor und Orchester, usw. bis zur Fassung für Marimba-Orchester. Bemerkenswert für „Finlandia“ ist der Umstand, dass kein offensichtlicher Anklang an die finnische Volksmusik aufscheint. So ist „Finlandia“ keine rückwärtsgewandte Nationalmusik, sondern steht in bester Tradition der Freiheitsmusiken im Geist L. van Beethovens. IV.3.4 „Tapiola“ In „Tapiola“ nimmt Sibelius Abschied als „antimoderner Modernist“, Lyriker und nordischer Natursymboliker -- motivische Arbeit und intensive Auseinandersetzung mit den Grenzen der Tonalität bestimmen das Werk. Namensgebend ist der Waldgott „Tapio“ in seinem mythischen Wald. Ein letztes Mal werden noch einmal reale und fiktive Landschaftsassoziationen angesprochen. Melodielose und atonale Steigerungen, Klangstrukturen aus melodischen Schichten und die meditative, lyrische Grundstimmung machen Sibelius’ Seelenlandschaft deutlich. Dieses modernistischste Werk Sibelius’ entsteht aus der Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, die Natur wird zur geistigen Sphäre, der Tod zur Bedingung für neues Leben. IV.3.5 „Valse triste“ Sibelius berühmtestes Stück mit der Todesthematik ist „Valse triste“. Es entstand als Teil der Bühnenmusik zum Schauspiel von Arne Järnefelts Drama. Später bearbeitete Sibelius dieses Stück und verkaufte es an ei15 nen Verleger für wenig Geld -- der Verleger verdiente mit der „Valse triste“ ein Vermögen. IV.3.6 „Der Schwan von Tuonela“ Der „Schwan von Tuonela“ ist eine Todeskomposition über den archaischen „Schwan des Jenseits“. „Tuonela“ ist das Todesreich -- der Schwan, der majestätisch und singend auf dem breiten schwarzen Wasser dahin zieht, umkreist die Todesinsel „Tuonela“ -- er ist zugleich der Mittler und Todesbote. „Lemminkäinen“ soll ihn töten, aber er wird selber getötet, erlangt aber auf wundersame Weise sein Leben wieder zurück. Offenkundig ist die Nähe zur griechischen Mythologie. Im 19. Jahrhundert wurde der Schwan als Mittler und Todesbote zu einem zentralen Thema, insbesondere auch in Zeiten des Symbolismus und des Fin-desiècle. Sibelius schafft im Geiste des Impressionismus eine abstrakte Tonalität -- von a-moll geht es ohne Übergänge in diesem Klangstück von von grosser Intensität nach g-Moll, b-Moll, Ges-Dur, es-moll, b-moll und fis-moll usw. -- die Tonalität wird extrem herausgefordert, ohne dass sie aber verlassen wird. IV.3.7 „Die Lemminkäinen-Suite“ „Lemminkäinen“ ist der Don Juan des Nordens. Beim Werben um die Tochter der Herrscherin des Nordlandes wird „Lemminkäinen“ getötet, aber seine Mutter erweckt ihn wieder zum Leben. Später besucht er das Reich des Todes, vollbringt übernatürliche Taten und rettet das Feuer und die Sterne, usw. „Lemminkäinens“ Abenteuer bilden einen wesentlichen Teil des „Kalevala“, des finnischen Nationalepos. Sibelius komponierte nach einer Karelienreise die „Kullervo-SinfonieKantate“, danach folgte die „Lemminkäinen-Suite“, in welcher auch die sinfonische Dichtung „Der Schwan von Tuonela“ enthalten ist. IV.4 Das Violinkonzert d-Moll Das Violinkonzert d-moll, op. 47 von Sibelius gehört in seiner unverwechselbaren Thematik heute wie selbstverständlich zur Reihe der grossen Violinkonzerte von Bach, Mozart, Beethoven, Mendelssohn und 16 Brahms -- und ist in seiner Spielfreude und geigerischen Anlage zu den Meisterwerken der Konzertliteratur zu zählen. Das wunderbar spätromantische Violinkonzert ist das weitaus am häufigsten aufgeführte Violinkonzert des 20. Jahrhunderts. Berühmte historische Aufnahmen wurden unter anderem von Jascha Heifetz, Ginette Neveu, David Oistrakh, Pinkas Zukermann, usw. vorgelegt -- heute steht es im Repertoir jedes bedeutenden Geigers. Die Uraufführung 1904 des Konzertes in Helsinki fiel bei Publikum und Kritik durch -- nicht zuletzt deswegen, weil der Solist dem Werk technisch nicht gewachsen war. Nach der gründlichen Überarbeitung erfolgte die erfolgreiche zweite Uraufführung 1905 in Berlin mit der Hofkapelle Berlin unter Richard Strauss. Das Violinkonzert entstand zwischen der 2. und 3. Sinfonie. Es wirkt stilistisch aber weit weniger „nordisch“ oder gar „finnisch“ als Sibelius’ frühere Werke und ist einem allgemeinen spätromantischen Stil verpflichtet. IV.5 Das Streichquartett in d-moll, op. 56 „Voces intimae“ Die Kammermusik war nicht Sibelus’ ureigentliches Medium. Die ersten drei Streichquartette Sibelius’ in Es-Dur, a-moll und B-Dur waren klassizistische Versuche zur Aneignung der Gattung Streichquartett. Nach dem berühmten Streichquartett d-moll op. 56, „Voces intimae“ aus dem Jahr 1909 komponierte Sibelius nichts Vergleichbares mehr. Die Bezeichnung stammt vom Komponisten selbst. Durch das Lateinische bannte Sibelius die Gefahr, intim oder gar sentimental zu wirken. „Voces intimae“ ist ein aussergewöhnlicher Beitrag zur Gattungsgeschichte. Sibelius gab dem Quartett den Beinamen „Voces intimae“, was zur Deutung als sehr persönliches Werk führte. „Voces intimae“ -- intime Stimmen -- bezieht sich auf eine Reihe statischer Akkorde im chromatisch-polyphonen Gefüge des langsamen Satzes, dem „dunklen Herz des Quartetts“. Die Bezeichnung „Voces intimae“ ist irritierend, das „intimae“ ist nicht auflösbar, alles bleibt rätselhaft. Wie bei E. Griegs Streichquartett g-moll, op. 27 ist „Voces intimae“ eine radikale Absage an die Tradition. Das „Moderne“ von Sibelius zeichnet sich aus durch das Festhalten an der Tonalität, nicht aber an der Form. Der klassische Satz nach J. Haydn fehlt wie auch bei E. Grieg. Quer17 ständig ist die Fünfsätzigkeit. Zentrum des Werkes ist das „Adagio di molto“, das Finale ist ein „Klangteppich“, hervorgerufen durch die gegeneinander verschobenen Ebenen. Das kompositorische Modell folgt der variabeln Fortentwicklung, die durch den rhythmischen Impuls zusammengehalten wird -- vergleichbar dem Modell Anton Bruckners -- aber nicht vergleichbar der Konfrontation von „Kraftfeldern“ wie im Quartett op. 27 von E. Grieg. Das fünfsätzige Werk wird von einer melancholischen, geheimnisvollen Grundstimmung beherrscht. Sibelius’ Tonsatz wirkt trotz polyphoner Stimmführung der Quartettbesetzung orchestral. Expressionistische und schroff-dissonante Motive künden vom Bestreben, sich neu zu erfinden. Auseinanderdriftende Themen und Harmonien wirken quälend ziellos -mit den letzten beiden Sätzen setzt sich die Reise ins Ungewisse fort. Uraufgeführt wurde das Streichquartett 1910 -- Sibelius war bereits zum international bekannten Komponisten avanciert. Die Auseinandersetzung mit modernen Musikformen des beginnenden 20. Jahrhunderts, unter anderem durch den persönlichen Austausch mit Schönberg, Strawinsky und Debussy traf Sibelius in einer Schaffenskrise und löste zugleich die Suche nach einer neuen, persönlichen Musiksprache aus. Gemäss autobiographischen Bekenntnissen entspricht der Charakter des Werkes der damaligen inneren Zerrissenheit und Unsicherheit des Komponisten -- Krankheit, Alkoholsucht, Depressionen und Ängste prägten diese Lebensphase, die von Selbstzweifeln und Krisen überschattet wurde. Als Sibelius 1909 seinem Verleger das Werk übergab, war Sibelius aber damit höchst zufrieden. Im gleichen Jahr entstanden auch B. Bartoks Streichquartett Nr. 1 in a-moll und die Quartette von M. Ravel, P. Hindemith, A. Berg und A. Schönberg. Bei der Uraufführung wurde das Quartett mit Erstaunen aufgenommen. Mit der Zeit setzte es sich aber durch und gehört heute zum Kanon der Streichquartett-Musik. V Edvard Grieg und Jean Sibelius Edvard Grieg (1843 – 1907) und Jean Sibelius (1865 – 1957) waren die beiden skandinavischen Komponisten, die in die Reihe der grossen Komponisten Eingang fanden. Charakteristisch ist für beide, dass sie durch einen „nordischen Ton“ bekannt wurden -- wobei „nordisch“ von 18 beiden Komponisten aber als übernationale kulturelle Einheit verstanden wurde. Die Struktur der Komposition bei Grieg und Sibelius ist aus der „Leipziger Schule“ hervorgegangen -- erst allmählich gelang die Emanzipation. Edvard Grieg prägte eine eigenständige „norwegische“ Stilrichtung insofern, als er die Volksmusik mit ihren Melodie- und Harmonietypen und die Pentatonik in die Komposition einführte -- ebenso wie der Gebrauch von Kirchentonarten, eingängiger schlichter Motivik, ostinater Begleitfiguren, parallelen Akkordführungen, usw. Sein Grundton war bestimmt durch tiefe Melancholie, welche abrupt in wilden, ausgelassenen Humor umschlagen konnte. Grieg leitet vom musikalischen Realismus -- von Schilderungen dörflicher Hochzeiten bis zur Gestaltung von Landschaften und des Naturraumes -- zum Impressionismus über. Das aussergewöhnlichste Werk Griegs und zugleich des 19. Jahrhunderts ist aber das Streichquartett g-Moll, op. 27 aus den Jahren 1877/78: Es bricht völlig mit der Wiener Tradition, es ist eine Attacke, ein Affront gegen das Bisherige, nach Goethe „dem Gespräch von vier vernünftigen Leuten“. In der äusserst dichten und komplexen thematischen Konstruktion und im ungeheuren Klangzauber der orchestralen Farben nimmt das Quartett op. 27 impressionistische Elemente vorweg. Sibelius zielt, im Unterschied zu Grieg, über das Gegenständliche hinaus. Auf der Suche nach Seelenlandschaften experimentiert der späte Sibelius bereits mit Antinaturalismus, Expressionismus und Symbolismus. Literatur Tomi Mäkelä: „Jean Sibelius und seine Zeit“, 2013, Laaber-Verlag, ISBN 978-3-89007-767-3; Joachim Brügge: „Jean Sibelius -- Symphonien und symphonische Dichtungen“, Verlag C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58247-9 19