Franziska Heller Alfred Hitchcock

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Franziska Heller
Alfred Hitchcock
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Franziska Heller
Alfred Hitchcock
Einführung in seine Filme
und Filmästhetik
Wilhelm Fink
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Umschlagabbildung:
Psycho, © Ullstein Bild
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Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
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Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5783-7
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Inhalt
1.Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n):
Annäherungen 7
Hitchcock in der Geschichte des Genrefilms – Die Entdeckung als
auteur – Hitchcock und suspense – Hitchcock in der jüngeren
Filmwissenschaft
2.Hitchcock aktuell:
Wie und wo sehen wir Hitchcocks Filme heute? 37
Die Ikone ‚Hitchcock‘ – 2010: Fund eines neuen ‚Hitchcock‘Films? – Die Restaurierung der Stummfilme – Hitchcock in der digitalen Medientransition – Metafilmische Aneignungen und Aktualisierungen – Spielfilme, Biopics – Dokumentationen, Remakes, Parodien, künstlerisches „Kidnapping“ – Zwischenfazit
3. The Lodger. A Story of the London Fog
(Der Mieter, 1926) 67
4. The 39 Steps (Die 39 Stufen, 1935) 81
5. Rear Window (Das Fenster zum Hof, 1954) 91
6. Vertigo (Vertigo – Aus dem Reich der Toten, 1958) 101
7.Psycho (Psycho, 1960) 117
8. The Birds (Die Vögel, 1963) 135
9. Frenzy (Frenzy, 1972) 149
10. Hitchcock morgen? Ein Kino der nachhaltigen Effekte 159
Bibliographie 163
Filmographie 171
Quellen-/Abbildungsnachweise 197
Dank 201
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Abb. 1: Ein ironisches, die Nähe zum Comic suchendes Selbstporträt
Hitchcocks – als auteur-Label vielfach (medial) reproduziert.
1. Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n):
Annäherungen
Wenn lediglich acht knappe Striche ohne jegliche Legende genügen, um das Konterfei einer Figur unverwechselbar in Erinnerung
zu rufen, muss es sich um eine besondere Ikone, einen universell
geltenden Mythos der Populärkultur handeln – einzigartig und
zugleich schier unendlich reproduzierbar. Der vorliegende Band
unternimmt den Versuch einer Einführung in den Mythos Alfred
Hitchcock, der auf seinen Filmen gründet. Das filmische Werk ist
aber längst von einem Geflecht von sich überlagernden Anekdoten,
Legenden, Selbstinszenierungen und multimedialen Sekundärverwertungen in der öffentlichen Wahrnehmung überwuchert.
Selbst die seriöse Filmkritik und Filmgeschichtsschreibung be­findet sich in einer paradoxen Situation. Einerseits scheint über
Alfred Hitchcock, den Filmemacher, schon alles gesagt zu sein.
Andererseits hält die Flut an Publikationen – und mit ihr das offen-
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sichtliche Interesse, sich ernsthaft über Hitchcock zu verständigen – unvermindert an. Bereits wenige Jahre nach Hitchcocks Tod
1980 hat Hans Jürgen Wulff kapituliert, seine erstmals 1983 besorgte, dann 1988 erweiterte, unschätzbare Bibliographie All About
Alfred angesichts der anfallenden Materialfülle als Printversion weiterzuführen.1 Das 1992 in den USA gegründete wissenschaftliche
Jahrbuch The Hitchcock Annual sah sich bereits wenige Jahre später
dazu veranlasst, seinen enormen periodischen Produktionsausstoß
in einer Art best-of-Manier zu kanalisieren und einer Zweitverwertung zuzuführen.2
Ein wesentliches Moment der Faszination Hitchcocks scheint
darin zu liegen, dass sein filmisches Œuvre für den Zuschauer
nicht nur einzigartige Unterhaltung bereit hält. Es bietet dem Zu­schauer überdies ein sehr breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten bzw. offeriert dem Publikum auch ungewöhnliche Möglichkeiten, die gezeigten Bilder projektiv angst- und lustvoll zu besetzen. Vor diesem Hintergrund wird die besondere Affinität verständlich, die öffentliche Persona ‚Hitchcock‘ in das Filmerlebnis
mit einzubeziehen. Für eine Einführung in das Filmœuvre Hitchcocks, zumal unter (film)geschichtlichen Vorzeichen, kann deshalb
eine werkimmanente Filmlektüre im strukturalistischen Sinne nur
die eine Seite der Medaille sein. Die andere Seite ist deren Vermittlung mit der Rezeption seiner Filme, die Geschichte ihrer Wahrnehmung, die von der Persona und ihrer im Laufe der Jahrzehnte
zunehmenden Auratisierung nicht zu trennen ist.
„Jeder kennt Alfred Hitchcock – und niemand kennt ihn“, so
leitete John Russell Taylor vor gut 35 Jahren seine Hitchcock-Biographie ein3 und formulierte einen Befund, der sich wie ein roter
Faden durch die Hitchcock-Literatur zieht: Es gibt den gefeierten
öffentlichen Hitchcock, der indes auch nicht unwesentlich das
Produkt einer lebenslangen Selbstinszenierung ist, hinter dem der
1Hans Jürgen Wulff: All About Alfred. Hitchcock-Bibliographie. Mitarbeit
Paul Heisterkamp. Münster: MAkS Publikationen 1988.
2 Vgl. zuletzt Sidney Gottlieb/Richard Allen (Hg.): The Hitchcock Annual
Anthology. Selected Essays from Volumes 10-15. London, New York: Wallflower Press 2009.
3 John Russell Taylor: Die Hitchcock-Biographie. Alfred Hitchcocks Leben und
Werk (1978). A. d. Engl. v. Klaus Budzinski. Frankfurt/M.: Fischer TB
1982, S. 11.
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Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n) 9
private Hitchcock völlig verschwindet. Es gibt keine Tagebücher,
kaum überlieferte Briefe, wohl aber Gespräche, Erzählungen, in
denen Hitchcock das Wort führte und in denen die Deutungshoheit seiner Vita und seiner Filme bei ihm lag: ob in dem so folgenreichen Interviewband von François Truffaut4 oder in der erwähnten Biographie von John Russell Taylor, die erst nach der Autori­
sierung durch den Regisseur erscheinen sollte. Dann sind da seit
The Lodger (1926) seine Cameo-Auftritte in den Filmen, seine
Präsenz in werbenden Filmtrailern und seine szenische Anmoderation von 20 Fernsehfilmen. Und dann gibt es die von ihm selbst
immer wieder erzählten Anekdoten, die gleichermaßen zur biographischen Legendenbildung beitrugen wie als Köder zum Verständnis seiner Filme fungierten; so etwa die wohl bekannteste, wie er sie
Truffaut erzählte:
François Truffaut: „Das einzige, was ich über Ihre Kindheit weiß,
ist die Geschichte auf der Polizeiwache. Ist das eine wahre Ge­schichte?
Alfred Hitchcock: Ja, ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt.
Mein Vater gab mir einen Brief und schickte mich damit zur
Polizei. Der Wachtmeister hat ihn gelesen und mich für fünf
oder zehn Minuten in eine Zelle gesperrt. Dazu sagte er: ‚So
machen wir es mit bösen Buben.‘
Was hatten Sie angestellt?
Keine Ahnung. Mein Vater nannte mich immer sein ‚Lämmlein
ohne Flecken‘. Wirklich, ich habe keine Ahnung, was ich angestellt hatte.“5
Hitchcock präsentiert sich also als Erzähler und als Regisseur nicht
nur seiner Filme, sondern auch seiner öffentlichen Selbstinszenierung. Insofern hat Enno Patalas recht, wenn er schreibt, Hitchcock
stehe „mit einem Bein in der vom Film vorgespiegelten Realität
und mit dem anderen in der realen des Kinozuschauers.“6 Für das
Publikum wird damit das Bild, das Hitchcock öffentlich abgibt,
4François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (1966).
A. d. Franz. v. Frieda Grafe/Enno Patalas. Hg. v. Robert Fischer. München:
Heyne 62010.
5 Ebd., S. 21.
6 Enno Patalas: Alfred Hitchcock. München: dtv 1999, S. 9.
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aber auch zu einer Projektionsfläche, vor deren Hintergrund biographisch erinnerte oder fingierte Anekdoten von zweifelhaftem
Gehalt („Ist das eine wahre Geschichte?“) sich mit rekurrenten Mo­tiven in Hitchcocks Filmen durchmischen. In dem zitierten Beispiel ist es die kindlich-naive Erfahrung einer angstbesetzten Strafsituation, deren Ursache und Grund dem Betroffenen, dem jungen
Alfred, vorenthalten bleibt.
„Die Abhängigkeit der Fiktionen von den Erfahrungen des
Künstlers scheint auf der Hand zu liegen“,7 sagt Thomas Koebner
und schreibt der Feststellung zugleich den hypothetischen Vorbehalt einer möglichen Vorspiegelung ein. Und zu diesen erinnerten
Erfahrungen des 1899 in eine römisch-katholische Familie geborenen Alfred, drittes Kind eines Gemischtwarenhändlers im Londoner East End und seiner irisch-stämmigen Frau, gehört nach dem
frühen Verlust seines Vaters 1914 die Fixierung auf seine Mutter,
bei der er noch nach seiner Verlobung leben sollte. Dazu kam nicht
nur das Gefühl des isolierten Einzelgängers, der sich auf eine Beobachterrolle zurückzieht:
„[I]ch war, was man ein braves Kind nennt. Bei Familientreffen
saß ich in meiner Ecke und sagte nichts. Ich schaute mich um
und beobachtete viel. So war ich immer und bin es auch heute
noch. […] Ich war immer allein. Ich kann mich nicht erinnern,
einen Spielgefährten gehabt zu haben. Ich amüsierte mich ganz
allein und erfand mir eigene Spiele.“8
Hinzu kam die Erinnerung an eine repressive Erziehung in einem
Jesuiten-College, verbunden mit allgegenwärtiger Angst:
„Wahrscheinlich hat sich in dieser Zeit bei den Jesuiten mein
Angstgefühl so stark entwickelt. Moralische Angst, die Angst,
mit dem Bösen in Berührung zu kommen. Ich habe immer versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Warum? Vielleicht aus physischer Furcht. Ich hatte Angst vor körperlicher Züchtigung.
Und es gab die Prügelstrafe. Ich glaube, es gibt sie bei den Jesu 7 Thomas Koebner: „Alfred Hitchcock“ (1999). In: Th. K. (Hg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien. Stuttgart: Philipp
Reclam jun. 32008, S. 324. Hervorhbg. FH.
8Truffaut: Mr. Hitchcock, S. 21.
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Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n) 11
iten noch heute. Mit einem sehr harten Gummiknüppel. Man
wurde nicht einfach so geschlagen, es war wie ein Urteil, das
vollstreckt wurde. Man wurde nach Schulschluß zum Pater
bestellt. Er schrieb dann feierlich den Namen in ein Buch und
dazu die Art der Strafe. Und den ganzen Tag lebte man unter
dem Druck der Erwartung.“9
Nicht zuletzt gehörten dazu auch die Angst vor der Polizei und vor
jeder Art von Behörde und die Furcht vor dem Eingesperrtsein. Hinter den von ihm selbst in Umlauf gebrachten Anekdoten
scheint Hitchcock sich nicht selten „wie hinter autobiographischen
Kulissen“ ähnlich zu verbergen „wie hinter der ziemlich mächtigen
Hülle seines Leibes und einer äußerst beherrschten korrekten
Erscheinungsweise – nur durchbrochen von seiner Neigung zu verletzenden Scherzen und Sarkasmen.“10
Nach Abschluss der Schulausbildung 1913 besuchte Hitchcock
verschiedene Abendkurse an der Londoner Universität, begann
1915 eine fünfjährige Tätigkeit bei der Henley Telegraph and
Cable Company als Büroangestellter, der für Werbebroschüren
und für die Betriebszeitung The Henley Telegraph zuständig war.
Hier erschienen auch seine ersten Erzählungen, allen voran Gas,
1919, eine mysteriöse, am Pariser Montmartre spielende HorrorKurzgeschichte, in der eine Frau durch rattenverseuchte Gassen irrt
(„Down, she went, down, down; conscious only of a choking sensation, this was death“), um dann in einer abrupten, lakonischen
Wendung aus dem Alptraum gerisssen zu werden, der sich einer
Narkose beim Zahnarzt verdankte. „,It’s out Madam’, said the dentist. ‚Half a crown please‘.“11
1920 bewirbt sich Hitchcock, der inzwischen zu einem regelmäßigen Kino- und Theatergänger geworden ist, bei der amerikani 9 Ebd., S. 21f.
10 Koebner: „Alfred Hitchcock“, S. 324.
11 Abdruck dieser Kurzgeschichte sowie der Erzählungen The Woman’s Part
(1919), Sordid (1920), And There Was No Rainbow (1920), What’s Who
(1920), History of Pea Eating (1920) und Fedora (1921) in Patrick McGilligan: Alfred Hitchcock. A Life in Darkness and Light. New York et al: Harper
Perennial 2003, S. 31-45, Zitat S. 31. Ein Abdruck von Gas findet sich
auch in: Sidney Gottlieb (Hg.): Hitchcock on Hitchcock. Selected Writings
and Interviews. London: Faber and Faber 1995, S. 107f.
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12 Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)
schen Filmgesellschaft Famous Players-Lasky, die in Islington/London ein Studio betreibt, und er wird als Designer von Zwischen­
titeln engagiert. Hier lernt er auch seine spätere Ehefrau, die Cutterin Alma Reville, kennen. Als Michael Balcon, Victor Saville
und John Freedman nach dem finanziellen Zusammenbruch von
Famous Players-Lasky das Studio übernehmen, arbeitet Hitchcock
für sie und den Regisseur Graham Cutts in mehreren Filmen zunächst als Regieassistent, Dekorateur und Drehbuchautor.12 1924
gründet Michael Balcon Gainsborough Pictures. Im Rahmen eines
Ko-Produktionsvertrages mit der deutschen UFA lernt Hitchcock
in Berlin den deutschen Expressionismus kennen und schätzen:
allen voran F. W. Murnau und Fritz Lang, die neben dem Amerikaner David W. Griffith zu wichtigen Vorbildern werden. Den Dreharbeiten von Murnaus Der letzte Mann in einem Babelsberger
Nachbarstudio will Hitchcock teilweise persönlich beigewohnt
haben.
„Was als Realität vor der Kamera stehe, habe Murnau ihm erklärt, spiele keine Rolle – was zähle, sei allein das, was man auf
der Leinwand sieht. Murnau wollte Vorstellungen abbilden und
nicht Vorgegebenes fotografisch reproduzieren. Reale Raumtiefe
interessierte ihn nicht, nur Tiefenwirkung als Ergebnis von
Architektur, Lichtführung und Kamerabewegung. Film ist nicht
Grundriß, sagte er zu seinen Architekten, Film ist Projektion.“13
Wenig später trägt Balcon Hitchcock die ersten selbstständigen
Regiearbeiten an: The Pleasure Garden/Irrgarten der Liebe
(1925) und The Mountain Eagle/Der Bergadler (1925). Sie
entstehen überwiegend in den Emelka-Studios in München, beide
Filme werden in London allerdings erst 1927 uraufgeführt: Der
eine ist eine Vierecksgeschichte zweier befreundeter Balletttänzerinnen aus dem Nachtklub Pleasure Garden und ihrer Beziehung zu
zwei miteinander befreundeten Männern. Zu der lesbisch pikanten
Ausgestaltung der Erzählung habe sich Hitchcock angeblich – er
wird es später wiederholt detailliert schildern – durch tatsächliche
12 Vgl. zur heutigen retrospektiven Wahrnehmung der Zusammenarbeit mit
Graham Cutts detaillierter Kap. 2 „Hitchcock aktuell: Wie und wo sehen
wir Hitchcocks Filme heute?“
13Patalas: Alfred Hitchcock, S. 23.
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Erlebnisse in seiner Berliner Zeit inspiriert gesehen. Der andere
Film war ein als missraten angesehenes Melodram:
Truffaut: „Ich habe da eine Inhaltsangabe. Ein Kaufhausdirektor
ist hinter der Dorfschullehrerin her, sie flüchtet ins Gebirge und lebt
dort unter der Obhut eines Eremiten, der sie später auch heiratet.
Stimmt das?
Hitchcock: Ja, leider.“14
In die Zeit zwischen der Produktion dieser beiden Filme und deren Uraufführung fiel 1925 die Gründung der Film Society of London, deren spiritus rector, Ivor Montagu, u. a. zu den wichtigsten
Vermittlern der russischen Filmkunst in England gehörte. Nicht
nur machte die Film Society neben experimentierenden deutschen
und französischen Filmen (z. B. von Paul Leni, Walter Ruttmann,
Georg Wilhelm Pabst oder auch René Clair) die bis dato auf der
Insel ausgesperrte revolutionäre sowjetische Filmavantgarde der
1920er Jahre in Gestalt von Lew Kuleschow, Wsewolod Pudowkin
oder Sergej M. Eisenstein öffentlich. Montagu sollte überdies
Pudowkins Poetik Filmregie und Filmmanuskript und Eisensteins
Dramaturgie der Filmform übersetzen. Hitchcock war ein sehr aufmerksamer Schüler, wenn auch sicher nicht in Sachen marxistischer
Filmästhetik, wohl aber in Hinblick auf die formalen, wirkungsund zuschauerbezogenen Implikationen und Aspekte der russischen
Montageexperimente. Sein „Suspense-Kino entsprang aus der Kom­
bination von deutschem Expressionismus und russischem Kon­
struktivismus, Murnaus synthetischem Raum mit Eisenstein-Pudowkins montierter Zeit“, wird später Enno Patalas schreiben.15
Vor diesem Hintergrund entstand 1926 – „Das ist wieder
eine andere Geschichte“16 – The Lodger, der „erste echte Hitch­
cockfilm“ (Hitchcock)17 in einem gewaltigen Opus von insgesamt
53 Kino- und 20 Fernsehfilmen.18
14Truffaut: Mr. Hitchcock, S. 36.
15Patalas: Alfred Hitchcock, S. 25.
16Truffaut: Mr. Hitchcock, S. 37.
17Ebd.
18 Zur Problematik der teleologisch grundierten Rhetorik, Hitchcocks frühe Filme im Licht späterer Klassiker zu sehen, vgl. nachstehend Kap. 2
„Hitchcock aktuell: Wie und wo sehen wir Hitchcocks Filme heute?“
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14 Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)
Wie verhalten sich in diesem Kontext des überaus selbstbewussten Brandings der Selbstentwurf und die Selbststilisierung zur
Fremdwahrnehmung seines folgenden Filmwerks in der Rezeption
der Filmkritik und -wissenschaft?
Hitchcock in der Geschichte des Genrefilms
Dazu ist es nützlich, sich den filmhistorischen Produktionskontext
und den filmkritischen Diskurszusammenhang zu vergegenwärtigen, wie Hitchcocks steile Karriere gesehen wurde: wie er zunächst
in England zum prominentesten Filmregisseur der Zeit avancierte,
dann, 1939, in die USA übersiedelte und dort spätestens seit Mitte
der 1950er Jahre als Starregisseur galt. Sein Renommé gründete
sich auf seinen insgesamt guten Ruf als handwerklich ausgefuchster
Regisseur von Genrefilmen, vornehmlich von Kriminalfilmen und
Thrillern, die nicht selten melodramatisch grundiert waren oder –
in guter britischer Tradition – häufig Einschüsse schwarzen Hu­mors aufwiesen. Allerdings neige seine Handhabung der Filmtechnik mitunter zu Manierismen. Hitchcock sei der „beste englische
Regisseur“ vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, schrieb Georges
Sadoul 1955 in seiner Filmgeschichte; 39 Steps sei sein „Meisterwerk“, „ein vollendeter Kriminalroman“.19 Sein „Realismus“ entspreche „den besten Traditionen der englischen Literatur“; seine
„charakteristischsten Filme sind gut gebaute und photographierte
Kriminalreißer im Stil von 39 Steps“.20 Das Werk „dieses kraftvollen, humorbegabten Talents“ sei insgesamt „reich, vielfältig“, aber
auch „ungleichmäßig“21: Mr. And Mrs. Smith – „eine schlechte
Komödie“, Foreign Correspondent – ein „verstaubte[r] Kriminalroman“, Shadow of a Doubt hingegen das „amerikanische Meisterwerk“.
19 Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst (1955). Frankfurt/M.: Fischer
TB 1982, S. 316.
20Ebd.
21Ebd.
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„Hauptfehler Hitchcocks war es, sich mit gut ersonnenen Fabeln
zu begnügen und sich nicht immer genügend um ihren menschlichen Inhalt zu kümmern. Dieser Fehler führte ihn zur Ausschmückung technisch blendender, aber oberflächlicher und
dadurch rasch wirkungslos werdender Variationen.“22
Überdies warf Sadoul Hitchcock vor, auf diesem Wege „mit jeder Mode“ zu gehen: Notorious, ein Fall von „Atomspionage“, sei
nichts anderes als „ein eitles technisches Brio“, also nutzlose Spielerei, Rope „ein mittelmäßiges Beispiel für photographiertes Theater“; überdies stelle dieser Film mit dem Versuch, ihn scheinbar
in einer einzigen Einstellung zu drehen, ein technisches „Gewaltstück“, ein „Fiasko“ dar. Fazit: „Die verschwenderische technische
Ausrüstung rettet […] weder Filmgattungen noch Menschen vor
der Dekadenz.“23
In dieser Wahrnehmung erschien Hitchcock als ein im Prinzip
„realistisch“ ausgerichteter Genreregisseur24, dessen virtuose Handhabung der Filmtechnik ihn aber auch in manieristische, formalistische Versuchungen führen würde. Mit dieser Einschätzung stand
Sadoul nicht allein da. Schon die englische Filmkritik der 1930er
Jahre hatte für den ausgemachten ästhetischen Formalismus Hitchcocks das Schlagwort vom Hitchcock touch geprägt. Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1944 veranschaulicht exemplarisch, in
welchem Licht Alfred Hitchcock in den USA gesehen wurde.
Anlässlich der Uraufführung von Lifeboat berichtete James Agee,
einer der wichtigsten und einflussreichsten US-Filmkritiker der
Zeit, aus Los Angeles: Nachdem er als seriöser Filmkritiker zunächst
auf Distanz zu den seit mehreren Jahren vergossenen „crocodile
tears over the alleged decline of Alfred Hitchcock“ auf den Cocktailpartys in Hollywood geht, kann Agee dennoch nicht um22 Ebd., S. 334f.
23 Ebd., S. 366.
24 Der Begriff „realistisch“ muss in diesem Zusammenhang abhängig von dessen Gebrauch im diskursiven Kontext der Zeit gesehen werden: als ein –
wie man heute analytisch sagen würde – filmischer Wahrnehmungseffekt
innerhalb des Illusionskinos, der sich über die Aktualisierung spezifischer
Sujets, narrativer Muster und figurativer (d. h. bildlich-photographischer)
Strategien differenziell von ‚anti-realistischen‘ Formen des Genrekinos abhebt (z. B. phantastischer Film, SF, Historienfilm, Revuefilm).
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16 Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)
hin, seiner Enttäuschung über den gerade gezeigten Film Lifeboat
freien Lauf zu lassen.
„The initial idea – a derelict boat and its passengers as microcosm – is itself so artificial that like the problems set by keeping a story moving for two hours within a gunwale frame, it sets
the whole pride and brain too sharply to work on a tour de force
for its own sake. […] It seems to me that the only way to counteract the basic artificiality and to bring it through to absolute
success – […] – would have been through (1) an implacable
physical and psychological realism, which was not attempted,
(2) squeezing the poetic and symbolic power out of the final
intensities of this realism – the essence of most good cinema –
rather than tempering the realism to the allegory. […] What
disturbs me is the question whether Hitchcock recognizes this,
as I would certainly be inclined to assume; or whether, like too
many good but less gifted film artists, he has at last become so
engrossed in the solution of pure problems of technique that he
has lost some of his sensitiveness toward then purely human
aspects of what he is doing.“25
Hitchcock also als ein versierter Genreregisseur, der in seinen Filmen dazu neige, den realistischen, menschlich bedeutungsträchtigen Gehalt seiner Stoffe ästhetisch-technischen Spielereien zu
opfern – das ist das vorherrschende Bild der Zeit. Mit diesem Hang
zur formalen Variation, mit der Aktualisierung von Variation und
Wiederholung von geläufigen Erzählmustern, erweise sich Hitchcock als ein für das Genrekino Hollywoods ebenso bemerkenswerter wie auch konformer Repräsentant, als ein souveräner Konfektionär.
So beschreiben auch die Autoren der jungen, 1957 gegründeten
deutschen Zeitschrift Filmkritik die Ausgangslage und die allgemeine Rezeptionsdisposition jener Zeit, um zugleich aber auch
schon kritische Absetzbewegungen auszumachen. 1957 schrieb
Enno Patalas in einer Besprechung von The Wrong Man:
25 James Agee: Agee on Films (1944). London: Peter Owen 21967, S. 71f.
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„Der ‚Fall Hitchcock‘ bietet das seltsame Schauspiel, dass ein als
fähiger Routinier seit langem etikettierter Regisseur ein Vierteljahrhundert nach seinem Debüt von einem Teil der Kritik als
‚auteur véritable‘ und ‚créateur‘ reklamiert und in eine Reihe mit
den Chaplin, Renoir, Bunuel und Rossellini gestellt wird. Fünfundzwanzig Jahre lang traf Hitchcock das allgemeine Vorurteil
gegen die Kriminalliteratur; wie Raymond Chandler wohl die
Bewunderung eines André Gide, aber nie das Interesse der Literaturhistoriker erregen konnte, so wurde Hitchcock nie einer
Festival-Einladung für würdig befunden, und die etablierte Kritik rümpft immer noch die Nase über jeden Interpretationsversuch, der in ihm mehr sehen will als den ‚Meister der Überraschung‘, den ‚besten aller Techniker‘“.26
Die Entdeckung als auteur
Tatsächlich setzte in den mittfünfziger Jahren – ausgehend von
Frankreich – eine grundlegende Re-Vision im wörtlichen Sinn der
Person Hitchcocks und seines filmischen Werks ein, worauf von
Patalas bereits angespielt wird. Verantwortlich dafür zeichnete die
in der französischen Filmzeitschrift Les Cahiers du cinéma schreibende Garde junger Kritiker. In ihrer vehementen Auseinandersetzung mit dem altbacken wirkenden französischen Film ließen sie
die europäische und US-amerikanische Filmgeschichte Revue passieren, um sie gegen den Strich, also gegen konventionalisierte
Kanonisierungen, zu bürsten und nach Brauchbarem für ein neues,
zeitgemäßes Kino zu durchmustern. Dazu gehörte insbesondere
der historische und aktuelle Produktionskomplex Hollywood.
Einige Jahre zuvor, 1948, hatte bereits Alexandre Astruc in einem
künstlerischen Manifest unter der Parole der caméra stylo („die
Kamera als Federhalter“) das Modell eines Filmschaffens proklamiert, das den schöpferischen auteur – zumal idealiter in der Personalunion von Autor, Szenarist und Kameramann – gegenüber dem
26Enno Patalas: „Der falsche Mann/The Wrong Man“. In: Filmkritik
1/1957, H. 9, S. 131-134, S. 131.
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18 Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)
arbeitsteilig-kulturindustriellen Studiobetrieb in ein neues Recht
setzen sollte. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen entwarfen
und realisierten die jungen Cahiers-Kritiker Eric Rohmer, Claude
Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, François Truffaut eine
Strategie der filmkritischen Analyse, die als politique des auteurs
schon bald in den avancierten filmischen Diskurs Eingang fand. Es
war eine analytische Strategie, um den persönlich unverwechselbaren, schöpferischen Anteil eines Filmemachers, seine „persönliche
Handschrift“, freizulegen – selbst und gerade dann, wenn er sich in
hochgradig durchindustrialisierten Produktionszusammenhängen
vermittelte. Insbesondere einige Hollywood-Regisseure, zumal auf
bestimmte Genres festgelegte, erschienen nun in einer völlig ver­
änderten Perspektive gewürdigt. Vor allem John Ford, Howard
Hawks, Nicholas Ray oder aus Europa stammende Regisseure wie
Fritz Lang, Otto Preminger und nicht zuletzt Alfred Hitchcock
wurde eine solche Aufmerksamkeit und Wertschätzung zuteil, dass
sich der Gründer der Cahiers du cinéma und spirituelle Mentor
jener jungen, ‚wilden‘ Kritiker, André Bazin, öffentlich besorgt fragen sollte: „Comment peut-on être hitchcocko-hawksien?“ („Wie
kann man zugleich Anhänger von Hitchcock und Hawks sein?“)27
Eric Rohmer und Claude Chabrol waren die ersten, die mit
ihrem 1957 erschienenen Buch weltweit überhaupt eine Monographie über Hitchcock veröffentlichten.28 Das Buch war werkbiographisch gegliedert, es verfolgte Hitchcocks Entwicklung von seinen
Anfängen über die Stationen bei den verschiedenen Produktionsgesellschaften während seiner Zeit in England: Gainsborough Pictures (1923-1927), British International Pictures (1927-1932),
Gaumont-British (1934-1937) und Gainsborough-Mayflower
(1937-1939). Der ‚amerikanische‘ Hitchcock wird in zwei Teilen
abgehandelt: zunächst die Phase bei Selznick (1939-1945), dann
die Phase von Rope bis zur zweiten Fassung von The Man Who
Knew Too Much (1948-1956). Akzentuieren in den ersten beiden Teilen allein schon die Kapitelüberschriften mit der namentlichen Nennung der Studiobetriebe das Hauptaugenmerk auf die
27 André Bazin: „Editorial“. In: Cahiers du cinéma, 4, 1955.
28 Eric Rohmer/Claude Chabrol: Hitchcock. Paris: Éditions Universitaires 1957.
Nachdruck: Paris: Éditions d’aujourd’hui 1976. Dt. Übers. u. d. T. Hitchcock. Hg. u. a. d. Franz. v. Robert Fischer. Berlin, Köln: Alexander Verlag
2013. Zitate in der Folge nach dieser dt. Ausgabe.
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Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n) 19
konkreten Produktionszusammenhänge, in denen Hitchcock seine
Filme drehte, so stehen die Kapitel des dritten Teils unter forma­lästhetischen bzw. thematisch-motivischen Leitbegriffen: etwa
einerseits „Kontinuität als Errungenschaft“ (im Zusammenhang
von Rope), „Figur und Zahl“ mit Blick auf Strangers on a Train,
„Jenseits des ‚Suspense‘“ mit Bezug auf The Man Who Knew
to Much; andererseits finden sich begriffliche Leitmotive in den
Kapitelüberschriften wie „Verlockendes Martyrium“ (I Confess).
Die Konklusion des Buches wird schließlich verdichtet unter einem
einzigen Filmtitel präsentiert: The Wrong Man.
Die Untersuchung von Rohmer/Chabrol markiert insofern eine
wichtige Zäsur in der Hitchcock-Rezeption, als sie
1.überzeugend erstmals nachweist, dass Hitchcock im Sinne des
auteur-Begriffs innerhalb verschiedener Studiozusammenhänge
Filme hervorgebracht hat, die bei aller Entwicklung durchgängig eine unverwechselbare, persönliche Handschrift aufweisen.
2. Diese zeigt sich zunächst in der auffälligen Häufung wiederkehrender Motive, allen voran das des unschuldig Schuldigen und
das der Schuldübertragung, womit sich Hitchcock in einem
quasi-philosophischen Diskurszusammenhang verorten lasse,
dessen Pole einerseits auf jansenistische Schuldtheoreme verwiesen, andererseits Affinitäten zu Kafkas literarischer Welt erkennen ließen.
3.Diese ideengeschichtliche Dimensionierung Hitchcockscher
Sujets sei insofern nicht vermessen, als Hitchcock sie nicht auf
einer narrativ-argumentativen Ebene verhandelt, sondern auf
der der sinnlichen Wahrnehmung und Selbsterfahrung als
Kinozuschauer im Akt des Sehens. Insofern erweise sich Rear
Window als Schlüsselfilm, birgt er doch die zentrale Grundfigur
bei Hitchcock: Der am Fenster harrende L. B. Jeffries (James
Stewart) vermutet im Haus gegenüber aufgrund eigentümlicher
Beobachtungen einen Mörder. Und indem er alles daran setzt,
dass er als lüstern lauernder Voyeur seine Vermutung bestätigt
findet, ja geradezu erhofft, dass der Mord stattgefunden hat,
trägt er mit an der Schuld des Verbrechens. Mehr noch: Wir als
Zuschauer, im Kino strukturell ebenfalls in der Position eines
Voyeurs, wünschen nichts dringlicher, als dass sich Jeffries’ SehSüchte erfüllen; wir würden enttäuscht das Kino verlassen,
wenn sich Jeffries‘ imaginierte Mordvorstellung als nichtig
erweisen würde. Diese perverse Formierung und Stimulierung
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20 Alfred Hitchcock und seine Geschichte(n)
der Zuschauerphantasie erfolge über den besonderen Wahrnehmungsmodus, dem der Kinogänger qua ästhetischer Formgebung ausgesetzt ist. Deshalb werden die filmästhetischen Formen nicht als Funktionsgrößen des Inhalts gesehen, sondern die
Form(ierung) der filmischen Wahrnehmung im Kino geht dem
Sujet voraus. Bei Hitchcock, einem „der größten Erfinder von
Formen in der Geschichte des Films“, entfalte sich „ein eigenes
moralisches Universum“ über die Modulationen der kinema­
tographischen Wahrnehmungsformen. „Hier verschönert die
Form nicht den Inhalt, sie schafft ihn erst. In dieser Formel
steckt der ganze Hitchcock.“29
Nicht nur wurde Hitchcock mit dieser Studie als auteur nobilitiert,
vergleichbar den größten Künstlern der internationalen Filmgeschichte wie Chaplin, Murnau, Eisenstein, Buñuel oder Rossellini.
Darüber hinaus gilt: Mit der Verlagerung des analytischen Fokus
von der mimetischen Dimension des Films auf die operativen Verfahren der sinnlich-ästhetischen Gestaltung und deren Funktion
für die kinematographische Wahrnehmung und Erfahrungsbildung des Zuschauers im Kino wurde das bis dahin geltende Hitchcock-Bild vom Kopf auch auf die filmpraktischen Füße gestellt.
Auch wenn die Studie von Rohmer/Chabrol, zumal in der angelsächsischen Welt, oft nur aus zweiter Hand zitiert wurde30 (eine
Übersetzung erfolgte erst 1979), zeigte sie nachhaltig Wirkung.
Auf jeden Fall eröffnete sie – ob affirmativ oder in kritischer Abgrenzung – aus heutiger Sicht perspektivische Orientierungslinien
für das seit den 1960er Jahren sprunghaft ansteigende filmpublizistische Interesse an Hitchcock und seinen Filmen. Zugleich lassen
sich deutlich erste, in den folgenden Jahrzehnten weitergehende
methodische Ausdifferenzierungen beobachten, die ihre Wurzeln
bereits bei Rohmer/Chabrol haben.
Die dem auteur-Begriff inhärente Vorstellung einer Polarität
zwischen künstlerisch-individuellem Schöpfertum und kulturindustriellen Ansprüchen sollte von nun an Basis zahlreicher werkbiographisch ausgerichteter Untersuchungen werden. Robin Woods
29 Ebd., S. 232.
30 Die von Hitchcock autorisierte Autobiographie (vgl. Anm. 3) von John
Russell Taylor (1978) scheint die Studie ausweislich des Literaturverzeichnisses nicht einmal vom Hörensagen zu kennen!
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