in Antike und Mittelalter

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Sonderdruck
aus:
Christian Meier (Hrsg. )
Die
Okzidentale Stadt
Max
Weber
nach
Zum Problem
der Zugehörigkeit
in Antike und Mittelalter
3ýSS
0-/1
R. Oldenbourg Verlag München 1994
Der Verlust der Stadt
von
Jochen Martin
I. Bestimmung des Themas
Ich beschränke mich bei meinen Überlegungen wesentlich auf den Westen
der Stadt" ist nicht gemeint, daß die
des römischen Reiches. Mit
Verlust
Stadt als Siedlungsform überall untergegangen wäre, sondern vielmehr:
ist
die
in
ihrer
des
Stadt
Reiches
dem
Untergang
auch
weströmischen
mit
spezifisch antiken Prägung im Westen untergegangen. Bei dieser Aussage
befinde ich mich, wenn ich recht sehe, nicht in Differenz zu Max Weber.
Warum also dieser Beitrag? Um Max Weber gegen Tendenzen der gegenwärtigen französischen Althistorie recht zu geben, die behauptet, es
habe eine Kontinuität der Stadt bis weit ins Mittelalter hinein gegeben? ')
Das würde nicht lohnen, denn das Feld, auf dem heute die Argumente
ausgetauscht werden, ist von Weber nicht beackert worden. Mir geht es
vielmehr um das Zentrum der Weberschen Konzeption, um den Typus
Stadt", darum also, was eigentlich untergegangen ist. Und mir
antike
geht es darum zu zeigen, daß Webers Konstruktion dieses Typus in sich einen Verlust der Stadt" bedeutet, insofern nämlich, als Weber nicht nur
ganze Epochen der Geschichte der antiken Stadt, sondern auch wesentliche Phänomene des städtischen Lebens aus seiner Betrachtung ausschließen muß.
II. Max Webers Behandlung der Städte
der frühen Kaiserzeit
der antiken Stadt schon mit der Einordin
in
die
hellenistischen
Reiche,
der
Städte
zum
anderen
einen
zum
nung
beginnen. Durch diese Einordnung
das römische Kaiserreich
sei zwar der
Max Weber
läßt den Niedergang
') Vgl. vor allem Paul Albert Feti"rier, Permanence et heritage de I'antiquite dans la
topographie des villes de l'occident durant le haut moyen äge, in: Topografia urbang e vita cittadina nell'alto medioevo in occidente (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo, vol. 21.). Spoleto 1974,41-138, und Paul Albert Ferrier/Christian GoudineaulVenceslas Kruta, La ville antique des origines au
IX` siecle (Histoire de la France urbaine, tome 1.). Paris 1980.
i
96
Jochen Martin
Gemeinde'-Begriff
in der Antike im Gegensatz zum Staat' " erst end,
gültig entstanden, aber sie habe der antiken Polis auch ihre Selbständigkeit genommen (745). 2) Dies allein ist für Weber freilich noch nicht das
entscheidende Kriterium des Niedergangs. Weber betont bekanntlich die
Tatsache, daß die mittelalterliche Stadt viel stärker als jede antike auf Erwerb durch rationale Wirtschaft orientiert war. Mit dem
der
Untergang
Stadtfreiheit in hellenistischer und spätrömischer Zeit" ist nun, so Weber,
für die antike Stadt die Chance vernichtet worden,
Verökonomischen
dienst auf dem Wege der kriegerischen Politik der Stadt für die Bürger
zu
schaffen" (811). Man kann und muß m. E. diesen Satz auch so lesen, daß
die Vernichtung der Chance, ökonomischen Verdienst über kriegerische
Politik zu schaffen, zugleich den Gewinn einer Chance bedeutet: nämlich
der, sich wie später im Mittelalter auf Erwerb durch rationales Wirtschaften zu konzentrieren. Weber erörtert dieses Problem nicht. Im Kapitel
über
Entstehung des rationalen Staates" gibt er einige kurze Hindie
weise, wie er sich die Entwicklung denkt. Auch hier wird aber nur ausgeführt, daß durch
und Untertanenfronden"
Leiturgien"
die politischen
für den Kapitalismus beseitigt" worden seien
Verdienstmöglichkeiten
(818). Man muß wohl ergänzen, daß durch Leiturgien und Untertanenfronden auch die Chance für rationales Wirtschaften zunichte gemacht
wurde.
Hier ergibt sich nun ein ganz merkwürdiges Bild: das 1. und 2. Jahrhundert der römischen Kaiserzeit gilt gemeinhin als eine Zeit der Blüte der
Städte. Bei Weber dagegen erscheint sie unter negativem Vorzeichen,
nicht nur im Hinblick auf den Verlust der Stadtfreiheit, sondern auch im
Hinblick auf die Möglichkeiten des Wirtschaftens. Schon die frühe Kaiserzeit wird eingeordnet in den in der modernen Forschung erst für die
Spätantike behaupteten Trend, daß die städtische Wirtschaft durch die fiskalischen und liturgischen Anforderungen des Staates abgewürgt
worden
sei. Warum gelingt es Weber nicht, die frühkaiserzeitliche Stadt angemessen zu würdigen? Man könnte antworten: Weil sein Interesse - gerade
beim Vergleich der antiken mit der mittelalterlichen Stadt auf dem PolisTyp der antiken Stadt lag. ') Wenn aber dadurch die gesamte hellenistische
Zeit und die gesamte römische Kaiserzeit für die Bestimmung des Typus
der antiken Stadt irrelevant werden, dann scheint es mir fraglich
zu sein,
ob dieser Typus angemessen konstruiert worden ist.
Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf die Seiten in Max Weber, WuG.
') Vgl. Nippel, o. S. 47 f.
Der Verlust der Stadt
97
III. Fragen an die Konzeption der antiken Stadt
bei Max Weber
Die antike Stadt ist nach Weber wesentlich Wehrverband zunächst von
adligen Sippen, dann der voll wehrfähigen Hopliten. Stimmrecht in der
Volksversammlung haben die sich selber equipierenden Grundbesitzer; in
Athen werden erst zu dem Zeitpunkt, als die Bedeutung des Hoplitenheeres wegfällt, alle Bürger zur politischen Teilnahme zugelassen. Seit der
ist die antike Polis eine
Schaffung der Hoplitendisziplin
Kriegerzunft"
(809). Überall sind die Bürgerhopliten die ausschlaggebende Klasse der
Vollbürger. Dieser militärische Gesichtspunkt ist für Weber so wichtig,
daß er von hierher die Übergänge von der Geschlechter- zur Plebejerstadt
bzw. zur Demokratie deutet, daß er von hierher auch die spezifische Disziplin in der antiken Polis (z. B. die Zensur in Rom) versteht (809).
Implizit im Bisherigen enthalten ist schon, daß für Weber die antiken
Städte solche von Grundbesitzern sind, wobei - das sei einzigartig - in
Athen durch die Reformen des Kleisthenes, in Rom durch die Tribuseinteilung das platte Land in die Organisation der Städte miteinbezogen, ja
ihm - d. h. den Bauern - sogar der Vorrang eingeräumt worden ist (799,
801).
Die Interessen dieser Bauern richten sich auf Land- und auf Menschen-,
d. h. Sklavenbesitz, der für die politische Abkömmlichkeit
der Bauern
wichtig gewesen ist. Die Mehrung von Land- und Sklavenbesitz sei auf politische Weise, d. h. durch Krieg, angestrebt worden. So kommt es zum
Städtsässige
Konzept der antiken Rentner- und Konsumentenstadt:
Grundbesitzer konnten zwar auch unternehmerisch tätig sein, aber das
Unternehmertum bestimmte nicht ihr Selbstverständnis (797 f., 803).
Der antike Proletarier'war nach Weber ein politisch deklassierter, weil
früherer
Grundbesitzer (während der spezi-i
gewordener
grundbesitzlos
fisch mittelalterliche Notleidende ein armer Handwerker, also ein gewerblicher Arbeitsloser war). Die Interessen der antiken Proletarier sind weKonsumenteninteressen.
Auch von hierher ergibt
Schuldnerund
sentlich
sich also ein politisches Interesse der Polis an der Fürsorge für die Getreidezufuhr, die Sicherung der Ernährung (797f. ).
Weber begründet das Fehlen handwerklicher Interessen auch noch auf
andere Weise. Das Nebeneinander von Sklavenarbeit und der Arbeit von I
Freien im Handwerk habe die Bildung von Zünften unterdrückt. Freie
und Sklaven hätten zwar Kultgemeinschaften, nicht aber politisch bedeutsame Gemeinschaften bilden können (798f. ). Insofern konnte es auch
Verbrüderung" von Handwernicht zu einer schwurgemeinschaftlichen
kern kommen.
(j
98
Jochen Martin
Dies ist der eine Strang der Weberschen Argumentation, der in der Unterscheidung zwischen dem antiken homo politic7us und dem mittelalterlichen homo oeconomicus gipfelt (805). Der zweite besteht darin, daß Weber
die Herausbildung des Anstaltscharakters der antiken Polis betont. Weber
sieht ihn al Ergebnis archaischer Ständekämpfe zwischen adligen Sippen
und verschuldeten Bauern. Indizien für den Anstaltscharakter sind für
Weber in Rom z. B. die Tribusgliederung
durch
die
Polis
sie
sei
aus einer
Verbindung von Wehr- und Geschlechterverbänden zu einer
anstaltsmäßigen Gebietskörperschaft" geworden
ferner
das
Recht,
das
als rational
-,
gesetztes zu einem Anstaltsrecht geworden sei; Gesetz und Gesetzgebung
hätten die charismatische Judikation der Könige bzw. der Patrizier
abgelöst (782).
Ich kann hier zunächst abbrechen. Wenn man unter dem Gesichtspunkt
der Zugehörigkeit die Sache auf den Punkt bringen will, dann konstituiert
nach Weber Grundbesitz, der zum Kriegsdienst berechtigt und verpflichtet, die Zugehörigkeit zur antiken Polis. Bevor ich kurz darauf eingehe,
möchte ich noch auf die eigentümliche Spannung verweisen, die bei Weber zwischen dem
Wirtschaften einerseits, der Rationalität
irrationalen"
des Anstaltscharakters andererseits besteht. Diese Spannung würde
noch
deutlicher, zöge man die Vergleiche Webers zwischen der antiken und
mittelalterlichen Stadt hinzu: denn auf der Ebene der politischen Organisation gibt es in der Tat zwischen beiden viele Parallelen, bis hin zum von
Weber so genannten Kreislauf von der Geschlechterherrschaft über die
Stadtautonomie zur Eingliederung der Stadt in den
patrimonialbürokratischen Staat. Weber kommt an einer Stelle selber auf die nach seiner Meinung frappante Ähnlichkeit zu sprechen:
Es stehen eben nicht", sagt er,
Formen
für
viele
die Reguverschiedene
verwaltungstechnische
beliebig
lierung von Ständekompromissen innerhalb einer Stadt
zur Verfügung,
und Gleichheiten der politischen Verwaltungsform dürfen daher nicht als
Oberbauten über gleiche ökonomische Grundlagen gedeutet
werden, sondern haben ihre Eigengesetzlichkeit" (780, vgl. 788).
Ich versuche, die Webersche Konzeption von der Relation
Wehrfähigkeit - politische Berechtigung" her aufzubrechen. Nach Weber kam die
Verfassung der charakteristischen Polis dadurch zustande, daß die Gewalt
des Königs oder der Sippenältesten zu einer
der
Honoratiorenherrschaft
voll wehrfähigen ,Geschlechter`" umgebildet wurde (749). Die sich selber
equipierenden Grundbesitzer hätten ein qualifiziertes Stimmrecht in der
Volksversammlung erhalten (781 f. ); nach der Schaffung der TribusordÜbergewicht
das
der ländlichen Tribus und damit die Herrschaft
nung sei
der Grundbesitzer aufrechterhalten geblieben.
ackerbürgerliche
,
Dieser
des römischen Heeres ermöglichte", so sagt Weber wörtlich,
Festhaltung der Herrschaft durch die großen stadtsässigen Senatodie
Der Verlust der Stadt
99
der
renfamilien" (802). Was aber ist dann die Honoratiorenherrschaft
voll wehrfähigen ,Geschlechter"'? Voll wehrfähig ist in der römischen Republik derjenige, dessen Einkommen ein bestimmtes Minimum überschreitet. Und warum können die stadtsässigen Senatorenfamilien die
Herrschaft beibehalten, wenn doch alle grundbesitzenden Ackerbürger j
wehrfähig sind und politische Teilnahme an der Wehrfähigkeit hängt?
Weber hat wohl selber das Ungenügen seiner Konzeption gespürt. Am
Ende seines Beitrages über die Stadt spricht er über die Exklusivität der
antiken Stadt, über die Exklusivität des Bürgerrechts also, und muß hier
besondere(r) soziale(r) Bedinguneinräumen, daß aufgrund durchaus
gen" die römische Gemeinde im Hinblick auf das Bürgerrecht eine vom
antiken Typus sehr stark abweichende Politik" betrieb (812).
Diese besonderen sozialen Bedingungen liegen darin, daß der römische
Adel über Klientel - die innere und die äußere über Städte -, Freilassung
die Freigelassenen in vielfacher Weise dem Herrn verpflichtet
wobei
blieben - und Kolonat - den Weber fälschlich schon für die Republik als
Abhängigkeitssystem interpretiert -, daß der römische Adel also über
halbfeudale Abhängigkeitsverhältnisse"
(812) eine einzigarund
feudale
in der Welt ist eine derartige politische
tige Stellung behielt.
Nirgends
Patronage in den Händen einzelner, formell rein privater Familien verei-1
nigt gewesen" (813). An eine Eingemeindung der Geschlechter in die Demen und die Erhebung dieser Verbände zum Zwecke der Zerbrechung der FMacht der Geschlechterverbände nach attischer Art ist in Rom gar nicht
gedacht worden" (813). Hier wird der Leser nun vollends verwirrt. Denn
mit diesen Sätzen wird ja widerrufen, was Weber vorher ausgeführt hat:
die Stadt als anstaltsmäßige Gebietskörperschaft hat es also in Rom nicht
gegeben, ebensowenig - das können wir ergänzen - den leichten Zugang
zum Recht, denn er war immer über adlige Patrone vermittelt. Und rational im Weberschen Sinne kann es doch nicht sein, wenn formell rein priwie sie sonst nur Monarchen besitvate Familien" Herrschergewalten,
zen", innehaben (813).
Man muß radikal sein: nicht nur die kaiserzeitlichen Städte, sondern
fallen
Rom
in
für die Konzeption wesentlichen
das
republikanische
auch
Punkten aus dem von Weber konstruierten Typ der antiken Stadt heraus.
Zu dieser Aussage komme ich nicht durch Argumente von außen, sondern
dadurch, daß ich den Text auf Konsistenz hin lese. Die Gründe dafür
könnten natürlich darin liegen, daß der Text unfertig ist. Aber dagegen
spricht, daß sich die zitierten besonderen sozialen Verhältnisse Roms eben
nicht in den Weberschen Typus einordnen lassen.
Webers Konzept kann m. E. für Rom nur durch ein anderes ersetzt werden, in dem die Form der politischen Vergesellschaftung neu definiert
wird.
100
Jochen Marlin
IV. Skizze eines Gegenkonzepts.
Ich versuche, die Situation vom Inhalt des Bürgerrechts her zu analysieren. 4)
Zunächst: Das römische Bürgerrecht bewirkt weder Gleichheit vor dem
Recht noch auch nur Rechtssicherheit. Die Gleichheit vor dem Recht ist
deshalb nicht gegeben, weil alle römischen Bürger eingeteilt sind in Hausväter und der hausväterlichen Gewalt Unterworfene. Nur die Hausväter
sind sui iuris, können also voll über sich bestimmen, während alle anderen
alieni iuris sind. ') In Griechenland endet die hausväterliche Gewalt mit
der Mündigkeit der Söhne, in Rom dauert sie solange, wie ein Hausvater
lebt. 30- oder 40-Jährige, die zum Kriegsdienst verpflichtet und in den
Volksversammlungen abstimmungsberechtigt sind, bleiben also der hausväterlichen Gewalt untergeordnet, wenn ihre Väter oder Großväter noch
leben. Das hat u. a. zur Folge, daß sie kein Eigentum haben können, nur
beschränkt geschäftsfähig und der hausväterlichen Strafgewalt unterworfen sind. ) Ebenso wie die Hauskinder unterliegen Freigelassene bestimmten Einschränkungen im Hinblick auf ihren Rechtsstatus.
Rechtssicherheit besteht zwar insoweit, als durch Gesetze und das prätorische Edikt die Regeln für das Strafverfahren und für Strafen festgelegt
werden. Weil aber die Durchsetzung des Rechts wesentlich von der Initiative der Beteiligten abhängt - im Kriminalbereich gibt es keine staatliche
Strafverfolgung -, sind in der Regel einfache Bauern oder Handwerker
vor Gericht ohne einen mächtigen Patron chancenlos.
Die Vertretung vor Gericht ist denn auch ein wesentlicher Inhalt des Instituts der Klientel, die neben der familia eine zweite wichtige soziale Institution Roms darstellt') Außer in Hausväter und Gewaltunterworfene
°) Dieser Abschnitt wurde in größeren Partien gegenüber dem in Bochum Vorgetragenen umformuliert. Anlaß dafür waren Einwände vor allem von Christian Meier
und Klaus Schreiner. Otto Gerhard Oexle danke ich für ein längeres Gespräch über
die in Bochum verhandelten Probleme; seine Darstellung der Position Webers war
mir äußerst hilfreich. Anregungen für die Formulierung bot mir auch ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von Christian Meier mit dem Titel Der -griechische
und der römische Bürger. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ensemble gesellschaftlicher Bedingungen".
3) Auch die Frauen, die keinem Hausvater oder Ehemann unterworfen sind, sind
sui iuris, stehen aber unter einem Tutor.
6) Vgl. dazu den Kriterienkatalog für die okzidentale Stadt bei Oexle, u. S. 136ff.
') Ich gehe hier auf die Entstehungsbedingungen, die bei Weber und auch in der
modernen Forschung eine große Rolle spielen, nicht ein, weil ich keine Möglichkeit
zu auch nur wahrscheinlichen Aussagen sehe. Nur soviel sei gesagt, daß ich das
Konzept einer frühen Geschlechterstadt nicht akzeptieren kann (die Kurien können
z. B. auch cognatische Verwandtschaftsverbände gewesen sein, aus denen sich die
Der Verlust der Stadt
101
ist die römische Gesellschaft geteilt in Patrone und Klienten. Diese Teilung ist, anders als die in der familia, nicht rechtlich fixiert; ') die Römer
haben die Klientel als ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit - als fides - begriffen. Weil aber überall der Adel den entscheidenden Einfluß hatte, war
es für den Nicht-Adligen kaum möglich, nicht Klient eines adligen Patrons zu sein.
Als allen Römern gemeinsame Merkmale bleiben im rechtlichen Bereich connubium und commercium, d. h. die Rechte, vollgültige Ehen einzu-f
in
konnten
Diese
Rechte
Handel
treiben.
zu
aber
miteinander
und
gehen
begrenztem Umfang auch an nichtrömische Gemeinden verliehen werden,
so daß sie wenig charakteristisch für den Status des Bürgers sind. Eine
Tischgemeinschaft9) als Kennzeichen des Bürgerstatus hat es meines Wissens in Rom nicht gegeben. Wohl war es in der Kaiserzeit üblich, daß Patrone Klienten zu Tisch baten. Ob das auch für die Republik gilt, wissen
wir nicht.
An politischen Rechten im engeren Sinn vermittelt der Bürgerstatus die
Pflicht und das Recht zum Kriegsdienst, das Recht zur Teilnahme an
Volksversammlungen
sowie den Schutz gegenüber der magistratischen
Gewalt (die Möglichkeit zur Bekleidung von Ämtern steht ebenfalls
grundsätzlich allen Bürgern offen; sie kann aber hier vernachlässigt werden, da unabhängig von Abschließungstendenzen der Aristokratie schon
Ämter
Gründen
die
waren unbesoldet und erforderaus wirtschaftlichen
Römer kein Amt
ten einen hohen finanziellen Aufwand - der einfache"
übernehmen konnte).
Proletarier, d. h. Bürger ohne (Grund-)Besitz, brauchten bis zum Ende
des 2. Jahrhunderts v. Chr. gar keinen Kriegsdienst zu leisten. In der nach
Centurien, d. h. nach dem Vermögen gegliederten Volksversammlung war
das Stimmrecht dieser Proletarier fast gar nichts wert, da sie in nur wein
Stimmkörperschaften
wie
und
nicht,
waren
zusammengefaßt
nigen
Athen, die Einzelstimmen, sondern die Ergebnisse der Stimmkörperschaften (Centurien) den Ausschlag gaben. In den nach Tribus, d. h. nach
Wohnbezirken gegliederten Volksversammlungen
war die Masse des
Stadtvolkes auf nur 4 Tribus (von 35) verteilt. Bei den übrigen 31 Tribus
scheint es ebenfalls bessere und schlechtere gegeben zu haben. Und vor allem: Das einfache Landvolk konnte nur in Ausnahmesituationen zu den
Abstimmungen nach Rom kommen. 10)
Organiim
der
der
Zusammenhang
Entstehung
politischen
mit
agnatischen genies
sation erst herausgebildethaben).
`) Sie hat aber rechtliche Konsequenzen: Die Bestimmung VIII 21 der Zwölftafeln
lautet: Patronussi clienti fraudem fecerit, sacer esto.
') Vgl. dazu Oexle,u. S. 140f. 155; Nippe4 o. S. 48.50ff.
10)Vgl. dazu bfeier, Der griechische und der römische Bürger (wie Anm. 4), 17.
102
Jochen Martin
Noch entscheidender ist wohl, daß die römischen Volksversammlungen
nicht als Entscheidungs-, sondern als Akzeptanzgremien konzipiert wafand vor den Abstimmungen zwiren. ") Die politische Kommunikation
'2)
(oder
deren
In den
Beauftragten)
Patronen
Klienten
statt.
schen
und
Volksversammlungen gab es dann keine Diskussion mehr: über die magistratischen Vorlagen wurde mit Ja" oder Nein"
abgestimmt. Wie sehr
diese soziale Einbindung und Kontrolle des politischen Entscheids das
Denken der römischen Aristokraten bestimmte, geht noch aus Ciceros
Forderung in de legibus hervor: (suffragia) optimatibus nota, plebi libera
sunto. ") Will man eine solche Forderung nicht von vornherein für paradox halten - in der späten Republik war sie es m. E. -, dann muß man davon ausgehen, daß sich die gemeinte Freiheit der römischen Bürger eben
in
der
Mitwirkung am politischen Entwohl
nicht
primär
allein
und
nicht
scheid realisierte, sondern darin, daß die Adligen den im Rahmen sozialer
Kommunikation
eruierten Willen ihrer Klienten in ihrem politischen
Handeln zur Geltung brachten. Dann freilich brauchten die Abstimmungen nicht geheim zu sein, und es ist ja auch bezeichnend, daß geheime Abstimmungen erst in den Jahrzehnten eingeführt wurden, in denen es auf
verschiedenen Ebenen zu Konflikten zwischen der Senatsmehrheit (d. h.
der Mehrheit der Patrone) und der Volksversammlung kam.
Es bleibt als wichtige Komponente des Bürgerrechts, die nicht durch
Status differenziert war und ohne das Dazwischenwirtschaftlich-sozialen
treten von patres oder patroni wirksam werden konnte, der Schutz gegenüber der magistratischen Gewalt. Die plebs hat sich dafür die Volkstribune
geschaffen, im Jahre 300 v. Chr. wurde die Provokation institutionalisiert
und dann weiter ausgebaut. Auch wenn es später zu Mißbräuchen gekommen ist1°), liegt hier doch eine der Stärken des römischen Systems, die
etwa noch in der Appellation des Apostels Paulus an den römischen Kai- 6
ser zum Ausdruck kommt.
Bürger haben in der Regel nicht nur Rechte, die ihren Status betreffen,
sondern sie erheben auch Ansprüche im Hinblick auf ihre Lebenschancen,
") Vgl. dazu, bezogen auf die Wahl von Magistraten, auch Weber,WuG, 771f.
12)Zur politischen Bedeutung der Klientel vgl. Christian Meier, Res publica amissa.
Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. Wiesbaden 1966 (3. Aufl. Frankfurt am Main 1988), 24-34; Jochen Bleicken, Staatliche Ordnung und Freiheit in der römischen Republik (Frankfurter Althistorische Studien,
H. 6). Kallmünz 1972,64-80.
13)Cicero de leg. 11138, vgl. 33.
") Abgesehen davon, daß Magistrate wie Verses das Provokationsrecht nicht respektierten, bedeuten auch die Versuche des Senats, in Krisensituationen quaestiones extraordinariae einzurichten oder das senatus consultum ultimum zu fassen,
zwar nicht einen Verstoß gegen den Buchstaben, wohl aber gegen den Sinn des Provokationsrechts.
Der Verlust der Stadt
103
ihr materielles Wohlergehen. Soweit es dabei um den Schutz nach außen
ging, haben die Bürger selber ihn unter Führung der Aristokratie geleistet.
Für die Sicherheit des Lebens in Rom oder im römischen Gebiet tat die
römische Führung wenig") - schon hier war der Schutz von Patronen unfür
die
des
Bedingungen
Lebens: erDas
materiellen
gleiche
gilt
erläßlich.
obertes Gebiet wurde zwar partiell unter Bauern und deren Söhne verteilt,
aber weder wurden Kriege um solcher Ackerverteilungen willen geführt,
noch sind die Bauern, aufs Ganze gesehen, die Hauptnutznießer der
Kriege gewesen; ") die Aristokratie bereicherte sich dabei kräftig, auch mit
Land. Was schließlich die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln
angeht,
so war das römische Gebiet außerhalb Roms sich selber überlassen; für
die Stadt Rom wurde erst seit Gaius Gracchus die Getreideversorung angemessen organisiert. Man darf annehmen, daß auch hier vorher die Patrone eingesprungen sind.
des Systems nach außen waren stark, die
Die Handlungskapazitäten
nach innen gering ausgeprägt. Hier ging es vor allem darum, den Konsens
der Aristokratie, die Einheitlichkeit der Machtausübung in sozialen Verbänden (familia, Klientel) und die Solidarität innerhalb der Bürgerschaft
zu sichern. Dazu dienten sowohl politische Institutionen (Senat, Zensur)
als auch die sozialen Verbände selber (vor allem die patria potestas). Als
im 2. Jahrhundert der Konsens innerhalb der Aristokratie zerbrach, konnten die Ritter und die Volksversammlungen größeres Gewicht gewinnen,
freilich ohne daß sich das in Richtung auf eine Demokratisierung oder
eine selbständige politische Führungsposition der Ritter ausgewirkt hätte.
Den geringen Handlungskapazitäten nach innen und der oben hervorgehobenen sozialen Einbindung der meisten politischen Rechte entsprachen die Gehorsamsmodalitäten in Rom. Der römische Bürger gehorchte
zunächst dem paterfanzilias, dann dem Patron. Und dieser Gehorsam war
die Basis des Gehorsams gegenüber den Magistraten. Die römischen Historiker führen eine Reihe von Exempla dafür an, daß militärischer Gehorsam und politische Verfehlungen nicht aufgrund der magistratischen
Gewalt, sondern durch die patria potestas geahndet wurden. ") Ich sehe
") Zu nennen sind die häufigen Brände (erst Augustus hat eine Feuerwehr eingeganz zu schweigen von Raub,
richtet), die jährlichen Tiberüberschwemmungen,
Überfall etc.
") Damit soll nicht bestritten werden, daß Ackerverteilungen lange Zeit eine wichhatten; aber seit dem 3. Jahrhundert entrichteten
tige soziale Entlastungsfunktion
die Bauern einen ungeheuren Blutzoll und wurden oft jahrelang von der Bewirtschaftung ihrer Höfe abgehalten.
") bfaurizio Bettini, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom (Historische Studien, Bd. 8). Frankfurt am Main 1992,17-21.
104
Jochen Afartin
hier den Grund dafür, daß die römische Republik ohne einen organisierten Erzwingungsstab, also ohne Polizei, auskommen konnte. 18)
Es gab also kein Gewaltmonopol der Magistrate, oder anders ausgedrückt: die patria potestas war Bestandteil des politischen Systems. Im
Jahre 300 v. Chr. wurde die Zwangsgewalt der Magistrate sogar eingeschränkt (durch das Provokationsrecht), während das Tötungsrecht der
Hausväter gegenüber ihren Haussöhnen (ius vitae necisque) voll erhalten
blieb.
Das politische System stützte die patria potestas, wie es auch schon früh
die Klientelbeziehungen stützte. ") Die römische familia war eine rechtliche Institution, die nicht primär auf verwandtschaftlichen Bindungen beruhte20), und sie war im strikten Sinn die Grundlage nicht nur des gesellschaftlichen, sondern auch des politischen Systems. Die Macht der Hausväter hing ebenso von diesem System ab wie dessen Funktionieren von
der hausväterlichen Disziplinargewalt. Deshalb ist es nicht korrekt, wenn
Familien" spricht. Die UnterscheiWeber von
rein
private(n)
formell
im Sinne des 19. Jahrhunderts wird
dung von
und
privat"
öffentlich"
den römischen Verhältnissen nicht gerecht. Es gibt zwar auch in Rom die
Familie im modernen Sinn, aber sie ist nicht identisch mit der strikt definierten familia. 21)
Nun hat O. G. Oexle in seinem Beitrag darauf hingewiesen, daß Weber
den von Tönnies konstituierten Gegensatz zwischen Gemeinschaft und
Mehrzahl sozialer BeziehunGesellschaft
auflöst;
große
die
aspektiv"
gen" habe sowohl den Charakter der Vergemeinschaftung als auch den
der Vergesellschaftung".
) Könnte man nicht von hierher die römischen
Verhältnisse analysieren? Ich halte das deshalb für problematisch, weil es
zwar auch in der römischen Gesellschaft Vergemeinschaftung",
also
(affektuelle oder traditionelle) Zusammengehörigkeit"
gefühlte
subjektiv
gibt, diese aber nach dem Selbstverständnis der Römer nicht das Band ist,
das die familia oder die Klientel zusammenhält. Beide bestehen vielmehr,
1e)Wilfried Nippel, Aufruhr und
Polizei"
1988.
19)Zur Klientel vgl. Anm. 8 und 12.
in der römischen Republik. Stuttgart
20)Vgl. nur die Tatsache, daß im Falle einer manusfreien Ehe die Ehefrau nicht zur
familia gehörte.
21)Darin liegt das Problem jeder
für Rom, weil der GegenFamiliengeschichte"
stand erst konstituiert werden muß. Neue Dimensionen dafür hat jüngst Bettini, Familie (wie Anm. 17) eröffnet. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich anvergelsächsische, französische und italienische Historiker und Anthropologen
stärkt mit der römischen Familie beschäftigt; in Deutschland ist sie noch immer
eine Domäne der Rechtshistoriker.
22)Oexle, u. S. 133f.
Der Verlust der Stadt
105
wie die res publica, iuris consensu et utilitatis communione. 2J) Dagegen
spricht nicht, daß sich Klientelen vererben oder daß emotionale Bindungen, etwa zwischen Vätern und Söhnen, entstehen können. `)
Politische Beziehungen bestimmen demnach nicht nur die res publica
und ihre Institutionen, sondern auch die familia und die Klientel (mit Carl
Schmitt könnte man sagen: das Politische ist nicht allein in den politischen Institutionen lokalisiert, sondern ebenso in den familiae, den Beziehungen zwischen adligen familiae sowie den Beziehungen zwischen Patro')
Das Bürgerrecht konstituiert zwar die Zugehörigkeit
Klienten).
und
nen
zur politischen Gemeinde Roms, aber es realisiert sich nur partiell in der
Teilnahme am politischen Entscheid und in einem bestimmten Rechtsstatus. Voll wirksam wird es erst dadurch, daß Bürger als solche in die römischen sozialen Beziehungsnetze eingeordnet werden? ) In diesem Sinne ist
die römische politisch-gesellschaftliche
Organisation statusorientiert. Die
römischen Magistrate und mit ihnen die den Senat bildenden Adligen sichern die Handlungsfähigkeit Roms nach außen und nehmen Ordnungsfunktionen im Inneren wahr.
Zugleich werden die Magistraturen, die ja in der Regel auch die Voraussetzungen für einen Sitz im Senat sind, mit den Vorstellungen eines Gabentausches begriffen27): alle Magistraturen sind honores, Ehren, die das
27)Cicero de rep. 1 39. Der Satz ist hier auf die res publica hin formuliert.
24)Das Verhältnis des paterfamilias zu seinen jugendlichen und erwachsenen Söhdurch Distanz gekennzeichnen ist, eben wegen der Disziplinierungsfunktionen,
net; vgl. Bettini, Familie (wie Anm. 17), 21-25.
2') Hier ergibt sich ein konzeptionelles Problem: Meier, Der griechische und der röLeben, Zeit, Kraft,
mische Bürger (wie Anm. 4), 23 f., spricht davon, daß
tägliches
im allgemeinen unpolitischen AngelegenheiInteresse [Sc. der römischen Bürger]
...
ten gegolten haben [müsse, ] [sofern sie das Gemeinwesen nicht militärisch in Anspruch nahm. ) ... Die meisten römischen Bürger blieben also politisch Vereinzelte
in einem aristokratisch dominierten Gemeinwesen. " Ich frage mich, ob hier nicht
eine Engführung des Begriffs des Politischen vorliegt. Wenn man die familia und
die Klientel zur politischen Organisation rechnet, dann lassen sich m. E. die Aussagen Meiers nicht halten.
26)Ich erinnere nochmals an die Position des eigentumslosen erwachsenen Haussohnes oder an die des Klienten, der sein Recht nur mit Hilfe des Patrons durchsetzen kann.
27)Ich verwende den Begriff
in einem strikt sozialen Sinn: Wenn
Gabentausch"
materielle Gaben ausgetauscht werden, dann liegt deren Bedeutung in der Ehre und
in dem Respekt, die man sich dadurch gegenseitig (oder den jeweiligen Empfängern) erweist. Für das Verhalten der principes gegenüber der plebs urbana in Rom
und gegenüber dem Heer hat das eindringlich analysiert Egon Flaig, Den Kaiser
herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Historische Studien, Bd. 7).
Frankfurt am Main/New York 1992, I. Abschnitt. - Im übrigen werden aber nicht
nur materielle Gaben ausgetauscht, sondern Leistungen und Ehrerweise verschiedenster Art. Entscheidend dafür, hier von Gabentausch zu sprechen, ist die Form
106
Jochen Martin
Volk den Adligen erweist, und eine Adelsfamilie verliert ihren Status,
Ämter bekleiden. ") Die adlilängere
Zeit
keine
ihre
Mitglieder
über
wenn
gen Amtsträger kompensieren den Ehrerweis nicht nur durch politische
Leistung, sondern auch durch finanziellen Aufwand: für die Amtsführung, für Bauten, für Spiele und Speisungen. Die gleiche Form des Gabentausches ist auch für die Klientel charakteristisch: der Patron erbringt
Leistungen für die Klienten, ohne die diese ihren Status als Bürger, z. B.
vor Gericht, gar nicht realisieren könnten; und umgekehrt erbringt der
Klient Leistungen für den Patron, ohne die der Patron seinen Status weder halten noch symbolisch darstellen könnte: das eine dadurch, daß die
Klienten die Patrone in den Volksversammlungen unterstützen, das andere dadurch, daß sie zum Morgenempfang kommen, die Patrone bei
Ausgängen in die Stadt begleiten, ihnen Geschenke machen etc. In einer
depravierten Form gehören auch die riesigen Bestechungen der späten Republik in diesen Zusammenhang. Schließlich hat der Gabentausch auch
in
der
der
Kommunikation
Adligen unterFunktion
eine entscheidende
der
des
des
Mitadligen
Status
die
Anerkennung
erfolgt
seit
mitteinander:
leren Republik zunehmend auch dadurch, daß andere Adlige in den Tedaß
Usus
bedacht
Dieser
Legate
durch
weit,
so
geht
werden.
stamenten
verschiedene Gesetze verabschiedet werden müssen, um den oder die
Haupterben zu schützen 29)
Dieses ganze System erforderte - und darauf kommt Weber überhaupt
die
ich
Konsum:
adlige
etwa
erheblichen
nenne
nicht zu sprechen - einen
Repräsentation, z. B. Begräbnisse mit einem riesigen demonstrativen Aufwand, ferner Spiele und Bewirtungen, die Ausrichtung religiöser Feste,
den Aufwand für Ämter, die Legate. Kurz: ein erheblicher Teil der Einnahmen floß in diesen Konsum. Da an ihm der Status sowohl der Adligen
als auch der Bürger hing, konnte auf ihn nicht verzichtet werden. Selbst
der ärmste Bürger in einer römischen Stadt hatte Anspruch auf bestimmte
Leistungen, die nicht etwa aus sozialen Gründen zugestanden wurden,
funkAdligen
Bürgern
die
Beziehungen
und
weil
zwischen
nur
so
sondern
der politisch-gesellschaftlichen Ordnung: nämlich daß es sich um ein auf Akzeptanz, nicht auf politischer Teilnahme beruhendesSystem handelt.
28)Das wird besonders deutlich (und humorvoll) von Cicero in pro MMurena16 ausgeführt.
29)Es handelt sich um die lex Furia von 204/169, die lex Voconia von 169 und die
lex Falcidia von 40 v. Chr. In der letzten wurde festgesetzt, daß den Haupterben
mindestens ein Viertel des Gesamterbes bleiben müsse. Daraus wird ersichtlich, wie
umfangreich der Gabentausch geworden war. - Das Verhältnis zwischen Vätern
und Söhnen in der familia kann man als zeitverschobenen Gabentausch interpretieren: der Haussohn unterwirft sich der patria potestas, um in der Zukunft die Funkwahrnehmen zu können; vgl. dazu Bettini, Familie (wie
tion des paterfamilias
Anm. 17), 17-21.
Der Verlust der Stadt
107
tionierten und der Status der Bürger zum Ausdruck gebracht werden
konnte. Evelyne Patlagean spricht deshalb von der Armut des antiken
Stadtbürgers als einer pauvrete sociale, d. h. es handelte sich um eine Armut, die gleichsam überlagert wurde vom Bürgerstatus. Erst in der spätantiken Stadt erscheine die pauvrete economique, die nackte ökonomische
Armut? ')
Gesellschaft stellt
Um zusammenzufassen: die römisch-republikanische
einen Zusammenschluß nicht von Einzelnen, sondern von familiae und
Klientelen dar. ") Spezifisch an diesem Zusammenschluß ist, daß zwar politische Institutionen für das Gemeinschaftshandeln bestehen, den familiae und Klientelen aber aufgegeben ist, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese besteht wesentlich in einem auf Integration und Unterordnung zielenden Wertsystem und in einer klaren Abstufung verschiedener
Status, die nur dadurch erhalten und zur Geltung gebracht werden können, daß die familiae und Klientelen Bestandteile des politischen Systems
sind oder - anders ausgedrückt - die patres und patroni gegenüber ihren
Das
Gewaltunterworfenen und Klienten die res publica repräsentieren'')
Mittel, durch das die Beziehungen sowohl zwischen den Patronen als auch
ist
der
dargestellt
Patronen
Klienten
werden,
reguliert
und
zwischen
und
Gabentausch. Insgesamt sind also in der römischen Republik
archai-sche" Formen der Sozialisation nicht, wie in Griechenland, zerschlagen,
")
in
Zusammenhang
worden.
einen
politischen
sondern
eingeordnet
In der Stadt der Kaiserzeit finden gewisse Modifikationen
statt, die
Rahmen nicht sprengen. Zuaber den beschriebenen konzeptionellen
nächst zum Sonderfall der Residenzstadt Rom. Hier besteht die wichtigste
Veränderung darin, daß es nun ein eindeutiges Machtzentrum gibt. Insofern verlieren die fanziliae und die Klienten ihren alten politischen ChaKlientelverhältnisse
rakter. ") Entpolitisierte"
zwischen Adligen und
Nicht-Adligen bleiben bestehen: Patrone vertreten weiterhin ihre Klienten
vor Gericht oder sichern ihnen Verbindungen, laden sie zum Essen, wähmachen, Patrone auf Ausgängen
rend Klienten ihre Morgenaufwartung
begleiten, sie in Gedichten besingen. ")
30)Ecelyae Patlagean, Pauvrete economique et pauvrete sociale a Byzance 4=7* siecles (Civilisations et Societes, vol. 48). Paris/Den Haag 1977.
*3I) Vgl. dagegen Webers Position, WuG, 744f.; dazu Nippel, o. S. 42, und Oexle,
u. S. 139f.
32)In Athen gibt es diese Funktion von Oiken nicht.
") Dies ist als funktionale, nicht als genetische Aussage gemeint.
31)Norbert Rouland, Pouvoir politique et dependance personnelle dans I'Antiquite
romaine. Genese et role des rapports de clientele (Collection Latomus, vol. 166.).
Bruxelles 1979.
33)Die Hauptquelle für diese Klientelverhältnisse
sind die Satiren Juvenals und
Martials; vgl. z. B. Martial XII 68, X 10, X 87; Juvenal V1 ff.
I
108
ý
Jochen Martin
Wichtiger aber ist: ebenso wie der Adel der Republik ist der Prinzeps
auf Akzeptanz angewiesen, die nun wiederum im Modus des Gabentausches zustandekommt. Der Prinzeps ehrt die plebs urbana durch Geschenke, Spiele (und die Anwesenheit bei Spielen), Versorgung mit Getreide. Das Volk ehrt den Prinzeps durch Akklamationen und Wohlverhalten 36) Was den Adel angeht, so vermittelt wesentlich der Prinzeps Status. ") Kaisernähe wird zum Ausdruck der höchsten Ehre. Die Gegengaben der Adligen sind Dienst und Loyalität, die Initiative zu Ehrenbeschlüssen für den Prinzeps, schließlich auch hier Legate. Dieses ganze
System kann nicht vom Gesichtspunkt der Legitimität noch von dem einer
Beteiligung an der Herrschaft her aufgeschlüsselt werden. Der römische
Prinzeps ist aber auch kein Militärdiktator
oder absoluter Herrscher;
ebensowenig ist der römische Adel eine höfische Gesellschaft". Wir haben es mit einem Akzeptanzsystem zu tun, das sich in den traditionellen
Formen des Gabentausches darstellt 38)
In den Städten des römischen Reiches ist zwar das Verhältnis zum Prinzeps nicht unwichtig, aber es bestimmt nicht unmittelbar den Bürgeralltag.
Es gibt verschiedene Kategorien von Städten - Bürger-, Latiner- und Peregrinen-Städte, wobei innerhalb der einzelnen Kategorien noch erhebliche
Unterschiede bestehen -, aber dennoch lassen sich bestimmte Strukturen
verallgemeinern. Alle Städte verwalten sich im wesentlichen selber. Ihre
Ordnung kann entweder von Rom gesetzt oder eine übernommene OrdÜber
die Beteiligung des Stadtvolkes an politischen Entscheinung sein.
dungen wissen wir nur wenig; wahrscheinlich ist, daß zwar die städtischen
Magistrate gewählt wurden, im übrigen aber kaum eine institutionelle
Mitwirkung an politischen Entscheidungen bestand 39) Überall aber war
36)Vgl. dazu Paul Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische
Herrschaft in der Antike (Theorie und Geschichte, Bd. 11). Frankfurt am Main/
New York 1988, bes. 83-92 und 577 ff., ferner Flaig, Usurpation (wie Anm. 27). Der
Modus des Gabentausches wird besonders deutlich dort, wo es um die Bewältigung
von Krisen (z. B. Kornknappheit) geht: Die plebs urbana ist bei Principes, die die
Nähe zum Volk suchen (z. B. Augustus), bereit, Krisen zu ertragen, bei anderen
nicht (z. B. Tiberius).
") Damit ist nicht gemeint, daß Dinge wie Reichtum oder Herkunft keine Rolle
Ämtern
den
Aber
Princeps
also
zu
zugelassen,
spielten.
wer vom
nicht akzeptiert mit Kommanden betraut, in den Patriziat aufgenommen oder (im Bedarfsfall) mit
Geldmitteln ausgestattet - wurde, konnte auch nicht auf Dauer Ehre erlangen.
36)Das gilt auch für das Verhältnis eines anderen wichtigen Sektors der römischen
Gesellschaft, nämlich des Heeres, zum Prinzeps; vgl. dazu Flaig, Usurpation (wie
Anm. 27), III. Abschnitt.
39)Zur Einrichtung von Provinzen und zum Schicksal der Städte dabei vgl. Joachim
Marquardt, Römische Staatsverwaltung, Bd. 1. Leipzig 1884 (Nachdruck 1957),
69-92 und 500-502; Wilhelm Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. Leipzig 1900 (Nachdruck 1967), 463-476; zu den innerstädtischen Organen
Der Verlust der Stadt
109
die Zugehörigkeit zum Reich über die Zugehörigkeit zu einer Stadt vermittelt. Und das Verhältnis zwischen städtischen Honoratioren - also Dekudem
dem
Stadtvolk
ähnlich
Amtsträgern
zwischen
war
und
rionen und
Patronen und Klienten: die Honoratioren bauten Aquädukte, Bäder und
Tempel, richteten religiöse und andere Feste aus, bewirteten das Stadtin
dies
die
Getreideversorgung
für
teilweise
alles
eiund
volk, sorgten
ihrer
finanziellen
Existenz
bis
den
Rand
der
Einzelne
Ausmaß,
an
nem
führte. Das Stadtvolk ehrte auch hier die Honoratioren durch Wahl zu
Ämtern, durch Akklamationen bei Spielen, durch die Beteiligung an Fedie
fühlte,
der
Stadt
daß
dadurch,
stolz
auf
zugehörig
sich
es
sten und
Stadt war. `0) In Bürger- und Latinerstädten konnte, wer in der Stadt Ehre
dort
des
Reiches
in
Führungsschicht
die
aufsteigen
und
von
erlangte, auch
her wieder als Patron für die Stadt wirken.
Die Parallelen zwischen dem republikanischen Rom und den kaiserzeitlichen Städten scheinen mir offensichtlich zu sein. Zwar verändern sich
die Partner der sozialen Beziehungen, nicht aber deren Formen. Der Stain
Teilhier
politischer
des
primär
Bürgers
nicht
tus
verwirklicht sich auch
in
jeder
Einzelne
daß
darin,
ein politisch-soziales, auf
nahme, sondern
Gabentausch beruhendes Beziehungssystem einbezogen ist.
Außer für die Kontinuität der Stadt hat das vorgeschlagene Konzept
Schichten
die
nicht
Vorteile:
nicht-besitzenden
es
schließt
erstens
weitere
41)
Webers
denn
Stadt
sie
nicht
der
gehören
zu
aus,
aus
Kriegerzunft"
Legt man Webers Stadtbegriff zugrunde, dann hätte Rom in der späten röZweiBürger
in
der
Kaiserzeit
Republik
weniger
gehabt.
viel
und
mischen
die
im
her
Weberschen
Gabentausches
des
Modus
kann
auch
vom
tens
Sinn irrationale Form des Wirtschaftens erklärt werden. Die Aristokratie[(_,
h.
ihren
Stableiben,
d.
Aristokratie
konsumorientiert
wenn
sie
sein,
mußte
für
kein
Statusgewinn
Mittel
Unternehmertum
war
tus wahren wollte.
die erfolgreich
Dekurionen,
kennen
Wir
spätantike
noch
oder -erhaltung.
im Handel und Gewerbe tätig waren, ihre Grabinschriften aber so abfaßbis
`)
Unternehmertum
des
Jahrhunderts.
1.
die
war
Dekurionen
ten wie
in the
Administration
Municipal
Johnson,
Chester
Frank
Frost
Abbott/Allan
vgl.
Roman Empire. Princeton 1926 (Nachdruck 1968), 56-83. Zum Ganzen auch Friedrich l'ittinghoff, §3 Gesellschaft, in: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeder
(Handbuch
Vittinghoff
Friedrich
in
der
Hrsg.
Kaiserzeit.
v.
römischen
schichte
1990,196-204.
Stuttgart
1).
Bd.
WirtschaftsSozialgeschichte,
und
europäischen
40)Vgl. dazu Veyne, Brot und Spiele (wie Anm. 36), und Vittinghoff, Gesellschaft
(wie Anm. 39), 201.
") Auch wenn man bedenkt, daß Weber einen Typus konstituieren, nicht die Realiberechtigt
Handwerker
der
der
Ausschluß
nicht
etwa
tät abbilden will, scheint mir
in
Zeiten,
frühesten
den
im
sogar
Rom
waren
sie
Handwerker
seit
gab es
zu sein.
Bauern.
depossedierte
da
handelt
Es
um
nicht
sicher
sich
collegia organisiert.
42)Henri Willy Pleket, Urban elites and businessin the Greek part of the Roman
&
i
C-
110
Jochen Martin
in die Spätantike hinein nicht etwas, das Ehre vermittelte. Drittens
schließlich ist das hier vorgeschlagene Konzept besser als das Webersche
geeignet, das Schicksal der Stadt in den letzten Jahrhunderten des weströmischen Reiches zu erklären - damit komme ich zu meinem letzten Punkt.
V. Der Verlust der Stadt
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß für Weber die Möglichkeiten
städtischen Wirtschaftens in der Kaiserzeit durch fiskalische und liturgische Anforderungen des Staates gleichsam abgewürgt wurden. Dieses Bild
stimmt, wie ebenfalls schon angedeutet, für die frühe Kaiserzeit nicht. Es
ist aber auch für die Spätantike schwer zu halten.
Früher nahm man an, die städtischen Ratsherren seien generell haftbar
gemacht worden für Steuerausfälle und dadurch in den finanziellen Ruin
`)
darf
heute
Wenn imDieses
Bild
widerlegt
als
gelten.
getrieben worden.
mer wieder auf das Wachsen der staatlich angeforderten Liturgien hingewiesen wird, dann ist das zwar richtig, muß aber konfrontiert werden mit
der Tatsache, daß vorher die Führungsschichten freiwillige Leistungen in
erheblichem Umfang erbrachten. Viele dieser Leistungen fielen nun weg ich erinnere nur an den Bau und die Erhaltung von Tempeln, die Priestertümer und die Ausrichtung religiöser Feste. Primär im Finanziellen und
Wirtschaftlichen können die Probleme nicht gelegen haben. Das gilt auch
im Dekurionenstand oder in beruflichen
für die Zwangsmitgliedschaft
Korporationen. Einerseits war der Übergang von Tätigkeiten vom Vater
auf den Sohn durchaus das Normale auch vor den spätantiken Gesetzen,
andererseits gab es trotz dieser Gesetze eine hohe horizontale Mobilität 44)
Wenn sich aber hier wenig veränderte - wo dann? Meine These ist: innerhalb des überdehnten bürokratischen Staates der Spätantike wird die
Stadt zu einem Annex des Reiches, in dem die auf Gabentausch beruhenden Beziehungen zwischen den städtischen Führungsschichten und den
Staatsbürgern nicht mehr funktionieren können. Ich erläutere das kurz.
Empire, in: Trade in the Ancient Economy. Hrsg v. Peter Garnsey/Keith Hopkins/
Charles Richard Whittaker, London 1983,131-144.
") Hermann-Josef Horslkotle, Die Theorie vom spätrömischen
und
Zwangsstaat"
(Beiträge zur klassischen Philologie, H. 159). Ködas Problem der
Steuerhaftung"
nigstein i. T. 1984.
") M. K. Hopkins, Social Mobility in the Later Roman Empire. The Evidence of
Ausonius, in: Classical Quarterly 11,1961,239-249; Ramsey MacMullen, Soziale
Mobilität und der Codex Theodosianus' (1964), in: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit. Hrsg. von Helmuth Schneider (Wege der Forschung, Bd. 552). Darmstadt 1981,155-167.
Der Verlust der Stadt
111
Die Leistungen, welche die Dekurionen erbringen müssen, verlieren imund - was vielleicht noch
mer mehr den Charakter der Freiwilligkeit,
wichtiger ist - sie beziehen sich immer weniger auf die Bürger der Stadt,
sondern auf den Staat. Die Dekurionen werden aus einer städtischen FühI
Gruppe
Erfüllungsgehilfen
hervon
rungsschicht zu einer mediatisierten
abgedrückt, und dies äußert sich auch darin, daß die rechtlichen Privilegien, die sie im Strafprozeß genießen, nicht mehr durchgehend beachtet
werden. Dazu verlieren sie Möglichkeiten des demonstrativen Konsums in
Bereichen, die für die Beziehungen zu den städtischen Schichten außeror- I
dentlich wichtig waren, wie z. B. die Bekleidung von Priestertümern, die
Ausrichtung religiöser Feste und weltlicher Spiele. Der legale Aufstieg in
die Führungsschichten des Reiches wird ihnen verschlossen; da immer
den
Dekurionen
landsässig
Senatoren
werden,
zudem
erwächst
als
mehr
Patronen eine ungleich mächtigere Konkurrenz in den Gebieten, die ihren
Städten benachbart sind. `S) Kurz: die Honoratioren sind keine Honoratiodie
Stadt
die
können
Bürger
diesem
mit
einer
umgekehrt
und
ren mehr,
Status verbundene Ehre kaum noch real erfahren: sie werden zu Objekten
des mittelbaren oder unmittelbaren Zugriffs des Staates, die Zuweisung
46)
Das
Ergebnis
ist
den
Gabentausch
Ehre
über
greift
nicht
mehr.
ein
von
in
den
je
der
Bürgerbegriff
Paradox:
spätantiken
abstrakter
merkwürdiges
formuliert wird - und gerade wegen dieser Abstraktion
Kodifikationen
desto
bedeutete
für
für
Rezeption
ja
die
weniger
er
spätere
eignet er sich
-,
den Einzelnen. Unter sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten bedeutet dies: der Arme wurde zum Armen im Sinne der pauvrete econontidurch
den
Bürgerstatus gedeckPatlageans,
mehr
nicht
zum
nackten,
que
ten Armen und als solcher zum Objekt der christlichen caritas.
Damit komme ich noch zu einem weiteren Bereich, von dem her der
dargestellte Prozeß beleuchtet werden kann. An die Stelle der Beziehunin
der
Spätantike
Stadtbürgern
tritt
Führungsschichten
und
gen zwischen
dem
BiGemeindemitglied
der
und
christlichem
zwischen
zunehmend
I
4S)JochenMfartin, Spätantike und Völkerwanderung (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 4). 2. Aufl. München 1990,93-95,190f. (mit weiterer Literatur).
46)Was hier dargestellt wird, vollzieht sich in einem Prozeß, der im Westen etwa bis
zum Beginn des 5. Jahrhunderts reicht. Die Städte im Osten unterliegen anderen
Alfoldi, Die Kontorniat-Medaillons
Bedingungen. - Bei Andreas Alfoldi/Elisabeth
(Antike Münzen und geschnittene Steine, Bd. 6). Berlin/New York 1990, Teil 2:
Text, 21, werden die alten Verhältnisse sehr schön zum Ausdruck gebracht: So hat
Ammian auch darin recht, daß die Bürger Roms nur durch das Organ ihrer Sprechchöre bei den Spielen ihrer politischen Leidenschaft und Meinung Ausdruck verleihen konnten und ihr altes Prestige nur dort durch die achtungsvollen Gebärden der
Herrscher und ihrer Würdenträger dem Volk gegenüber zur Geltung kam. " Entdenen der Adel
Kontorniaten,
der
den
Rückseiten
mit
nehmen
auf
sprechend
Roms alte Traditionen beschwören wollte, Darstellungen aus dem Zirkusleben einen breiten Raum ein.
112
Jochen Martin
schof, der seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zunehmend sich selber und seine Gemeinde unter den Schutz von Heiligen stellt, in deren
Namen er handelt. Ich brauche hier nicht auszuführen, welche beherrschende Stellung die Bischöfe in vielen Städten des Westens erlangten. Sie
hat nicht nur mit den Leistungen der Bischöfe zu tun, sondern auch damit,
daß für die Reichsbewohner Macht aus einem Phänomen der Beziehungen zwischen Menschen zu einem solchen der Beziehungen zwischen Gott
Über
")
den
Menschen
das Christentum, insbesondere
und
geworden war.
die Heiligen, konnten sich neue Formen der Zugehörigkeit zur Stadt bilden, aber diese waren diametral verschieden von den alten. Die trotz aller
Bedeutung des Kultes für antike Vergesellschaftung wesentlich säkulare
Kommunikation
zwischen Stadtbewohnern macht der Predigt des Bischofs Platz, die durch Gaben zugewiesene Ehre der caritas, die pauvrete
sociale der pauvrele economique. Man kann hier nur von einem Verlust der
antiken Stadt sprechen, und ich meine, daß die Bedingungen für den Neuanfang der mittelalterlichen Stadt besser verständlich werden, wenn man
die Radikalität des Endes der antiken Stadt im Westen akzeptiert.
VI. SchluBüberlegung
Das Verhältnis der antiken zur mittelalterlichen Stadt bleibt ein offenes
Problem, schon deshalb, weil nicht nur in den althistorischen, sondern
auch in den mediävistischen Beiträgen dieses Bandes unterschiedlich akzentuiert wurde. Klaus Schreiner hat in der Diskussion gesagt, vieles von
dem, was ich zur antiken Stadt ausgeführt hätte, gelte auch für die mittelalterliche Stadt. Bei Otto Gerhard Oexle werden die Unterschiede stärker
herausgestellt bzw. sie ergeben sich dann, wenn man Oexles Analyse des
Weberschen Typus
Stadt" an der antiken Stadt zu verifizieokzidentale
ren versucht.
Offen bleibt auch, wie sich Weber ein Weiterwirken der antiken Stadt
gedacht hat. Eine unmittelbare Kontinuität von der antiken zur mittelalterlichen Stadt hat ja auch er nicht angenommen. Bliebe eine vermittelte
Kontinuität: sie könnte begründet sein entweder in der
Eigengesetzlichkeit" politischer Verwaltungsformen (vgl. oben S. 98) und/oder darin, daß
man sich im Mittelalter auf Exempla bzw. auf das politische und Rechtsdenken der Antike zurückbezog.
Einwände
Die vorgetragenen
gegen Webers Analyse der antiken Stadt
hatten nicht primär den Sinn, diese als falsch zu erweisen (auch wenn man
den Text so lesen kann). Wichtiger
scheint mir die Frage danach zu sein,
") Jochen Martin, Zum Selbstverständnis, zur Repräsentation
sers in der Spätantike, in: Saeculum 35,1984,115-131.
und Macht des Kai-
Der Verlust der Stadt
113
der
ist.
bedingt
Sieht
Konzept
\Vebers
von
originäman
einmal
wodurch
Zeit
dem
Wissensstand
\Vebers
Leistung
ab,
seiner
und
theoretischen
ren
dann scheint mir sicher zu sein, daß Weber im Rahmen bestimmter
Grundanschauungen des 19. Jahrhunderts argumentierte: dazu gehörte
die Zuordnung der
öffentlich
Unterscheidung
die
B.
von
und
privat
und
z.
Familie zum privaten Bereich, dazu gehörte die Unterscheidung von Gebedazu
Gesellschaft,
auch
eine
schließlich
gehörte
und
meinschaft
Was
des
Begriffs
Füllung
inhaltliche
anaeinmal
stimmte
Rationalität".
lytisch geschieden war, war schwer wieder zusammenzufügen: von daher
die
Familien",
den
E.
die
Rede
von
rein
privaten
sm.
erklärt sich
formell
die
Tatsahätten,
Monarchen
Macht
auch
erklärt
sich
ausgeübt
wie
eine
che, daß Weber der patria potestas und den durch die Familienordnung
im bürgerlichen Rechtsstatus keine Bebedingten Unterschiedlichkeiten
ja
der
Rubrik
diese
Dinge
heute
(bis
unter
werden
schenkt
achtung
Pri")
dargestellt).
Lebens"
des
in
Geschichten
vatrecht" oder
privaten
Elias im Blick
so hat Norbert
für den berufsRationalität
formuliert:
Weber
Max
nur
nicht
auf
Daß
ist, hat Max
des Abendlandes
Menschen
bürgerlichen
charakteristisch
Noch
Religionssoziologie
Weber in seinen Aufsätzen
nicht
gezeigt.
zur
im
daß
hervorgehoben,
bisher
hat
deutlich
auch
es
man
genug aber
Rationalider
berufsbürgerlich-kapitalistischen
Abendlande
neben
selbst
aus anderen gesellschaftlichen
tät noch andere Rationalisierungstypen,
"49)
Elias
hat
Notwendigkeiten
auch
noch
gibt.
wohl
und
gegeben
geboren,
Rationalitätstyp.
Gesellschaft"
die
einen
solchen
als
versteht
höfische
Gesellschaft könnte man als einen RaAuch die römisch-republikanische
\Vas den Inhalt
der Rationalität
betrifft,
für
die
Anhätte
Konsequenzen
Das
begreifen.
Art
tionalitätstyp
eigener
ist
ja
immer
bestimmt
Weber
die
bei
das
Phänomen,
auch
näherung an
ist,
die
ist.
M.
E.
auch
wenn
man
dem,
nicht"
oder noch
was schon"
von
Überlegungen
die römische Stadt weiterhin
hier vorgetragenen
akzeptiert,
Stadt zuzuweisen,
dem Typus der okzidentalen
und zwar vor allem desFormen sozialer Beziehungen
Klientel,
und Normen
halb, weil farrrilia,
überlagert
Verhaltens
politisch-rechtlich
- oder unterlegt - sind.
sozialen
") Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es gibt auch vor dem 19. Jahrhundert dem
im
19.
Jahrhundaß
darin,
liegt
Problem
Das
Phänomene.
aber
analoge
Privaten"
konzeptionell ausgeformt worden ist. Die
dert das Begriffspaar
öffentlich-privat"
Zuordnungen, die bei dieser Konzeptualisierung vorgenommen wurden, treffen auf
in
die
Problematik
Einführung
Gesellschaften
Eine
keineswegs
gute
zu.
vergangene
KonGesellschaftspolitische
Privatheit.
bietet Karin Hausen. Öffentlichkeit
und
für
Gein:
Journal
die
Geschichte
der
Geschlechterbeziehungen,
struktionen und
H.
1,16-25.
1989,
schichte
49) Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des KöGeSoziologie
höfischen
der
Aristokratie.
Mit
der
Einleitung:
und
nigtums und
168.
Frankfurt
1990),
Main
1983
(Nachdruck
am
schichtswissenschaft.
114
JochenMartin
Geht man von Rationalitätstypen aus, dann stellt sich freilich das Prodas Klaus Schreiner angesprochen hat, SO)noch
blem der Kontinuität,
Ähnlichkeiten
in VerMax
Weber
Es
kann,
hat,
wie
ausgeführt
schärfer.
waltungsformen der antiken und der mittelalterlichen Stadt geben; oder,
der Affekte"
um das Beispiel von Elias aufzugreifen, die Bändigung
kann in der christlichen Askese, in der höfischen Gesellschaft und beim
römischen Adel vergleichbare Formen haben; unterschiedlich - und konstitutiv für den jeweiligen Typ - ist aber das Woraufhin der Bändigung
und das Ensemble dessen, was auf die Erreichung des Zieles hingeordnet
wird.
Der Verlust an Kontinuität, der entsteht, wenn man nach dem Bedingungsgrund von Rationalitätstypen fragt, wird aber kompensiert durch eivergangener Gesellschaften wird deutlicher,
nen Gewinn: das Andere"
und Historie entgeht vielleicht eher der Gefahr, ein Gespräch mit sich selber zu führen.
sodSchreiner, u. S. 195 ff.
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