Ein Musiker zwischen den Welten: Der deutsch

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LITERATUR UND KUNST
NZZ.CH
Freitag, 16:00
Ein Musiker zwischen den Welten
Der deutsch-amerikanische Dirigent und Komponist Hermann Hans
Wetzler
Literatur und Kunst
Freitag, 16:00
Schwermut in den Gesichtszügen: der Musiker Hermann Hans Wetzler. (Bild: Alfred Stieglitz / ZB Zürich)
Als ob er gegen sich selbst hätte antreten wollen – so liest sich die Biografie von
Hermann Hans Wetzler. Der Nachlass des deutsch-amerikanischen Komponisten und
Dirigenten lädt zu näherer Betrachtung dieser tragischen Figur ein.
Heinrich Aerni
Als vor acht Jahren der Nachlass des Dirigenten und Komponisten Hermann Hans Wetzler (1870–1943) in der Zentralbibliothek
Zürich angeliefert wurde, kannte niemand mehr dessen Namen. Mit einer ersten Sichtung jedoch, die Briefe etwa von Richard
Strauss oder Wilhelm Furtwängler zutage förderte, öffnete sich das Tor zu einer Welt, in der einst die Grossen der
Musikgeschichte verkehrt hatten – mittendrin Wetzler, ein brillanter Musiker zwar, aber auch mit eklatanten Schwächen, dessen
Karriere nicht so kometenhaft verlief und gerade dadurch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte vermittelt.
Unsichere Anfänge
1870 als Sohn einer Frankfurter Pianistin und eines Deutsch-Amerikaners in Frankfurt am Main geboren, wuchs Wetzler in
Cincinnati und Chicago auf. Beide Eltern waren jüdischer Abstammung. Nach dem frühen Tod der Mutter liess ihn der Vater
zusammen mit der jüngeren Schwester Minnie als «Wetzler Children» auftreten, beide am Klavier, Hermann zusätzlich mit der
Violine. Ab 1885 studierten die beiden bei Clara Schumanns Töchtern am Hoch'schen Conservatorium in Frankfurt am Main
Klavier. Minnie schaffte es später in Clara Schumanns Meisterklasse, Hermann absolvierte dafür als Mann ein viel breiteres
Studium. Vor allem der durchgehende Kompositionsunterricht beim Direktor Bernhard Scholz sollte sich als prägend erweisen,
wenngleich Wetzler später stets Engelbert Humperdinck als seinen Kompositionslehrer nannte, bei dem er einige Monate privat
studiert hatte.
Wetzler galt in seinem Studium als Aussenseiter, zum Teil wohl wegen eines Stotterleidens, das ihn ein Leben lang begleitete. Er
stand einem Kreis um den Mitstudenten Hans Pfitzner nahe, dessen Kompositionstalent alles überstrahlte. Auch ausserhalb des
Konservatoriums kam Wetzler mit Personen in Berührung, deren Kunstideal später im Nationalsozialismus eine zentrale Rolle
spielte, so mit Daniela Thode, der Tochter von Cosima Wagner und Hans von Bülow, und ihrem Mann, dem Kunsthistoriker
Henry Thode, sowie dem Maler Hans Thoma. Dieser stand 1896 gar Pate, als sich Wetzler evangelisch taufen liess, um Lini
Dienstbach heiraten zu können, die Schwester eines Musikerfreundes.
Nach dem Konservatorium wartete auf die Schwester Minnie eine passable Pianistenkarriere in den USA, während Wetzler sich
vergeblich um eine Einstiegsstelle als Korrepetitor an einem deutschen Theater bemühte. So reiste er 1892 zurück, um sein Glück
in New York zu versuchen. In regelrechten Lehr- und Wanderjahren verdingte er sich als Kirchenorganist, Chorleiter,
Klavierlehrer, Liedbegleiter, Orchesterbratscher und auch als Komponist von Gelegenheitswerken für die Kirche. Hervorzuheben
ist die frühe Hinwendung zu Johann Sebastian Bach, zunächst als Organist, dann auch als Continuospieler: in Aufführungen der
neu entstehenden Ensembles für alte Musik.
Nach der Heirat 1896 kam die Ehefrau Lini nach, der gemeinsame Haushalt sollte kinderlos bleiben. Die junge Frau neigte früh
zu Schwermut, Kuraufenthalte wurden zur Regel. Gleichzeitig entwickelte sie sich dank ihrem Geist und Charme zur beliebten
Gesellschafterin. Denn das Ehepaar Wetzler gehörte durchaus zur New Yorker Gesellschaft. Nur so lässt sich erklären, wie
Wetzler es schaffte, die Reichsten des Gilded Age dafür zu begeistern, ihm ein Orchester zu finanzieren: etwa die Bankiers J. P.
Morgan und Henry W. Poor, Gründerväter der gleichnamigen Bankhäuser, oder den Kunstförderer George W. Vanderbilt.
Die Kritiken zum ersten Auftritt des Orchesters am 18. Januar 1898 fielen allerdings gemischt aus, von Unruhe war die Rede, von
unübersehbarer Unerfahrenheit. Für die Saison 1902/03 konnten schliesslich auf Subskriptionsbasis fünf Konzerte in der
Carnegie Hall geplant werden, worauf sich der Ruf des «Wetzler Symphony Orchestra» so sehr festigte, dass Richard Strauss
anlässlich seiner ersten USA-Tournee im Frühjahr 1904 für die New Yorker Konzerte Wetzlers Orchester engagieren liess; auf
dem Programm stand auch die Uraufführung der Sinfonia Domestica. Die Konzerte wurden jedoch nicht zum gewünschten
Erfolg: zu lange Programme, dazu lauter Werke von Strauss. Zudem spielte das Orchester mittelmässig, mitunter so schlecht,
dass es in einer Aufführung der Tondichtung «Don Quixote» mit Strauss am Pult auseinanderfiel. Da Wetzler persönlich für das
Orchester haftete, waren schliesslich neben seinem Ruf auch seine Finanzen angeschlagen.
«Practically driven out of New York», so die Presse, strebte er 1905 nach Deutschland mit dem Ziel, mit 35 Jahren doch noch als
Theaterkapellmeister Fuss zu fassen. Am Hamburger Stadttheater erhielt er eine unbezahlte «Freistelle», den Lebensunterhalt
übernahmen Gönner aus Amerika. Mit dem Ersten Kapellmeister Gustav Brecher teilte er seine für die Zeit ungewöhnlich
analytische Werkauffassung, in freien Nachtstunden betrieben sie gemeinsam Partiturstudium oder machten Dirigierübungen.
Den Anstrengungen stand Wetzlers Ungeschicklichkeit gegenüber, nach zwei Spielzeiten verweigerte das Orchester weitere
Aufführungen unter seiner Leitung.
Dirigent um jeden Preis
Auf diesen einem Praktikum gleichenden Einstieg folgten Wirkungsstätten als Erster Kapellmeister in der Provinz: 1908–1909 in
Elberfeld, 1909–1913 in Riga, 1913–1915 – zurück in der Mitte Deutschlands – in Halle und 1915–1919 als Nachfolger Wilhelm
Furtwänglers in Lübeck. Der Grund für die häufigen Wechsel bestand in den bereits erwähnten unkonstanten Leistungen,
namentlich einer ungelenken Schlagtechnik – ein Punkt, worüber Kritiker erst schreiben, wenn daraus substanzielle Probleme
erwachsen. Darüber hinaus kollidierte Wetzlers idealistisches Naturell mit dem notwendigen Pragmatismus der
Theaterdirektoren. Hinzu kam das Stotterleiden, das die tägliche Probenarbeit erschwerte.
Paradoxerweise kam der Erste Weltkrieg Wetzler in beruflicher Hinsicht entgegen. Bei aller Entbehrung konnte er sich als Retter
in der Not einen Namen machen, der die Fäden zusammenhielt und mitunter erfreuliche Aufführungen zustande brachte. In
Lübeck wurde er gefeiert, das dortige Publikum und auch die Kritiker schlossen ihn ins Herz. Seit den Erfolgen seiner
leichtfüssigen Bühnenmusik zu Shakespeares «Wie es euch gefällt» op. 7 begann sich auch sein Ruf als Komponist zu festigen.
Zur Erholung begab er sich ans Meer, während es Lini in die Berge zog. Daneben besuchte er die üblichen Kuren, wo er im
Frühjahr 1916 in Oskar Kohnstamms legendärem Sanatorium in Königstein im Taunus auf den Dauergast Otto Klemperer traf,
Erster Kapellmeister noch in Strassburg, ab 1917 an der Kölner Oper. Auf dessen Wunsch hin konnte dort Wetzler 1919 als
gleichberechtigter Erster Kapellmeister mit einziehen.
Während diese Zeit in Köln für Klemperer zu «Galeerenjahren» wurde, bedeutete sie für Wetzler den Höhepunkt seiner Karriere.
Zudem konnte er zum ersten Mal seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Spannungen mit dem fünfzehn Jahre jüngeren
Klemperer blieben indessen nicht aus. Dieser mochte seine Vorherrschaft nicht aufgeben und erbettelte beim Oberbürgermeister
Konrad Adenauer einen entsprechenden Titel als Oberster Musikalischer Leiter. Zudem verblasste Wetzlers Leistung
zwangsläufig neben einem der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Die Weigerungshaltung des Orchesters, das seit
Wetzlers Probeauftritt dessen Schlag angezweifelt hatte, verbunden mit der fehlenden Unterstützung der Direktion, zeitigte
Nervenzusammenbrüche im Jahrestakt. 1923 endete der Vertrag; an eine neue Stelle war nicht mehr zu denken, zu angeschlagen
war Wetzlers Ruf als Dirigent.
Aufschwung als Komponist
Noch im Frühjahr 1923 keimte ein Orchesterwerk, in dem sich Wetzler, unfreiwillig frei, mit versteckten Porträts seiner Feinde
aus der Kölner Zeit Luft machte. Als «Visionen» (op. 12) fand das mit Riesenorchester virtuos instrumentierte, gleichzeitig etwas
schwerfällig geratene Werk grosse Verbreitung. Leichter gelang «Assisi, Legende für Orchester» (op. 13); 1925 wurde das Werk
gar mit dem ersten Preis an einem Kompositionswettbewerb in Chicago ausgezeichnet.
Ermutigt durch die künstlerischen Erfolge, wagte sich Wetzler noch im selben Jahr an seine erste Oper: «Die Baskische Venus».
Stofflich noch in der Romantik wurzelnd – Lini hatte auf Prosper Mérimées Novelle «La vénus d'Ille» ein Textbuch verfasst –,
geriet die Musik üppig, die Tonalität bis an ihre Grenzen auslotend, innerlich zusammengehalten durch ein etwas
eindimensionales Gerüst an Leitmotiven. Aus acht Uraufführungsangeboten entschied sich Wetzler für Leipzig, wo Gustav
Brecher mit Zeitopern Erfolge feiern konnte, allen voran mit Ernst Kreneks «Jonny spielt auf» von 1927. Vor diesem
Hintergrund erschien «Die Baskische Venus» nun allerdings reichlich altbacken. Entsprechend berichteten die Grossstadtblätter
aus Leipzig und Berlin über die Premiere vom 18. November 1928 von mangelnder Dramatik, Kapellmeistermusik und veraltet
riesenwüchsigem Orchester, während die Reporter kleinerer Städte angetan waren von der vertrauten Tonsprache und festlichen
Opulenz. Allseits gewürdigt wurde der Klangrausch.
In seiner Enttäuschung stürzte sich Wetzler zusammen mit Lini in ein neues Bühnenprojekt, das aber mit einem Skiunfall Linis
Anfang 1930 ein jähes Ende nahm. Nach medizinischen Komplikationen drohte die Ehefrau Wetzlers in Depression zu versinken
und zog von Kur zu Kur. Im Sommer 1931 entfloh Wetzler dem verwaisten Kölner Haushalt nach Brissago, ins Elternhaus einer
neuen Freundin, der einflussreichen Bankiersgattin Annaliese von Nicolai aus Mannheim. So liest sich Wetzlers
vorweggenommene Emigration als seltsamer biografischer Zufall.
«Ich bin sehr einsam»
Bereits 1930 hatte er auf einer Werbefahrt für «Die Baskische Venus» die Fühler nach der Schweiz ausgestreckt, bei Oskar
Wälterlin in Basel und in Zürich bei Paul Trede, Direktor des Zürcher Stadttheaters. Durch Trede kam es auch zum Treffen mit
Othmar Schoeck, der um 1920 mit «Venus» ebenfalls eine Oper auf den Mérimée-Stoff komponiert hatte: «Er ist der musikal.
Heros der Schweiz, und jeder Mensch scheint Angst vor ihm zu haben, – ich merkte das mehrere Male; – ich hatte den
bestimmten Eindruck, dass die Leute fürchten, meinen ‹Venus-Konkurrenten› zu verschnupfen, wenn sie was von mir
aufführen.» Gesellschaftlicher Anschluss gelang spärlich, etwa bei Franklin Bircher, zunächst als Kurgast und bald auch als
Hausfreund. Aus Basel, wohin Wetzler 1933 für die Inszenierung seiner «Baskischen Venus» zog, berichtete er später: «War
dieser Tage öfter mit Basler Musikern zusammen, – nette Menschen, aber ach, kleines Format. Ich bin sehr einsam.» Die Basler
Premiere vom 6. November 1933, die einzige Frucht seiner Schweizer Bemühungen, geriet zum tragischen Ereignis. Am
Vorabend erreichte ihn das Telegramm vom Tod seiner Frau; sie hatte sich in Wiesbaden das Leben genommen.
Der Trauer begegnete Wetzler mit Arbeitswut. Vieles wurde in den Blick genommen, zur Vollendung gedieh lediglich ein
Magnificat für Knabenchor und kleine Besetzung, Wetzlers erstes geistliches Werk. In Basel erhielt er zudem Gelegenheit,
Vorträge zu halten. Thomas Mann, der ihn bereits von Sommeraufenthalten an der Nordsee kannte, hat dem Referenten und
insbesondere dem Stotterer Wetzler in «Doktor Faustus» in der Figur Wendell Kretzschmars ein drastisches Denkmal gesetzt.
Den politischen Umbruch in Deutschland vermochte Wetzler nicht zu kommentieren, zu sehr war er mit persönlichen Dingen
beschäftigt, vor allem der Aufführung eigener Werke. Zu diesem Zweck trat er Anfang 1934 der Reichsmusikkammer bei, das
Aufführungsverbot folgte 1935. Im selben Sommer zog er nach Ascona auf den Monte Verità, ins Haus seiner neuen
Lebensgefährtin Doris Oehmigen, die er als seine Privatsekretärin kennengelernt hatte. Die zur Legende geronnene künstlerische
Umgebung blieb ihm fremd: «I must keep apart from those Ascona ‹Künschtler›». Angeregt durch den Rektor des dortigen
Collegio Papio, begann er, kurze geistliche Motetten zu komponieren, angelehnt an die Vokalpolyfonie des 16. Jahrhunderts und
wohl gedacht für College- und Kirchenchöre des englischsprachigen Raumes.
Ab 1936 bereiste er wiederholt England und Amerika, um Aufführungen zu erwirken, letztmals fluchtartig im Sommer 1940. Als
Amerikaner ins eigene Land zurückgekehrt, sah er die europäischen Emigranten mit Argwohn: «Ich gelte absolut als Europäer,
während x gerissene Russisch-jüdische ‹Künschtler› bereits nach 6 Monaten völlig amerikanisiert sind, und als Stützen des
‹American Way› gelten.» Dem allgemeinen Ringen um einen amerikanischen Stil begegnete er mit dem Orchesterwerk
«American Rhapsody» – moderne, synkopierte Rhythmen, zu Fugen verarbeitet, Wetzlers stilistisches Refugium seit seiner
Beschäftigung mit Bach. Vier Monate später, am 29. Mai 1943, erlag er einem Herzinfarkt. Seine Lebensgefährtin lebte bis zu
ihrem Tod 1979 in Ascona.
Dort blieb auch Wetzlers Nachlass, bis er 2006 auf Umwegen in die Zentralbibliothek Zürich gelangte. Er umfasst auf 16
Laufmetern neben den Musikhandschriften und -drucken rund 10 000 Briefe, 6000 Rezensionen sowie eine umfangreiche
Fotosammlung und sucht damit an Umfang, Vollständigkeit und Dichte seinesgleichen.
Heinrich Aerni ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zentralbibliothek Zürich. Seine Dissertation zu Hermann Hans Wetzler
wurde 2013 am Wettbewerb «Top-Doc» von «NZZ-Campus» und «MakingScienceNews» ausgezeichnet. Sie wird bei Bärenreiter
im Druck erscheinen.
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