4 MATERIALIEN M 3.1 Hinduismus in Deutschland In Deutschland leben rund 100.000 Menschen, die einer der Religionen des Hinduismus zugerechnet werden können. Dabei stellen Hindus aus Indien (rund 45.000) und aus Sri Lanka (rund 35.000 bis 40.000) die größten Gruppen dar. Hindus aus Indien sind vor allem durch Arbeitsmigration nach Deutschland gekommen. Sri Lanka hingegen leidet seit Jahrzehnten unter einem Bürgerkrieg zwischen Hindus (Tamilen) und buddhistischer Mehrheit. Neben Menschen aus diesen beiden Ländern gibt es in Deutschland noch rund 5.000 Hindus aus Afghanistan sowie rund 7.500 Deutsche, die sich vor allem einer der zahlreichen neohinduistischen Gemeinschaften angeschlossen haben. Die Hindus in Deutschland sind meist nur lokal organisiert, in der Regel um einen privat oder im Verein unterhaltenen Tempel. Informationsplattform Religion/REMID e.V. (http://www.remid.de) (Zugriff 06.06.2011) Einer der größten kontinental-europäischen Hindu-Tempel ist der tamilische Sri Kamadchi Ampal Tempel in Hamm. Er hat eine Grundfläche von 700 m2 und befindet sich in einem Industriegebiet. Zu der jährlich im Mai/Juni stattfindenden öffentlichen Prozession zu Ehren der Göttin Sri Kamadchi kommen 15.000 bis 20.000 Besucher, vor allen Dingen Gläubige vom ganzen Kontinent. Während Judentum und Islam durch eine eng verzahnte, gemeinsame Geschichte mit Deutschland und dem Christentum verbunden sind, ist der Hinduismus hierzulande kaum präsent. Für viele sind — neben den Nachrichten — Bollywood-Filme der einzige Berührungspunkt mit der indischen Kultur und dem Hinduismus. M4 http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamm-Hindu-090606_7835-.jpg — Zugriff 06.06.2011 „Hinduismus“ — ein kolonialistischer Begriff Die Worte hind und hindu sind zunächst als geographische Begriffe verwendet worden. Es handelt sich dabei um das persische Wort hindu, das wiederum das Sanskrit-Wort sindhu — die Bezeichnung für den Fluss Indus — wiedergibt. Die Bezeichnungen hind bzw. hindu bezogen sich auf die Indus-Region und deren Bewohner, jedoch nicht auf deren Religion. [… Die] Prägung des Begriffs „Hinduismus“ ist Resultat eines Kulturkontakts und der Außenperspektive, denn er findet sich erstmals in europäischsprachigen Texten des frühen 19. Jh. […] Im Zuge der britischen Kolonialherrschaft und der damit einhergehenden Etablierung einer wissenschaftlichen […] Beschäftigung mit Indien wurde der Begriff dann zu einer festen Größe. […] Solche Konstruktionen des Hinduismus als einer bei aller Vielfalt doch einheitlichen Religion orientierten sich zum einen am Paradigma der christlich-jüdischen Religionstraditionen, die deshalb als relativ klar definierbar erschienen, weil sie z.B. einen bestimmten Textkanon, allgemeingültige Glaubensinhalte oder repräsentative Organisationsstrukturen vorweisen. Zum anderen basierten die frühen Darstellungen hinduistischer Religion […] auch und vor allem auf den Informationen und Texten, die ihnen die einheimischen Eliten — vor allem die brahmanischen Gelehrten — präsentierten. Durch diese Kollaboration wurden die Selbstwahrnehmung und die Machtstellung der einheimischen Eliten nochmals im westlichen Diskurs reproduziert. Das darf allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass die Wertung und Verwendung des Materials den westlichen Forschern, Kolonialbeamten oder auch z.T. christlichen Missionaren überlassen blieb. […] Die bisherige Diskussion mag vielleicht die Frage provozieren, ob man in wissenschaftlichen Werken nicht überhaupt auf den Begriff „Hinduismus“ verzichten sollte. Die einfachste und zugleich schwerwiegendste Antwort darauf ist, dass es sich um einen inzwischen unverzichtbaren Begriff handelt, der Teil der persönlichen Identität von Hunderten Millionen von Menschen geworden ist. Gegenüber den Hindus in aller Welt darauf zu insistieren, dass es „Hinduismus“ streng genommen gar nicht gibt, führt schnell in politische Debatten. Ein anderer Grund für die Beibehaltung des Begriffs besteht darin, dass ein Verzicht auf ihn und die daraus folgende Beschränkung auf die Darstellung einzelner religiöser Traditionen Gefahr läuft, den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Traditionen und ihre gemeinsame Geschichte auszublenden. […] Eine „polythetische“ Beschreibung von Hinduismus bedeutet […], dass nicht ein einziges charakteristisches Element oder eine feste Gruppe von Charakteristika den Hinduismus oder „die“ Hindus definiert, sondern die jeweilige Kombination […] nicht für alle gleichermaßen zutreffender Elemente. Angelika Malinar, Hinduismus, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, S. 15—25. Arbeitsaufträge zu M 3 und M 4 A Erörtern Sie, was die Wahrnehmung des Hinduismus in Deutschland prägt. Welche Konsequenzen erwachsen daraus? B Sollte auf den Begriff „Hinduismus“ verzichtet werden? Fassen Sie die Argumente für beide Seiten zusammen. C Erörtern Sie die dreifache Problematik der wissenschaftlichen Perspektive auf den Hinduismus im 19. Jahrhundert. R RELIGION betrifft uns 4 · 2011 Begegnung mit dem Hinduismus