SCHÖNBERGS MUSIKALISCHE POETIK Der Gegensatz zwischen

Werbung
•
.#
SCHÖNBERGS MUSIKALISCHE POETIK
I
Der Gegensatz zwischen Ästhetik und Handwerkslehre, den Schönberg nicht ohne Ironie - 1911 im ersten Kapitel der "Harmonielehre" pointierte, ist streng genommen von durchaus sekundärer Bedeutung. Denn
die Ästhetik, deren Ansprüche Schönberg abzuwehren versuchte, war
eine klassizistisch verengte; und die Harmonielehre wurde, um die
Ästhetiker zu verdrießen, zwar gelobt, aber weniger, weil sie eine entscheidende Instanz wäre, als vielmehr wegen der Redlichkeit, mit der
sie sich in ihren Grenzen hielt. (Eine Apologie des Handwerks, wie sie
später von Strawinsky und Hindemith formuliert wurde, war Schönbergs
Sache nicht. )
Wenn vom Komponieren im emphatischen Sinne die Rede ist, beruft sich
Schönberg auf sein Formgefühl; und eine Begründung der Funde des.
Formgefühls durch Theorie gilt zwar als prinzipiell möglich, aber emst,··
weilen nicht als dringlich. Schönberg begreift die Musikgeschichte als
einen Prozeß, der das hervortreibt und manifest macht, was in der Na,~
tur der Musik als Möglichkeit, die zur Verwirklichung drängt, angelegt
und vorgezeichnet ist - als Prozeß, dessen Träger das kompositorische
Genie ist, das nicht irren kann. Theorie ist, da das Genie entscheidet,
eine cura posterior. Andererseits ist jedoch - sofern es sich um die
Entfaltung von Momenten handelt, die in der Natur besehlossen Li.egen,
und ni.cht um Phänomene, die durch und durch gesehichtlich sind .. eine
Theorie denkbar, die umfassende Prinzipien formuliert, statt sich auf
die bloße Kodifizierung oder RatIonalisierung von Epochen." oder Pers
nalstilen zu beschränken. Die Natur als Ursprung der Musik" die
schichte als Entfaltu~lg, das Genie als Vollstrecker des von Natur
gezeichneten und das Meisterwerk als Resultat bilden in
Denken einen Komplex, dessen Teilmomente untrennbar miteinander
verquickt erscheinen.
Gibt man aber Schönbergs metaphysischen Naturbegriff
.. und
nichts anderes läßt sich in einer Darstellung, die sich als empirisch
versteht, rechtfertigen -, so erscheint Theorie nicht mehr als Rekonstruktion musikalischer Naturgrundlagen, von denen das kompositori-,
sehe Genie, eher ahnend als wissend, getragen wird, sondern als Inbe·~
griff geschichtlich geprägter Prinzipien und Kategorien, die das musi,,,
kalis ehe Denken eines Komponisten fundieren. Und die Theorie eines
individuellen oeuvres kann man, in Anlehnung an den Wortgebrauch der
Literaturwissenschaft, Poetik nennen.
Mit dem Begriff der musikalischen Poetik o. einem Begriff, der die Erinnerung an seinen griechischen Ursprung durchaus festhält - ist demnach eine von Reflexion durchdrungene Vorstellung vom Machen und Her,·
stellen musikalischer Ge bilde gemeint. Die Denkstruktur , die aufgedeckt werden soll, ist ebenso in kompositorischen Verfahrensweisen
enthalten, wie sie sich andererseits in begründenden oder rechtferti118
genden Theoremen ausdrücken kann. Das besagt jedoch nicht, daß theoretische .Äußerungen eines Komponisten umstandslos als letztes Wort
über den Sinn der musikalischen Werke hingenommen werden dürfen.
Sie sind vielmehr Gegenstand der Untersuchung, nicht deren Voraussetzung: Sie gehören zu dem Material, aus dem - in Wechselwirkung
mit der Interpretation der Werke selbst - die musikalische Poetik rekonstruiert werden soll.
Versuche, im Hinblick auf Werke des 19. und 20. Jahrhunderts musikalische Poetiken zu entwerfen, sind im Gegensatz zur älteren PoetikTradition zu der Selbstbeschränkung gezwungen, deskriptiv und individualisierend, nicht norxnativ und generalisierend zu verfahren. Von den
Regelsystemen" die bis zum 18. Jahrhundert Poetik genannt wurden,
unterscheiden sie sich dadurch, daß sie nicht Normen formulieren, die
ein Werk erfüllen muß, wenn es dem Anspruch einer Gattungsüberlieferung und einer Stilhöhe genügen soll" sondern lediglich in einer Gruppe
von Prinzipien und Kategorien, die einem individuellen oeuvre zugrundeliegen, Zusammenhänge oder Fundierungsverhältnisse sichtbar ma,.
ehen.
Eine musikalische Poetik zu skizzieren, in der die technischen Momente in ästhetische übergehen und umgekehrt, wäre unmöglich, wenn Schön~.
bergs schroffe Unterscheidung zwischen dem, was ein Werk "ist 1t , und
der Art, wie es "gemacht ist ft , beim Wort genommen werden müßte.
Man darf jedoch ,- ähnlich wie bei. der umgekehrt akzentuierten Entge ..
gensetzung von .Ästhetik und Handwerkslehre - die apologetischen Funktionen nicht außer acht lassen, die Schönbergs Theoreme erfüllen soll,.
ten, Fühlte sich Schönberg 1911, nach dem Übergang zur AtonalItät,
von Kritikern bedrängt, die ihm Verletzungen ästhetischer Normen
zum Vorwurf machten, so geriet er später, in der Periode der Dode,~
kaphonie, als musikalischer :Mathematiker oder Ingenieur in Verruf.
In der ersten Situation spielte er die Handwerkslehre gegen die Asthe~.
tik aus, auf die sich seine Gegner beriefen, in der zweiten dafür den
Sachverhalt, daß seine Werke im selben Sinne Musik sind wie die von
Beethovön oder Brahms, gegen die Tendenz der Kritiker - der wohlge".
sonnenen ebenso wie der feindseligen,", sich an die Machart zu klam .."
mern,
Da[J die Theoreme demnach von praktischen Zwecken abhängen oder
mitbestimmt sind" besagt zwar nicht, daß sie haltlos seien, denn eine
Wahrheit hört dadurch, daß sie einem Interesse dient" keineswegs
eine Wahrheit zu sehL Doch läfJt die Tatsache, daß die Helation zwi,. ,
s chen den technischen und den ästhetischen Momenten der Musik von
Schönberg extrem verschieden akzentuiert werden konnte, immerhin
den Schluß zu, daf3 es sich bei den oft zitierten Aphorismen urn einsei,~
tige Pointierungen handelt, die Schönbergs eigentliche Überzeugung,
daß Machart und Bedeutung zwei Seiten derselben Sache seien - eine
Überzeugung, als deren theoretische Ausarbeitung eine musikalische
Poetik zu verstehen ist.. zwar halb verdecken, aber nicht gänzlIch unkenntlich machen.
II
Die Kategorien, als deren Zusammenhang sich Schönbergs musikaJj,~
sche Poetik konstituierte: Kategorien wie Gedanke und Entwicklung,
119
Konsequenz und Logik, sind Ausdruck der Tendenz, ein musikalisches
Werk in einem nahezu unmetaphorischen Sinne als Diskurs, als tönenden Denkvorgang aufzufassen. Nicht, daß der Begriff des musikalischen
Denkens um 1910, als Schönbergs Poetik feste Gestalt annahm, neu gewesen wäre. Die Emphase aber, mit der Schönberg eine Terminologie,
die von Forkel, Hansliek und Riemann eher analogisierend als mit theo~
retischem Anspruch gehandhabt worden war, beim Wort nahm, war
durchaus ungewöhnlich. Andererseits hat Schönbergs Denkweise Epoche gemacht und in den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, die
Art des Verstehens von Musik und des Redens über sie - sogar bei
Schönbergs Gegnern - tiefgreifend verändert.
So deutlich sich aber die Tendenzen abzeichnen, die Schönbergs musikalischer Poetik zugrundeliegen, so schwierig ist es andererseits, unmißverständlich zu sagen, was Schönberg unter ein(lm musikalischen Gedanken überhaupt versteht. Am ehesten greifbar ist das ästhetische Moment: die Unterscheidung zwischen musikalischen Gedanken, die den
Namen verdienen, und bloßen Topoi, Floskeln oder Formeln. Schönbergs
Begriff des musikalischen Gedankens ist von einem Pathos erfüllt, das
an den Affekt erinnert, mit dem Adolf Loos das Ornament bekämpfte und
Karl Kraus die Phrase.
Den Begriff des musikalischen Gedankens technisch-formal zu bestimmen, scheint kaum möglich zu sein. Eine Gleichsetzung mit den Kategorien Motiv oder Thema wäre eine Verengung, durch die man sich den
Zugang zu Schönbergs Poetik verstellen würde. Auch Zusammenklänge
sind von Schönberg, sofern sie Einfälle und nicht Topoi waren, als Gedanken aufgefaßt worden; und es ist zweifellos kein Verstoß gegen Schönbergs Denkweise, wenn man sogar abstrakte Intervallstrukturen wie die
von Jan Maegaard entdeckten, die einen gemeinsamen Nenner ganzer
pen von Motiven und Akkorden bilden, zu den musikalischen GBdanken zählt.
Andererseits ist es in manchen Zusammenhängen gerade nicht eine be,~
stimmte Intervallstruktur , sondern ein expressiver Gestus, der die Sub,~
stanz eines musikalischen Gedankens ausmacht: ein Gestus, dessen
stalt wechseln kann, wenn nur der Umriß kenntlich bleibt.
Wenn sowohl ein Motiv oder ein Thema als auch ein GBStuS, dessen
gestalt veränderlich ist, und sogar eine abstrakte Intervallstruktur , die
in wechselnden Rhythmisierungen und entweder in melodischer oder in
harmonischer Form erscheint, als musikalischer Gedanke gelten kann,
so zerfließt offenbar die Kategorie ins UngreIfbare. l<:s gibt kein festes,
immer wiederkehrendes Merkmal, das sämtlichen Erscheinungsformen
dessen, was bei Schönberg musikalischer Gedanke heißen kann, gemein"
sam wäre. Dennoch ist der Terminus kein leeres Wort.
Schönbergs musikalische Poetik kann als Versuch aufgefaf3t werden, zwischen Postulaten zu vermitteln, die der unglückliche musikästhetische
Parteienstreit zwischen Formalismus und Affektenlehre als Gegensätze
erscheinen läßt: zwischen der Forderung nach zwingender Expressivität
in jedem Augenblick einerseits und nach lückenlosem Zusammenhang der
musikalischen Ereignisse andererseits Es macht in Schönbergs Vorste1lung das Wesen eines musikalischen Gedankens aus, daß er sowohl
aus einem Ausdrucksbedürfnis hervorgeht, das geradezu den Charakter
eines Diktats annehmen kann, als auch formale Konsequenzen hat und
weitreichende Zusammenhänge begründet, statt sich in einem Momen0
taneffekt zu erschöpfen. Mit anderen Worten: Ein musikalischer Gedanke konstituiert sich als das, was er ist, durch die Relationen, in denen
er steht; auch Expressivität ist, entgegen einem populären Vorurteil,
zu einem nicht geringen Teil eine Funktion des Kontextes.
Die Einheit des Expressiven und des Strukturellen, wie sie in der traditionellen Musik durch Themen und Motive verbürgt wurde, die sowohl
den "Ton" und Charakter eines Satzes bestimmten als auch den Ausgangspunkt und die Substanz entwickelnder Variation bildeten, war jedoch gerade bei Schönberg gefährdet, und zwar durch die Trennbarkeit
des gestischen Moments vom intervallischen: Daß ein Gestus sich in
wechselnden Intervallgestalten ausprägt und entfaltet, ist ein anderer
musikalischer Prozeß als die Deduktion verschiedener Melodiephrasen
und Akkorde aus einer Intervallstruktur ; und die Vorgänge lassen sich
nicht nur im analytischen Denken voneinander unterscheiden, sondern
auch in der kompositorischen Praxis trennen, während sie in der tra,ditionellen thematisch-motivischen Arbeit enger miteinander verquickt
waren. Gestus und Intervallstruktur erscheinen gleichsam als entgegen,gesetzte Abstraktionen vom überlieferten Motivbegriff, und zwar als
verselbständigte Abstraktionen.
Andererseits trachtete Schönberg die ästhetische Funktion des klassi-,
schen Motivs, die der Verklammerung des Expressiven und des StruktUr'ellen, auch dann noch zu bewahren, als er die kompositionstechnischen Voraussetzungen tiefgreifend verändert hatte. Man kann geradezu behaupten, daß der Begriff des musikalischen Gedankens die Idee
bezeichne, daß es möglich sein müsse, unter problematischen Bedingungen eine Einheit der Momente zu restituieren, wie sie im traditionellen Motiv und in dessen Entwicklung unproblematisch gegeben war.
Paradox ausgedrückt: Schönberg d ach te IImotivisch" , auch wenn
er nicht "motivisch lf kom p 0 nIe I' t e .
Erst durch detaillierte Analysen könnte gezeigt werden, wie sich im
einzeJnen Werk oder Satz das Herausspinnen formaler Zusammenhän,~
ge aus Intervallstrukturen zu dem Ablauf verhält, den die gestischen
Charaktere beschreiben. Ob aber die Vermittlung durchschaubar gera,
ten mag oder nicht: Immer ist es Schönbergs tragende Absicht, strul\>,
turelle Momente zugleich als expressive fühlbar zu machen und ulYl.ge,··
kehrt.
III
Die Überzeugung, daß ein musIkalischer Gedanke erst durch den Zusammenhang, in dem er steht, überhaupt zu einem Gedanken wird, bedeute,·
te, daß Schönberg,kaum anders als Wagner, Isoliertes, in sich Ver,schlossenes als unverständlich ansah und nicht ertrug. :Die Faßlichkeit
des Einzelnen hängt von der Logik des Ganzen ab.
Die Vorstellung von der Unbegreiflichkeit des Isolierten brachte Schönberg allerdings in Schwierigkeiten, als er die Emanzipation der Disso-nanz zu rechtfertigen versuchte. Die kompositorische Entscheidung,
daß eine 'Dissonanz, statt aufgelöst werden zu müssen, für sich stehen
könne, stützte sich auf die theoretische Annahme, daß sie unabhängig
von einer Konsonanz, an die sie sich anlehnt, musikalisch verständlIch
sei, ohne daß jedoch eindeutig feststünde, was der Ausdruck Verständ,,,
121
120
lichkeit bei einer emanzipierten Dissonanz eigentlich besagt, denn die
bloße Durchschaubarkeit der Intervallstruktur kann schwerlich gemeint
sein.
Zusammen mi~ dem Auflösungszwang wurde auch die Fortschreitungstendenz der Dissonanz, also ein zusammenhangbildendes Moment durch
die Emanzipation aufgehoben. Statt musikalischen Fortgang hervo'rzutreiben, verharrt die Dissonanz als emanzipiertes Gebilde - so scheint
es jedenfalls - konsequenzlos in sich selbst. Isolierung erweist sich als
Kehrseite der Emanzipation.
Ein erster Ausweg aus dem Dilemma war das - allerdings nur begrenzt
praktizierbare - Prinzip der komplementären Harmonik, ein zweiter
die Behandlung eines Akkords als Motiv. Die Ergänzung des Tonbestandes konnte ebenso wie die Transformation einer harmonischen 1ntervallstruktur in eine melodische als musikalische Konsequenz als
Logik aufgefaßt werden.
'
Die Lösungsversuche aber, zu denen sich Schönberg durch den Konflikt
zwischen der Emanzipation der Dissonanz und der Überzeugung von der
Unverständlichkeit isolierter musikalischer Ereignisse herausgefordert
fühlte, hängen wiederum mit anderen Teilmomenten des Systems, als
das sich Schönbergs musikalische Poetik dem Betrachter präsentiert,
eng ,~usammen. Komplementäre Harmonik tendiert zur Zwölftönigkeit,
zu luckenloser Chromatik. Und die Auffassung eines Akkords als Motiv
ist Ausdruck eines "strukturellen" Denkens, aus dem schließlich das
Reihenprinzip resultierte: eines Denkens, das Tonzusamrnenhänge als
abst,rakte 1nterva,llstrukturen begreift, deren vertikale Darstellung eine
VarIante der horIzontalen und nicht ein prinzipie~ll anderes Phänomen
i~t.?ie Problen:e, die unter den Voraussetzungen von Schönbergs muslkahscher PoetIk - unter der Herrschaft der These von der Unfaßlichkeit des Isolierten - aus der Emanzipation der Dissonanz erwuchsen,
gehören also als treibende Momente der Vorgeschichte der
nie an. Und umgekehrt bleibt die Entstehung der Zwölftontechnik par,~
tiell unverständlich, wenn man nicht die kompositionstechnischen ~'Tat,~
sachen, wie sie sich bei einer Analyse der Notentexte
zu der
musikalischen Poetik in Beziehung setzt, in deren
die ,einzelnen Phänomene und Verfahrensweisen überhaupt erst den Sinn
erlnelten, von dem die Konsequenzen abhingen, die sie in
Entwicklung hatten.
IV
Das Herausspinnen eines Netzes von Zusammenhängen aus einem musi,,"
kaUschen Gedanken ist von Schönberg entwickelnde Variation genannt
worden. Von dem gewohnten Begriff der thematisch-motivischen Arbeit
unterscheidet sich die Schönbergsehe Kategori.e dadurch, da[j die Ver""
quickung des diastematischen und des rhythmiHchen Moments wie sie
für die traditionelle Vorstellung von einem Thema oder eine~ Motiv
charakteristisch ist, aufgelöst werden kann: Schönberg subsumiert aueh
diastematische Anknüpfungen unabhängig vom Rhythmus und rhythmisehe
unabhängig vom Tonhöhenverlauf unter den Begriff der entwickelnden
Variation.
122
Beschreibungen von Methoden der entwickelnden Variation oder der theArbeit kranken fast immer an einer Einseitigkeit,
dle swh um so storender auswirkt, als man sich ihrer kaum bewußt zu
sein scheint: Wer ein Stück Musik analysiert, betont unwillkürlich - um
den inneren Zusammenhalt des Satzes kenntlich zu machen - die wiederkehrenden, verklammernden Momente und vernachlässigt die nicht geringere Aufgabe, die verschiedenen Arten der Abweichung vom Modell
und der Begründung für sie zu untersuchen. Über den Sinn einer Variante entscheidet jedoch nicht nur die Abhängigkeit vom Modell, sondern
auch die Ursache dafür, daß an einer bestimmten Stelle im Formverlauf gerade diese Variante und nicht eine andere erscheint.
In der traditionellen Musik - von deren Substanz Schönberg nichts preisgeben mochte, deren Grundbestimmungen er vielmehr zu bewahren, unter veränderten Bedingungen zu restituieren oder durch Äquivalente zu
ersetzen trachtete - beruhte der Eindruck von Konsequenz, der von einer Variantenreihe ausging, erstens auf der harmonischen Logik der
Akkordprogressionen, von denen die Variantenbildung getragen wurde,
zweitens auf einer gewissen Folgerichtigkeit der rhythmischen oder
diastematischen Ausdehnungen oder Zusammenziehungen, denen das Mo,·
deH,unterworfen wurde, und drittens auf dem Konnex zwischen den syntaktIsch-formalen Funktionen, die durch die verschiedenen Varianten
erfüllt wurden.
Von den Mitteln, um Konsequenz zu erzielen, wurde einzig die tonale
Fundierung der Variantenreihung - die Konstituierung von musikalischer Logik in einer Variantenkette durch harmonische Funktionalität von Schönberg aufgehoben. Andererseits bildet gerade die Relation zwi,~
sehen Harmonik und Motivik in der thematisch-motivischen Arbeit ein
Anschauungsmodell, an dem sich Schönberg orientierte, um zu Reflexio,"
nen zu gelangen, deren extreme Konsequenz die Atonalität war.
Zu der gewohnten Vorstellung, daß die Harmonik "" die harmonische 1,0"
gik eines Tonzusammenhangs - zur Substanz eines musikalischen Gedankens gehöre oder geradezu dessen zentrale Eigenschaft
steht eine
'I'atsache quer, die zwar trivial
aber offenbar niemals in ihre Kon·,
sequenzen verfolgt wurde: die Tatsache, daß in thematisch-motivischen
Durchführungen ein melodisches
olme dadurch unkenntlich zu
immer wieder anders harmonisiert wird. Die IdentItät eineH
Motivs beruht in solchen Zusammenhängen eher auf dem
me,~,
lodischen Umriß und dessen
Charakter als auf der
genauen diastematischen Formulierung und deren harmonischem Süm
Umgekehrt ausgedrückt: Der tonale Funktionszusan:lmenhang
we,·~
niger den ll'msikalischen Gedanken selbst, als daß er eines der Mittel
darstellt, um Varianten des Gedankens so zu verkn'Lipfen, daß der Eindruck von Konsequenz entsteht.
Die thematisch-motivische Arbeit aber - und nicht der gewöhnliche lVIe,~
lodiebegriff, dessen Merkmal diastematisch-harmonischeEindeutigkeit
ist. - bildete die Voraussetzung oder den Hü1tergrund für Schönbergs Vor,~
stellungen davon, was ein musikalischer Gedanke seL Denn zu den ImpHkationen der Schönbergschen Kategorie - Implikationen, die sie nlit
dem melodischen Substrat rnotivisch,"themat:Lscher Durchführungen gemeinsam hat - gehört es, daß erstens der vage melodische Umr:lf3 als expressiver GeHtus ." das Wesen eines musikalischen GedankenH
n:ati~ch-motivisc,~en
o
123
;p
primär ausmacht, daß sich zweitens ein Gedanke überhaupt erst in einer Entwicklung, die von ihm ausgeht, als Gedanke bewährt und daß
drittens die harmonische Tonali.tät nicht als Substanz eines musikalischen Gedankens, sondern als Mittel zu dessen faßlicher Darstellung unter Darstellung versteht Schönberg die Ausarbeitung zu einem in sich
zusammenhängenden tönenden Diskurs - erscheint.
Die Preisgabe der Tonalität bewirkte, wie erwähnt, den Verlust eines
der Mittel, die einer Variantenreihe eine Richtungstendenz gaben. Nicht
eine diastematische oder rhythmische Anknüpfung als solche, sondern
erst eine funktional begründete Anknüpfung kann als musikalische Logik,
als entwickelnde Variation im unverkürzten Sinne des Wortes gelten.
Die Aufhebung der Tonalität war also eine Emanzipation, die zugleich
eine Einbuße bedeutete. Und es scheint, als s,ei die Erfindung der Dodekaphonie - die ihm als Entdeckung erschien - von Schönberg als Ausweg
aus Schwierigkeiten empfunden worden, die durch den ,Verzicht auf Rückhalt an der Tonalität entstanden waren.
Nicht, daß die Dodekaphonie in einem handgreiflichen Sinne ein Äquivalent der Tonalität wäre. Die Vorstellung, daß eine Konfiguration von
zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen als "pantonalität", also gleichsam als Erweiterung und Differenzierung der traditionellen Tonalität,
in der sich die Töne um ein einziges Zentrum versammelten, zu erklären sei, ist im schlechten Sinne abstrakt. Die Dodekaphonie ist nicht
substanziell, sondern - wenn überhaupt - funktional mit der Tonalität
vergleichbar: Si.e knüpft nicht an das Prinzip der Tonalität an, sondern
erfüllt partiell - bei der Durchführung oder entwickelnden Variation von
Motiven - eine analoge Funktion. Bildete in tonalen Werken die harmonische Logik - neben den formalen Funktionen und den Richtungstendenzen des melodischen und rhythmischen Verlaufs ,- eines der Mittel, um
zu begründen, warum an einem bestimmten Punkt einer Entwicklung ge
rade diese Variante und keine andere am Platze ist, so dient unter den
Bedingungen der Atonalität die Dodekaphonie einem ähnlichen Zweck.
Denn von der Zwölftonstruktur ist es partien abhängig (nur
dar·~
um, weil sie manipulierbar ist), in welchen diastematischen Formulie"
rungen ein expressiver Gestus .~ der die Substanz eines musikalischen
Gedankens darstellt - exponiert und entwickelt wird. Die
ist, wie die Tonalität, die sie ablöst, ein Vehikel der Folgerichtigkeit
in der Darstellung eines musikalischen Gedankens.
Historiker, die der Vorgeschichte der Dodekaphonie nachgehen, sollten
also nicht alleill nach substanziellen Voraussetzungen ,~ nach Zwölftonkom.plexen oder nach Perumtationen von Intervallstrukturen ,~ suchen,
sondern auch die Probleme rekonstruieren, als deren :Lösung innerhalb
des Bezugssystems von Schönbergs musikalischer Poetik die Dodekaphonie eine Bedeutung erhielt, die ihr als bloßer Technik - als einer
Verfahrensweise, die in wenigen Sätzen beschreibbar ist ,. schwerlich
zukam.
w
.!J\JU'C,,"O.
•
SCHÖNBERG UND DIE PROGRAMMUSIK
tl
Was Programmusik ist, steht nicht fest. Die Idee einer "reinen Instrumentalmusik, die sich im Funktionszusammenhang der Töne erschöpft,
ist ebenso eine Abstraktion wie der Gedanke einer Programmusik, die
als musikalischer Roman eine Geschichte detailliert erzählt und ausmalt. Die musikalische Wirklichkeit besteht aus Übergängen zwischen
den Extremen, über die sich die Ästhetiker streiten. Außerdem verwirrt es die Diskussion, daß Meinungen darüber, was Programmusik
überhaupt ist, fast immer mit Urteilen über den ästhetischen Nutzen
oder Nachteil der Gattung verquickt sind: Wer sie verteidigt, neigt dazu, Schumanns Charakterstücke, an deren Rang niemand zweifelt, zur
Programmusik zu zählen; wer sie dagegen ablehnt, zieht die Grenzen
des Genres enger.
Nur zwei frühe Werke von Schönberg, das Streichsextett tlVerklärte
Nacht" opus 4 und die symphonische Dichtung "Pelleas und Melisande"
opus 5, gehören unzweifelhaft zur Programmusik. Und daß außerdem
noch von anderen Werken die Rede sein wird, besagt keineswegs, daß
sie einem weit gefaßten - oder überdehnten ,- Begriff von Programmusik unterworfen werden sollen, sondern geschieht lediglich, weil die
opera 16, 34 und 45 zur Erörterung von Problemen herausfordern, die
mit Schönbergs Verhältnis zur Programmusik unmittelbar zusammenhängen.
Schönbergs Ästhetik, deren Grundzüge man verstanden haben muß, um
die programmusikalischen Werke nicht zu mif~deuten, beruht auf zwei
Voraussetzungen, die sich bei flüchtiger Betrachtung zu widersprechen
scheinen. Erstens bekannte sich Schönberg zu der bis ins 18. Jahrhun,·
dert zurückreIchenden Maxime, daß in einem Stück Musik, sofern es
"poetisch" und nicht Itmechanisch lt sei, der Komponist sich selbst aus··,
drücke. Und zweitens machte er sich die These Schopenhauers und
ners zu eigen, daß Musik unmittelbar das Wesen der Welt in Töne fasse,
während die Wortsprache eine vermittelte, sekundäre Ausdrucksfonn
sei. In der Verbindung von Musik mit einem Text .. sei es einer gesun,~
genen Dichtung oder einem Programm .. illustriert also nicht die Musik
den Text,. sondern der Text erscheint, gerade umgekehrt, als Metapher
:für das, was die Musik in "eigentlicher Sprache" sagt,
Soll die erste Maxime mit der zweiten zusammenstimmen, so ist es un,~
umgänglich, unter der Person des Komponisten, der durch Musik sich
selbst ausdrückt, nicht das "empirische", biographisch grei.fbare,. son,~
dern das "intelligible lch lt zu verstehen, das ein Sprachrohr jener ":ln,~
nersten Natur" der Dinge darstellt, unter deren Diktat Schönberg zu
komponieren glaubte Schönbergs Ausdrucksästhetik darf nicht mit der
ebenso populären wie fragwürdigen Vorstellung, daß ein musikalisches
Werk ein Stück tönende Biographie des Komponisten sei .. gleichgesetzt
werden,
Manche Ästhetiker des 19. und noch des 20, Jahrhunderts - zuletzt Ar,~
nold Schering - waren von der Idee besessen, daß es möglich sein müs ""
0
Aus: Archiv für Musikwissenschaft XXXIII, 1976" Mit frdL Genehmigung des Verlags
Franz Steiner GmbH, Wi.esbaden.
124
12 ~)
Herunterladen