Umgang mit Verlust: Trauer, Depression und Angst ! Hansjörg Znoj! Universität Bern! ! [email protected]! ! ! Psychoonkologie, Januar 2015! 1! Umgang mit Verlust! > Eingrenzung: Soziale Verluste als kritisches Lebensereignis > Zur Trauerreaktion: Vorstellungen darüber und Modelle > Wie grenzt sich eine “normale” Trauerreaktion von einer “pathologischen” ab? > Diagnostik und Komorbidität > Resilienzfaktoren > Trauerbegleitung und Intervention > Institutionelle Fragen Anmerkung: die letzten beiden Punkte werden im workshop vertieft Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 2! Gefühlsäußerungen! Der Verlust einer geliebten Person (eines geliebten Objektes) wird emotional erlebt; das Weinen als typische Reaktion auf Verlust wurde auch empirisch als häufigste Reaktion gefunden, aber Weinen und traurig sein ist bei weitem nicht die einzige emotionale Reaktion. Häufig sehen wir Angst, Ärger und Wut. Nicht selten ist jemand in Trauer gar nicht fähig, sich emotional auszudrücken oder Gefühle zu erleben: die trauernde Person fühlt sich „abgeschnitten“ von der Welt, hat keinen Zugang mehr zu sich selbst (oder anderen) oder ist emotional überschwemmt, so dass es zu keiner klaren Gefühlsäusserung kommt. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 3! Darwin: Suffering and weeping! „Infants, when suffering even slight pain, or discomfort, utter violent and prolonged screams. Whilst thus screaming their eyes are firmly closed, so that the skin round them is wrinkled, and the forehead contracted into frown. The mouth is widely opened with the lips retracted in a peculiar manner, which causes it to assume a squarish form: the gums or teeth being more or less exposed.“ (...) Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 4! Gesellschaftliche „Normen“! Nicht nur wie wir trauern, sondern auch wie lange oder wie intensiv ist von der Gesellschaft und damit auch der Kultur und Sozialisation abhängig. Beispiele: — Die Hopi, amerikanische Ureinwohner in der Gegend von Nevada, trauern offiziell drei Tage, verbrennen die Hinterlassenschaft der verstorbenen Personen und leben weiter — In der westlich-europäischen Kultur dauert die Trauerreaktion wesentlich länger, Trauerrituale sind teilweise an religiöse Strukturen gebunden, teilweise „erfinden“ wir sie neu — In anderen Kulturen finden wir: Abschiede von noch lebenden Personen und mehrmalige Bestattungen (z.B. Indonesien) oder ein Arrangement mit den verstorbenen Ahnen zu koexistieren Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 5! Was macht der Verlust einer nahen Person? Aussagen von Eltern eines verstorbenen Kindes! > “Ein Teil in mir ist gestorben. Ich werde den Verlust das ganze Leben mit mir herumtragen“; > “Für mich ist es, als hätte man mir ein Stück aus meinem Herzen herausgerissen“; > “Andere (Bekannte) bekamen Kinder und ich brachte es nicht einmal fertig, in einen Kinderwagen zu schauen “; > “Es ist Wahnsinn”; > “Erlebe vor allem Hass und keinen Glauben”; > “Ich war erleichtert, als A. starb. Ich habe gewusst, dass sie beim Gott in guten Händen ist”; > “Trauer, Wut und Zorn auf mich, die Ärzte und alle Beteiligten, dass ihm nicht mehr geholfen werden kann - - Erleichterung, dass seine Qualen, Schmerzen und Leiden ein Ende haben“. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 6! Mythen (“die richtige Art zu trauern”)! > Nach dem Verlust folgt unvermeidlich eine hohe emotionale Belastung und eine Depression > Das Erleben einer intensiven emotionalen Belastung ist Voraussetzung für den Heilungsprozess > Der Verlust muss durchgearbeitet werden, damit es zu einer vollständigen Rehabilitation kommt > Der Verlust bekommt durch die erfolgreiche Trauerarbeit eine Bedeutung fürs eigene Leben > Eine fehlende emotionale Krise oder mangelnde Trauer (Weinen) ist ein Anzeichen einer pathologischen Entwicklung Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 7! Relikte, Religion & Rituale! > Relikte oder Hinterlassenschaften der verstorbenen Person hinterlassen Spuren im Leben der Angehörigen. Wie damit umgegangen wird, ist auch eine kulturelle Frage; oft sind die Angehörigen aber überfordert und in dieser Frage allein gelassen. > Religion bietet vielen Hinterbliebenen einen Trost und bietet gleichzeitig durch die Kirche oder andere Institutionen einen Rahmen, den Verlust ins eigene Leben zu integrieren. Religiöse Einstellungen oder Angebote können aber auch belasten. > Rituale sind im Umgang mit Verlusten hilfreich; sie kanalisieren und regulieren Emotionen und können helfen, den Verlust zu begreifen. Sie sind auch in der Trauerbegleitung und in der Psychotherapie mit kompliziert Trauernden von grosser Bedeutung. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 8! Rituale in der Trauer, Beispiele! > Bei einer Beerdigung haben wir einer Dame, die zeitlebens Sekt geliebt hat, noch ein letztes Glas eingeschenkt und auf dem Grab stehen lassen. > Wir haben Luftballons steigen lassen und ihnen nachgesehen, wie sie der Seele den Weg zum Himmel weisen, bis sie ganz in den Wolken verschwunden waren. > Ich richte mir einen Ort ein in der Wohnung, wo ein Photo oder ein Symbol, das uns verbindet, steht und ich regelmässig ein Teelicht entzünde, das den Tag und/oder die Nacht hindurch brennt, um meinem Schmerz und meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen. > Ich besuche alleine oder mit anderen die Orte, die der verstorbenen Person lieb waren. > An einem Bach kann ich das Loslassen einüben, indem ich ein Blatt, eine Feder ins Wasser lege und laut sage "Sarah, ich lasse dich...“. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 9! Erklärungsmodelle a) Phasenmodelle! Sie sind beliebt – aber empirisch-wissenschaftlich nicht belegt. Die psychodynamische Auffassung besagt: Trauer = Ablösung psychischer Energie vom geliebten Objekt in drei Phasen: 1) Realisieren des Verlustes, 2) das eigentliche Trauern (siehe oben) und 3) die Wiederaufnahme des emotionalen Lebens - u.U. verbunden mit neuer Beziehungsaufnahme Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 10! Freud in Trauer & Melancholie (1917)! Trauer: „Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihrer Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw. Unter den nämlichen Einwirkungen zeigt sich bei manchen Personen, die wir darum unter den Verdacht einer krankhaften Disposition setzen, an Stelle der Trauer eine Melancholie. Was leistet die Trauer?: Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen (= Trauerarbeit). Schwierigkeiten dabei: Das Sträuben (dagegen) kann so intensiv sein, dass eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objektes durch eine halluzinatorische Wunschpsychose zustande kommt. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 11! b) Bindungstheorie! Die Bindungstheorie übernimmt psychodynamische Ansichten, erweitert sie jedoch durch den biologischen Aspekt: Trauer ist ein universales Produkt einer biologisch bestimmten Bindung. Belege sind das Trauerverhalten von Primaten und anderen Säugern. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 12! c) Biologische Perspektive! > Trauer ist der Preis, den soziale Tiere dafür zahlen müssen, dass die Bindung zu anderen auch dann aufrechterhalten bleibt, wenn diese zeitweise aus dem Blickfeld verschwinden. > Dieser Mechanismus erlaubt stabile Repräsentationen - ist also eine höchst adaptive Eigenschaft. > Trauer ist eine “Nebenwirkung” dieser Eigenschaft. > --> die Intensität des Trauerns ergibt sich aus biologischer Sicht durch den Verlust an Reproduktivität. Aus diesem Grund sind Partnerverluste und der Verlust eigener Kinder besonders gravierend. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 13! d) Trauerarbeit vs. Trauerverarbeitung: Das Copingmodell! > Der Gegensatz zur psychodynamisch orientierten Auffassung ist das Coping-Modell (Bewältigungsmodell). > Unterschieden wird dabei zwischen emotionaler Bewältigung und Aufgabenorientierung — Im Gegensatz zu den psychodynamisch orientierten Phasenmodellen, welche die Auflösung der Trauer fordern, damit wieder neue Bindungen und Beziehungen eingegangen werden können, hat die Vorstellung, dass die Beziehung zur verstorbenen Person fortbestehen kann, eine gleichwertige Berechtigung. > Das Regulieren von Gefühlen als Bewältigungsstrategie von Verlusten schließt dabei ausdrücklich das Zulassen von positiven Emotionen ein Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 14! Das duale Prozess-Modell der Trauerbewältigung! Alltagserfahrungen Verlust-orientiert Trauerarbeit Intrusionen Auflösung der Bindungen Verstorbene Person als solche wahrnehmen Verleugnung/ Vermeiden von Realitätsveränderung Wiederherstellungsorientiert Lebensänderungen aufmerksam verfolgen Neue Dinge unternehmen sich von Trauer ablenken Verleugnen, Trauer vermeiden neue Rollen, Identitäten, Beziehungen aufnehmen nach Stroebe & Shut (2001) Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 15! e) Inkonsistenz - das Modell des psychischen Funktionierens nach Grawe (1998)! Das Erleben und Verhalten wird von motivationalen Attraktoren gesteuert, welche bestimmten Grundbedürfnissen unterliegen. Auf der Systemebene gilt ein weiteres allgemeines Prinzip – das Streben nach Konsistenz. Jeder „mismatch“ zwischen realen Wahrnehmungen und Erwartungswerten kann potentiell eine emotionale Alarmreaktion auslösen und erhöht die Inkonsistenz (Horowitz & Znoj, 1999; Znoj & Grawe, 2000). Je nach Bewältigungspotenzial wird dann ein Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten ausgelöst. Trauer (als Verlustreaktion) kann als ein Prozess betrachtet werden, welcher dann auftritt, wenn das Bedürfnis nach Bindung verletzt ist und entsprechende motivationale Schemata (Attraktoren) als neuronale Erregungsbereitschaften (NEMs) aktiviert werden. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 16! Systemebene! Hierarchische Organisation! Streben nach Konsistenz! Rückmeldung über Inkonsistenz! Grundbedürfnisse! Lustgewinn/ Unlustvermeidung! Kontroll-bedürfnis! Bindungsbedürfnis! Rückmeldung über Bedürfnisbefriedigung! Selbstwerterhöhung! Streben nach Bedürfnisbefriedigung! Motivationale Attraktoren! Annäherungsattraktoren! Vermeidungsattraktoren! Rückmeldung über Realisierung! Aktivierung motivationaler Attraktoren! Erleben und Verhalten! 17! Inkonsistenz (Verlust als Stressor)! Trauer als Inkonsistenzquelle Erwartete Wahrnehmung Aktuelle Wahrnehmung Idealisierung oder „zuviel“ Trauerarbeit Zeit Verstärkung der Inkongruenz Diskrepanz = Inkongruenz Komplizierung des Trauerprozesses gesteigerte neuronale Aktivität Verminderung der Diskrepanz Reduktion der Inkongruenz Allmähliche Adaption Aktivierung weiterer problematischer Schemata Inkonsistenz ----> Destabilisierung Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 18! Dauer von Symptomen des Verlusterlebens! Die Trauer dauert länger, als dies allgemein unter Laien und Fachpersonen angenommen wird. Im Gegensatz zur Auffassung, dass eine Trauer “aufgelöst“ werden muss, bevor man sich wieder neuen Aufgaben oder Bindungen zuwenden kann, wird heute vertreten, dass das Erleben eines Verlustes in die persönliche Welt “eingebaut“ werden soll. Der Verlust soll akzeptiert werden und es kann dem oder der Trauernden selbst überlassen werden, wie stark die Beziehung zur verstorbenen Person aufrechterhalten bleibt. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 19! Wie lang dauert die Trauer?! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 20! Wie lange dauert die Trauer?! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 21! Was bleibt zurück?! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 22! Trauerreaktionen! > Junge Leute zeigen mehr körperliche Symptome als ältere > Alte Leute trauern nicht weniger, aber anders > Ältere Leute zeigen zu Beginn eine weniger starke Trauerreaktion, brauchen aber danach mehr Zeit: – – – Verleugnung des Verlustes physische Symptome Einsamkeit und Angst > Wichtig ist der Zeitpunkt des Todes und Alter des Verstorbenen. > Nur eine Minderheit entwickelt manifeste Depression. – – > Symptome bei Trauernden sind unterschiedlich von Depressiven klinisch auffällige in der Regel nur kurz nach Todesfall Prädiktoren für Entwicklung von depressiven Symptomen – eigene Todeswünsche – Konfusion der Gefühle und Selbstzweifel exzessives Weinen keine neuen Beschäftigungen – – Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 23! Wie verarbeiten Jugendliche?! Befragung von N = 39 Jugendlichen (Durchschnittsalter ca. 14 Jahre), die alle einen Elternteil verloren hatten (im Rahmen von Masterarbeiten, unveröffentlicht). Als wichtigstes Ergebnis konnte ein Zusammenhang zwischen Depressivität und sozialer Unterstützung festgestellt werden, wobei sich vor allem die Unterstützung naher Angehöriger und Freunden als wirkungsvoll erwiesen hat. Vermeidung als überdauernder Bewältigungsstil, vor allem Ablenkung zusammen mit Konzentrationsstörungen, war der wichtigste Prädiktor von Depressivität – mit diesen beiden Variablen konnten über 50% der Varianz von Depressivität aufgeklärt werden. Sieben der 39 Jugendlichen wiesen erhöhte Depressionswerte auf. Persönlichkeitsvoraussetzungen wie die spirituelle oder religiöse Erfahrung und entwicklungsabhängige Bedürfnisse wie die Übernahme von Verantwortung stellten sich als wichtige (positive) Komponenten im Verarbeitungsprozess heraus. Interessant: Viele Jugendliche berichteten, dass sie mit ihren verstorbenen Angehörigen eine Art „lebendigen“ Kontakt aufrecht halten. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 24! Emotionale und physiologische Folgen von Verlust! > Die emotionale Belastung, die durch den Verlust einer nahe stehenden Person ausgelöst wird, kann sich verschiedenartig äußern. Es kommen intensive Emotionen von Angst, Wut, Schuld und Trauer, aber auch Gefühle der emotionalen Leere, Kälte und Zustände von Erleichterung oder Einsamkeit vor. > Auf der Verhaltensebene lassen sich Apathie, Hysterie, Betäubungsverhalten (Medikamente, Alkohol, Drogen), extensives Reizsuchen (auch sexuell), Selbstverletzungen (bis zum Suizid), Ess- und Schlafstörungen beobachten. > Auf der kognitiven Ebene zeigen sich Verleugnung (nicht wahrhaben wollen), Gedankenleere und Gedankenrasen. > Somatisch kann sich eine Trauer in Schmerzen, in motorischer Unruhe und Herz-Kreislaufstörungen äußern. Bei sehr intensiver Trauer können emotionale Regulationsvorgänge nachhaltig gestört werden. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 25! Emotionsregulation und positive Gefühle! Eine nähere Betrachtung des verbalen Vermeidens zeigt, dass das Zulassen positiver Gefühle (Bonanno & Keltner, 1997) wichtig für eine gute Entwicklung ist. Das inhaltliche (thematische) Vermeiden selbst war kein Prädiktor. 26! 27! Risiko- und Resilienzfaktoren! • Art des Verlustes (Kind > Partner > übrige Angehörige) • traumatisierende Umstände • sekundäre Verluste (soziales Netz, ökonomische Ressourcen) • Persönliche Ressourcen (Kohärenzsinn, Selbst-Komplexität, optimistische Lebenseinstellung etc.) • Unterstützung durch Angehörige, Freunde und weitere Nahestehende Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 28! Verlust als Trauma! > Trauer kann als „Modell“ eines psychischen Traumas begriffen werden > In Analogie zu einem Trauma werden in der Trauer um eine geliebte Person Annahmen über eine gute, gerechte Welt erschüttert (Janoff-Bulman „shattered world“) > Diese Erfahrung wird normalerweise ins Leben integriert („Trauerarbeit“) > In manchen Fällen gelingt dies nicht: dann wird die Trauer zum Trauma > Dabei kommt der Vermeidung von schmerzhaften Emotionen eine wichtige Rolle zu Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 29! einfache vs. komplizierte Trauer! Einfache Trauerreaktion Komplizierte Trauerreaktion Starke, impulsive emotionale Allmähliche Anpassung an die neue Realität, vergleichsweise Verlauf abnehmende Intensität der gefühlten Trauer. Anpassung an neue Wirklich-keit ohne die verstorbene Person gelingt Reaktionen wie Wut, Schuldgefühle und Angst. Manchmal verzögerte Trauerreaktion. Keine kontinuierliche Abnahme der Trauerintensität. Die Trauer wird oft nicht als Traurigkeit erlebt. Anpassung an neue Wirklichkeit gelingt nicht Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 30! Fortsetzung! Einfache Trauerreaktion Trauerreaktion mit Rückzug und häufigem Weinen. Der Symptomatik Ausdruck der Trauerreaktion ist stark von kulturellen Normen geprägt Gesundheit soziale Folgen Einleitung Komplizierte Trauerreaktion Selbst schädigendes Verhalten, Panikattacken, depressive Reaktion, exzessive Reizbarkeit, anhaltende und häufige Intrusionen, Gefühl innerlicher Leere und allgemeiner Sinnlosigkeit langfristig keine gesundheitlichen Folgen Schlaf- und Essstörungen, erhöhte Anfälligkeit für Infektionserkrankungen Kurzfristig Rückzug aus dem gewohnten sozialen Umfeld, langfristig keine negativen Folgen Vernachlässigung des sozialen Netzes, Einbussen im Bereich des beruflichen Funktionierens, Vereinsamung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 31! Emotionsspezifische und emotionsunspezifische Komponenten! Gemeinsamkeiten von PTSD und komplizierter Trauer: ! Wiedererleben einzelner Bestandteile des Verlustes in Form von intrusiven Gedanken und Bildern (bis halluzinatorisch) ! Vermeidungsverhalten, insbesondere das Verdrängen von Gefühlen und Gedanken, welche mit der verlorenen Person assoziiert sind ! Verminderter Affekt Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! Unterschiede: ! Keine übertriebenen Schreckreaktionen bei komplizierter Trauer ! Weniger Schlafprobleme bei komplizierter Trauer Obwohl es zwischen beiden Störungen Überlappungen gibt, sind sie nicht isomorph Aus einer Studie von Prigerson et al, 1999 32! Die Anhaltende Komplexe Trauerreaktion (DSM 5)! 33! Störung durch eine Anhaltende Komplexe Trauerreaktion DSM 5! 34! Störung durch eine Anhaltende Komplexe Trauerreaktion DSM 5! 35! Epidemiologie/ Komorbidität! Simon et al., 2007: The prevalence and correlates of psychiatric comorbidity in individuals with complicated grief. Comprehensive Psychiatry 48, 395-399.! Komorbide Störung Aktuell % Lifetime % Majore Depression MDD 55.3 71.8 Posttraumatische Belastungsstörung PTB 48.5 52.9 Panikstörung 13.6 21.8 Agoraphobie ohne Panik 1.0 1.0 Generalisierte Angststörung GAD 18.5 N/A Soziale Phobie 7.8 13.1 Zwangsstörung OCD 6.3 6.8 Irgendeine Angststörung 62.6 69.4 Irgendeine Störung 75.2 84.5 Keine komorbide Störung 24.8 15.5 N = 206, nach Simon et al., 2007! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 36! Wie wird die Trauer zum Trauma?! > Nach dem allgemeinen Stressmodell kann die traumatische Trauer als eine Intensivierung der mit der Trauer verbundenen Reaktionen (emotional, kognitiv, somatisch) betrachtet werden. > Der “normale” Verlauf der Trauer erfolgt über die “Phasen”: Schock - nicht wahrhaben wollen, emotionaler Aufschrei (Dysregulation), klares Schmerzempfinden und Trauer --> “Verarbeitung, Trauerarbeit” > Die Komplizierung der Trauer findet über weitere Stufen statt: mit dem Schmerz kommt es zu dysfunktionalen Kognitionen, die wiederum schmerzhafte emotionale Reaktionen auslösen --> es resultiert eine Verstärkung des Verlusterlebens > Die Verarbeitung gelingt nicht adaptiv, sondern über problematische Bewältigungsstrategien (Vermeidung/Verleugnung), was paradoxerweise vermehrte Intrusionen zur Folge hat. Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 37! Das Aufschaukelungsmodell der Komplizierten Trauer (aus Znoj, 2004)! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 38! Psychische und somatische Folgen der Komplizierten oder Traumatischen Trauer! > Psychisch: wie in der einfachen Trauer, jedoch oft überlagert von Angstsymptomatik und affektiven Störungen > beinhaltet wie PTB ein “aktives Gedächtnis” > Dysregulation emotionaler Befindlichkeit wie unkontrolliertes, ständiges Weinen oder Wut, Panik > Somatisch: Schmerz (Herzschmerz), Störung des Schlaf- Wachzyklus, Appetitlosigkeit, verminderte Abwehrkräfte (Immunsystem) Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 39! Therapie ! 40! Daily Telegraph Juni, 2005! Worauf stützen sich die ! Aussagen so namhafter ! Forscher wie Maggie Stroebe oder Colin Murray Parkes?! Wann ist eine Intervention aber sinnvoll und notwendig?! Gibt es dafür empirische Evidenz? ! Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Wirksamkeit nach Trauergruppen Schut et al., 2001 Primäre Intervention Sekundäre Intervention Tertiäre Intervention Einleitung Einleitung Erklärungsmodelle Erklärungsmodelle Diagnostik Diagnostik Therapie ! Alle Trauernde Risikogruppen Komplizierte Trauer 41! Therapie ! Effect of Psychological Interventions on Targeted Populations (Currier, Neimeyer & Bermann, 2008) 42! Therapie der komplizierten Trauer! > In den letzten beiden Jahren wurden mehrere kognitiv-verhaltens- therapeutische Therapien für komplizierte Trauer entwickelt (Boelen et al., 2007; Shear et al., 2005; Wagner et al., 2006) > Kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken für Trauma-ähnliche Symptome wie z.B. ängstlich-depressives Vermeidungsverhalten > Kognitive klärende Elemente für Schuldgefühle, „unfinished business“ etc. > Wirksamkeit für komplizierte Trauer (in kontrollierten Studien) nachgewiesen Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 43! Das duale Prozessmodell: Implikationen für die Psychotherapie! Eine Komplizierte Trauer hat verschiedenen Ursachen, die sich aber in zwei grundlegende Aufgaben – Tolerieren und Adaptation - unterteilen lassen: 1) Das Aushalten des Trauerschmerzes; Das Lernen, mit diesen „rohen“ Gefühlen umzugehen und den Schmerz zu dosieren, damit er allmählich in ein Gefühl der Traurigkeit und des Verlustes übergehen kann. Damit diese Arbeit geschehen kann, muss der Verlust als Verlust akzeptiert und Ressourcen bereit gestellt werden. 2) Wiederherstellung: „das Leben geht weiter“... In welcher Wese sind Lebensziele durch den Verlust bedroht? Was „braucht es“, damit das Leben weitergehen kann? Welche Aufgaben stehen an (z.B. Kinder, Beruf, Selbstfürsorge etc.)? Welche Erinnerungen möchte ich behalten? Worden (1986) unterscheidet vier Aufgaben, die der oder die Trauernde zu erfüllen hat: a) Akzeptanz, b) den Schmerz zulassen, c) Anpassen und d) die Beziehung zur verstorbenen Person neu definieren. 44! Trauerbegleitung in Institutionen! > Wie sieht die Abschiedskultur aus in meiner Institution? Gibt es gemeinsame Werte und Normen? > Existieren Strukturen, die Mitarbeitern ermöglichen, sich auf Sterbende und ihre Angehörigen einzulassen, sie zu begleiten? > Gibt es Kommunikationsstrukturen oder müssen diese noch entwickelt werden? > Wie und von wem werden welche Entscheidungen getroffen? > Kann der Prozess des Abschiednehmens und Verlustes reflektiert werden im Team, mit den Angehörigen? > Gibt es spezifische Weiterbildungsangebote? > Kann der Abschied gestaltet werden, gibt es dafür Ressourcen? > Gibt es Rituale und passen diese in die Institution, entsprechen sie den Bedürfnissen der Angehörigen, des Teams, (des Sterbenden)? > Was erlebt das Team, erleben die Angehörigen als hilfreich, was als belastend? Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 45! Schlussfolgerung! " Allgemeine Interventionen (Medikamente, Psychotherapie) sind unwirksam oder können sogar negative Effekte bewirken " Trauerbegleitung ist keine Intervention, sondern ein Prozess, der (teilweise) geteilt wird " Interventionen zu früh können möglicherweise sogar schaden " Risikogruppen oder Personen, die an komplizierter Trauer leiden, können von einer Intervention dagegen stark profitieren Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 46! Do’s & Dont’s! gut nicht so gut - Trauer als gefährlichen Zustand beenden - Normalisieren der Trauerreaktion - Normatives Vorgehen (”Weinen ist - Individuelles Vorgehen gut”...) - Emotionen als Ressource nutzen - Ausschliesslich individuelle und aktivieren Sichtweise der Trauer - Tod als Erfahrung akzeptieren - Emotionen problematisieren - Tod tabuisieren Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 47! Take Home! > Trauernde machen oft die Erfahrung, dass sie durch das Ereignis persönlich reifer geworden sind > Aber: das psychische Funktionsniveau ist vom letzten Punkt weitgehend unabhängig > Psychotherapeutische Interventionen sind nur bei Komplizierter Trauer indiziert > Trauerbegleitung in Institutionen erfordert eine Abschiedskultur, die sowohl das Team, den Sterbenden als auch die Angehörigen vor und nach dem endgültigen Verlust in ihren Bedürfnissen unterstützt > Das aktive Aufsuchen positiver Emotionen unterstützt die emotionale Verarbeitung des Verlustes Einleitung Erklärungsmodelle Diagnostik Therapie ! 48! Literaturhinweise! > Schärer-Santschi, E. (Ed.). (2012). Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten. Bern: Hans Huber, Hogrefe AG. > Stroebe, M. S., Hannson, R. O., Stroebe, W., & Schut, H. (Eds.). (2001). Handbook of bereavement research. Consequences, coping, and care (1 ed.). Washington, DC: American Psychological Association. > Worden, J. W. (1986). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Bern: Huber. > Wolf, D. D. (1992). Einen geliebten Menschen verlieren - vom schmerzlichen Umgang mit der Trauer (2. ed.). Neustadt: PAL Verlagsgesellschaft mbH Mannheim. > Znoj, H. J. (2009). Trauer. Psychiatrie und Psychotherapie up2date (3), 317-331. > Znoj, H. J. (2004). Komplizierte Trauer. Leitfaden für Therapeuten. Göttingen: Hogrefe. 49! Dank! Die vorliegenden Aussagen und Schlussfolgerungen wären nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe zahlreicher Mitarbeiter, Studierender und auch persönlicher Erfahrungen. Besonders erwähnen möchte ich: Agnes Plaschy Dominique Keller Marieke Kruit-Lauener Catherine Wüthrich Lawrence Calhoun Rich Tedeschi Andreas Maercker Mardi Horowitz meinen verstorbenen Chef Klaus Grawe 50!