Certamen Carolinum 2005 - Vortrag für die Endrunde von Kai Schöpe - „Virtus bei Cicero und Seneca – Wesen und Wandel eines zentralen philosophischen Begriffs“ Textgrundlage: Text 1: Text 2: Cicero de rep. I 1-2 Seneca ep. VIII 74, 26-30 I Vorbemerkung Virtus bedeutet ursprünglich „Mannhaftigkeit, Männlichkeit“. Dieses enge Bedeutungsspektrum hat sich aber ausgedehnt, als „virtus“ mit dem griechischen Begriff „areté“ gleichgesetzt wurde. So finden wir „virtus“ z. B. bei Cicero in ganz unterschiedlichen Bedeutungen. Einerseits benutzt Cicero „virtus“ in seinen Reden in der altrömischen Bedeutung, anderseits gebraucht er diesen Terminus in seinen philosophischen Werken, um z. B. die Tugendlehre der Stoiker zu erläutern. Eine ganz zentrale Rolle kommt „virtus“ in Ciceros staatsphilosophischen Werk „de re publica“ zu. Seneca benutzt „virtus“, um seinem Freund Lucilius in den „epistulae morales“ den Glücksbegriff der stoischen Philosophie zu erklären. Gegenstand dieses Vortrages soll es sein, die Entwicklung aufzuweisen, die der „virtus“-Begriff bei Cicero und Seneca erfahren hat. Dazu werden die oben genannten Textstellen zunächst einzeln betrachtet werden, um abschließend einen kontrastiven Vergleich anstellen zu können. II Der „virtus“-Begriff Ciceros Die zu betrachtende Textstelle ist dem Werk „de re publica“ entnommen, welches in Zeiten höchster Bedrohtheit der res publica Romana entstanden ist. Cicero schreibt das Werk während der Zeit des erzwungenen otium. In der ausgewählten Textstelle stellt Cicero sein Verständnis einer politisch ausgerichteten „virtus“ dar. Einige grundlegende Gedanken zu politischen Engagement erscheinen Cicero zu Beginn seines Werkes notwendig, um jegliche Zweifel, sich politisch zu betätigen, zu zerstreuen. Wie geht Cicero dabei vor? Er kontrastiert eine „vita cum virtute“ mit einer „vita cum voluptate in otio“. Dass die Verlockungen des Genießens geringer sind als die innere Nötigung, sich zu vervollkommnen, belegt Cicero mit Beispielen aus der Geschichte. Er nennt Cato als „exemplar ad industriam virtutemque“. In dieser Formulierung verknüpft Cicero geschickt den „virtus“- Begriff mit (politischer) Tätigkeit. Diese Verknüpfung führt Cicero zu folgender allgemeinen Definition: Unum hoc definio, tantam esse necessitatem virtutis generi hominum a natura tantumque amoren ad communem salutem defendendam datum, ut ea vis omnia blandimenta voluptatis otique vicerit. Dieser Satz lässt einerseits die Ablehnung des epikureischen Lebensstils erkennen, andererseits wird der Drang zu politischer Tätigkeit als natürliche Anlage des Menschen gesehen. Dass dieser menschliche Wesenszug quasi als Naturgesetz verstanden wird, zeigt die Nähe zur stoischen Trieblehre („secundum naturam vivere“). Dieser Drang zum Streben nach Bewährung, zur „virtus“, ist keine Kunst, die man erwirbt und behält, ohne sie zu gebrauchen. „Virtus“ muss gebraucht werden, muss sich bewähren: virtus in usu sui tota posita est. Ihr größter Gebrauch ist die civitatis gubernatio. Aber „virtus“ vermag noch mehr. Sie verwirklicht das, was „diese da in ihren Ecken deklamieren“. Dem bloßen Wissen der Philosophen wird also die Verwirklichung gegenübergestellt. Wichtig hierbei ist aber, dass es sich um dieselben Lebenswirklichkeiten handelt. Nach dieser Gegenüberstellung vergleicht Cicero die Resultate der Philosophen und Staatsmänner. Philosophen greifen nur das auf, was von den Staatsmännern eingerichtet worden ist. Deren größte Leistung, die iuris descriptio, hat die Sitten unantastbar gemacht. An dieser Stelle nimmt die Rede einen eifernden Ton in Form von rhetorischen Fragen an, die den Gesamtkomplex „ius et mores“ umfassen. Bei der Aufzählung der Werte fällt auf, dass Cicero das Wort „fortitudo“ im Sinne von „Tapferkeit“ benutzt. Andere Autoren, wie zum Beispiel Caesar und Sallust, gebrauchen „virtus“, um „Tapferkeit“ auszudrücken. Cicero bevorzugt in diesem Zusammenhang „fortitudo“, um Missverständnissen vorzubeugen. Er möchte „virtus“ an dieser Stelle als politische Aktivität verstanden wissen. Die Frage nach der Herkunft der aufgezählten Werte fällt zugunsten der Staatsmänner aus: Sie sind die Urheber der aufgezählten Werte. Sie haben das, „was sich in Lebensgemeinschaften gebildet hat, teils durch Sitten, teils durch Gesetze unantastbar gemacht“. Der Begriff „moribus“ erinnert an die mores maiorum, das ungeschriebene Gesetz altziviler Art. III Der „virtus“-Begriff Senecas Der Textausschnitt ist Senecas Werk „epistulae morales ad Lucilium“ entnommen. Laut Maurach orientiert sich Seneca bei der Konzeption des Epistelwerkes an der geistigen Entwicklung eines proficiens, ein solcher ist Lucilius, und entfaltet die stoische Philosophie. Der expliziten Beschäftigung mit dem Thema Glück stellt Seneca drei Briefe (ep. 66, 71, 74) voran, in denen er sich mit der stoischen Güterlehre beschäftigt. In dem ausgewählten Textausschnitt geht es um die Eigenschaften des summum bonum. Seneca leitet diesen Abschnitt mit der Frage ein, ob nicht der glücklicher sei, der umgeben ist von einer Mengen von Freunden und Kindern. Er stellt also die Frage nach der Beeinflussbarkeit des Glücksgrades durch widrige oder günstige Lebensumstände. Seneca verneint diese Frage: Summum bonum nec infringitur nec augetur; in suo modo permanet, utcumque fortuna se gessit. Diesen Gedanken konkretisiert Seneca anhand der Lebensdauer des Menschen. Mag einem Menschen ein langes Leben geschenkt werden, oder mag er in jungen Jahren sterben, eadem mensura summi boni est. Sehr deutlich bringt Seneca diese These im Bild eines in den Sand gezeichneten Kreises zum Ausdruck. Die Größe dieses Kreises hat zwar Einfluss auf die Fläche, nicht aber auf die Gestalt. Ebenso ändert auch die Vergänglichkeit nicht die Form an sich. Quantität scheidet als Beurteilungskriterium des summum bonum aus. In einem zugespitzten Vergleich nimmt Seneca die Idee der Lebensdauer noch einmal auf. Er behauptet, dass ein ehrenhaftes Leben auf einen einzigen Tag reduziert werden kann und doch gleichermaßen ehrenhaft ist (aeque honesta est). Nun differenziert Seneca nicht mehr nach Anzahl, Größe, Dauer, sondern vergleicht Lebensbereiche, in denen „virtus“ verwirklicht werden kann. Wenn am Anfang des Textes vom „summum bonum“ die Rede war und Seneca nun von „virtus“ spricht, so ist dies nur eine Variierung, die auf der Grundlage der Stoa möglich ist. Laut der Stoa ist „virtus“ nämlich das „summum bonum“, welches allein eine „honesta vita“ ausmacht. An dieser Textstelle findet man nun „virtus“ und zwar an einer ganz zentralen Stelle, nämlich als Subjekt des Satzes; sie ist das handelnde Element. Auf der einen Seite kann „virtus“ Städte regieren, Gesetze einbringen, Freundschaften pflegen und der Familie Aufmerksamkeit schenken. Auf der anderen Seite kann sie aber auch „in den engen Grenzen der Armut, Verbannung, Einsamkeit eingesperrt sein“. Hier ist ein deutlicher biographischer Hinweis zu erkennen. Seneca selbst hat lange Zeit auf Korsika in der Verbannung leben müssen. Dort musste er seine philosophischen Lehren anwenden, indem er den Schicksalsschlag mit magnitudo animi und patientia ertrug. Als stoischer Weise ist man überall auf der Welt zu Hause. Man ist Kosmopolit und kann von sich sagen: „Omnia mea mecum sunt.“ Seneca kommt bei der Betrachtung der genannten Möglichkeiten zu einem ähnlichen Ergebnis wie im vorherigen Paragraphen: „non tamen minor est“ sagt er von der „virtus“. Seneca erläutert diese These weiter, indem er sagt, dass unabhängig von den äußeren Umständen virtus „Zeichen von großem, erhabenen Geist, vollkommener Klugheit und unbeugsamer Gerechtigkeit“ ist. Wirkliches Glück kann also nur im Geiste erreicht werden, womit ein Argument gegen die Zuordnung des glückseligen Lebens zu einem bestimmten Bereich vorliegt. An dieser Stelle vermittelt uns Seneca auch sein Verständnis einer vita beata: beatum enim illud in uno loco positum est, in ipsa mente, stabile, grande, tranquillum, quod sine scientia divinorum humanorumque non potest effici. In diesem Satz wird die herausragende Rolle der Ratio deutlich, welche im Wort „scientia“ anklingt. Die Ratio ist das proprium bonum des Menschen; das heißt, dass nur der Mensch dazu fähig ist, virtus zu verwirklichen. Der voranstehende Satz „Ergo aeque beata est.“ erinnert in seiner Syntax und Kürze (brevitas) an die Aussagen „aeque honesta est“ und „aeque magna est“. Die drei Adjektive sind die Kennzeichen sittlicher Vollkommenheit. Ein sittlich gutes Leben (honesta) ist erhaben (magna) und führt zum glückseligen Leben (beata). Da sittliche Vollkommenheit nicht durch widrige Lebensumstände beeinträchtigt werden kann, ist der Tod guter Bekannter, aber auch der eigene ebenfalls kein Faktor, der die Harmonie stören kann, in welcher der Weise lebt. Er begegnet solchen Störfaktoren mit stoischem Gleichmut. Er führt eine vita concors sibi. Es gilt nämlich: virtus convenientia constat: omnia opera eius cum ipsa concordant et congruunt. IV Vergleich der beiden Positionen Nach der Analyse der beiden Textstellen kann als vorläufiges Ergebnis Folgendes festgehalten werden: Während „virtus“ bei Seneca eine konstante Größe ist, deren Verwirklichung sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben liegen kann, betont Cicero die Notwendigkeit der politischen Ausrichtung des „virtus“-Begriffs. Wie ist dieser Wandel zu erklären? Zum Zeitpunkt der Abfassung von „de re publica“ stand Cicero unter dem Eindruck der erlebten politischen Partizipation der vergangenen Jahre. Er hofft, sich in Zukunft wieder politisch betätigen zu können, und gibt seiner Hoffnung in diesem Werk Ausdruck. „De re publica“ stellt die libera res publica Romana als beste Staatsform dar, die aufgrund ihrer Mischverfassung, verantwortungsbewusster Politiker, sprich Männern mit „virtus“, bedarf. Seneca dagegen hat diese alte Staatsform nicht miterlebt: Er lebt im ersten Jahrhundert n. Chr. unter den Caesaren. Zeit seines Lebens war er sehr viel eingeschränkter als Cicero in der Ausübung seiner Politik. Im Gegensatz zu Cicero hält er politisches Engagement in der Zukunft für ausgeschlossen, als er seine „epistulae morales“ verfasst. Er ist zu dieser Zeit eine persona non grata. Bei Seneca können wir also eine Entpolitisierung des „virtus“-Begriffes erkennen. Mit dieser Entpolitisierung geht eine Individualisierung einher, welche sich in der Frage manifestiert, wie das Individuum größtmögliches Glück erreichen kann. V Aktualität eines zentralen philosophischen Begriffs Zum Schluss soll ein Blick auf die Aktualität des „virtus“-Begriffes geworfen werden. Dazu ist es nötig, sich die Frage zu beantworten, in welchem Staat wir heute leben, da sich ja gezeigt hat, dass die Positionen Ciceros und Senecas maßgeblich vom Zustand des Gemeinwesens beeinflusst waren. In unserem Staat fungieren Parteien als Träger der politischen Meinungsbildung. An die Stelle der Machtkämpfe zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten ist der Konkurrenzkampf demokratischer Parteien getreten, die den für die Demokratie unerlässlichen Konsens suchen. Diese Suche wird nicht nur durch den globalen Charakter der Probleme erschwert, sondern auch durch unsere heutige Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist bestimmt von einer Grundstimmung des Forderns und des Wunsches nach ungestörtem Konsum. Allzu oft wird die Politik als Diener des Bürgers verstanden. Man denke nur an die letzten Skandale um die Hartz-IV-Reformen oder an die Debatte um die Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem. „Was kann der Staat für mich tun?“ Diese Frage ist an die Stelle der Frage „Was kann ich für den Staat tun?“ getreten. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Ciceros Worte als Warnung vor einer radikal betriebenen Entpolitisierung des „virtus“-Begriffs, wobei „virtus“ grundsätzlich als uneigennütziges, soziales oder politisches Engagement zu verstehen ist. Eine Verengung auf politisches Engagement ist aber heute nicht möglich. Deshalb muss es möglich sein, „virtus“ auch in anderen Lebensbereichen zu verwirklichen, freilich immer unter Berücksichtigung des Gemeinwohls.