Fortbildung Palliativmedizin am Klinikum Augsburg „Multidisziplinäre ethische Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungssituationen“ 20.09.2006: Dr. R. Scheule, Dr. T. Becker, G. Happach Worum geht es? „Ethik in der Klinik“ keine Ethikkommission: Kontrollgremium an Universitäten oder Ärztekammern zur Überprüfung /Kontrolle von Forschungsprotokollen/Forschungsvorhaben kein Klinisches Ethikkomitee: Beratungsorgan der Klinikleitung für Fragen der Organisationsethik und ethischer Leitlinien im Haus sondern Ethische Fallbesprechung: moderiertes, strukturiertes Gespräch im multidisziplinären Team zur Entwicklung einer Entscheidungsempfehlung für ein konkretes pflegerisches oder ärztliches Problem 1 Was ist der Kontext des Projekts? Ausgangspunkt: DFG-Projekt „Entscheidungslehre christlicher Ethik“ (SCHE 667/2-1 und SCHE 667/2-2) an der Theologischen Fakultät der Universität Augsburg Brückenkopf zur Praxis: Haus Tobias am Zentralklinikum Augsburg Pilotphase 2005/2006 im Schlaganfallzentrum, Neurologische Klinik, Klinikum Augsburg Was genau ist das Anliegen? Entscheidungshilfe bei schwierigen Entscheidungen, die in Persönlichkeit des Pat. eingreifen Kriterien f. Entscheidungshilfe-Bedarf objektiv: Frage nach Therapiebegrenzung oder Therapieeskalation (raumgebende OP oder nicht? Reha oder Pflegeheim?) subjektiv: Entscheidungsschwierigkeiten eines Therapie-Beteiligten Idee: Entscheidungshilfe durch „Blickwinkelerweiterung“ unter Einschluss ethischer und seelsorglicher Aspekte 2 Warum Blickwinkelerweiterung? Theoretischer Hintergrund: jeder disziplinäre Blickwinkel hat „blinden Fleck“ wechselseitige multidisziplinäre Aufklärung „blinder Flecken“ Vorzug von Entscheidungen, die aus Sicht möglichst vieler beteiligter Blickwinkel/Eigenlogiken gut sind Revue einschlägiger Blickwinkel/Eigenlogiken Medizin – Agent: Arzt, Logo-/Ergotherapeuten Pflege – Agent: Krankenschwester/-pfleger Lebenswelt – Agent: Casemanager, Seelsorger u.a. „Sinn- und Reflexionssphäre“ des Pat. – Agent: Seelsorger (Rechtssystem – Agent: Jurist) (Ökonomie – Agent: Geschäftsführung) Und wo bleibt die Ethik? Blickwinkel jenseits aller disziplinären Sichtweisen/Eigenlogiken alle Beteiligten sind ethische Subjekte keine „Ethikexperten“ als Alibi gemeinsame „ethische Meinungsbildung“ 3 Was verstehen wir unter „ethisch“? individualethisch: der abschätzbare Freiheitsgewinn und die Würde des Pat. Würde nach I. Kant: Mensch als Selbstzweck – bei welcher Entscheidung wird Pat. am wenigsten „verzweckt“ für unsere eigenen Belange?) Was verstehen wir unter „ethisch“? sozialethisch: die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit medizinische Versorgung als knappes und damit „gerechtigkeitsfähiges“Gut Probleme entstehen, wenn Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiche« bekommen (Aristoteles)? 4 Pilotprojekt (2005/06) „Multidisziplinäre ethische Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungssituationen beim Schlaganfall“ (MEFES) MEFES – Voraussetzungen Wer kann MEFES anregen? jedes Mitglied des Behandlungsteams Wer wird zur MEFES eingeladen? jeder, der eine eigene Perspektive auf das Entscheidungsproblem hat (Verpflichtung zur Informationsbeschaffung, strukturierung vorab) Moderator lädt nach Beratschlagung mit MEFES-Anfordernden ein Wieviel Zeit wird für eine MEFES veranschlagt? Wie schnell erfolgt eine MEFES max. 45 min. nötigenfalls binnen 24 Stunden nach Anforderung 5 MEFES – Verfahrensanweisung Prozess Start 01 schwierige Entscheidungssituation 09 MEFES wird nicht einberufen/ andere Klärungsstrategie 03 Indikationsklärung im Team nein 04 MEFES wird vom gesamten Team befürwortet 06 ein Teammitglied sieht weiterhin MEFESBedarf nein ja ja 05 Einberufung der MEFES 10 Festlegung der Dringlichkeit/ des Termins 07 Konsultation eines MEFES- Moderators 11 Benachrichtigung d. Teilnehmer/ Vorbereitungsprotokoll 12 standardisierte Vorbereitung ja 08 Indikation für MEFES nein 13 strukturierte ethische Fallbesprechung 14 Votum Ende Wie läuft MEFES ab? 1. Was ist mein Entscheidungsproblem? 2. Was ist unsere Situation? Welche Alternativen sehen Sie zusätzlich (Entscheidungsraum)? Welche voraussichtlichen Ergebnisse haben die Alternativen (Entscheidungsfolgen)? 3. Wie bewerten wir mögliche Entscheidungsfolgen? Wie bewertet der Pflegende als Pflegender? Wie bewertet der Arzt als Arzt? Wie bewertet der Casemanager als Agent der sozialen Kontexte / der Lebenswelt? Wie bewertet der Seelsorger als Agent der Sinngebungsstrategien des Pat.? (Wie bewertet der Jurist als Rechtsexperte?) (Wie bewertet die Geschäftsführung unter ökon. Gesichtspunkten?) 6 Wie läuft MEFES ab? 4. Mögliche Entscheidungsfolgen werden ethischer Bewertung unterzogen heikelster Schritt, weil keine Distanzierung qua Rolle mehr möglich sollte hier kein Konsens hergestellt werden können, sticht die ethische Bewertung des MEFES-Anfordernden Moderator enthält sich. Wie läuft MEFES ab? 5. Situationsdefinition wird „nachjustiert“ Moderator stellt noch einmal Konsens hinsichtlich der Situationsdefinition fest 6. Entscheidungsraum wird v. Moderator visuell dargestellt 7 Wie läuft MEFES ab? Visualisierungsbeispiel a1 ethisch gut? X medizinisch gut? a2 X a3 a4 X X X X X ökonomisch gut? lebensweltlich gut? Wie läuft MEFES ab? 7. Entscheidungsempfehlung wird ausgesprochen Nichts geht ohne Rot! Wähle die Entscheidung, die moralisch gut und darüber hinaus noch aus den meisten anderen Blickwinkeln gut ist ethisch gut? medizinisch gut? a1 a2 a3 X X X a4 X X X X ökonomisch gut? lebensweltlich gut? 8 Wie läuft MEFES ab? 7. Entscheidungsempfehlung wird ausgesprochen Nichts geht ohne Rot! Wähle die Entscheidung, die moralisch gut und darüber hinaus noch in den meisten anderen Hinsichten gut ist Empfehlung a2 ethisch gut? medizinisch gut? a1 a2 a3 X X X a4 X X X X ökonomisch gut? lebensweltlich gut? MEFES-Beispiel: Herr W. Herr W., Mitte 70, ist seit 6 Tagen auf der Schlaganfallstation. schwerer linksseitigert Schlaganfall, der nicht tödlich verlief aber jetzt ein schweres Defizit bedeutet. Die Angehörigen waren anfangs dagegen eine Ernährung anzusetzen, jetzt wollen sie ihn aber auch nicht verhungern lassen. Die Ehefrau wäre mit einer häuslichen Pflege wohl überfordert. Die Frage ist, was nach dem Klinikaufenthalt die geeignete Weiterbehandlung darstellt. 9 MEFES-Beispiel: Herr W. 2. Sicht der Pflege: Der Patient macht Fortschritte Patient für ein Pflegeheim zu gut, für die Reha zu schlecht. Möglicherweise käme eine Kurzzeitpflege in Frage. 3. Sicht der Physiotherapie/ Logopädie: Der Patient macht leichte Fortschritte. möglicherweise kann der Patient wieder selbst schlucken und selbst Nahrung aufnehmen. 4. Perspektive der Seelsorge: Lebenswelt: Wohnung ist weder für einen Rollstuhl noch für die Pflege geeignet, Ehefrau stark überfordert ist. Sinnperspektive: Anbindung an eine Pfarrgemeinde ist nicht vorhanden, gutes Verhältnis zur Familie (3 berufstätige Kinder, Enkel) Zu seinen alltäglichen Lebensinhalten gehören Spaziergänge, dreimal wöchentliches Schwimmen, Zeitung lesen und er isst gerne (!). MEFES-Beispiel: Herr W. Ethische Sichtweise: sozialethisch: Prognose rechtfertigt kaum die RehaAnordnung („Ungleiche werden gleich behandelt“) individualethisch: Chance auf künftige (Freiheits)Erlebnisse gegeben (Essen von großer Bedeutung für Pat.), bei intensiver Arbeit mit Pat in Therapiezentrum 10 MEFES-Beispiel: Herr W. Pflegeheim TZ Burgau Sinn X Medizinische Sicht X Pflegerische Sicht X Lebenswelt X Kosten Kurzzeitpflege X Ethi X MEFES-Beispiel: Herr W. Pflegeheim TZ Burgau Sinn X medizinische Sicht X pflegerische Sicht X Lebenswelt X ökonom. ethisch Kurzzeitpflege X X 11 Evaluation „Multidisziplinäre ethische Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungssituationen beim Schlaganfall“ (MEFES) Wie wurde evaluiert? Wieviel Sitzungen Umstände der Befragung? Wieviel Bögen ausgewertet? 12 Evaluation Für wie schwerwiegend halten Sie das heute besprochene Entscheidungsproblem? 35 30 25 20 15 10 5 0 29 16 unerheblich 0 sehr schwerwiege nd von mittlerer Schwere Evaluation Welche Sichtweisen auf das Entscheidungsproblem waren heute besonders wichtig? medizinischärztlich 0% 24% 19% medizinischpflegerisch sozial 18% 12% 10% 17% Öko- nomisch „Sinnperspektive ethisch 13 Evaluation Wie kam die Sichtweise Ihrer eigenen Berufsgruppe zur Geltung? kaum 9% mittel 2% gar nicht 0% sehr gut 37% gut 52% Evaluation In welchem Maße brachte Ihnen die Fallbesprechung die Sichtweisen anderer Berufsgruppen nahe? gar kaum nicht mittel0% sehr gut 2% 37% sehr gut gut mittel gut 61% kaum gar nicht 14 Evaluation Wie sinnvoll fanden Sie es, eine ethische Sichtweise auf das Entscheidungsproblem zu werfen? 25 20 15 25 10 13 5 7 0 0 sehr sinnvoll mittel 0 gar nicht Evaluation Wie sinnvoll war die heutige ethische Fallbesprechung Ihrer Meinung nach? 25 20 15 10 23 5 11 5 0 sehr sinnvoll m ittel 1 0 gar nicht 15 Evaluation Pflegekräfte: Wie sinnvoll war die heutige ethische Fallbesprechung Ihrer Meinung nach? 8 7 6 5 4 8 3 2 1 1 0 0 mittel sehr sinnvoll 0 0 gar nicht Evaluation Ärzte: Wie gut kam die Sichtweise Ihrer eigenen Berufsgruppe zur Geltung? 10 8 6 4 9 5 2 0 sehr gut 0 mittel 0 0 gar nicht 16 Erfahrungen 1 Das Scheitern der „ganzheitlichen Medizin" Der Anspruch der „umfassenden Sicht“ einer Person ist nicht einzulösen Erfahrungen 2 Auch ein Mosaik ergibt „ein Ganzes“ jede Berufsgruppe steuert ihren Mosaikstein bei 17 Erfahrungen 3 Das Hierarchieproblem Die Bereitschaft/ das Bedürfnis der Teammitglieder, an einer MEFES teilzunehmen ist hoch Die Skepsis der „Verantwortlichen“ gegenüber MEFES ist hoch Die Hemmschwelle, eine MEFES anzuregen ist enorm Erfahrungen 4 Im Mittelpunkt der Mensch nicht: Im Mittelpunkt das Problem „Ein Teil der menschlichen Würde besteht in der Kraft, seinem Geschick- auch dem schweren- ins Auge sehen zu können.“ Amadeu de Prado in Pascal Mercier: Nachtzug nach Lisabon 18 Weitere Informationen unter http://www.kthf.uniaugsburg.de/scheule/Projekt_MEFES 19