Lese- und Rechtschreibstörung Klinisch-psychiatrische Praxis und Diagnostik N. S. Scharnowski Ökumenisches Hainich Klinikum, Mühlhausen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 1 Einführung Fallbeispiel „Paul“ • 11 jähriger Junge verweigert im Unterricht seine Mitarbeit, „trotzig“ oder wird aggressiv. • Vor fremden Leuten und in neuen und für ihn unsicheren Situationen verhält er sich wie ein „kleines Kind“ und versteckt sich (hinter den Händen, einer Bezugsperson, unter dem Tisch etc.). • Wiederholung der 4. Klasse aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten • Weitere Schulkarriere gefährdet! → Vorgeschichte? LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 2 Einführung LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 3 Einführung LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 4 Gliederung • Einführung • Woher kommen die Probleme im Lesen und Schreiben? (Erklärungsansätze) • Wann sind Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben eine „Störung“ (Diagnostik) • WER kann WAS tun ? (Behandlung/ Förderung) LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 5 Einführung Häufigkeit und Bedeutung • LRS bei etwa 2 - 8 % der Schulkinder, mehr Jungen • Lesen & Schreiben - wichtigste Kulturtechniken der industrialisierten Welt: 90% aller Arbeitsplätze erfordern Umgang mit schriftlichem Material • Nichtbeherrschen → reduzierte Chance bei schulischem und beruflichen Werdegang, Gefährdung der psychischen Entwicklung • Notwendigkeit, Leistungsstörungen frühzeitig zu erkennen, um entsprechende Therapiemaßnahmen einleiten zu können LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 6 Erklärungsansätze Mehrebenen-Modell Wahrnehmung und Verarbeitung von visuellen Informationen Genetische Disposition Neurobiolog. Grundlagen Intelligenz, Gedächtnis, Aufmerksamkeit Wahrnehmung und Verarbeitung von akustischen Informationen LeseRechtschreibstörung Umweltfaktoren LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 7 Erklärungsansätze Kognitive Funktionen • Lautsprachliche Informationsverarbeitung (Fähigkeit, Informationen über Lautstruktur der gesprochenen oder geschriebenen Sprache zu nutzen) • Beeinträchtigung der phonologischen Bewusstheit (Fähigkeit zur Lautanalyse, -synthese und Lautgedächtnis) • Einschränkung der Verarbeitung und Speicherung lautsprachlicher Informationen im Kurz- und Langzeitgedächtnis LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 8 Erklärungsansätze Genetische Grundlagen der LRS: Haben dann Förderung und spezifischer Unterricht einen Sinn? → Je mehr biologisch begründete Vulnerabilität Grund für eine Lernstörung ist, desto bedeutsamer werden spezifische pädagogische und auch therapeutische Hilfestellungen für das Erlernen der beeinträchtigten Funktionen. LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 9 Diagnostik Diagnostik Multiaxiale Diagnose I: Klinisch-psychiatrisches Syndrom (Ängste, ADHS) II: (umschriebene) Entwicklungsstörungen (Motorik, Sprache, Lesen-Rechtschreiben, Rechnen) III: Intelligenzniveau IV:Körperliche Erkrankung V: Assoziierte abnorme psychosoziale Umstände VI:Beeinträchtigung der psychosozialen Anpassung LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 10 Diagnostik Diagnosestellung I • Lebensgeschichtliche Befragung Eigen-, Sozial-, Familienanamnese Entwicklungsauffälligkeiten Entwicklung des Kindes beim Erlernen von Lesen und Schreiben • Schulbericht (Zeugnisse) Schulische Entwicklung & Entwicklung beim Erlernen von Lesen und Rechtschreiben Leistungen in anderen Fächern Verhaltensauffälligkeiten LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 11 Diagnostik Typische Entwicklung und Begleitsymptomatik • Schlechte Noten im Diktat, besser Noten in anderen Schulfächern • unauffällige psychische Entwicklung bis zur Einschulung, häufiger sprachliche oder motorische Schwierigkeiten oder ADHS (motor. Unruhe, Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität) • somatische Beschwerden im Zusammenhang mit schulischen Lernanforderungen • vor und in der Schule „krank“ (Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit = Symptome der Schulangst), beim Arzt „gesund“ • Beschwerdenfreiheit am Wochenende und in den Ferien • Verhaltensauffälligkeiten LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 12 Diagnostik Diagnosestellung II • Bestimmung des Intelligenzniveaus Standardisierte Testverfahren: HAWIK-III, K-ABC, AID • Standardisierte Lese-Rechtschreibtests Testverfahren: Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) Rechtschreibtest (RST) Salzburger Lese-(Rechtschreib-)Test Züricher Lesetest Leistung PR≤ 10, 90% seiner Alters-/ Klassenstufe sind besser Aufgrund von unterschiedlichem konzeptuellen Vorgehen → sichere Diagnosestellung erst im zweiten Schuljahr LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 13 Diagnostik Symptome der Lesestörung • Schwierigkeiten, Buchstaben korrekt zu benennen und das Alphabet aufzusagen • Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen • Niedrige Lesegeschwindigkeit • Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeilen im Text • Ersetzen von Wörtern durch ein in der Bedeutung ähnliches Wort • Unfähigkeit, das Gelesene wiederzugeben bzw. Schlussfolgerungen zu ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen • Verwendung allgemeinen Wissens anstelle von Informationen aus einer besonderen Geschichte LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 14 Diagnostik Symptomatik der Rechtschreibstörung • Fehler beim mündlichen Buchstabieren • Schwierigkeiten beim Schreiben von Buchstaben, Wörtern und Sätzen • Hohe Fehlerzahl bei ungeübten Diktaten • Hohe Fehlerzahl beim Abschreiben • Fehler in der phonetischen Genauigkeit • Unzureichende Anwendung orthographischer Regeln und Gesetzmäßigkeiten Lese-/ Rechtschreibfehler werden trotz Hinweis nicht erkannt! LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 15 Diagnostik Diagnostische Kriterien Internationales Klassifikationssystem für psychische Störungen (ICD-10): charakteristische Merkmale der umschriebenen LRS • Leistungen im Lesen und Rechtschreiben liegen unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten wären • Entwicklungsstörung, kein Verlustsyndrom liegt vor, Genese im engen Zusammenhang mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems gesehen wird • Störung ist „umschrieben“, d.h. im Sinne einer „Teilleistungsstörung“ auf eine diagnostisch isolierbare Beeinträchtigung beim Erlernen der Schriftsprache bezogen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 16 Diagnostik Diagnosestellung III • Medizinische Untersuchung Neurologische Untersuchung Hör- und Sehtest Indikativ weitere medizinische Untersuchungen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 17 Diagnostik Diskrepanzkriterium 1. Lese-Rechtschreib-Leistung schlechter als bei anderen Kindern der Altersklasse/ Klassenstufe? 2. Lese-Rechtschreib-Leistung signifikant schlechter als allgemeine Intelligenz? IQ=100 z≥1,2 10 LRS - PR 50 N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 18 Diagnostik Diskrepanzkriterium 1. Lese-Rechtschreib-Leistung schlechter als bei anderen Kindern der Altersklasse/ Klassenstufe? 2. Lese-Rechtschreib-Leistung signifikant schlechter als allgemeine Intelligenz? IQ=101 Werte „Paul“ PR 1 LRS - 10 50 N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 19 Diagnostik Diagnosestellung IV • Weitere klinisch-psychiatrische Symptome Verfahren zur Erfassung der Emotionalität, des Verhaltens und der Persönlichkeit Hausaufgabenkonflikte, schulische Konzentrations- und Disziplinschwierigkeiten, Schulangst, Prüfungsangst, soziale Ängste, Schulverweigerung, körperliche Beschwerden, depressive Entwicklung Andere Entwicklungsstörungen (Sprache, Motorik) Aufmerksamkeit und Konzentration LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 20 Diagnostik Kriterien „konkret“ • Schlechte Leistungen im Fach Deutsch (Diktatnote 5-6) • Normale kognitive Entwicklung • keine Leistungsverbesserungen durch vermehrte schulische und familiäre Förderung • Emotionale Störung im Zusammenhang mit Schule/ Deutsch • LRS ist spätestens bis zum 5. Schuljahr sichtbar geworden • Entwicklungsstörungen im Bereich des Sprechens oder der Sprache, seltener auch Motorik und Visuomotorik • Hohe Komorbidität mit anderen Störungen des Kindesalters (ADHS, emotionale Störungen) • Seh-, Hörstörungen oder andere neurologische Erkrankungen (Zerebralparese) sind als Ursache auszuschließen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 21 Diagnostik Fallbeispiel „Paul“ Multiaxiale Diagnose (ICD-10) I: soziale Angst, Prüfungsangst, Trennungsangst, oppositionelles-aufsässiges Verhalten II: Lese-Rechtschreib-Störung III: Intelligenzniveau (HAWIK-III: IQ: 101) IV: kein somatischer Befund V: Assoziierte abnorme psychosoziale Umstände: überbehütende Eltern, unangenehme Schulerlebnisse VI:Starke Beeinträchtigung der psychosozialen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) Anpassung 22 Behandlung/ Förderung Behandlung Elternhaus LegasthenieTherapeuten Schule LeseRechtschreibStörung Schulbehörde Kindergarten Ambulante Versorgung (Erziehungs- , psychologische Beratungsstelle) LRS - Ambulante, teilstationäre & stationäre Versorgung in der KJP N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) Jugendhilfe, Jugendamt 23 Behandlung/ Förderung Behandlungsprogramme - Beispiele • Kieler Lese- und Rechtschreibtraining (lautierendes Lese- und Schreiben als Basis für weitere Lernschritte) • Sprachsystematisches Förderkonzept nach ReuterLiehr: Ausgangspunkt qualitative Fehleranalyse. Vom Leichten zum Schweren, vom Häufigen zum Seltenen! • Rechtschreibtraining mit systematischer Einbeziehung der Eltern: Marburger(-Eltern-Kind-)Rechtschreibtraining Problem: Beziehung Eltern-Kind!!! LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 24 Behandlung/ Förderung Die Bausteine des sprachsystematischen Förderkonzepts nach Reuter-Liehr Teil III: Speicherbereich Vertiefung der Sprachanalysefähigkeit; Hauptsächliche Strategie: Erkennen und speichern Teil II: Regelbereich Erhöhung des Signalempfindens für Abweichungen von der Lauttreue und Entwicklung einer eigenen Sprachanalysefähigkeit mit Hilfe der Morphemsegmentierung; Hauptsächliche Strategie: Begründungsstrategie Teil I: Phonemstufenbereich Aufbau eines sicheren Sprachrhythmusgefühls und eines korrekten inneren Sprechmusters mit Hilfe der Silbensegmentierung Hauptsächliche Strategie: Mitsprechstrategie nach Unterberg 2004 LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 25 Behandlung/ Förderung Schulische Hilfen, Nachteilsausgleich und Eingliederungshilfe • Bei Vorliegen einer LRS sind schulische Hilfen und ein Nachteilsausgleich möglich (Legasthenie-Erlasse) • Schulische Eingliederung infolge der LRS trotz Nachteilsausgleich bedroht oder infolge der LeseRechtschreibproblematik eine psychopathologische Entwicklung (Schulangst) eingetreten, so wäre die Indikation für eine Eingliederung nach §35a Sozialgesetzbuch VIII gegeben LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 26 Zusammenfassung Zusammenfassung • LRS als umschriebene Entwicklungsstörung • Neurobiologische Grundlagen • Beeinträchtigung in der Informationsverarbeitung (vor allem akustischer Reize) • Notwendigkeit spezifische Förderung, je früher desto besser • Gefährdung der psychosozialen Entwicklung • Behandlung/ Förderung erfordert Ineinandergreifen verschiedener Helfersysteme und Institutionen LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! ? Fragen ? LRS - N. S. Scharnowski, ÖHK Mühlhausen (Thür.) 28