Klaus Wolf: Machtprozesse in der Heimerziehung. Münster (Votum) 1999: 117-138 Teil 1 4.2 Figurationssoziologische Prinzipien Betrachtet man die von Norbert Elias in einem langen, produktiven Leben entwickelten theoretischen Überlegungen und empirischen Studien, die inzwischen oft unter dem Begriff "Figurationssoziologie"1 zusammengefasst werden, so kann man einige zentrale Prinzipien herausfiltern, die nun dargestellt werden sollen. Ihre Bedeutung für meinen Kontext liegt nicht nur darin, dass ohne ihre Kenntnis, die nachfolgende Darstellung zur Machtbalance in ihrem Profil weniger deutlich würde, sondern auch darin, dass sie mir generell außerordentlich geeignet erscheinen, um Pädagogen interessierende Vorgänge zu betrachten. So kann man Elias Werk als über die Soziologie hinausreichendes Konzept der Menschenwissenschaften (vgl. Elias 1977: 132; Rehberg 1996) verstehen. Der in der Bezeichnung „Menschenwissenschaften“ angedeutete Anspruch, die Trennung der unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit Menschen beschäftigen, zu überwinden (vgl. Käsler 1996: 436 f), erleichtert die Verwendung einer soziologischen Theorie für die Beantwortung einer sozialpädagogischen Frage, denn die Sozialpädagogik gehört dann - wie die von Elias konzipierte Soziologie - zu den Menschenwissenschaften. Zuvörderst muss sich die Verwendung der figuartionssoziologischen Kategorien allerdings durch ihre erkenntnisfördernde Funktion am empirischen Material legitimieren2. Ich werde im Folgenden die Essentials Elias'scher Argumentation in sechs Prinzipien zusammenfassen. Diese hängen eng miteinander zusammen und beziehen sich z.T. auf unterschiedliche Aspekte des gleichen Themas. Eine solche Herauslösung einzelner Aspekte aus dem Kontext ist nicht unproblematisch, da Elias dies immer wieder kritisiert und eine Darstellung fordert, die eine Synthese3 einer analysierenden Herauslösung vorzieht. Aus didaktischen Gründen habe ich mich trotzdem zu dieser Darstellungsform entschlossen. So 1 wird es leichter gelingen zu einer verständlichen, zusammenfassenden Darstellung zu kommen, und ich befinde mich damit nicht in ganz schlechter Gesellschaft (vgl. etwa Heiland 1992, Kuzmics 1989). Auch Elias selbst hat in "Was ist Soziologie?" (1986) bei der Darstellung seiner Spielmodelle solche Darstellungskompromisse praktiziert. Die Verbindungen zwischen den Prinzipien sollen außerdem explizit benannt werden, so dass nicht unterschlagen wird, dass es sich um unterschiedliche Aspekte der gleichen Theorie handelt. Die Bezeichnung „Figurationssoziologie“ wird neben anderen Bezeichnungen - wie „Zivilisationstheorie“ oder „Prozess-Soziologie“ - für die von Norbert Elias entwickelte Richtung der Soziologie verwendet (vgl. etwa von Flap und Kuiper 1981; Esser 1994; Elias 1983; Bogner 1989; Rehberg 1991 und 1996). Sie hat auch in der Bundesrepublik eine Etablierung erfahren, wie die Einrichtung einer Ad-hoc-Gruppe „Zivilisationsprozess und Figurationssoziologie“ auf dem 21. deutschen Soziologentag in Bamberg 1982 belegt. Ich verwende diesen Begriff, weil die Untersuchung von Figurationen interpedendenter Menschen ein zentrales gemeinsames Merkmal der unterschiedlichen Arbeiten von Elias und seiner Schüler darstellt, während etwa Zivilisationsprozesse zwar im Mittelpunkt des Elias’schen Hauptwerkes stehen, aber in anderen Arbeiten Zivilisationsaspekte nur am Rande eine Rolle spielen oder die behandelten Phänomene nicht explizit zivilisationstheoretisch zugeordnet werden. Die Bezeichnung Figurationssoziologie verweist auf den zentralen Untersuchungsgegenstand bei Elias: die Verflechtungszusammenhänge (vgl. Dieter Claessens in Elias 1986: 7). Elias hat (1987) auch häufig die prozess-soziologische Ausrichtung seiner Überlegungen betont, so dass eine Bezeichnung als Prozess-Soziologie auch naheliegend wäre. Der Begriff Figuration ist - im Gegensatz zu dem des Prozesses, der auch in anderen Theoriekonzepten eine Rolle spielt - allerdings so spezifisch mit Elias’scher Diktion verbunden, dass er mir am ehesten geeignet erschien, den Theoriekontext zu kennzeichnen. Letztlich ist diese Frage nicht entscheidend, es handelt sich um eine Sprachkonvention, die als zweckmäßig oder unzweckmäßig beurteilt werden kann und hier kurz erläutert werden sollte. 2 Der Anspruch ist zu belegen, dass man mit diesen Kategorien Zusammenhänge erkennen kann, die ohne sie verborgen geblieben wären. Neben dem „ich sehe was, was du nicht siehst“ sind für pädagogische Probleme darüber hinaus Handlungskonsequenzen zentral. Dies ist damit ein weiterer Bewertungsmaßstab. 3 ähnlich: Karl Mannheim (vgl. Kilminster 1996: 357) 4.2.1. Interdependente Menschen in Figurationen Johan Goudsblom (1984: 89) fasst einen grundlegenden Gedanken in Norbert Elias’ Hauptwerk "Über den Prozess der Zivilisation" so zusammen: "Menschen sind durch unzählige und die verschiedensten Interdependenzen - angefangen bei familiären bis zu zwischenstaatlichen Beziehungen - miteinander verflochten; sie bilden soziale Figurationen, und die Gestalt dieser Figurationen bestimmt in hohem Maße ihre individuelle Lebensführung." Hier sind einige prinzipielle Merkmale und Postulate Elias'scher Theorie implizit oder explizit enthalten, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Soziologische Theorie soll sich auf Menschen, nicht auf verdinglichte soziale Systeme beziehen (vgl. Heiland, Lüdemann 1992: 38). Dabei können das Verhalten und die Affekte der Menschen, auch in ihren unbewussten Teilen, nur verstanden werden, wenn der einzelne Mensch im Kontext der Beziehungen zu anderen betrachtet wird. Die Beziehungen zu anderen erstrecken sich dabei nicht nur auf face-to-face Kontakte persönlich miteinander bekannter Menschen - wie gelegentlich in der Konzeption primärer sozialer Netzwerke (vgl. F. Straus 1990) oder in systemischen Konzeptionen in der Sozialen Arbeit -, sondern auch auf Verflechtungen mit völlig unbekannten Menschen, deren Handlungen - eventuell über lange Ketten von Wirkungen - indirekt das Handeln und die Affekte beeinflussen können. Auf diese Weise sind die Handlungen und Erfahrungen der Menschen miteinander verflochten. Die Dichte dieser Interdependenzgeflechte ist in unterschiedlichen Gesellschaften oder - in historischer Perspektive - zu unterschiedlichen Zeitpunkten der historischen Entwicklung verschieden. Mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft verlängern sich die Interdependenzketten4 (vgl. Elias 1986: 101). Die Gesellschaft wird als das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht verstanden, und Elias kritisiert immer wieder eine Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft, "als ob es Individuen ohne Gesellschaft und... als ob es Gesellschaften ohne Individuen gäbe" (Elias 1976a: LXVII). Er (vgl. Elias 1984a: 64) bezeichnet die Wahrnehmung der Gesellschaft als dem Individuum gegenüberstehend als Folge eines primären Egozentrismus: Man erlebe sich als Zentrum der ganzen Welt, dem die Gesellschaft gegenübersteht. So ergibt sich eine spezifische Perspektive auf den einzelnen Menschen, der in einem Interdependenzgeflecht aufeinander ausgerichteter, mehr oder weniger voneinander abhängiger Menschen handelt und den Handlungen anderer ausgesetzt ist. Will man diese 4 Dies ist heute durch die Diskussion über die Globalisierung der Wirtschaft oder die globale Betrachtung von Folgen (regionaler) Umweltverschmutzung besonders plausibel. Zusammenhänge nicht vernachlässigen5, muss die Figuration den Ausgangspunkt soziologischer Analyse bilden. Aus der Verflechtung der Pläne, Handlungen, emotionalen und rationalen Regungen der einzelnen Menschen, die freundlich oder feindlich ineinandergreifen (vgl. Elias 1976b: 314), ergibt sich eine spezifische Verflechtungsordnung, eine Figuration. Die Gestalten dieser Figurationen bestimmen - so das Ausgangszitat - in hohem Maße die Lebensführung des einzelnen Menschen. Damit ist nicht gemeint, dass die Figurationen, deren Teil ein Mensch ist, sein Verhalten vollständig determinieren würden. Figurationen können einerseits Möglichkeiten zum Handeln hervorbringen und andererseits den Handlungen Grenzen setzen (vgl. Elias 1983a: 53; Flap, Kuiper 1981: 293). Dies ist also eine Frage, mit der Figurationen untersucht werden können: Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder erschweren sie und wessen Handlungsmöglichkeiten verändern sich? Das Ziel ist es, die relative Autonomie und die relative Abhängigkeit der Menschen in ihren Beziehungen zueinander zu untersuchen (vgl. Elias 1983a: 55). Der Einfluss der Figurationen auf die Lebensführung und der der Lebensführung der einzelnen auf die Figurationen umfasst bei Elias nicht nur Handlungen und rationale Pläne der Menschen, sondern auch den Affekthaushalt. Elias stellt dies etwa für Gefühle der Angst, Peinlichkeit, Scham und für aggressive Impulse ausführlich dar. Eine sozialisationstheoretische Perspektive skizziert Elias (1995: 75 f) so: „Das Hereinwachsen eines jungen Menschenwesens in menschliche Figurationen als Prozess und Erfahrung und so auch das Erlernen eines bestimmten Schemas der Selbstregulierung im Verkehr mit Menschen ist eine unerlässliche Bedingung der Entwicklung zum Menschen. Sozialisierung und Individualisierung eines Menschen sind daher verschiedene Namen für den gleichen Prozess.“ Einige Aspekte, die bei der Theorie von interdependenten Menschen in Figurationen6 eine wichtige Rolle spielen, sollen nun detaillierter dargestellt werden: • Figurationen als Prozesse • Figurationen als gewordene Geflechte • der Zusammenhang zwischen Psychogenese und Soziogenese • Figurationen als ungeplante Ordnung • Makro- Mikro-Zusammenhänge 4.2.2 Figurationen als Prozesse Figurationen sind keine statischen Gebilde, die in statischen Begriffen angemessen beschrieben werden könnten, sondern Prozesse, die in Prozessbegriffen beschrieben werden müssen. Dies wird später am Begriff der Machtbalance deutlich werden. Es geht um das Umdenken von statischen zu weit beweglicheren Vorstellungen7 (vgl. Elias 1986: 96). Figurationen und die sie bildenden Menschen stehen in einem ständigen Prozess der Veränderung. Elias hat für die langfristigen Veränderungen Richtungen der Wandlung von Gesellschaftsund Persönlichkeitsstrukturen beschrieben (vgl. Elias 1977: 133) und in seiner Zivilisationstheorie etwa einen Zusammenhang von der Herausbildung stabiler Gewaltmonopole innerhalb einer Gesellschaft und einer Zunahme von Selbstzwängen gegenüber Fremdzwängen konstatiert (vgl. Elias 1976a). Hier geht es mir nicht darum, diese Entwicklungstendenzen im Detail darzustellen, sondern zu belegen, dass Entwicklungen und Prozesse8 der Gegenstand figurationssoziologischer Untersuchungen sind (vgl. Goudsblom 1984: 91). Elias hat darauf hingewiesen, dass die Beschreibung langfristiger Wandlungsprozesse weder mit der teleologischen Vorstellung verbunden ist, dass die Entwicklung durch ein Entwicklungsziel gesteuert sei, noch von der Annahme ausgeht, es handle sich notwendigerweise um eine Wandlung zum besseren (vgl. Elias 1977: 138), wie es etwa H.P. Duerr (vgl. 1988 und 1990) dem Elias'schen Zivilisationsbegriff unterstellt9. Vielmehr werden bei Elias gerade auch die individuellen "Kosten" (vgl. Kuzmics 1989: 247) des Zivilisationsprozesses deutlich. Auch dass es im Prozess langfristiger Wandlungen kürzere Phasen der Gegenbewegung, scheinbarer oder tatsächlicher Umkehr der Richtung der Entwicklung gibt, steht nicht grundsätzlich im Gegensatz zu der Annahme langfristiger Entwicklungslinien (vgl. etwa Wouters 1977: 290 f). Entscheidend für meinen Zusammenhang ist, dass es auf die Wahrnehmung kurzfristiger Veränderungen und langfristiger Wandlungen ankommt. Ein der Wirklichkeit angemessenes Modell muss diese Veränderungen nicht als Ausnahme erfassen und darf - zugespitzt formuliert - nicht ein statisches Modell entwickeln, das dann durch ein paar Zusatzannahmen ein wenig in Bewegung gesetzt wird, sondern muss systematisch die gegenseitigen Einflüsse, Bewegungen und Gegenbewegungen, beschreiben und erklären. Hieran wird die Erklärung von Machtprozessen in der Heimgruppe zu messen sein. 7 5 Dies wirft Elias - einer Anmerkung von Goudsblom (vgl. 1977: 82) zufolge - etwa Psychiatern vor: Sie reduzierten die Figurationen, an denen das Individuum teilhat, zum bloßen Hintergrundfaktor, zu den Umweltfaktoren, die eher am Rande eine Rolle spielten. 6 Die Bezeichnung „interdependente Menschen in Figurationen“ erfasst einen Aspekt doppelt: Da Figurationen Verflechtungen von Menschen sind, sind die Menschen, die Figurationen bilden, immer interdependent. Ich verwende die oben genannte Bezeichnung trotzdem an wenigen Stellen, da es mir darauf ankommt, die Interdependenz besonders hervorzuheben. Elias (vgl. 1983: 29) schlägt vor, auf die Bezeichnung qualitative als Gegenbegriff zu quantitativen Untersuchungen zu verzichten, sondern die nicht (nur) quantitativen Untersuchungen statt dessen als figurationsund prozesssoziologisch zu bezeichnen. Quantitative Untersuchungen beschränken sich demnach auf „Momentaufnahmen“ aus Prozessen und sind nicht geeignet, die Prozesse der Veränderung zu beschreiben, die eher in einem „Film“ qualitativer Beschreibungen und Analysen erfasst werden können. 8 Figurationssoziologische Untersuchungen haben daher notwendigerweise immer (auch) eine Längsschnittperspektive. 9 Zur Kontroverse zwischen Duerr und Elias siehe auch Schröter (1990). Elias (1987a: 228) wendet sich gerade gegen eine solche frühere Menschen abwertende - in seinen Begriffen ungenügend distanzierte - Betrachtung: „Es gibt keinen anderen Grund für diesen Abstand und diese Verachtung als die etwas gedankenlose Eigenliebe, die daraus spricht.“ 4.2.3 Figurationen als gewordene Geflechte Figurationen sind sich verändernde Interdependenzgeflechte, die u.a. hinsichtlich der Geschichte ihrer Entwicklung10 und hinsichtlich ihrer zukünftigen Veränderungen beschrieben werden können (vgl. Rehberg 1991: 66; Käsler 1996: 437 f). Norbert Elias (1983: 31) hat dies so benannt: "Was geworden und immer im Werden ist, kann auch theoretisch nur als solches, als Gewordenes und Werdendes erfasst werden". Die Produktivität einer solchen Perspektive hat Elias etwa durch die Ergänzung der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie um die Entstehungsgeschichte der dort erfassten Selbstzwangapparatur im Zusammenhang der Soziogenese etwa des innerstaatlichen Gewaltmonopols belegt. So werden Vorgänge, die ansonsten als einfach in der Natur des Menschen liegend wahrgenommen werden, als das Ergebnis eines langen und selbstverständlich nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozesses erkannt. Dieser Aspekt erzwingt auch die Untersuchung und Beschreibung von Prozessen in der Heimgruppe sowohl in ihrer Entstehungsgeschichte als auch als einen Prozess, der sich fortsetzen wird, und vermeidet eine hodiezentrische (vgl. Goudsblom 1979: 16) - also auf die heutige Situation fixierte und dadurch eingeschränkte - Wahrnehmung der Vergangenheit und warnt vor einer naiven Extrapolation von Entwicklungen in die Zukunft. 4.2.4 Zusammenhang von Psychogenese und Soziogenese An einigen Stellen habe ich bereits auf den Zusammenhang psychogenetischer und soziogenetischer Prozesse bei Elias hingewiesen. Dies soll nun am Beispiel seiner Zivilisationstheorie genauer erfolgen. Elias (1976b: 391 f) beschreibt beide Entwicklungen als zentrale Elemente seiner Zivilisationstheorie: "Daher verlangt der Zivilisationsprozess zu seinem Aufschluss... eine Untersuchung zugleich des ganzen psychischen und des ganzen gesellschaftlichen Gestaltwandels. Er verlangt, im engeren Radius, eine psychogenetische Untersuchung, die auf die Erfassung des gesamten Kriegs- und Arbeitsfeldes der individuellen, psychischen Energien abgestellt ist, auf die Struktur und Gestalt der triebhafteren Selbststeuerung nicht weniger, als auf die der bewussteren. Und der Zivilisationsprozess verlangt zu seinem Aufschluss, im weiteren Radius, eine soziogenetische Untersuchung, eine Erforschung der Gesamtstruktur eines bestimmten sozialen Feldes und der geschichtlichen Ordnung, in der es sich wandelt." Als Ergebnis seiner Untersuchung stellt er einen Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungslinien fest, den er so zusammenfasst: "Mit der Differenzierung des gesellschaftlichen Gewebes wird auch die soziogene, psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter, allseitiger und stabiler" (Elias 1976b: 319 f). Dabei warnt Elias immer wieder (etwa 1977: 131) vor mechanischen Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen in den Menschenwissenschaften. Er ist daran interessiert, die Interdependenz der Entwicklungen herauszuarbeiten. So beschreibt er sehr detailliert die Folgen des gesellschaftlichen Gestaltwandels für den psychischen Gestaltwandel, aber er erfasst auch die Bedeutung veränderter Selbstkontrolle und Langsicht etwa für langfristig geplante Formen des Handelns 10 Hier gibt es einige Parallelen zwischen der figurationssoziologischen Analyse und einer historischen Strukturanalyse, wie sie Böhnisch (1982) konzipiert hat. Böhnisch (1982: 4o f) wendet sich gegen eine deterministische Vorstellung der Abhängigkeit des Überbaus von der ökonomischen Struktur und gegen die Vorstellung eines statischen Gefüges. Besonders deutlich wird die Parallele bei der Definition von Struktur: „Struktur meint ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht, ein Gefüge von Wechselwirkungen.“ (Böhnisch 1982: 41) und der damit verbundenen ökonomischen und sozialen Veränderungen. So entstehen komplexere Modelle von Einflüssen, Wirkungen und Folgen als in Modellen, in denen lineare Ursache-Wirkung-Zusammenhänge aus ihrem Kontext isoliert werden11. Aus der Synthese von psychogenetischen und soziogenetischen Entwicklungen haben sich neue Deutungen für z.T. auch in anderen Theorien beschriebene Zusammenhänge ergeben. So erhält die psychoanalytische Erklärung von Ängsten durch Elias eine neue, mit der psychoanalytischen Erklärung kompatible Deutung, wenn Elias die Verinnerlichung von Zwängen als Verwandlung von soziogenen in psychogene Ängste beschreibt (vgl. Bogner 1989: 26), als einen Prozess des Unsichtbar-Werdens von Zwängen, die aber dadurch nicht aufgehoben werden (vgl. Kuzmics 1990: 225 f), sondern andere Organisationsmuster der Trieb- und Affektkontrolle hervorbringen (vgl. Schröter 1990: 51). Durch die historische Perspektive belegt er, dass dies nicht nur eine Entwicklung ist, die jedes Kind in zivilisierten Gesellschaften vollziehen muss, sondern auch, dass diese heute notwendige, individuelle Entwicklungsaufgabe für das Kind sich in einem langen historischen Prozess unter konkret angebbaren Bedingungen entwickelt hat. Auch die Deutung von Manieren als Ausdruck bestimmter Zwänge, die Menschen aufeinander und schließlich auf sich selbst ausüben (vgl. Kuzmics: 256), und die Analyse der Courtoisieschriften hinsichtlich dessen, was nicht (mehr) vorgeschrieben wird, weil es inzwischen so selbstverständlich und zur stummen Regel geworden ist, dass sie nicht mehr angesprochen, vielleicht auch nicht mehr gedacht werden (müssen) (vgl. Bogner 1989: 56), illustriert die Bedeutung einer Synthese - i.S. einer Zusammenschau - psychogenetischer und soziogenetischer Aspekte12. Dies hat wiederum einige Folgen für ein Modell der Prozesse in der Heimgruppe. So geht es in der Zusammenschau psychogenetischer Aspekte - also der Modellierung des Selbstzwangapparates - und soziogenetischer Aspekte - etwa der Lebensverhältnisse und der durch sie geprägten Chancen der Bedürfnisbefriedigung - nicht um die Konstruktion einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, sondern um die Beschreibung und Erklärung der wechselseitigen Einflüsse. Außerdem begünstigt diese Perspektive eine Deutung, die merkwürdiges Verhalten, etwa der Kinder, nicht voreilig auf Persönlichkeitsstörungen zurückführt, sondern systematisch nach dem sozialen Kontext fragt, unter dem dieses Verhalten als adäquat verstanden werden kann. Schließlich ist dieser Zusammenhang psychogenetischer und soziogenetischer Entwicklungen eine Stelle, an der wichtige Überlegungen von Goffman zum Zusammenhang von Organisationsmerkmalen und Identität anschlussfähig sind und zusätzlich eine entwicklungsbezogene Dynamisierung erhalten können. In einem späteren Werk skizziert Elias (vgl. 1987a: 209 - 315) einen weiteren Zusammenhang zwischen makrosoziologischen Veränderungen und psychischen Prozessen. Mit starken Parallelen zu interaktionistischen Identitätskonzepten beschreibt er eine Wir-Ich-Balance, die sich im Verlaufe langfristiger Figurationsveränderungen verschiebt. Die Begriffe WirIdentität als Zugehörigkeit zu einer größeren sozialen Einheit - wie Sippen-, Stammes- und Staatszugehörigkeit - und Ich-Identität - dem Bewusstsein der Einzigartigkeit und dessen, 11 Folglich plädiert Elias (vgl. etwa 1985: 272) auch für Synthesemodelle und gegen eine Analyse von isolierten Teilaspekten. 12 In einer sehr interessanten Studie hat Gerhard Berger ( 1977) die Probleme bei der Industrieansiedlung in einer ländlichen Region in Irland figurationssoziologisch untersucht und deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Psychogenese - etwa der Entwicklung eines „industriellen Gewissens“ - und soziogenetischen Aspekten gefunden. wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden (vgl. Elias 1987a: 210) - sind den interaktionistischen Begriffen sozialer Identität und persönlicher Identität (vgl. Krappmann 1975) sehr ähnlich. Auch die Vorstellung einer Balance zwischen beiden ist ähnlich. Elias geht es allerdings darum, in historischer Perspektive die Interdependenzen zwischen makrosoziologischen Prozessen und einer spezifischen Wir-Ich-Balance darzustellen und so langfristige Veränderungen in der Balance zu untersuchen, die nicht nur einzelne Menschen, sondern viele Menschen einer spezifischen Zeit umfassen. Dadurch erhält seine prozesssoziologische Identitätskonzeption eine langfristige Entwicklungsdimension und erfasst die Interdependenz zwischen Entwicklungsstufen einer Gesellschaft und einer spezifischen Balance von Wir- und Ich-Identität. Individualisierungsprozesse erscheinen demnach als Prozesse einer Verschiebung der Wir-Ich-Balance zugunsten der Ich-Identität. 4.2.5 Figurationen als ungeplante Ordnung Elias (1976b: 477) beschreibt die individuellen Handlungsspielräume in Figurationen so: "Das Miteinanderleben der Menschen, das Geflecht ihrer Absichten und Pläne, die Bindungen der Menschen durcheinander, sie bilden, weit entfernt, die Individualität des einzelnen zu vernichten, vielmehr das Medium, in dem sie sich entfaltet. Sie setzen dem Individuum Grenzen, aber sie geben ihm zugleich einen mehr oder weniger großen Spielraum. Das gesellschaftliche Gewebe der Menschen bildet das Substrat, aus dem heraus, in das hinein der einzelne ständig seine individuellen Zwecke spinnt und webt. Aber dieses Gewebe und sein geschichtlicher Wandel selbst ist als ganzes in seinem wirklichen Verlauf von niemandem bezweckt und von niemandem geplant". Im letzten Teil des Zitats skizziert Elias seine Konzeption gesellschaftlicher Entwicklung als eines ungeplanten, aber dennoch strukturierten oder gerichteten Prozesses (vgl. Bogner 1989: 186). Auch unnormierte Verflechtungen können nachweisbare Strukturen haben (vgl. Elias 1986: 83). Die Figurationen, die von Menschen gebildet werden, haben „immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt“ (Elias 1995: 76). Diese Struktur ist nicht das Ergebnis der Lenkung von übermächtiger Hand (vgl. Bogner 1989: 186) und auch nicht die Folge der Fehler und der Schuld verdeckter oder offener Gegner (vgl. Elias 1977: 131), sondern aus der Verflechtung der Aktionen vieler Menschen können gesellschaftliche Abläufe hervorgehen, die keiner von ihnen geplant hat (vgl. Elias 1986: 100). Elias benennt auch Bedingungen, unter denen insbesondere nicht-intendierte Folgen zu erwarten sind. Einige werde ich bei der Darstellung der Machtbalance behandeln. Eine angemessene Erklärung der Prozesse in der Heimgruppe muss dies berücksichtigen: Die Intentionen der verschiedenen Handelnden können Folgen hervorbringen, die keiner von ihnen so geplant oder intendiert hat. So vermeidet man dann auch eine unangemessene Unterstellung von Plänen der Handelnden - etwa der Erzieher -, die allein aus den Wirkungen konstruiert werden. Es ist sonst häufig ein Dilemma bei der Verbindung negativ bewerteter Effekte mit Handlungen, dass diese Zusammenhänge von den Handelnden selbst als völlig unangemessene Beschreibungen zurückgewiesen werden, da sie solches nie beabsichtigt hätten. Die Analysierenden unterstellen dann leicht unbewusste oder verschleierte Motive der Handelnden, und so entsteht ein Gemälde mit vielen bösartigen Absichten auf einer Seite. Gerade wenn es um die Erklärung von Strukturen geht, in denen eine Gruppe durch die andere unterdrückt wird, ist diese Gefahr groß und kann zu einer unangemessenen Analyse und - in der Folge - auch zu unangemessenen Handlungskonsequenzen führen. 4.2.6 Makro-Mikro-Zusammenhänge Ein möglicher Einwand gegen die Anwendung figurationssoziologischer Kategorien auf die Erklärung der Prozesse in einer Heimgruppe könnte sich darauf beziehen, ob Kategorien, die für die Wandlungsprozesse ganzer Gesellschaften über einige Jahrhunderte entwickelt wurden, überhaupt prinzipiell geeignet sein können, um Prozesse in einer überschaubaren Gruppe mit weniger als 20 handelnden Personen zu erklären. Diesem Einwand soll im Folgenden begegnet werden. Darüber hinaus sollen allerdings auch Konsequenzen aus den Zusammenhängen von Mikroebene und Makroebene benannt und als Anforderung an ein angemessenes Modell festgehalten werden. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die dafür sprechen, dass es in der Figurationssoziologie gerade um die Verbindung von Mikro- und Makroebenen geht (vgl. Flap, Kuiper 1981: 279). Etwa Goudsblom (1984) hat festgestellt, dass der Zivilisationsbegriff sich sowohl auf die Ebene von Individuen bezieht, die in Lernprozessen Normen zum Teil ihrer Persönlichkeit machen, als auch auf die Ebene von Gesellschaften, in denen sich die Zivilisationsnormen im Verlaufe der Zeit ändern, als auch auf die Ebene der Menschheit insgesamt, indem Entwicklungsrichtungen in allen Gesellschaften nachgewiesen werden sollen. Elias (vgl. 1986: 173) hat eine Triade der Grundkontrollen benannt, die die Ebene der Beherrschung außermenschlicher Geschehenszusammenhänge (etwa Naturereignisse), der Kontrolle zwischenmenschlicher (gesellschaftlicher) Zusammenhänge und der individuellen Selbststeuerung umfasst. Sie reicht also von der Ebene der Menschheit als ganzer bis zu innerpsychischen Prozessen des einzelnen Individuums, und ihre Aufgabe ist, gerade die Interdependenz der Entwicklungen auf den unterschiedlichen Ebenen nachzuweisen. Dabei haben unterschiedliche figurationssoziologische Untersuchungen auf unterschiedlichen Ebenen ihre Schwerpunkte. So liegt der Schwerpunkt bei Elias’ zivilisationstheoretischen Untersuchungen bei den Wandlungsprozessen mehrerer europäischer Gesellschaften, seine Untersuchung zur Etablierten-Außenseiter-Figuration (1990) beruht auf der Untersuchung eines Vorortes von weniger als 5000 Einwohnern, und die figurationssoziologische Untersuchung von Bram van Stolk und Cas Wouters (1987) bezieht sich auf die Klientinnen eines Frauenhauses. So unterschiedlich in diesen drei Beispielen die Untersuchungsebenen sind, so haben sie gemeinsam, dass jeweils Zusammenhänge zwischen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen und den Gedanken, Gefühlen und Handlungen der Menschen herausgearbeitet werden. Daher erscheint mir eine figurationssoziologische Interpretation meiner Daten über die Heimgruppe zulässig. Ich werde mich dabei auf Machtprozesse beschränken, die - wie im nächsten Kapitel dargestellt werden wird - in der Figurationssoziologie eine zentrale Bedeutung haben. Allerdings ergibt sich eine unverzichtbare Bedingung für eine solche Darstellung: Sie darf nicht von Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft absehen und die Heimgruppe so betrachten, als befinde sie sich in einem nicht zur Untersuchung gehörenden Umfeld, das - für Erkenntniszwecke folgenlos - ausgeblendet werden könnte. Daher will ich soweit meine Daten dies zulassen - solche Interdependenzen skizzieren.