Die Nikomachische Ethik von Aristoteles Einführungsveranstaltung

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DieNikomachischeEthikvonAristoteles
Einführungsveranstaltung von Prof. Dr. László Tengelyi ZurInterpretationdesfünftenBuches
B.DieGerechtigkeitalsethischeTrefflichkeit
Aristoteles unterscheidet zunächst zwischen Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne (V 3) und Gerechtigkeit im spezifischen Sinne (V 4–5): I.
Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne: „[…] alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes.“ (1129 b 12.) In diesem Sinne ist aber die Gerechtigkeit keine spezifische Trefflichkeit, sondern sie umfasst alle Trefflichkeiten – Tapferkeit, Besonneheit und vornehme Ruhe sind im Text ausdrücklich erwähnt –, sie ist also „Trefflichkeit in vollkommener Ausprägung – aber nicht ohne Einschränkung, sondern ‚in ihrer Bezogenheit auf den Mitbürger‘“.(1129 b 25–27.) Der Unterschied zwischen Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne und ethischer Trefflichkeit überhaupt besteht also nur darin, dass die Gerechtigkeit nur in Bezug auf den Mitbürger verwendet werden kann, dass also die Gerechtigkeit „des anderen Gut“ (allótrion agathón: 1130 a 2) ist. II.
Gerechtigkeit im spezifischen Sinne, als eine besondere Trefflichkeit unter anderen Trefflichkeiten: Sie hat es immer mit Gleichheit zu tun, sie ist also eine Mitte zwischen einer Ungleichheit durch Zuviel (durch Überschuss) und einer Ungleichheit durch Zuwenig (durch Mangel) entsteht (siehe dazu V 6 Anfang, 1131 a 10–18). Es gibt zwei Arten von Gerechtigkeit: A. Verteilende Gerechtigkeit (dianemetiké dikaíosyne – V 6 und 7 bis 1131 b 24): Sie ist wirksam bei der Veteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten (oder, richtiger, Gütern). Sie besteht in einer geometrischen Proportion: A : B = C : D. Die Formel ist auf folgende Weise zu verstehen: Person A : Person B = Anteil C : Anteil D. Dabei ist die Eigentümlichkeit der geometrischen Proportion, dass auch folgende Formel gilt: (A + C) : (B + D) = A : B; das heißt: (Person A + Anteil C) : (Person B + Anteil D) = Person A : Person B. Darauf verweist Aristoteles mit dem Satz: „Folglich steht auch das eine Ganze zum anderen Ganzen im selben Verhältnis.“ (1131 b 7–8.) Es heißt am Anfang von V 7: „So bedeutet denn die Verbindung des Gliedes A mit C und die des Gliedes B mit D das Gerechte, wie es bei der Verteilung in Erscheinung tritt. Und dieses Gerechte bedeutet das Mittlere; das Ungerechte aber ist das, was gegen die Proportion verstößt, denn das Proportionale ist ein Mittleres und das Gerechte das Proportionale. – Diese Art der Proportion nennen die Mathematiker eine geometrische, denn in der geometrischen Proportion trifft es zu, daß das Ganze sich zum Ganzen verhält wie das eine Glied zum anderen.“ (1131 9–15.) Man sieht, dass sich Aristoteles hier auf die mathematische Proportionenlehre seiner Zeit stützt, um die Verteilungsgerechtigkeit zu bestimmen. Die Bestimmung, die er gibt, ist in einem gewissen Sinne rein formal, denn sie entscheidet die Frage, wie das Verhältnis zwischen den beiden Personen A und B aufgefasst werden soll, nicht. Im Allgemeinen gilt nur, dass „das Gerechte bei Verteilungen […] nach einer bestimmten Angemessenheit (kat‘ axían) in Erscheinung treten [muß]“ (1131 a 25–26). Aristoteles setzt aber hinzu: „Aber gerade unter dieser Angemessenheit verstehen nicht alle dasselbe: die Vertreter des demokratischen Prinzips meinen die Freiheit, die des oligarchischen Prinzips den Reichtum oder den Geburtsadel und die Aristokraten den hohen Manneswert [Areté].“ (1131 a 26–29.) B. Ausgleichende („regelnde“) Gerechtigkeit (katorthôtiké diakíosyne – V 7 ab 1131 b 25 bis Ende von V 8, wenn auch die Lehre vom antipeponthós, der Wiedervergeltung und der Reziprozität überhaupt als hierher gehörig betrachtet wird): Hier geht es um „vertragliche Beziehungen“ zwischen den Menschen oder, richtiger, um Transaktionen (synallágmata) zwischen ihnen, von welcher Art auch immer, darunter auch um Diebstahl, Raub, Mord usw. Am Ende von V 5 (1131 a 1–10) zählt Aristoteles auf, was alles er hier unter Transaktion (synállagma) versteht. Die Gerechtigkeit kann hier als „ausgleichend“ oder „regelnd“ bezeichnet werden, weil sie Gewinn und Schaden (kérdos und zemía) auf Seiten von zwei Beteiligten auszugleichen sucht. Das schließt jegliche Art von Schadenersatz (auch Strafe) ein. Hier kann die Gerechtigkeit formal wieder durch eine Proportion bestimmt werden, aber diesmal handelt es sich nicht um eine geometrische, sondern um eine arithmetische Proportion. Die notwendig angestrebte Gleichheit besteht hier also nicht im Prinzip „jedem das Seine“ (suum cuique), sondern im Prinzip „jedem die Hälfte“ (das arithmetische Mittel zwischen A und B ist: A+B/2). – Das Kapitel V 8 behandelt dann das Prinzip der Wiedervergeltung und der Reziprozität überhaupt. Es ist nicht ganz klar, ob dieses Prinzip eindeutig zur ausgleichenden Gerechtigkeit gehört oder nicht. Auf jeden Fall enthält das Kapitel V 8 großartige Einsichten in die Rolle des Warenaustausches im Leben von menschlichen Gemeinschaften und in die Funktion des Geldes in derartigen Transaktionen: „[…] so wird es immer Austausch (allagé) geben und durch ihn Gemeinschaft. Geld also ist jenes Ding, das als Wertmesser Meßbarkeit durch ein gemeinsames Maß und somit Gleichheit schafft. Denn ohne Austausch gäbe es keine Gemeinschaft, ohne Gleichheit keinen Austausch und ohne Meßbarkeit keine Gleichheit.“ (1133 b 14–18.) Aristoteles versucht, die spezifische Gerechtigkeit in ihren beiden Grundformen (verteilende bzw. ausgleichende Gerechtigkeit) als „Mitte“ zu charakterisieren. Das ist zwar nicht von vornherein unmöglich, aber Aristoteles selbst sieht schließlich in V 9 ein, dass hier der Begriff der „Mitte“ anders verstanden werden muss als bei anderen ethischen Trefflichkeiten: „Die Gerechtigkeit aber ist eine Form des mittleren Verhaltens, aber nicht im selben Sinn wie die anderen ethischen Vorzüge, sondern, weil sie einen Mittelwert festsetzt, während die Ungerechtigkeit auf Extreme gerichtet ist.“ (1133 b 33–1134 a 1.) Es handelt sich hier nicht um eine Mitte zwischen zwei Affekten oder zwei Schlechtigkeiten, sondern um eine Mitte in einer Güterverteilung oder zwischen Gewinn und Schaden. Die Mitte bezieht sich also nicht auf eine Grundhaltung, sondern auf einen Zustand, der durch bestimtme Handlungen erreicht wird. Deshalb ist es nicht selbstverständlich, ob die Analyse der Gerechtigkeit die Auffassung von der ethischen Areté als einer mittleren Grundhaltung zwischen zwei Extremen bestätigt. Das sind die wichtigsten Gedanken des V. Buches. Die Kapitel 10–14 und das Kapitel 15 enthalten nur Ergänzungen und Nachträge zum Gedankengang, der in den Kapitel 1–9 entwickelt wird. Wichtig ist aber das 14. Kapitel, das die aristotelische Theorie der Billigkeit entwickelt. Billigkeit (epieíkeia) wird in unserem Text als „Güte in der Gerechtigkeit“ übersetzt. Die Billigkeit ist für Aristoteles „eine Berichtigung der Gesetzes‐Gerechtigkeit“, die ihren Grund darin hat, dass „jegliches Gesetz allgemein gefaßt ist“, dabei aber auf konkrete Einzelfälle angewandt werden muss, die reichhaltiger und spezifischer sind als das allgemeine Gesetz. Daher meint Aristoteles, dass die Billigkeit höher steht als die Gerechtigkeit. Damit meint er nicht, dass die Billigkeit der Gerechtigkeit entgegengesetzt oder gegenübergestellt werden könnte, denn sie ist nach ihm der Art nach nichts anderes ist als Gerechtigkeit, nur eben eine Gerechtigkeit, die vervollständigt oder vervollkommnet wurde. 2 
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