Neue Strategien in der Krebstherapie - Prodrug-Entwicklung Viele der derzeit in der medikamentösen Krebstherapie eingesetzten Zytostatika wirken wenig selektiv. Die häufig dosislimitierenden Nebenwirkungen sind auf zytotoxische Effekte gegenüber nicht entarteten, sich schnell teilenden Zellen wie etwa des Knochenmarks oder der Darmmukosa zurückzuführen. Die Entwicklung von Prodrugs aus bereits in der Therapie eingesetzten Zytostatika stellt eine wichtige Option zur Verminderung der ungewollten toxischen Wirkungen und zur Erhöhung der Tumorselektivität dieser Krebstherapeutika dar. Eine vielversprechende Strategie besteht darin, exogene Enzyme, die ein inaktives Prodrug in seine aktive zytotoxische Form umwandeln können, in oder an die Tumorzelle zu bringen. Ein exogenes Enzym kann auf verschiedene Art und Weise zur Tumorzelle transportiert werden. Entweder man bedient sich eines Antikörper-EnzymKonjugates, welches an ein tumorspezifischen Antigen bindet (ADEPT = antibodydirected enzyme prodrug therapy) oder aber das Gen, das für das entsprechende Enzym codiert, wird in die DNS der Tumorzelle eingebracht (GDEPT = gene-directed enzyme prodrug therapy). Die aus Escherichia coli isolierte und klonierte Nitroreduktase (NTR) ist ein solches Enzym. Zusammen mit dem Kofaktor (NADPH oder NADH) reduziert die Nitroreduktase aromatische Nitrogruppen zu den entsprechenden Hydroxylaminen. Kristallstrukturen von NTR zeigen, dass die sehr gering ausgeprägte Substratspezifität wohl auf die wenigen spezifischen Bindungen zwischen Substrat und Enzym im aktiven Zentrum zurückzuführen ist. Dementsprechend sind bisher zahlreiche Prodrugs altbekannter Zytostatika wie z.B. von Doxorubicin oder Mitomycin C entwickelt und als Substrate von NTR identifiziert worden. Für diese Prodrugs existiert ein einheitlicher chemischer Bauplan: der AminoStickstoff des Zytostatikums ist mit einer 4-Nitrobenzyloxycarbonyleinheit zum entsprechenden Carbamat verknüpft. Seltener findet man Carbonate, bei denen die Hydroxylgruppe eines phenolischen Zytostatikums verknüpft wird. Nach Reduktion der Nitrogruppe zum Hydroxylamin kommt es zur Selbstfragmentierung des Prodrugs und zur Freisetzung der Wirkform. Anstelle der stark elektronenziehenden Nitrogruppe (Hammet σp = +0,78, R-NO2) tritt ein elektronendonierender Rest (Hammet σp = -0,34, R-NHOH), was die Selbstfragmentierung durch Stabilisierung der positiven Ladung am Benzyl-Kohlenstoff erleichtert (Schema 1). 1 CA 10.1.11 O O O O2N Nitroreduktase H O N N R2 R1 N R2 R1 HO NAD(P)+ NAD(P)H CO2 + HN R1 R1 H OH H2O N N HO HO Schema1: Bioaktivierung der 4-Nitrobenzylcarbamate Interessante Ausgangsverbindungen zur Herstellung dieser Prodrugs leiten sich synthetisch vom 3,6-Diaminoacridin ab und sind von der Arbeitsgruppe von Martine Demeunynck entwickelt worden. Einige dieser Verbindungen besitzen sowohl interkalierende als auch alkylierende Eigenschaften, indem sie direkt an der Interkalationsseite ein elektrophiles Chinoniminmethid bilden können (Schema 2). Die Leitsubstanz dieser Verbindungen ist das 3-Amino-4-hydroxymethylacridin 1, das starke antiproliferative Aktivitäten in vitro an einigen Krebszelllinien zeigt, in vivo sich aber als viel zu toxisch präsentiert. Somit ist dieses Acridin natürlich genau der richtige Kandidat zur Entwicklung eines Prodrugs, um die systemische Toxizität zu reduzieren . N NH2 OH N NH H2O Chinoniminmethid 2 1 Schema 2: Bildung des reaktiven Chinonmethids 2 CA 10.1.11 Bisher sind zwei verschiedene 4-Nitrobenzyloxycarbonyl-Prodrugs von 1 synthetisiert worden (Abbildung 1) - das Carbamat 3 sowie das gemischte Carbamat/Carbonat 4 (Abbildung 1). N NH2 OH 3-Amino-4-hydroxymethylacridin 1 O N N H O OH NO2 Carbamat 3 O N N H O NO2 O O O NO2 gemischtes Carbamat/Carbonat 4 Abbildung 1: 4-Nitrobenzyloxycarbonyl-Prodrugs von 1 Bei beiden Verbindungen konnte gezeigt werden, dass sie Substrate für die Nitroreduktase sind und in vitro auch das zytotoxische Aminohydroxymethylacridin 1 freisetzen. Die wachstumshemmenden In vitro-Aktivitäten gegenüber humanen HT29Kolonkarzinom- und A549-Lungenadenokarzinomzelllinien der Substanzen 1, 3 und 4 sind ebenfalls getestet worden. Wie erwartet führen die Carbamoylierung der 3Aminogruppe und auch der 4-Hydroxymethylgruppe zu einer deutlichen Abnahme der wachstumshemmenden Effekte. So ist zum Beispiel das gemischte 3 CA 10.1.11 Carbamat/Carbonat 360mal schwächer wirksam gegenüber HT29-Zellen als Substanz 1 (Tabelle 1). Substanz 1 3 4 IC50 (HT29) Faktor IC50 (A549) Faktor 0,025 2,5 100 3,5 700 9 360 0,005 Tabelle 2: >10 >2000 In vitro-Wachstumshemmung IC50 (µM): notwendige Konzentration, um eine 50%ige Wachstumshemmung zu erzielen. Somit stellen die Prodrugs 3 und 4 vielversprechende Kandidaten für ADEPT- oder GDEPT-Strategien dar. Eine andere interessante Verbindung gehört zur Klasse der 5H-Benzo[b]carbazole. Wie die Acridine besitzt die Substanz 5 einen planaren Chromphor, der prädestiniert ist für eine Interkalation in die DNS. Im Gegensatz zu 3-Amino-4hydroxymethylacridin 1, welches die elektrophile Chinoniminmethid-Partialstruktur erst direkt an der Interkalationsseite bildet, liegt beim Benzocarbazol 5 von vornherein eine stabile p-Chinonmethid-Partialstruktur als potenzielles Alkylans im Chromophor vor. Für diese Gruppe der 5H-Benzo[b]carbazole ist belegt, dass eine freie 2-Hydroxylfunktion am Heterozyklus zu einer deutlichen Steigerung der wachstumshemmenden Wirkung führt. Im 4-Nitrobenzyloxycarbonyl-substituierten Carbonat 6 ist diese OH-Gruppe nun maskiert (Abbildung 2). O2N O HO O O O O 2 O N O 2 N O O 5 Carbonat 6 Abbildung 2: 5H-Benzo[b]carbazole 4 CA 10.1.11 Carbonat 6 stellt ebenso wie die Verbindungen 3 und 4 ein Substrat für die Nitroreduktase dar. Das Benzocarbazol 5 mit der freien Hydroxylgruppe wird in vitro nach Inkubation mit der Nitroreduktase aus dem Carbonat 6 freigesetzt. Die Antitumoreigenschaften beider Benzocarbazole sind im In vitro-60-Zelllinientest des National Cancer Instituts (USA) getestet worden (Tabelle 2). Substanz Mittlere IC50 Tabelle 2: 5 0,35 6 11,22 In vitro-Wachstumshemmung Mittlere IC50 (µM): durchschnittliche Konzentration, um eine 50%ige Wachstumshemmung im 60Zelllinientest hervorzurufen Auch hier zeigte sich für das Carbonat 6 eine deutlich reduzierte wachstumshemmende Wirkung gegenüber der 2-OH-substituierten Verbindung 5. Es zeigt sich, dass das Prinzip der Prodrug-Entwicklung mit dem 4Nitrobenzyloxycarbonyl-Spacer für die aufgeführten Verbindungen in vitro funktioniert. Mit den Acridinen 3 und 4 sowie dem Carbazol 6 sind interessante Prodrugs synthetisiert worden. Literatur: Allgemeine Übersichtsartikel zu GDEPT/ADEPT: Asche, C. und Demeunynck, M. Anticancer Agents Med. Chem. 2007, 7, 247 Dachs, G.U. et al. Anticancer Drugs 2005, 16, 349 Denny, W.A. Curr. Pharm. Des. 2002, 8,1349 Denny, W.A. J. Biomed. Biotechnol. 2003, 1, 48 Knox, R.J. und Connors, T.A. Path. Oncol. Res. 1997, 3, 309 MCNeish, I.A. et al. Adv. Drug Deliv. Rev. 1997, 26, 173 Niculescu-Duvaz, I. und Springer, C.J. Adv. Drug Deliv. Rev. 1997, 26, 151 Patterson. A.V. et al. Curr. Pharm. Des. 2003, 9, 2131 Rooseboom, M. et al. Pharmacol. Rev. 2004, 56, 53 Veröffentlichte Literatur zu den aufgeführten Substanzen: Asche, C., Demeunynck, M. et al. Bioorg. Med. Chem. Lett. 2006, 16, 1990 Asche, C. und Kuckländer, U. Pharmazie 2006, 2006, 61, 244 Charmantray, F., Demeunynck, M. et al. J. Org. Chem. 2001, 66, 8222 Charmantray, F., Demeunynck, M. et al. J. Chem. Soc., Perkin Trans. 1 2001, 2962 Charmantray, F., Demeunynck, M. et al. J. Med. Chem. 2003, 46, 967 5 CA 10.1.11