Journal #10 - Schauspielhaus Zürich

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Schauspielhaus
Zürich
Milo Rau, Lukas
Bärfuss und
Muriel Gerstner
im Tischgespräch
Über Inklusion
am Stadttheater
und den Erfolg
des Theater HORA
Jan / Feb / Mrz 2017
„In Formation“ –
Guy Krnetas
Stück über die
Schweizer Medien
Editorial
Welche Rolle
spielt Engagement?
Nur wer hinter den Kulissen starke Partner hat, kann auf der Bühne glänzen.
Deshalb unterstützen wir das Schauspielhaus Zürich seit dem Jahr 2000 als Partner.
credit-suisse.com/sponsoring
Verkehrte Welt
von Barbara Frey
Die Autorin und Publizistin Carolin Emcke bekam im
Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
2016 verliehen und musste im Nachgang zu ihrer klugen
Dankesrede* allerhand öffentliche Schmähungen erdulden. Man unterstellte ihr „Selbstgerechtigkeit“, meinte,
sie mache es sich zu einfach mit ihrer wohlfeilen Forschung nach den Ursachen des Hasses, der Intoleranz
und der Ausgrenzungsszenarien in unserer Gesellschaft;
sie spreche nur Dinge aus, die sowieso selbstverständlich seien, sie betreibe mit ihrem linksliberalen Diskurs
eine „Schönwetterveranstaltung“, sie sei der „Darling
der Anständigen“.
So weit, so absurd.
Parallel zur hämischen Schelte gegen Emcke lief die
Endphase des schmutzigsten amerikanischen Wahlkampfs aller Zeiten. Trump, der Rüpel ohne politischen
Plan, ist nun gewählt und die Welt hat ihren Darling der
Unanständigen. Wie sich aus dem Konglomerat der Herabwürdigungen und Pöbeleien, die seine Wahlkampfstrategie definierten, eine Art politische Vision für Amerika
und die Welt herausdestillieren lassen soll, beschäftigt
jetzt Medien und Internet Tag und Nacht. Woher soll
diese Vision kommen?
Ein namhafter Schweizer Rechtspopulist bezeichnete
Trumps Wahl elektrisiert als eine „Sternstunde der
Demokratie“ und freute sich über die „gigantische Ohrfeige“, welche die „politische Universalkirche der Hochmoral und der richtigen Gesinnung“ kassiert habe. Zu
einem allfälligen politischen Programm seines Vaterfigur-Idols fiel ihm nichts ein. Die routinierte, sinnentleerte Häme gegen das tausendfach verfluchte „Establishment“ waren ihm einmal mehr genug. Das ist verständlich, entbindet es ihn doch vom Nachdenken über
seine eigene Zugehörigkeit zu einem Establishment –
freilich eines der simpleren politischen Rezepte.
Der dumpfe Eros der Frontenbildung, der aus den Wutreden des designierten US-Präsidenten herausdünstete,
mag für viele Menschen auch deshalb befreiend gewirkt
haben, weil sie sprachmüde geworden sind. Die multiplen Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien,
die dem Dauertwitterer Trump in seinem morastigen
Wahlkampf zum Erfolg verholfen haben, konnten die
Welt bisher nicht zu einem besseren Ort machen; die
auf jenen Kanälen überall feilgebotenen einfachen Lösungsvorschläge konnten und können komplexe Fragestellungen zur Weltordnung nicht wegpolemisieren. Der
digitale Kosmos, in dem sich auch die Trump-Wähler
tummeln, ist eine Wunschwelt ohne Verpflichtung, ohne
Verantwortung, notfalls ohne irgendeine Spur einer
Gegenposition. Man kann darin arg denkfaul werden.
Sprachmüdigkeit und infantiler Protest gegen die Kompliziertheit von sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen in einer globalisierten Welt taugen freilich nicht
als Polit-Rezept fürs Weisse Haus – sie würden auch für
das politische Spitzenamt einer Schweizer Kleinstadt
nicht genügen. Nun ist alle Welt gespannt darauf, ob
und wie sich die präsidiale republikanische Rhetorik
ändert und was die Ideen und Pläne sein sollen, deren
Umsetzung den Entrechteten und Abgehängten Amerikas wirklich helfen kann. Der Wahlkampf hat darüber
nichts verlauten lassen, er hat nur über Emotionen berichtet, nicht über Politik.
In Europa wäre es unterdessen gut, einen kühlen Kopf
zu bewahren und nicht die Falschen zu attackieren,
wenn es um die Analyse der Ursprünge von sozialer
Verrohung und zunehmender rechter Polemik geht.
Wer zum Beispiel Carolin Emcke verspottet, demonstriert damit nur die eigene Ratlosigkeit in Bezug auf
nicht aggressive, nicht ressentimentgeladene gedankliche Möglichkeiten, schwerwiegende soziale Krisen anzugehen. Vielleicht wirft man Emcke insgeheim ihre eigene Aggressionslosigkeit vor? Weil man selbst im
Grunde den aggressiven Gestus bevorzugt? Auffallend
an manchen der herablassenden Statements gegen sie
ist eine unverhohlene Verachtung. Eine kleinmütige,
zynische Schelte einem vermeintlichen „Gutmenschen“
gegenüber.
Zynismus allerdings entlarvt sich immer selbst. Er ist,
laut dem britischen Philosophen Bertrand Russell, nichts
anderes als „das Ergebnis einer Verbindung von Bequemlichkeit mit Machtlosigkeit“.
*nachzulesen auf friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de
Titelbild
Yves Netzhammer
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Yves Netzhammer
Inhaltsverzeichnis
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schauspielhaus.ch
03Editorial
06 Tischgespräch mit Lukas Bärfuss, Muriel Gerstner und Milo Rau
14 Theater HORA im Gespräch mit dem Schauspielhaus
17 Nachwort von Yukio Mishima zu seinem Stück „Madame de Sade“
18 Mehr als Zuschauen im Überblick
20 „An Onkel Wanja“ – Ein Brief von Katja Früh
22 René Polleschs neues Stück
24 In Szene – Schauspielerin Susanne-Marie Wrage
26 „Inform/Unform“ – Kolumne von Stefan Zweifel
28 „Von Echokammern und Meinungsmache“ – über Guy Krnetas
und Sebastian Nüblings Projekt
31 „Auf Teufel komm raus“ – Kinderkreuzworträtsel
32 „Ich bin der Zuschauerraum“ – Der Kritikerclub
34 Essay über Markus Werners Roman „Zündels Abgang“
36 Ins Theater mit Regisseurin Stina Werenfels – „Frau Schmitz“
38 Schicht mit Freddy Andrés Rodríguez
42 „Our Voice/Our Hope“ – Schreibworkshop mit Flüchtlingen
44 Szenen aus dem Repertoire
46pfauen:sounds
48 Close Up – Ensemblemitglieder zeigen ihre eigenen Arbeiten
50 Was bewegt Zürich? / Kulturtipps… / Impressum
Auch für diese Ausgabe des Journals
hat der Schweizer Künstler Yves
Netzhammer eigens Zeichnungen
angefertigt, in denen sich Motive
und Ideen aus „Madame de Sade“
von Yukio Mishima und Milo Raus
Pasolini-Auseinandersetzung „Die
120 Tage von Sodom“ spiegeln. Wie
auch in seinen Rauminstallationen
und mit dem Computer errechneten
Videofilmen, mit denen der Künstler
international erfolgreich wurde,
schöpft er seine Zeichnungen aus
einem reichen, erzählerisch aufgeladenen Bildkosmos.
Mehr als
Zuschauen
„Mehr als Zuschauen“ bietet Ihnen,
unserem Publikum, Gelegenheit,
sich in Diskussionen und Begegnungen aktiv mit den Produktionen
des Schauspielhauses Zürich auseinanderzusetzen. Den Hinweis
auf
unsere Angebote finden Sie hier im
Journal beim jeweiligen Artikel. Ausführlichere Informationen sind auf
der Seite 18 vermerkt sowie in der
Broschüre „Mehr als Zuschauen“
oder unter junges.schauspielhaus.ch
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Bühnenbildnerin Muriel Gerstner, Theatermacher Milo Rau und Autor Lukas Bärfuss (v. l.)
Foto: Robert Aebli
Tischgespräch
Wir müssen es unbedingt
den Jüngeren erzählen!
„Frau Schmitz“ von Lukas Bärfuss kam gerade im Pfauen zur Uraufführung, die Bühnenbildnerin Muriel Gerstner erarbeitet zurzeit mit dem Regisseur Sebastian Nübling das
Projekt „In Formation“ und der Theatermacher Milo Rau probt mit SpielerInnen des
Ensembles und dem Theater HORA ein Projekt zu Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“.
Wir haben die drei im charmanten Ambiente des Malsaals im Schiffbau zu einem Abendessen geladen und ihnen dabei zugehört, wie sie sich über ihre Projekte, über Erzählformen und aktuelle politische Entwicklungen unterhalten haben.
Die drei Gäste begrüssen sich. Nach einem
langen Probentag, für Milo Rau sogar ohne
Mittagessen, freuen sie sich auf etwas
Warmes. Cornelia Wettstein vom Kantinenteam serviert Marronisuppe, selbstgebackenes Brot, eine Käseplatte und Wein.
Lukas Bärfuss: Wo wohnt ihr jetzt?
Muriel Gerstner: Ich pendle meistens. Ich
wohne in Nidau in der Nähe von Biel.
Milo Rau: Und wie kommst du in dieses Dorf?
MG: Zufall! Wir haben einfach was gesucht,
das schön, gross, bezahlbar ist. Allerdings
habe ich während meiner Ausbildung zur
Theatermalerin am Berner Stadttheater
schon mal in Biel gewohnt. Also erst war ich
anderthalb Jahre in Bern und dann bin ich
nach Biel gezogen. Und ich habe aufgeatmet,
man kommt einfacher ins Gespräch mit den
Menschen.
LB: Ich war auch in Biel. In Biel wurde ich
eigentlich erst zum Schriftsteller. Ich habe
quasi dasselbe erlebt. Aus diesem Bern raus,
um in Biel frei atmen zu können. Jetzt wohne
ich in Zürich.
MR: Ah.
LB: Seit April fast 20 Jahre. Ja, meine
Kinder sind Zürcher geworden.
MG: Und sprechen auch Zürichdeutsch?
LB: Ja. Nur wenn sie mich hochnehmen,
veräppeln wollen, sprechen sie Berndeutsch.
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Sonst sind sie total verwurzelt in Zürich.
Etwas, was ich mir nie hätte vorstellen
können.
MR: Ja, skurril.
MG: Wo lebt ihr?
MR: In Köln.
LB: Ist das dein Lebensmittelpunkt?
MR: Ja, der ist in Köln. Zuerst haben wir
zwölf Jahre in Berlin gewohnt, aber dann kam
die zweite Tochter. Ich bin ja sehr viel unterwegs und meine Freundin hat Familienanhang
in Köln. Gleichzeitig ist Köln für mich ideal
gelegen, da ich viel in Belgien und Frankreich
arbeite – nach Brüssel kann ich fast pendeln.
So sind wir dann nach Köln gezogen.
MG: Was hast du mit den Belgiern gemacht?
MR: Wir haben vor etwa zehn Jahren angefangen, mit belgischen Partnern Koproduktionen zu machen. Ich mag den Stil der belgischen Schauspieler sehr: dieses Intellektuelle,
Unabhängige und doch sehr Spielerische.
Alle drei einigen sich darauf, Weisswein zu
trinken. Rund um die von Bühnenbildassistentin
Selina Puorger liebevoll angerichtete Tafel
werden Kerzen angezündet.
LB: Ich war jetzt gerade bis Samstag in
Den Haag auf einem Festival, das „Crossing
Border“ heisst und eine Mischung aus Musikund Literaturfestival ist. Den Haag ist eine
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wahnsinnig schöne Stadt. Das Mauritshuis
beheimatet eine der drei schönsten Kollektionen mit Rembrandts, darunter die „Zwei
Mohren“ und das letzte Selbstportrait. Also
ich war dort und ich brauchte gar nicht in
einen Coffeeshop zu gehen, ich war ohnehin
schon high. Und dann diese so protestantisch
bescheidene und trotzdem prunkvolle Atmosphäre, das ist wirklich etwas Besonderes.
MG: Ich finde die Holländer und ihr Verhältnis zum Bauen wirklich inspirierend, wie sie
zum Beispiel die Moderne weiterführen. Jedes Mal, wenn ich von Nidau nach Zürich
fahre, denke ich: Unser schönes Land und
ein architektonischer Albtraum reiht sich an
den nächsten.
LB: Ja, das ist eigentlich erstaunlich, warum
das ausgerechnet in der Schweiz passiert ist,
diese „Verhässlichung“.
MR: Ausser in den französisch geprägten
Städten, die ja auch meist eine gewisse
Schönheit haben. Da gibt es diese Inszenierung des öffentlichen Raums, beispielsweise
diese Boulevards. Da hat das Bürgertum im
19. Jahrhundert eben mal richtig durchgegriffen.
LB: Das ist ein interessantes Thema, das
mich auch beschäftigt. Das mit dem 19. Jahrhundert. Gerade in unserer Zeit gilt das
19. Jahrhundert eigentlich als letzte grosse
kulturelle Prägung.
MG: Meinst du für dich oder generell?
LB: Nein, generell! Die Filme der Gebrüder
Lumière sind neu editiert worden in einer
wunderschönen Ausgabe. Die Rollen waren
immer fünfzig Sekunden. Die sind perfekt.
Da ist alles enthalten. Es gibt die Aufnahmen,
die Inszenierung, die kannst du nicht besser
machen, als von diesen Erfindern des Films.
Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof zum Beispiel oder wie die Leute die Fabrik verlassen.
Es ist eigentlich alles vollendet. Und du hast
das Gefühl, das, was nachher kam, sei eigent­lich ein Rückschritt der Mittel. Ich habe neulich in der Filmhochschule in Ludwigsburg
einen Workshop zu der Serie „Homeland“ gemacht. Ich habe sie mit den Romanen des
19. Jahrhunderts verglichen, mit jenen von
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Dickens vor allem, und du siehst einfach,
dass all diese Mittel, die jetzt als innovativ
gefeiert werden, da schon entwickelt waren.
Aber wie geht es dir eigentlich gerade bei
der Beschäftigung mit Pasolini?
MR: Ich habe in den letzten zwei Wochen mit
dem kompletten Ensemble alle wichtigen
Pasolini-Filme angesehen. Aus den Reaktionen der „Horas“ habe ich dann wieder gemerkt, wie fundamental das Medium Kino
eigentlich funktioniert, wie viel Konzentration
das braucht, wenn du – was ja Pasolinis Stil
ist – fast durchgehend Grossaufnahmen von
schweigenden Gesichtern hast.
MG: Was ich wirklich bemerkenswert finde,
ist, dass Pasolini wieder auf unsere Bühnen
und in unser Bewusstsein zurückdrängt. Wir
haben letztes Jahr „Accattone“, seinen ersten
Film, bei der Ruhrtriennale gemacht. Zeitgleich gab es eine riesige Ausstellung in Berlin im Martin-Gropius-Bau zu seinem Gesamtwerk. Der Kulturtheoretiker Georges DidiHuberman gab ein Buch heraus, „Das Überleben der Glühwürmchen“ – eine wunderbare
Analyse, weshalb Pasolini auf einmal für uns
wieder wichtig wird. Irgendetwas beschäftigt
uns wirklich an diesem Werk, sonst würdest
du es ja auch nicht machen.
MR: Für mich strahlt Pasolinis Werk eine
Würde aus, fast eine Heiligkeit – jede Einstellung ist gesetzt, jede Dialogzeile, das hat
alles eine hohe, völlig unironische Künstlichkeit. Wir unterliegen ja seit 50 Jahren dem
Naturalismus-Terror auf der einen Seite und
der Verkleinbürgerlichung unserer Welt auf
der anderen. Bei Pasolini gibt es diese Feier
des Proletarischen, des Ursprünglichen in
„Accattone“ oder im „Evangelium nach
Matthäus“. Es gibt diese Transzendenz in der
Art, wie er diese oft zahnlosen, zerfurchten
Gesichter filmt, diese kleinen Ganoven und
Soldaten. Die würdest du heute gar nicht
mehr finden. Als Haneke zum Beispiel Tagelöhner gesucht hat für „Das weisse Band“…
MG: Da hat er sie nicht mehr gefunden!
MR: Genau, und musste sie aus Rumänien
holen.
„
Für mich strahlt Pasolinis Werk
eine Würde aus, fast eine Heiligkeit –
jede Einstellung ist gesetzt, jede
Dialogzeile, das hat alles eine hohe,
völlig unironische Künstlichkeit.
MG: „Accattone“ wird eingeleitet mit einem
Dante-Zitat. Pasolini eröffnet sofort den Dialog mit seiner kulturellen Erbschaft. Und,
wenn du dir den Film sehr genau anschaust,
dann findest du zu jedem Bild eine Korrespondenz in der Malerei. Es gibt zum Beispiel
die liegende Frauenfigur, die Prostituierte
Magdalena, die mit tausend liegenden Venusfiguren der Renaissance korrespondiert. Sie
erfährt bei Passolini aber eine interessante
Umschrift, denn diese Frau hat ein gebrochenes Bein. Das heisst, du hast da eine Magdalena liegen, die einen Gips trägt, also buchstäblich gebrochen ist. Die andere Frauenfigur, die Arbeiterin Stella, erscheint immer
aufrechtstehend aus dem Dunkeln – eine
Persephone-Figur, die aus der Dunkelheit ins
Licht kommt. Und zwischen diesen beiden
Frauen ist Accattone positioniert.
MR: Ja das stimmt. Für mich ist Pasolini vielleicht der einzige Künstler oder Intellektuelle,
bei dem ich bei jeder Zeile oder jeder Einstellung denke: „Ja, das stimmt eigentlich, was
er sagt.“ Auch wenn ich nicht gleicher Meinung bin, denn er war ja wahnsinnig idiosynkratisch, wahnsinnig verbohrt in seinen
Überzeugungen. Er war beispielsweise gegen
die Abtreibung: Das Leben war für ihn heilig.
Gleichzeitig ist seine Gegnerschaft natürlich
dialektisch. Er sieht den Widerspruch zu seinem sonst sehr libertären Denken etwa in
Bezug auf die Selbstbestimmung der Frau.
Es ist interessant, Pasolinis Paradoxien weiterzudenken. Heute führt die Pränataldiagnostik dazu, dass die Mitglieder des Theaters
HORA, von denen die meisten Trisomie 21
haben, die letzten ihrer Art sind: Es werden
keine neuen mehr geboren, die werden alle
abgetrieben. Und da leuchtet Pasolinis eigentlich konservative Rede von der „Heiligkeit des Lebens“ wieder ein.
LB: Ich glaube, was die Generation von
Pasolini erlebt hat, ist technologisch unvergleichlich viel umstürzlerischer gewesen, als
das, was wir heute erleben. Ich finde es immer wieder erstaunlich … Hans Staub zum
Beispiel, einer der Fotografen der Schweiz
der Dreissiger- bis Sechzigerjahre, hat grosse
Reportagen gemacht und ist durchs Land
gereist. Von dieser Schweiz, die er gefilmt
hat, gibt es keine Spur mehr, die ist zwischen
1965 und 1980 verschwunden. Du siehst es
an den Hüten! Es gibt keine Hüte mehr. Wenn
du dir die Berufe anschaust, da gab es noch
den Drechsler, Korber, Schmied. Dagegen
ist das, was in den letzten zwanzig Jahren
geschehen ist, wirklich Pipifax.
Ich habe das auch in den letzten fünf Jahren
lernen müssen, dass wir jetzt in die Position
kommen, dass wir den Menschen, die zwanzig oder zehn Jahre jünger sind, gewisse
Dinge erzählen müssen. Ich finde, das ist
eine total schwierige Transformation innerhalb des erwachsenen Lebens. Dass du nämlich plötzlich merkst, es gibt niemanden
mehr, der jetzt noch Traditionsträger ist. Und
wir müssen es unbedingt den Jüngeren
erzählen!
“
MR: Ich habe noch eine Frage an euch beide:
Wenn man nach Israel geht, hat man bei vielen linken Intellektuellen diesen melancholischen, eigentlich sehr konservativen Postzionismus. Wenn man nach Russland kommt,
wird man sogar von Feministinnen mit antiinternationalistischen Positionen konfrontiert
und in Frankreich gibt es viele ehemals linke
Intellektuelle, die heute konservative Positionen vertreten. Was haltet ihr davon? Ich
meine jetzt nicht die vollkommen zynischen
Populisten à la Trump, sondern die modernen
Pasolinis, die konservative und linke Ideen
zusammenbringen. Habt ihr euch mit denen
ausgetauscht?
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LB: Ich finde es sehr erstaunlich, wie deutlich
das geworden ist. Also für mich ist schon in
den letzten Monaten und Jahren sehr viel eindeutiger geworden, wo die Menschen stehen,
wofür sie stehen und was der Boden ist, aus
dem sie gewachsen sind. Ich denke, gerade
rechte Positionen sind ja mittlerweile überall.
Da muss man fast schon suchen, dass man
das Andere findet.
MG: Ich würde es differenzieren. Also zum
Beispiel wenn du sagst postzionistisch – das
ist einfach eine unglaublich heikle Debatte.
Da merke ich, das könnte mir jetzt auch passieren, dass ich da hineinfalle: Wenn du als
jüdischer Mensch – was ich von der Herkunft
her bin –, in einen tendenziösen Diskurs ver12
wickelt wirst, dann wirst du ihn je nachdem
einfach mit einer Haltung abkürzen und konterkarieren, weil es in dem Moment ein Gegengewicht braucht. Aber was mich derzeit wirklich fassungslos macht, ist, von wie vielen
Leuten ich die unsäglichsten Tiraden über
Frau Clinton höre. Weil ich denke, okay, man
kann ihr dies vorwerfen, man kann ihr jenes
vorwerfen, aber unter dem Strich muss man
sagen, es ist einfach eine brillante Frau mit
ernomer Erfahrung, die die Aufgabe von innen heraus kennt. Ich kann mir im Moment
nichts Besseres wünschen als das. Was ist
los? Wie frauenfeindlich ist der Diskurs? Und
wie ist unser Selbstbild als Frauen geprägt,
dass wir so negativ auf diese Frau reagieren?
LB: Ja, man schaue nur die Reaktionen auf
Carolin Emckes Paulskirchenrede an, dann
weiss man, wie mies der Diskurs ist.
MG: Da finde ich ja „Frau Schmitz“ extrem
brauchbar und die Frage, wie ein weiblicher
und ein männlicher Diskurs funktioniert. Was
passiert, wenn man mit Frau Schmitz als Frau
Schmitz oder mit Frau Schmitz als Herrn
Schmitz, die ja ein und dieselbe Person sind,
konfrontiert ist? Was passiert, wenn man als
Arbeitgeber Herrn Schmitz eigentlich behalten will, Frau Schmitz aber sagt „I would prefer not to“, sie würde lieber als Frau die Karriere fortsetzen. Das ist ja auch für diese
unsägliche Situation in Amerika total interessant: Du hast eigentlich eine „phallische“
Frau, eine Frau, die sagt: „Ja ich kann, ja ich
will und ich glaube auch, dass ich die Richtige bin im Moment.“
LB: Unerträglich. Für Männer ist das
unerträglich.
MG: Die Antwort auf Clinton ist in der Tat
auch höchst rigide und möglicherweise eine
gute Illustration dafür, was Antonio Gramsci
ein morsches Symptom genannt hat. Etwas,
dass am Ende einer Epoche auftaucht, in
Umbruchzeiten also. An Trumps Kampagne
und deren Wirkungsweise lassen sich übrigens auch ganz viele Fragen verhandeln, die
uns in unserer Produktion „In Formation“
beschäftigen. Wie sieht es aus mit dem Rüstzeug, mit dem wir bis dato Demokratie verhandelt haben? Bricht uns mit den erdrutschartigen Verschiebungen in unserem Informationsverhalten, das sich immer mehr ins Internet und in unbezahlte Kanäle verlagert, die
sogenannte vierte Säule weg, sprich zuverlässiger Journalismus? Was kommt auf uns
zu, wenn Politik aufwendig als Soap inszeniert wird und dies die bisweilen mühsame
Argumentation mit Fakten ersetzt. Wie gehen
wir damit um, dass in unserer Welt, die uns
eigentlich täglich zu komplexen Verknüpfungen zwingt, immer weniger Leute bereit
zu sein scheinen, sich auf eine Botschaft einzulassen, die Twitterlänge übersteigt?
LB: Was mich eigentlich beunruhigt an der
politischen Grosswetterlage in Europa, sind
gar nicht so sehr die Extremisten. Die Extremisten sind etwas, was die europäische Geschichte schon immer begleitet hat. Ich
glaube, es gibt eine unglaubliche Zukunftsverdrossenheit. Eine Angst davor, dass wir
eigentlich in einer Latenzzeit leben und wir
alle auf eine ganz bestimmte Katastrophe zuleben müssen, nach der dann alles irgendwie
bei null beginnen könnte. Und das macht mir
deshalb Sorgen, weil wir als Künstler eigentlich immer die Zukunftspessimisten hätten
sein müssen, oder? Ich griff heute aus der
Badewanne blind nach einem Buch im Bücherregal und hatte den Band von Marcel
Reich-Ranicki über Thomas Bernhard in der
Hand. Und diese Freude, dass es da noch
einen Künstler gibt, der sich in diese Weltuntergangsszenarien und in diese misanthropischen Exzesse hineingibt, und diesen
Bildungsbürger, der darauf verweist, wie
wichtig diese Position ist. Und du liest das
und denkst, das ist jetzt mehrheitsfähig,
diese Position, dieser misanthropische
Thomas Bernhard. Das ist genau das, was
überall eigentlich zum Tragen kommt.
Das ist nur ein kleiner Auszug des Gesprächs,
das bis in den späten Abend fortgeführt
wurde. Die drei Gäste fanden keine positivere
Beschreibung der derzeitigen politischen
Stimmungslage, die ein paar Tage darauf in
der Präsidentschaftswahl in den USA befürchtetermassen auch entsprechend zum
Ausdruck kam.
Aufgezeichnet von Gwendolyne Melchinger
und Irina Müller.
Frau Schmitz
von Lukas Bärfuss / Regie Barbara Frey
Uraufführung
Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad,
Lambert Hamel, Henrike Johanna Jörissen
Lisa-Katrina Mayer, Dominik Maringer,
Markus Scheumann, Friederike Wagner,
Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy
28./31. Dezember / 3./10./19./28. Januar, Pfauen
Unterstützt von der Stiftung Corymbo
Die 120 Tage von Sodom
siehe Seite 15
Madame de Sade
siehe Seite 18
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Diskussion
Who the fuck is
Jérôme Bel?
Die Theatergruppe HORA probt mit dem Projekt „Die 120 Tage von
Sodom“ zum ersten Mal am Schauspielhaus Zürich und zusammen mit
dem Schweizer Theatermacher Milo Rau. Als das Theater HORA 2016
den Schweizer Theaterpreis gewann, hielt der Leiter Giancarlo Marinucci
eine Rede, die davon erzählte, dass HORAs Erfolge noch keine Garantie
für Diversität in den künstlerischen Berufsfeldern garantiert. Um über die
gemeinsame Arbeit zu diskutieren, trafen sich Theater HORA und das
Schauspielhaus Zürich in grosser Runde.
gerne, das ist für sie das Wichtigste – egal
ob hier oder in Brüttisellen.
Petra Fischer: In meiner Wahrnehmung verändert sich auch der Zuschauerkreis jeweils
mit den Partnern, mit denen ihr zusammenarbeitet. Und dadurch, dass ihr mit so verschiedenen Leuten kooperiert, erweitert sich
der Kreis schon, aber es ist immer alles konkret projektgebunden.
Michael Elber: Es ist eine andere Art von Arbeiten, aber grundsätzlich ist es fürs Image
von HORA natürlich gut, mit Theaterschaffenden zu arbeiten, die eben keinen IV-Stempel
haben. Das ist als Inklusion für alle wichtig,
ob sie bekannt sind oder nicht. Denn „Who the
fuck is Jérôme Bel?“! Das war ja für Jérôme
wunderbar, dass die HORA-Spieler keine Ahnung hatten, wer er ist. Statt wie sonst, wenn
er mit Schauspielern oder Tänzern arbeitet,
die vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie mit
Jérôme arbeiten dürfen. Das war denen
scheissegal. Der hat mal Leute gehabt, die
ihm nichts vorspielen!
Gwendolyne Melchinger: Auch wir profitieren
enorm, wenn eure Darsteller bei uns und mit
uns spielen, das ist unumstritten. Neben der
Arbeit mit dem HORA-Ensemble bildet ihr
auch Menschen mit Behinderung zu Schauspielern aus. Urs, du hast eine Schauspielausbildung aufgebaut. Und jetzt gibt es massive Probleme bei der Finanzierung der Ausbildung. Giancarlo hat in seiner Rede darauf
hingewiesen. Worum geht es da?
Zum Gespräch trafen sich vom Theater
HORA Giancarlo Marinucci (Gesamtleiter),
Michael Elber (Künstlerischer Leiter), Urs
Beeler (Ausbildungsleiter), Nele Jahnke
(stellvertetende künstlerische Leiterin) sowie
vom Schauspielhaus Gwendolyne Melchinger
(Dramaturgin), Petra Fischer (Leiterin
Junges Schauspielhaus) und Klaus Brömmelmeier (Ensemblemitglied und Regisseur
eigener Projekte).
Gwendolyne Melchinger: Die Theatergruppe
HORA ist das einzige professionelle Theaterensemble von geistig behinderten Menschen
in der Schweiz. Ihr wart beim Berliner Theatertreffen, habt mehrere Preise bekommen. Was
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hat sich dadurch seither verändert –
extern wie intern?
Michael Elber: Was sich geändert hat, ist,
dass andere Partner interessiert sind, mit uns
zu arbeiten – so wie jetzt das Schauspielhaus.
Eine Jérôme-Bel-Produktion ist eben eine
Jérôme-Bel-Produktion. Und „Die 120 Tage
von Sodom“ wird eine Milo-Rau-Produktion
sein, die auch von den entsprechenden Zuschauerkreisen wahrgenommen wird.
Nele Jahnke: Bei unseren Schauspielern und
und Schauspielerinnen habe ich das Gefühl,
dass sie gerne arbeiten, auch mit unterschiedlichen Leuten. Sie spielen einfach
Urs Beeler: Im Moment ist das erste Ausbildungsjahr finanziert. Und dann kommt es von
Fall zu Fall darauf an, wer die Beratung übernommen hat. Das ist völlig personenabhängig.
Wenn du einen IV-Berater oder eine IV-Beraterin hast, der oder die der Sache zugetan ist,
dann kannst du darauf hoffen, dass du das
zweite Ausbildungsjahr für die betreffende
Person bezahlt bekommst und wenn nicht,
dann nicht. Die Einwilligung, dieses zu übernehmen, macht die IV davon abhängig, dass
perspektiv rententangierend Lohn verdient
wird (mind. 1500 CHF monatlich). Diese Praxis
widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention. Dies bedeutet, dass ich andauernd
Rekurse schreiben muss, einerseits über unzulängliche Ausbildungsfähigkeit und andererseits zu Kostengutsprachen für das zweite
Lehrjahr. Beides wird von der IV bestimmt.*
Gwendolyne Melchinger: Wie kann das denn
die IV bestimmen?
Giancarlo Marinucci: Die haben einfach ihre
Ärzte. Sie machen IQ-Tests und ähnlich
genormte Tests, von denen ich nichts halte,
und entscheiden: „Nein, der oder die ist nicht
ausbildungsfähig“, weil er oder sie zum Beispiel nicht rechnen, lesen oder schreiben
kann.
Gwendolyne Melchinger: Aber warum ist
denn Rechnen, Lesen und Schreiben ein
Kriterium?
Michael Elber: (lacht) Das ist es ja eben!
Giancarlo Marinucci: Sie gehen nach den
Kulturtechniken.
Klaus Brömmelmeier: Das ist das grundsätzlich
Kranke im System. Statt dass das Schauspielhaus Zürich einen behinderten Schauspieler
ins Ensemble engagiert, sollte es sich als Kulturorganisation in einer relativ kleinen Stadt
wie Zürich viel mehr gemeinschaftlich begreifen und die Qualitäten da suchen, wo sie sich
befinden. Wenn ich die Qualität der „Horas“
nur kriegen kann, indem ich ein zweites Ausbildungsjahr bezahle als Schauspielhaus Zürich, dann könnte ich sagen: „Wir machen sicher eine Koproduktion pro Jahr, denn wir
wollen, dass die Leute da anständig Geld verdienen“. Und auch eine Kulturbehörde oder
eine IV-Ärztegemeinschaft könnte sagen: „Wir
merken, dass wir nur Qualität finden, wenn wir
das so ermöglichen können“.
Gwendolyne Melchinger: Aber was würde es
bedeuten, einen Schauspieler mit geistiger
Behinderung an ein Stadttheater zu engagieren? Spontan wäre ich dagegen. Das hat
zwei Gründe. So wie der Betrieb aufgebaut
ist, müsste er oder sie sich diesem System
unterordnen, weil es kaum Raum für andere
Arbeitsformen und Zeitstrukturen gibt.
Ausserdem habe ich das Gefühl, dass sie in
dieser Konstellation immer als „Exoten“, als
„behinderte Schauspieler“ wahrgenommen
und eingesetzt werden würden. Viel interessanter wäre es, wenn das HORA-Ensemble
ein eigenes (Stadt-)Theater bekommen
würde, mit Kooperationen und Öffnungen
nach aussen und vielleicht sogar mit einer
eigenen Ausbildungsstätte.
Nele Jahnke: Da haben wir alle verschiedene
Haltungen. Für mich spielen verschiedene
Faktoren eine Rolle. Zuerst die Frage, was
ein Schauspieler ist. Ein Schauspieler ist auf
eine Art und Weise ein Repräsentant. In
meiner Schauspielschulklasse gab es gerade
15
„
„Who the fuck is Jérôme Bel?“ Es war
für Jérôme wunderbar, dass die HORASpieler keine Ahnung hatten, wer er ist.
Statt wie sonst, wenn er mit Schauspielern oder Tänzern arbeitet, die vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie mit Jérôme
Bel arbeiten dürfen. Das war denen
scheissegal. Der hat mal Leute gehabt,
die ihm nichts vorspielen!
“
mal eine Frau unter 1,72 Meter und eine
Frau, die nicht Kleidergrösse 36 bis 38 hatte.
Da wird schon mal ganz stark ein Bild geformt, wie ein Schauspieler sein soll. Das ist
genau die gleiche Debatte, die man bei Menschen mit „Migrationshintergrund“ hat, wenn
beispielsweise ein Kollege mit türkischem
Hintergrund dreimal einen Diener spielt und
danach gesagt wird: „Ach, das ist uns gar
nicht aufgefallen. Sorry!“
Urs Beeler: Ich glaube, es bräuchte ein
Haus, in dem die Regisseure das unbedingt
wollen und die Schauspieler dazu Lust haben –
und dann funktioniert es. Und dann wird es
auch nicht passieren, dass die Behinderten
Behinderte spielen, weil das dann kein
Thema mehr ist.
Gwendolyne Melchinger: Was wünscht ihr
euch denn für die Zusammenarbeit mit Milo
Rau und dem Schauspielhaus im Zusammenhang mit dem Pasolini-Stoff?
Michael Elber: Er hat mein Vertrauen. Und
ich bin gespannt auf die Zuschauerreaktionen, aber ich muss mich als künstlerischer
Leiter auch etwas vorbereiten. Am Anfang
war die Haltung vielerseits, dass ein geistig
behinderter Mensch nicht auf die Bühne darf.
Fertig. Und dann war er doch auf der Bühne.
Und irgendwann auch mal halbnackt. Das
wurde ein grosses Thema beispielsweise für
die Eltern. Was mutet man den Spielerinnen
und Spielern da eigentlich zu?
Nele Jahnke: Ich finde, man sollte grundsätzlich beim Schauspiel darüber reden: Was mutet man zu? Und wo ist es gut und sinnvoll,
16
dass man eine Zumutung ist, dass man Risiken
eingeht und wo sind Grenzen? Was ist denn,
wenn du dich zehnmal hintereinander ausziehst und dann sagst, du möchtest es nicht
mehr? Ich erhoffe mir von der Produktion und
Zusammenarbeit, dass man auch mehr von den
„Horas“ als einzelnen Schauspielern redet.
Giancarlo Marinucci: Ich erhoffe mir einfach,
dass das nichts Aussergewöhnliches mehr
ist. Das Stück soll aussergewöhnlich sein, interessant und künstlerisch herausfordernd.
Michael Elber: Und was ich ausserdem hoffe,
ist, dass die Lust und die Begeisterung nicht
nachlässt, wenn Milo, der ja doch sehr genau arbeitet, merkt, dass unsere Leute eben
nicht so genau geführt werden können. Am
Anfang macht es immer allen extrem Spass,
aber wenn dann Julia und Nikolai sich Freiräume nehmen, kann es auch schwieriger
werden.
Gwendolyne Melchinger: Und gibt es für
dich etwas von der Produktion oder
Zusammenarbeit, das dir wichtig wäre?
Urs Beeler: Dass es weitergeht. Dass so
ein Projekt nicht eine Eintagsfliege wird, das
hoffe ich eigentlich am meisten.
*Das Gespräch wurde am 31.10. geführt. Die jüngsten rechtlichen Entwicklungen zur Thematik sind deswegen noch nicht berücksichtigt.
Die 120 Tage von Sodom
von Milo Rau
nach Motiven von Pier Paolo Pasolini
und Donatien Alphonse François de Sade
Uraufführung
Kooperation mit dem Theater HORA
Text und Regie Milo Rau
Mit Noha Badir, Remo Beuggert, Gianni
Blumer, Matthias Brücker, Nikolai Gralak,
Matthias Grandjean, Julia Häusermann,
Sara Hess, Robert Hunger-Bühler,
Dagna Litzenberger Vinet, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Tiziana Pagliaro,
Nora Tosconi, Fabienne Villiger
Premiere 10. Februar, Schiffbau/Box
Inszenierungseinblick zu „Die 120 Tage von
Sodom“, 23. Januar, 19:00–­20:30, Treffpunkt
Schiffbau/Foyer
Theater im Gespräch zu „Die 120 Tage von
Sodom“ und „Madame de Sade“, 9. März,
19:00­–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Kreisen wie Planeten um
einen Fixstern
Alvis Hermanis inszeniert „Madame de Sade“ des japanischen Autors Yukio Mishima.
Das Stück thematisiert den Skandal der sexuellen Grenzüberschreitung, die Utopie eines
Menschen, der seine Triebe auslebt. Der Autor erlebte als Homosexueller selbst gesellschaftliche Ächtung: Mit einem Bein stand er in der traditionellen Gesellschaft Japans, mit
dem anderen Bein in der kriminalisierten Geheimgesellschaft der Homosexualität. Die
Hauptfigur in diesem Stück, die Marquise de Sade, ist der Wunschtraum einer Partnerin, die
ihren Gatten akzeptiert und sein gespaltenes Leben zusammenhält. Im Nachwort zu der
deutschen Übersetzung erklärte der Autor:
Beim Lesen des Buches „Das Leben des
Marquis de Sade“ von Tatsuhiko Shibusawa
beschäftigte mich als Schriftsteller das Geheimnis aufs Äusserste, warum wohl die
Marquise de Sade, nachdem sie ihrem Gatten während der drei Jahre seiner Kerkerhaft
so unbedingt die Treue gehalten hatte, sich
im gleichen Augenblick von ihm abwandte,
als er endlich die Freiheit wiedererlangte.
Dieses Rätsel wurde zum Ausgangspunkt
meines Stückes, mit dem ich versuche, eine
logische Lösung zu bieten. Ich verspürte die
Gewissheit, dass hier etwas zutiefst Unverständliches und doch zugleich zutiefst Wahrhaftes der menschlichen Natur verborgen
lag, und habe das Leben des Marquis erforscht, wobei ich bemüht war, alles unter
dem erwähnten Aspekt zu betrachten.
Dieses Theaterstück könnte den Titel „De
Sade in den Augen der Frauen“ tragen, was
mich verpflichtete, die Marquise in den Mittelpunkt zu stellen und das Motiv dadurch
zu verdichten, dass ich alle anderen Rollen
17
ebenfalls Frauen übertrug. Madame de
Sade steht für weibliche Ergebenheit, ihre
Mutter, Madame de Montreuil, für Recht
und Gesetz, die Gesellschaft und die Moral, die Baronin Simiane für Religion, die
Gräfin Saint-Fond für fleischliche Begierden, Anne, die jüngere Schwester der Marquise, für weibliche Unbekümmertheit und
Mangel an Prinzipien und die Beschliesserin Charlotte für das gemeine Volk. Ich
hatte versucht, diese Personen in Beziehung zu Madame de Sade zu bringen und
sie um die Marquise kreisen zu lassen wie
Planeten um einen Fixstern. Ich fühlte mich
veranlasst, die üblichen trivialen Bühneneffekte zu meiden und die Handlung ausschliesslich mit Hilfe des Dialogs voranzutreiben. Das Aufeinanderprallen der gegensätzlichen Meinungen musste das
dramatische Moment hergeben und Gefühle hatten im Gewande der Vernunft zu
erscheinen. Ich war der Meinung, das visuelle Bedürfnis würde höchstwahrscheinlich
durch die prächtigen Rokokokostüme befriedigt werden. Das Ganze sollte sich wie
ein präzises, geometrisches System um
Madame de Sade herum aufbauen.
Mit diesen Vorstellungen begann ich die
Niederschrift des Stückes, bin allerdings
nicht ganz sicher, ob das, was ich vorhatte,
mir auch wirklich gelungen ist. Aber eines
steht für mich fest: dieses Theaterstück
stellt die Endsumme der logischen
Schlussfolgerungen aus Ansichten dar, die
ich seit Langem über das Theater hegte.
Yukio Mishima, 1965
Deutsch von Kai Molvig
Madame de Sade
von Yukio Mishima / Regie und Bühne Alvis Hermanis
Mit Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer, Sunnyi Melles,
Kuan-Ling Tsai, Friederike Wagner, Susanne-Marie Wrage
Premiere 2. Februar, Pfauen
Mehr als
Zuschauen
Spielen, Forschen, Schreiben: „Mehr als Zuschauen“ bietet
Ihnen, unserem Publikum, Gelegenheit, sich aktiv mit den
Produktionen des Schauspielhauses, ihren Inhalten, ästhetischen Besonderheiten, Arbeitsweisen und Theater im Allgemeinen auseinanderzusetzen. Alle Angebote sind mit dem
Hinweis
gekennzeichnet.
Weitere Angebote und Termine finden Sie direkt bei den
Beiträgen in diesem Journal, auf unserem Faltflyer „Mehr als
Zuschauen“ und unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen
Für Kinder
und Familien
Augenblicke hinter den Kulissen
Führung durch die Theaterwerkstätten im Schiffbau für Kinder und Familien
18. Januar, 14:00–15:30 / 23. Februar, 10:30–12:00 / 8. März, 14:00–15:30
Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Kinderkulturakademie Zürich KKAZ
Frühlingssemester, für Kinder von 7 bis 9 Jahren
sowie Jugendliche von 10 bis 13 Jahren, 3. Mai bis 28. Juni
Anmeldung ab 1. Januar unter kkaz.ch
In Zusammenarbeit mit dem Museum Haus Konstruktiv
Für Erwachsene
und Jugendliche
Backstage – Verwandlung
Vor bzw. nach Vorstellungen von „Die Verwandlung“
Spielclub 60+ „Verwandlungen“
zu „Die Verwandlung“
Abschlusspräsentation 17. Februar, 19:00 / 18. Februar, 15:00 und 19:00
Treffpunkt Pfauen/Foyer
Inszenierungseinblick
zu „Die Wildente“, 28. Februar, 19:00–20:30
Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Inszenierungseinblick
zu „Räuber“, 6. März, 19:00–20:30
Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Inszenierungseinblick
Inszenierungseinblick zu „Madame de Sade“
17. Januar, 19:00–­20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Theater im Gespräch zu „Madame de Sade“
und „Die 120 Tage von Sodom“
9. März, 19:00­–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
zu „Grimm“, 20. März, 19:00–20:30
Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Für Jugendliche
Schlachtfeld Familie
Antiker Stoff in drei Jahrhunderten
17./31. Januar / 9./28. Februar / 2./7. März
Nähere Informationen unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen
In Zusammenarbeit mit dem Opernhaus Zürich
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„Mehr als Uni“ Workshop – Vorstellungsbesuch – Kantinengespräch. Weitere Informationen und Termine unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen/furstudierende
An Onkel Wanja
W
eisst du, Onkel Wanja, wir
sind jetzt die, die 120 Jahre
später leben. Die von denen du und dein On- and
Off-Freund Astrow so oft
gesprochen habt. Die, von denen ihr geglaubt habt, dass es ihnen so sehr viel besser gehen wird, die von denen ihr gedacht
habt, sie werden auf euch hinabsehen, auf
euch unwürdige Kreaturen, die ihr Leben
vergeudet haben. Aber das tun wir nicht,
denn trotz allem, was sich geändert hat,
sind wir noch gleich. Traurig sind wir auch,
auf unsere Weise. Und viele haben das Gefühl, im falschen Leben zu leben und wissen nicht, was das richtige sein könnte.
Oder sie glauben, eigentlich jemand ganz
anderer zu sein, wie du, vielleicht Schopenhauer oder Dostojewski, hätten sie nur
nicht zu lange damit gewartet und falschen
Idealen hinterhergejagt. Aber heute, spätestens nach deinem missglückten, lächerlichen Mordversuch, hätte man dich natürlich in Behandlung gegeben zu einem
Psychologen. Man hätte dir wahrscheinlich
eine chronische Depression diagnostiziert
und es erst mal mit einer Gesprächstherapie versucht. Und das hättest du geliebt, weil du ja gerne redest, vor allem
über dich selbst und dein Unglück. Du hät-
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test tausend Tipps bekommen, denn heute
hat man für alles eine Lösung. Jahrelang
hätte man mit dir über deine Kindheit gesprochen und das Verhältnis zu deiner Mutter. Das sich dadurch aber alles andere als
verbessert hätte. Der Psychologe hätte
dich schliesslich weitergeleitet zu einem
Psychiater, denn der darf dich medikamentös behandeln. Zu den Serotoninwiederaufnahmehemmern verschreibt er dir Sport
und du löst ein Abo in einem Fitnessclub
und strampelst dich auf Laufbändern und
Crosstrainern ab. Kannst du dir das vorstellen, Wanja? Vorübergehend geht es dir
besser, denn die Pillen wirken und das findest du wirklich toll. Du schläfst nicht mehr
so lange, denn dein Antrieb ist morgens
wieder in Ordnung und der verordnete Spaziergang vor der Arbeit tut dir wirklich gut
und du siehst die Natur wieder und das
Wetter. Du bist auch wieder etwas freundlicher zu Sonja und zu Marina und der arme
Streuselkuchen Telegin geht dir nicht mehr
nur auf die Nerven. Nur deine Mutter bedrückt dich immer noch genauso. Du hast
in der Therapie zwar herausgefunden, dass
du es aufgeben solltest, um ihre Anerkennung zu buhlen, aber das schaffst du nicht.
Du gibst deinem Psychiater die Schuld daran und wechselst ihn. Du entscheidest
dich für eine Frau, in der Hoffnung, sie
könne dir etwas über die Liebe erzählen.
Aber sie mäkelt nur an deinem Frauenbild
herum, bezeichnet deine Liebe zu Jelena als
Projektion, findet, du müssest dein inneres
Kind wieder zulassen, und schickt dich in
eine Männergruppe. Dort fühlst du dich
hoffnungslos überfordert, denn sie wollen,
dass du dein Machotum ablegst und deine
feminine Seite stärkst. Dieser Meinung bist
du nicht und du verlässt die Gruppe nach
kurzer Zeit wieder. Deine Therapeutin
wäscht dir den Kopf, sie ist damit nicht einverstanden. Sie hält dir deinen Hang zur
Idealisierung vor, kommt auf Serebrjakow zu
sprechen, will wissen, was du an ihm so
bewundert hast, dass du, wie du es beschreibst, dein Leben für ihn geopfert hast.
Sie provoziert dich mit Sätzen wie: Ist Ihre
Bewunderung für diesen Professor nicht
vielleicht eine Ausrede, sich nicht mit Ihren
eigenen Talenten und Grenzen auseinanderzusetzen? Und überhaupt! Sie sind doch intelligent, wie konnten Sie so lange nicht bemerken, dass Sie da einen Blender und
Narzissten anbeten? Haben Sie vielleicht
gehofft, dass dadurch ein bisschen Ruhm
und Glanz für Sie selbst abfällt? Und sich
auch darum in seine schöne Frau verliebt?
Du brichst die Therapie ab, sie geht dir auf
die Nerven. Du stürzt dich in die Arbeit, weil
sie das einzige ist, was dich ablenkt vom
Hamsterrad, vom täglichen, sinnlosen Einerlei. Und dann wirst du zum Workaholic und
beginnst wieder mehr zu trinken, hast einen
Zusammenbruch, spielst mit Suizidgedanken
und dein Arzt diagnostiziert ein Burnout.
Dafür gibt es schicke Kliniken, aber du bist
schlecht versichert. Stattdessen besuchst
du ein Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Training, bist aber zu träge, täglich zu
üben und zu meditieren. Und so geht das
weiter, denn wie du siehst, Wanja, bei uns,
heute, gibt es ein breites Angebot an
Lösungsmöglichkeiten. Erlösungsmöglichkeiten? Nur die, die Sonja damals gewählt hat –
einfach auf ein besseres Jenseits zu hoffen –,
ist aus der Mode gekommen. Irgendwann
gibst du die Therapien, die Gruppen und
Kurse auf, denn dass du nicht verrückt bist,
hast du immer gewusst. Du bleibst bei deinem Landleben, weil es dein Leben ist, be-
treibst das Gut mit Sorgfalt, siehst zu, dass
alles bleibt, wie es immer war. Einen Sinn
siehst du darin vielleicht immer noch nicht.
Aber heute, wo die Menschen denken, damals vor 120 Jahren sei alles wahr und echt
gewesen, sähen sie dich vielleicht als einen
Aussteiger und eure, Sonjas und deine Arbeit würde im Magazin „Landlust“ gewürdigt
werden und obwohl du lieber Schopenhauer
oder Dostojewski geworden wärst, wäre das
doch immerhin etwas.
Deine Katja Früh
Katja Früh ist Autorin, Regisseurin, Schauspielerin und
Kolumnistin bei „Das Magazin“, wo sie sich durch ihre Texte
als Kennerin des heutigen gesellschaftlichen Umgangs mit
depressiven Zuständen erwiesen hat. Sie schreibt durch einen
Zeittunnel hindurch diesen Brief an Onkel Wanja.
Onkel Wanja
von Anton Tschechow / Regie Karin Henkel
Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad, Alain Croubalian,
Markus Scheumann, Alexander Maria Schmidt, Lena Schwarz,
Siggi Schwientek, Nikola Weisse
Premiere 14. Januar, Pfauen
Inszenierungseinblick zu „Onkel Wanja“
5. Januar, 19:00­–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Theater im Gespräch zu „Onkel Wanja“
und „High (du weisst wovon)“
31. Januar, 19:00­–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Einblick
Ich spreche zu
den Wänden
von René Pollesch
René Pollesch inszenierte zuletzt eine zweiteilige Arbeit mit dem schönen Titel „Diskurs
über die Serie und Reflexionsbude (Es beginnt erst bei Drei), die das qualifiziert
verarscht werden great again gemacht hat etc. Kurz: Volksbühnen-Diskurs.“ an der
Berliner Volksbühne. Ob nach Teil 1: „Ich spreche zu den Wänden“ und Teil 2: „Es
beginnt erst bei Drei“ ein dritter Teil – bei dem es dann möglicherweise „erst beginnt“ –
noch entsteht, darüber darf noch spekuliert werden. In Zürich ist unterdessen ab dem
7. Januar Polleschs neuste Inszenierung „High (du weisst wovon)“ in der Halle zu sehen.
Das Sprechen muss doch für mich selbst was bedeuten.
High (du weisst wovon)
von René Pollesch / Regie René Pollesch
Uraufführung
Mit Hilke Altefrohne, lnga Busch,
Marie Rosa Tietjen, Jirka Zett und einem
Damensprechchor
Premiere 7. Januar, Schiffbau/Halle
Theater im Gespräch zu „High
(du weisst wovon)“ und „Onkel Wanja“
31. Januar, 19:00–­20:30, Treffpunkt
Schiffbau/Foyer
Und jetzt könnte man polemisch sagen: Das Theater ist überhaupt nicht dazu
da, dass sich da Leute versammeln, wo dann auf der einen Seite jemand ist,
der zu denen spricht, die sich da versammeln, sondern das Theater, dieses
ganze Gebäude, ist eher sowas wie ’ne Kirche, damit ich mich hören kann. Damit ich meine Stimme hören kann. Die sitzen da auch, die Leute. Die Zuschauer
sitzen da auch. Aber die sitzen da nicht deswegen, weil da jemand steht auf
’ner Bühne und zu ihnen spricht, sondern die nehmen an was ganz anderem teil.
Eigentlich ist das Ding gebaut für mich, damit ich mich hören kann, damit ich
in den Genuss meines Sprechens komme. Und in den Genuss, dass das Sprechen irgendwas bedeutet für mich. Das andere war nie die Idee von Theater,
das ist einfach ein Irrtum. So wie in der Kirche – in der Kirche geht es nie darum, dass zu ’ner Gemeinde gesprochen wird, sondern, dass der Priester sich
hören kann.
Also die Leute sitzen da, um zu erleben, wie jemand dieses Erlebnis für sich hat,
dass das Vergnügen bei uns liegt. Und dadurch, dass es bei uns liegt, und
dadurch, dass wir uns hören können, dadurch, dass wir was machen, womit wir
was anfangen können, ist das, was an den Zuschauer geht, eigentlich nur wie
Sägespäne. Und der Rest ist einfach nur Infektion. Dass die Leute sich da treffen
und ihre Bakterien austauschen, dazu braucht man einfach Gebäude und das
geht im öffentlichen Raum nicht. Jenseits der öffentlichen Theater funktioniert
das mit den Infektionen nicht so gut und das mit dem Sich-selber-Hören.
Regisseur und Autor René Pollesch, geboren 1962 in Friedberg/Hessen, studierte Angewandte Theaterwissenschaft
in Giessen. Er wurde 1999 Hausautor am Luzerner Theater, kurz darauf am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und
war anschliessend bis 2007 künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne. Er erfand mit seiner Spielweise und seiner Art, zu schreiben, eine einmalige Ästhetik, die vielleicht am ehesten als Pop-Diskurs-Theater bezeichnet werden kann. Der Volksbühne blieb Pollesch während der Intendanz Frank Castorf eng verbunden. Zugleich
arbeitete er kontinuierlich an verschiedenen grossen Theatern im deutschsprachigen Raum und inszenierte mit den
jeweiligen Ensembles Arbeiten, bei denen er sowohl Autor als auch Regisseur ist. Am Schauspielhaus Zürich waren
von ihm unter anderem „Bühne frei für Mick Levčik!“ (2016) und „Love/No Love“ (2015) zu sehen.
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Während ich darüber nachdenke, wie ich dich in
2000 Zeichen portraitieren könnte, fallen mir zuallererst viele ganz wunderbare Rollen ein, in
denen ich dich schon gesehen habe. Ich denke an
deine Senora, in Bastian Krafts „Andorra“-Inszenierung und an deine berührende Vollzugsbeamtin in
Andres Veiels Film „Wer wenn nicht wir“. Ich denke
aber auch daran, was uns beide verbindet, und das
geht schon länger zurück, als die meisten wissen.
Das erste Mal gesehen habe ich dich vor knapp
zehn Jahren in „Der Kick“ am Schauspiel Stuttgart.
Innerhalb der ersten Augenblicke der Vorstellung
hast du mich mit deiner Strahlkraft und Präsenz
und deinem atemberaubenden Changieren zwischen Herzenswärme und Eiseskälte, zwischen
Täter und Opfer in deinen Bann gezogen.
Ein paar Jahre und ein Schauspielstudium später
begegnete ich dir persönlich, als du als Mitglied
der Prüfungskommission mitverantwortlich dafür
warst, dass ich zum Masterstudium an der ZHdK
zugelassen wurde. Damit hast du mir den Weg
dafür geebnet, dass wir uns ein knappes Jahr
später aufgrund einer kurzfristigen Umbesetzung
am Schauspielhaus erstmalig als Kolleginnen
treffen sollten. „Die Radiofamilie“ war unsere
erste gemeinsame, sehr schöne Arbeit, samt
herrlicher Gastspielreise nach München zu „Radikal
jung“. Umbesetzungen sollten sich ab dann durch
unsere gemeinsame Geschichte ziehen, denn von
fünf Stücken, die wir bislang miteinander gespielt
haben, trafen wir in dreien aufgrund von Umbesetzungen aufeinander: neben der „Radiofamilie“
auch als Schwester „MonikaMonika“ in den „Physikern“
und im „Doppelten Lottchen“, wo du binnen kür-
Foto: Lieblinge
Premiere ist am 2. Februar.
Bühne in „Madame de Sade“ in der Regie von Alvis Hermanis,
Lisa-Katrina Mayer stehen demnächst wieder gemeinsam auf der
Die beiden Ensemblespielerinnen Susanne-Marie Wrage und
zester Zeit als meine Mutter eingesprungen bist
und damit unsere Premiere gerettet hast.
Immer wieder hast du dich als wunderbare Schauspielerin, als erfahrene Theaterfrau, als herzliche
Kollegin und als Vorbild gezeigt. Wer dich auf der
Bühne sieht, spürt deine Liebe zum Theater, zur
Verwandlung, deine Fantasie, dein Strahlen, deinen Facettenreichtum, deine Klarheit und Direktheit und deinen untrüglichen Instinkt. Wie schön,
mit dir spielen, dir beim Proben zusehen, von dir
lernen und gemeinsame Lebenszeit mit dir verbringen zu dürfen!
Susanne-Marie Wrage
von Lisa-Katrina Mayer
In Szene
Theatermontag ist eine Zusammenarbeit von
Inform/
Unform
von Stefan Zweifel
„Alles wird hassenswert, wenn man
es als Pensum auffasst.“
Michel Leiris in der Zeitschrift „Documents“, Nr. 2, 1930
Doch, denkt man sich da, erfülle nicht auch ich nur noch
mein Pensum? Als Literaturkritiker von Messe zu Messe
hetzend, hinter dem neusten Roman herhechelnd, anstatt
mich dem Anderen auszusetzen, der Realität, der bildenden Kunst, der Poetik der Politik? Träumen wir nicht
alle im Moment, wo das klassische Feuilleton unter dem
Spardruck der Verleger vergilbt, damit sie sich bunte
Schlipse kaufen können, der Literaturclub am Flachbildschirm gegen kranke Bücher von kranken Autorinnen hetzt
und Zeitschriften wie das „Du“ zum Ausverkauf stehen, von
einer Erneuerung? Hat die Ankündigung einer neuen
Plattform rund um den unvergleichlichen Constantin Seibt
nicht utopische Wünsche freigesetzt, weil wir von Publikationen träumen, die uns nicht mit Infotainment abfüllen,
sondern ins Ungedachte hinausreissen?
Eine solche Zeitschrift führten Michel Leiris und Georges
Bataille 1929: „Documents“ versammelte Studien über das
Andere, das Heterogene, das aus unserem Bewusstsein
ausgeschieden wird. Georges Bataille schrieb hier nicht
nur über den verfemten Marquis de Sade und druckte zum
ersten Mal dessen Manuskriptrolle der „120 Tage von
Sodom“ ab, die sich de Sade in einem Rosenholzdildo in
den Hintern geschoben hatte, um sich zu neuen Perversionen aufzureizen, sondern auch über Münzkunde. Im
Biedersten entdeckte man den Reiz des Unbekannten: Die
Zeitschrift war Batailles Schlachtross – eben auch gegen
die auf Münzen geprägten akademischen Darstellungen
des Pferdes, während die Münzen der barbarischen Gallier
das Pferd als das eigentlich monströse Wesen darstellten,
das letztlich nicht zu bezähmen ist, irrheidnisch verzerrt
zur Figur des „Pferde-Affen“. Der Mensch, der seine Triebe
genauso gezähmt hatte wie die wilde Urkraft des Pferdes,
wird nun aus dem Sattel geworfen und landet im Dreck, im
Sumpf der niederen Materie. Die akademische Form löst
sich im Unförmigen auf, der platonische Dialog im Wiehern
des Pferdes, im Schrei des Menschen, der verzweifelt
versucht, in der dionysischen Ekstase sein Ich hinter sich
zu lassen.
Wieder und wieder versuchte man, Bataille zurückzubinden
und doch entzog er sich dem Diktat der Herausgeber und
Mäzene der Zeitschrift, bis sie eingestellt werden musste.
26
Am Ende des Zweiten Weltkrieges lancierte Albert Skira
„Labyrinthe“. Dies nun war nicht eine Hochglanzzeitschrift
für Kunstgeniesser, sondern eine ganz normale Zeitung.
Jeden Monat wurden Leute mit Mützen, auf denen das Wort
„Labyrinthe“ gedruckt war, in die Strassen von Genf geschickt, nach Paris auch, um die Schrecken der Konzentrationslager anzuprangern und die Philosophie des Existenzialismus von Sartre und Simone de Beauvoir populär zu
machen – wer würde heute eine solche Zeitung finanzieren,
die im Stadtbild auftaucht und nicht nur beim Klick durchs
Virtuelle, wo sich letztlich doch nur Gleichgesinnte treffen?
Dieses Abenteuer währte zwei Jahre und führte in dialektischer Umkehr dazu, dass auch Künstler ermuntert wurden,
sich in literarischen Texten an die Leser zu wenden. Gipfelpunkt waren die Aufsätze von Alberto Giacometti zur
Grausamkeit in den Werken von Callot und Laurens, vor
allem aber zu seinen eigenen Erfahrungen im Schlüsseltext
„Le Rêve, le Sphinx et la mort de T“. Darin schildert er
seinen Schrecken, als er in einem Traum von einer gelblich
eiternden Spinne bedroht war, während er nach einem
Besuch am letzten Abend seines geliebten Bordells
„Le Sphinx“ in Paris eine Geschlechtskrankheit konstatierte, die er in der Apotheke mit dem Schild „Au rêve“
behandeln wollte. Diese kuriose Geschichte ist bis heute
auf unserer Hunderternote verewigt, wie ich in meiner
letzten Kolumne dargelegt habe.
Leider führten neue Kunstzeitschriften in Paris, von Galerien
lanciert, dazu, dass diese monatliche Zeitung eingestellt
wurde. Das Parkett des Kunsthandels wurde glattpoliert.
Jede Publikation erfüllt ihr Pensum für eine kleine Zielgruppe,
die sich in ihrem Wissen einigelt, statt sich dem Unbekannten
zu öffnen, schutzlos, stotternd und stammelnd.
Man kann heute nur noch davon träumen, dass Künstler
monatlich ihre eigenen Erfahrungen in literarische Texte
verwandeln – wie damals Giacometti – und Autoren die
Werke der Künstler umschreiben wie etwa Bataille das
Werk von Henri Michaux oder André Masson – oder die
Münzkunde neu prägen, ins Wertlose ummünzen. Und so
träumt man heute wohl vergeblich von einer Zeitung, die
monatlich auf den Strassen von Zürich und Genf durch Verkäufer angepriesen und ausgerufen wird, wie damals die
Zeitung „Labyrinthe“. Denn es würde uns alle, Autoren,
Kritiker und Kolumnisten, aus dem Pensum ins Labyrinth
ungekannter Leidenschaften locken. In einen Dialog, wo
das Du und das Ich nicht mehr an die solitären Denksysteme von Parteien und Pensen verkauft werden,
sondern im Wir des Poetischen entgrenzt würden.
Stefan Zweifel lädt in seiner Reihe „Zweifels Zwiegespräche“ Menschen
aus Literatur, Philosophie, Musik und Kunst zum Gespräch. Nach Milo
Rau und Dieter Meier werden 2017 unter anderem Clemens J. Setz,
­Robert Menasse und Werner Düggelin bei ihm zu Gast sein.
Besuchen Sie
alle Bühnen des
Schauspielhauses
zum halben Preis.
www.schauspielhaus.ch
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Von Echokammern und Meinungsmache
Miriam Meckel, Constantin Seibt, Elisabeth Bronfen und Dirk Baecker (v. l.)
Foto: Robert Aebli
In Formation: ein Stückausschnitt
„Aagno d Demokratie wär drann intressiert, dass sech müglechscht viu Lüt müglechscht guet informiere.
Aagno d Demokratie würd meine, für sech ar Demokratie chönne z beteilige, müess öper guet informiert sy.
Aagno für sech ar Demokratie chönne z beteilige, müesst niemer guet informiert sy, e Meinig würd länge.
Aagno fürne Meinig, bruchti’s keni Informatione.
Aagno für ne Meinig würd’s länge, e Meinig z ha.
Aagno es wär hüt kes Problem sech z informiere.
Aagno es gäb hüt z viu Informatione, für sech drinn chönne z rächtzfinge.
Aagno für sech chönne z rächtzfingen i den Informatione, würd me sech uf öper vrla.
Aagno me würd sech uf Lüt vrla, wo me kennt.
U aagno uf Lüt, wo me nid kennt, würd me sech nid vrlah.
U aagno itz würd öper, wo me nid kennt, öpis angers sägen aus öper, wo me kennt.
U aagno öper, wo me kennt, würd angers informiere, aus öper, wo me nid kennt.
U aagno öper, wo me nid kennt, würd itz erwarte, dass me synen Informatione gloubt.
U aagno öper, wo me nid kennt, würd vrlange, dass me synen Informatione meh gloubt aus dene
vo öperem, wo me kennt.
U aagno öper, wo me nid kennt, würd vrlange, dass me synen Informatione meh gloubt aus dene
vo öperem, wo me kennt, nume wüu me drfür zaut.
Aber werum sött men öperem, wo me nid kennt, gloube, nume wüu men drfür zaut?
U werum sött me für das, wo dä seit u wo öpis angers isch aus das, wo angeri säge, wo me kennt,
o no wöue zale?“
Guy Krneta
© SRF Kultur / Lukas Maeder
Spoken-Word-Autor Guy Krneta und Regisseur Sebastian Nübling recherchieren für
ihr Theaterprojekt „In Formation“, wie sich die Schweizer Medienlandschaft im Zuge der
Digitalisierung verändert – sowohl politisch als auch ökonomisch. Vor Probenbeginn luden
sie vier ExpertInnen ein: Die Medienwissenschaftlerin und Chefredakteurin der Wirtschaftswoche Miriam Meckel, der Zürcher Journalist Constantin Seibt, die Kulturwissenschaftlerin und Anglizistin Elisabeth Bronfen und der Soziologe Dirk Baecker diskutierten
zum Thema. Höhepunkte des Gesprächs sind ebenso Teil der Inszenierung wie eine Diskussion mit wechselnden JournalistInnen. Vier Statements.
Constantin Seibt über Meinungen
Meinungen sind ja im Moment sehr en vogue. Meinungen
sind auch die billigste Ware, weil sie einem wachsen wie
Haare. Man hat eine Meinung zu China oder zur HomoEhe oder zur Kindererziehung, selbst wenn man davon
keine Ahnung hat. Es gab ja schon immer das Paradox,
dass die angesehenste Artikelsorte – der Leitartikel – und
die, die am meisten verachtet wurde, – der Leserbrief –
eigentlich aus dem gleichen Stoff bestehen. Und das
Einzige, was sie unterscheidet, ist, dass „etwas-zusagen-haben“ ja im Wortsinne sowohl vom Inhalt wie
auch von der Macht kommt und dass die Machtposition
eigentlich das Interessante an der Meinung ist.
Es gibt zwei Sorten von Meinungen: die eine ist die überlegte, die andere ist die Meinung, die man einfach so
äussert und gar nicht weiss, dass man sie irgendwo auf-
geschnappt und angelesen hat. In dem Moment ist die
Meinung das Geschmacksurteil. In meiner Jugend habe
ich mich in eine Punkerin verliebt. Diese Punkerin hat
behauptet, sie sei Kommunistin. Als ich dann auch mit
einem roten Buch erschienen bin, hat mich der Rektor
sofort vorgeladen. Schon hatte ich meine politische
Richtung weg. Und Jahre später konnte ich halbwegs
begründen, warum: Beim Geschmacksurteil baut man
ästhetische Pakete, zu denen man gehört. Es könnte vielleicht ein tiefes Bedürfnis sein, sich wieder zu Stämmen
oder zu Gruppen zusammenzuschliessen, sozusagen
durch die Lagerbildung Wärme zu schaffen. Das könnte
auch noch eine Funktion der Geschmacksurteilsmeinung
sein: Du findest dich unter Gleichgesinnten und es fühlt
sich irgendwie warm und „cosy“ und nach Zuhause an.
29
Dirk Baecker über die „Lügenpresse“
Ich bin dafür, dass wir folgende beiden Themen trennen
und einerseits über Medienkonsum, Medienqualität und
argumentative Standards reden – wo sehen wir diese?
Wann sehen wir sie erfüllt? – und dann andererseits die
aktuelle politische Situation in den Blick nehmen und
fragen: Woher kommt dieser Vorwurf der Lügenpresse?
Mit Blick auf die Medienqualität muss man ja alarmieren
und entwarnen zugleich. Alarmieren, weil der Stil der
Auseinandersetzung so gehässig ist, wie man es früher
allenfalls vom Stammtisch gewohnt war. Und entwarnen,
weil es gleichzeitig nach wie vor in überregionalen Zeitungen, grösseren Rundfunkredaktionen und anspruchsvolleren Fernsehredaktionen eine ausserordentlich differenzierte, gut recherchierte und argumentativ lebendige
Qualität der Beiträge gibt. Die andere Frage ist spannender: Woher kommt der Vorwurf der Lügenpresse? Er
kommt meines Erachtens daher, dass die differenzierende
Argumentation als bedrohlich erlebt wird. Man sieht die
für sicher gehaltenen Gewohnheiten des eigenen Lebens,
der eigenen Arbeit, der Erziehung der eigenen Kinder und
so weiter und sucht nach einer Orientierung, nicht nach
noch mehr Problemen. Man hält die Unsicherheiten der
Weltlage nicht aus und sucht händeringend nach Instanzen, wenn es sein muss auch Autoritäten, welche die
eigenen Geschmacksurteile bestätigen. Und man findet
sie nicht oder nur in der eigenen Blase. Spätestens seit
den 1960er Jahren gibt es gegenüber den Massenmedien
einen generellen Manipulationsverdacht. Auch die gute
Zeitung muss alles dafür tun, dass ihre Auflage gesichert
ist. Was wir heute erleben, geht darüber hinaus. Heute
gilt schon die differenzierende Argumentation als verdächtig. Man erlebt es als Zumutung, dass jemand nicht
urteilt. Denn so gerne würde man die Reihen schliessen
und die Leute nach ihren Meinungen unterscheiden. Dann
wüsste man, wer dazugehört und wer nicht. Und könnte
sich in der trügerischen Sicherheit wähnen, gemeinsam
etwas gegen die unklare Weltlage zu unternehmen.
Miriam Meckel über Echokammern
Wie beweisbar ist es, dass es so etwas wie das Phänomen einer Echokammer gibt, in der Menschen in der
Komplexität der vorhandenen Informationen dazu neigen,
sich lieber mit dem auseinanderzusetzen, was ihre eigene
Position bestätigt? Es gibt eine Menge an Hinweisen,
dass das so ist. Es gibt eine amerikanische Studie von
acht Forschern, die über vierzig Millionen FacebookAccounts betrachtet haben und versucht haben, mit Gegenthesen zu den vordringlichen Positionen, die dort in
diesen personalisierten Streams vorhanden waren, Überzeugungsarbeit zu leisten. Es zeigte sich, dass eigentlich
kein Gegenargument gelten gelassen wurde, sondern
dass die Antwort auf das konfrontative Argument sofort
war: Verschwörungstheorie. Also das, was nicht zur eigenen Meinung passt, gehört in den Bereich Verschwörungstheorie. Ich glaube, dass viele Menschen nicht
wissen, wie das funktioniert und dass das natürlich eine
Auswirkung hat auf die Art und Weise, wie man Informationen aufnimmt. Vor allen Dingen, wenn man nicht mehr
bereit ist, sich einer konfrontativen Meinung auszusetzen
30
und zu sagen: „Ich nutze die, um mich daran zu reiben“,
sondern einfach nur sagt: „Alles, was nicht meine
Position ist, ist Verschwörungstheorie.“
Elisabeth Bronfen über Gespräche
Für den amerikanischen Philosophen Stanley Cavell ist
das Miteinander-Sprechen das Gegenstück zur Echokammer und zum Narzisstischen; seine Formel dafür ist
der Begriff der „separateness“. Also zu erkennen, dass
ich nicht das Gleiche bin wie du, dass wir zwei unterschiedliche Positionen sind. Ich kann mir nie sicher sein,
dass wenn ich das Wort Schmerz sage, der andere das
Wort Schmerz so verstehen wird, wie ich es meine. Dass
wir trotzdem miteinander reden und zwar nicht nur
obwohl, sondern gerade weil ich weiss, der andere ist
anders, ist der wichtige Punkt. Das ist die Herausforderung: über diese grundsätzliche Differenz hinweg tatsächlich miteinander zu sprechen. Das ist auch die Arbeit,
die geleistet werden muss. Und da komme ich auf den
Begriff des Zuhörens: Das ist eine Mischung von Zuhören,
aufeinander Eingehen, Versuchen zu verstehen, Abtasten,
ob ich da jetzt verstanden worden bin. Der grundsätzliche
Punkt ist der: ein Gespräch miteinander führen können
nur Leute, die auf irgendeiner Ebene gemeinsame Kriterien haben. Man kann das jetzt konservativ deuten und
sagen, sie müssten aus einem ähnlichen gesellschaftlichen oder kulturellen Kreis kommen. Man kann es aber
auch ein bisschen grosszügiger sehen, dass man nämlich
die Kriterien miteinander erarbeitet, bis man an einen gemeinsamen Punkt kommt. Meine Gegenhaltung zur Verschwörung ist Vertrauen. Und Vertrauen, das hat mit
„audacity of hope“ (etwa: Mut zur Hoffnung; nach dem
Titel eines Buches von Barack Obama) zu tun: Ich vertraue jetzt einfach mal darauf, dass wir, wenn wir uns
lange genug austauschen, irgendwann an einen Punkt
kommen, an dem wir beide sagen können: „Ok, ich
glaube, jetzt haben wir tatsächlich etwas verstanden.“
In Formation
von Guy Krneta / Regie Sebastian Nübling
Uraufführung
Mit Klaus Brömmelmeier, Laurin Buser,
Rahel Hubacher, Henrike Johanna Jörissen,
Nicolas Rosat
Premiere 17. Dezember, Schiffbau/Box
Publikumsgespräche
4.1. Philipp Cueni, Chefredaktor Medienmagazin EDITO
8.1. Barbara Villiger Heilig, Journalistin
9.1. Dirk Baecker, Soziologe
11.1. Ariane Tanner, Historikerin und Texterin
12.1.Susan Boos, Redaktionsleiterin WOZ
14.1.Pietro Supino, Verleger und Verwaltungsratspräsident
von Tamedia
16.1.Hansi Voigt, Online-Medienpionier
18.1.Kaspar Surber, stv. Redaktionsleiter WOZ
Unterstützt von der Gesellschaft der Freunde
des Schauspielhauses
Auf Teufel
komm raus
1 Was ist Felix’ besonderes Talent?
2 Welchen Beruf haben die Stiefeltern von Felix, die ihn als Kleinkind aufge nommen haben?
3 Jeanne-Charlotte wächst am könig lichen Hof auf. Na klar, denn sie ist die …
4 Welchen Spitznamen hat sie? (mit Bindestrich)
5 Die Frau des Königs ist nicht Jeanne Charlottes Mutter, sie ist ihre …
6 Der König wettet, dass er schlimmer
sei als der …
7 Wenn Felix das einmal wäre, dann würde er dafür sorgen, dass es allen Menschen gut geht. Er wäre ein gütiger …
8 Der König schickt Felix mit einem …
mit königlichem Siegel zum Hofe.
9 Um dem Teufel seine drei goldenen Haare zu rauben, gehen die Prinzessin und Felix in die …
10Unterwegs sehen sie, welche Schwierig-
keiten es im Land gibt. Am Baum wachsen schwarze Äpfel und aus dem ... kommt kein Tropfen Wasser mehr.
11Hinüber auf die Insel der Hölle bringt sie der alte … auf seinem Boot.
12In der Hölle sind der Teufel und seine Frau, aber auch die … des Teufels.
13Felix hat ein grosses Talent und Selbst vertrauen. Für seinen Auftrag, zum Teufel zu gehen, braucht er ausserdem …
1
10
7
8
6
5
9
4
Lösungswort:
Felix wird als kleiner Junge gerettet. Die
Müllerin und der Müller finden ihn in einem …
Die Umlaute Ä, Ö und Ü werden ausgeschrieben: AE, OE und UE.
1
Der Teufel mit den drei goldenen Haaren
nach einem Märchen der Brüder Grimm mit Live-Musik von Schtärneföifi,
in einer Bearbeitung von Meret Matter und Stefanie Grob
Regie Meret Matter
Mit Sibylle Aeberli, Christian Baumbach, Ludwig Boettger,
Adrian Fiechter, Thomas Haldimann, Boni Koller, Julia Kreusch,
Elisa Plüss, Julian Anatol Schneider u. a.
Unterstützt von Credit Suisse
Theater im Gespräch zu „In Formation“ und
„Die Verwandlung“, 10. Januar, 19:00­–20:30
Treffpunkt Schiffbau/Foyer
3
Theater im Gespräch zu „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“
und „Der Josa mit der Zauberfiedel“
4. Februar, 16:00­–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
2
2
3
4
5
6
7
8
9 10
Das Lösungswort schickt ihr per Mail an:
[email protected]
oder per Post an:
Schauspielhaus Zürich, Marketing, Stichwort „Verlosung“,
Zeltweg 5, 8032 Zürich
Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 3x3 Tickets
für die Vorstellung am 29. Januar, 11:00.
Einsendeschluss ist der 15. Januar 2017.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
31
Ich bin der Zu schauerraum
Ein Theaterbesuch besteht nicht nur aus
der Vorstellung selbst, sondern immer
auch aus den Gesprächen davor und danach, den Gedanken auf dem Heimweg
und bestenfalls in den folgenden Tagen.
Wer gerne versucht, diese ausschweifenden Gedanken, die häufig neue und eigene
Assoziationen, Kriterien und Erzählansätze
hervorbringen, in Worte zu fassen, der ist
richtig beim Kritikerclub. Hier werden gemeinsam Inszenierungen besucht und Kritiken verfasst.
Sämtliche kursiven Stellen im Text sind in Kritikerclubs der letzten Spielzeiten entstanden, in
Gesprächen oder in Kritiken.
Guten Abend.
Ich bin der Zuschauerraum.
Sie sind hier, weil Sie Geschichten erleben möchten. Ich kenne die
Geschichten dort auf der Bühne. Am Ende des Abends kennen
Sie diese Geschichten ebenfalls. Aber ich erlebe noch etwas
anderes. Ich erlebe Sie. Eine unterschwellige Gefahr erfüllt
den Raum.
Ihre Gedanken. Ihre Gespräche. Ein Mosaik aus Eindrücken.
Ich bin der Zuschauerraum. Es steckt schon im Wort, ich bin
der Raum für die Zuschauer. Darum gebe ich Ihnen Raum für
Ihre Gedanken … Es gilt die Lücken zu füllen in diesem Spinnengeflecht … Die Gedanken sind es wert, finde ich. Aber was ist das, das
Publikum? Das Publikum ist dazu verdammt, Publikum zu
sein. Abend für Abend fliesst es in mich hinein, verharrt
einen Moment – und verlässt mich wieder.
Ein vielköpfiges groteskes Knäuel, dessen Einmarsch den
Reigen komplettiert. Ein gemeinsames Gruseln
— Alle im Chor singen und lächeln zähnefletschend … Die Vorstellung beginnt … Sie werden still. Eine gähnend ungewisse Schwärze … wie ein schwarzes Loch … Was ist das, der Zuschauer? – frage ich mich immer
wieder. Der alte Herr, der den Ausgang aus dieser irren Welt
sucht. Vielleicht. Er kommt aus unserer Mitte und drängt sich an
den Rand, in den Schatten. Schon eher.
Gottähnlich ist er manchmal grell erleuchtet. Was erhofft sich das Publikum? Dass man selbst von einem strengen Urteil verschont wird. Es ist
doch erstaunlich, so viele Menschen auf so engem Raum … — Nähe oder
Intimität stellt sich nicht ein.
— Jeder erkennt den Anderen als seinen
Verwandten. Sie sitzen da, still und versunken. Dort oben die Schauspieler, denen
sie zuschauen … die verlorenen Figuren, die man zu sehen bekam.
— Faszinieren lassen wir uns.
— Das weckt Begierden!
— Erst durch den
Blick der Anderen existieren wir.
— … eine gegenseitige Gefangennahme …
— … meine
Blicke kontrollieren sie. Ich bin der Zuschauerraum und höre ihren Gedanken zu. Es wimmelt von
Doppelgängern und Parallelen. Sie sind einen Abend lang hier, weil sie ein Ticket erworben haben … im weltentrückten Wartesaal … und am nächsten Abend sitzt eine andere Person am selben Platz und
denkt Ähnliches. Oder ganz anderes.
— Die Szenerie ist bunt geworden.
— Man könnte das
glatt missverstehen.
— Jeder schmiedet auf seine Weise bestialische Pläne. Kommen Sie mit … Es
gibt kein Ausweichen in heimliche Ecken … dort an der Garderobe … Im Kreis geht das zähnefletschende
Lachen. Die Vorstellung ist vorbei. Ein Mann bezirzt eine Frau im violetten Kleid. Hören Sie zu:
— Ausschweifend und pompös. Doch auch beengend.
— Schlicht und opulent zugleich.
— Ein
Hauch von barockem Big Brother!
— Du darfst darüber lachen.
— Bedrängt von seinen
vielen Abbildern … — Was will das Stück?
— Ohne Bier geht das hier nicht.
— Ein Zitat
auf das Theater selbst?
— … die eigentliche Aussage … ?
Ich mag es, wenn die Zuschauer noch ein bisschen bleiben, miteinander reden, diskutieren … nachspielend, in
Erinnerungen schwelgend.
— … eine Assemblage aus gestärktem Pastell.
— Das Wesentliche erzählt die Körpersprache.
— Er holt die Waffe raus wie
eine Zahnbürste.
— Zerfasernder, verwobener Erzählstrang …
Ich sammle diese Gedanken. Ich teile sie gerne. Es sind Ihre eigenen Gedanken. Nehmen Sie sie ruhig. Man war dabei und kann es dennoch
nicht bezeugen: Ich bin ich.
Ich bezeuge es Ihnen. Ich höre noch
Ihre letzten Gedanken beim Schliessen der Eingangstüre:
— Es entlässt mich unsicher in die kalte Nacht … — Ich tappe nach Hause, zerbreche mir den Kopf … — Wenn man nur selbst genug Zeit hätte … Ich bin der Zuschauerraum, ich kann nicht weg.
So viel Stille … Die Spielfläche ist plötzlich ungemein gross
und gespenstisch leer. Des Nachts bin ich alleine und
denke vor mich hin. An wen richtet sich die Kritik? Ich
wünschte, es gäbe einen Ort, wo ich Ihre Geschichten und
Eindrücke teilen könnte.
Bevor man es merkt, steht man auf der Bühne.
Ich möchte gerne mit Ihnen lachen, möchte erzählen, was
Sie selbst gedacht haben … Die Verdopplung fächert sich in
eine Vermehrung auf.
Man würde reden darüber. Man würde miteinander teilen,
man würde sich mitteilen. Man teilt sich schliesslich gerne
mit, hier auf dieser Bühne erzählt man gerne. In die Dunkelheit da unten, in die Scheinwerfer hinein. Bis herauskommt,
dass eine Person zu wenig ist.
Diese Person, das sind Sie.
Man fühlt sich allenthalben herausgefordert. Mit solchen Überlegungen wurde das Publikum alleingelassen. So sieht vielleicht der
Zuschauer auch einfach zu. Alles, was der Inszenierung bleibt, ist,
den Zuschauer in das Geschehen miteinzubeziehen … Gute Nacht.
Albrecht Lehmann, der Autor dieses Textes, ist Dramaturg und Leiter des Kritikerclubs.
Kritikerklub
Start des Kritikerclubs ist am 14. Januar, ein zweiter Club startet Anfang April.
Weitere Informationen unter kritikerclub.wordpress.com. Anmeldung bis 10. Januar unter [email protected]
„Mein
Lieblingswort
ist ABER
“
von Gwendolyne Melchinger
Zu Markus Werner
und seinem Roman „Zündels Abgang“
Etwas ist am Anfang immer schon da. Eine
Figur zum Beispiel oder ein Name. So ein
Name, aus dem dann eine Figur wird, die
eine Geschichte haben wird. Fest steht von
Anfang an das Ende. Das ist wichtig, sonst
könne er, Markus Werner, nicht „anfangen“
zu schreiben. Das Wissen um das Ende beruhigt, wenigstens ein wenig. Heisst es doch
auch, dass es schon eine Richtung, ein Ziel
hat, dass es einen Punkt gibt.
Das Schreiben ging dem Schweizer Autor,
der im vergangenen Sommer verstorben ist,
nicht leicht von der Hand. „Harzig, unendlich
langsam und schubweise“ nannte er diesen
Vorgang, das „Schrift-Stellen“. Eigentlich
kaum zu glauben, wenn man sein Debüt
„Zündels Abgang“ liest, in dem die Sprache
so mühelos leichtfüssig daherkommt und
sich spielerisch und wie von selbst zu einem
poetischen Sprachkunstwerk verdichtet.
Wenn auch der Schreibprozess für ihn kein
leichter war, so hat Markus Werner doch
sieben beeindruckende und sehr unterschiedliche Romane zu Papier gebracht.
Ganz anders als mit dem Schreiben verhielt
es sich mit den Themen. Die kamen einfach,
waren plötzlich da, beschäftigten einen und
hielten einen auf Trab. „Scheitern im Allgemeinen und das Scheitern in der Liebe“ sind
Grundthemen, sagte er, die in allen seinen
Büchern vorkommen. Auf die Frage, ob die
Lakonik und Verknappung seiner Sprache
etwas typisch Schweizerisches sei, meinte
er einmal: „Eine gewisse Trockenheit ist
eventuell schon helvetisch. Möglicherweise
34
ist es aber auch mein Individualstil, dass ich
zum ausladend Epischen unfähig bin, dass
die Verknappung mein Stilprinzip ist.“
Konrad Zündel, der Antiheld in „Zündels
Abgang“, steckt in einer Beziehungskrise
und beginnt eines Tages zu schreiben. Er
beobachtet die Welt, wie sie sich ihm zeigt
und er schreibt auf, was er sieht. Er beschreibt nicht, sondern er „er-schreibt“
sich die Welt. Mal ist er empört, mal
verzagt, dann wieder beglückt und fast
übermütig in seiner Sicht auf die Welt.
Sein Vater, als der ewig Abwesende, ist
omnipräsent. An ihn richtet Zündel seine
Geschichte, seine Aufzeichnungen, die er
als präziser Beobachter notiert. Er setzt
sich zur Welt in Beziehung, einer Welt, die
ihm durch seine Beobachtungen nicht
näher-, sondern immer weiter fortrückt,
fremder und seltsamer wird. Sein barockes
Lebensgefühl, in der unmittelbaren Nähe
von Vitalität und Todesbereitschaft, zieht
sich durch die ganze Geschichte, nur ohne
jegliches religiöses Fundament. In seiner
Diagnose über die Welt kann er sich als ihr
Bewohner nicht mehr wiederfinden. Also
zieht er es vor, zu gehen.
In den verwinkelten Gassen von Genua trifft
er auf Matrosen, Gangster und leichte
Frauen, dort lockt die Unterwelt mit ihren
eigenen Gesetzen und er lässt sich treiben,
verführen und betrügen. Bis er, wieder
nüchtern, allein in billigen Hotelzimmern
konstatiert: „Die Welt hat mich zum errati-
Markus Werner
Foto: Selwyn Hoffmann
schen Block gemacht, sie soll sich die
Zähne an mir ausbeissen. An mir zerschellen Zukunft, Weiber und Osterglocken
und alles, was mich sonst noch so verlogen
umgurrt und umbimmelt.“
Die Komik und der Aberwitz der eigenen
Existenz und der Situationen, in die man
gerät, ist für Markus Werner ein „unbewusstes Gegengift, das hineinsickert, die
mehr bejahende Seite, die sich meldet, das
Befreiende.“ Sie schaffen reichlich Platz für
Sentenzen und Aphorismen – richtige Merksätze und Lebensweisheiten, die versuchen, etwas festzuhalten und als Tatsache hinzustellen, zu behaupten. „Wer
Schlechtes nicht mit Wucht verwirft, weiss
nicht, was Liebe ist.“
Zündel ist leichtgläubig, naiv und besonders
empfänglich für bestimmte Gefahren, denen
er allerdings immer wieder entkommt. Aber
das Scheitern „ewiger Liebe“ führt ihn auf
eine Reise, von der er nicht mehr zurückkehren wird. „Die Liebe als etwas Utopisches, Insulares und in höchstem Grad
Gefährdetes“ bekommt Zündel am eigenen
Leib zu spüren. Er hatte sich entschieden,
wegzufahren, um der Liebe zu seiner Partnerin Magda vielleicht danach eine neue
Chance zu geben. Doch dieser Plan muss
scheitern, weil Zündel, auf sich selbst zurückgeworfen, nur tiefer in die Liebeskrise
gerät und schliesslich sein altes Leben,
seine Beziehung zu Magda, ganz hinter sich
lässt und sich selbst verliert.
Zündel ist einem Leben ausgesetzt, das
seine Selbstverständlichkeit verloren hat.
Und er hat darin keine Rolle mehr. Halt
findet er in der Entdeckung des Alltäglichen. Das sind für Markus Werner auch
Qualitäten des Schreibens. „Die Literatur“,
so Werner, „soll sich ans Banale halten. Es
ist das Typische. Dass am Ende der Tod
steht, dass nur ein Kadaver übrigbleibt, das
kann ich nicht als negative Sicht empfinden. Wenn am Schluss der Kadaver ist,
ist doch das Bedürfnis, es schön zu haben,
solange man noch zappelt, besonders
stark. Diese Hinfälligkeit ist einfach die
Realität, nichts Zynisches. Sie schliesst
Schönheit mit ein.“
Keiner weiss am Ende, wie es eigentlich
zum Verschwinden von Zündel kam. Am
allerwenigsten er selbst. Auf einmal war er
weg und was bleibt, sind die anderen.
Magda, seine Frau, und Viktor, sein Freund.
Sie sind die Chronisten und Zeugen von
Zündels Leben, das ein Rätsel und widersprüchlich bleibt und sich ihren – und unseren – Erklärungen widersetzt.
Die Zitate sind aus dem Buch „Allein das
Zögern ist human“ von Martin Ebel (Hrsg.).
Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2006.
Zündels Abgang
nach dem Roman von Markus Werner / Regie Zino Wey
Mit Fritz Fenne, Julia Kreusch, Julian Lehr,
Edmund Telgenkämper
Premiere 25. Februar, Pfauen/Kammer
35
Von woher kamen Sie zu der Vorstellung ins Schauspielhaus?
Ich war kurz zuvor noch in der Küche
und habe meiner Tochter das
Abendessen in die Pfanne gehauen.
Dann bin ich durch die Dunkelheit
zum Pfauen geeilt. Davor standen
noch die Raucher und kühlten sich
mit Bärfuss an der Luft.
Was hatten Sie an?
Das, worauf ich gerade Lust hatte.
Kannten Sie das Stück vorher?
Da es sich bei „Frau Schmitz“ um
eine Uraufführung handelt, lag der
Text meines Wissens vor dem Premierenabend noch nicht offiziell vor.
Ich kannte ihn also nicht und finde
das besonders interessant. Denn so
stellt sich stets die Frage: was ist
Text und was ist Inszenierung?
Foto: Anni Katrin Elmer
Ins Theater mit
In welcher Stimmung waren Sie in
dem Moment, als im Zuschauerraum
das Licht ausging?
Neugierig und erwartungsvoll: Seitdem
ich „Die sexuellen Neurosen unserer
Eltern“ von Lukas Bärfuss verfilmt
habe, weiss ich um die schillernde
Hintersinnigkeit seiner Geschichten.
Auch hier übrigens rückt er eine
Frau beziehungsweise einen Mann
mit einem Stigma ins Zentrum: Statt
Dora heisst sie jetzt Frau Schmitz.
Während wir sehr wenig über ihr
Innenleben erfahren (sie ist ja fast
stumm), erzählen die Figuren,
welche sie umkreisen und sich an
ihr abarbeiten, von sich und der Gesellschaft, in der sie leben.
Haben Sie während der Vorstellung
gelacht und wenn ja, worüber?
Ehefrau Leni, gespielt von SusanneMarie Wrage, pflegt und überwacht
liebevoll Frau Schmitz’ seidene Unterhemdchen. Die grossen Fragen der
Geschlechteridentität prallen hier
mit den kleinen des Alltags zusammen. Das finde ich komisch.
Auch als Lambert Hamel seinen burlesken Auftritt als postoperative Frau
Schmitz hatte, musste ich an Tony
Curtis in „Some Like It Hot“ denken
und laut lachen.
Hat Sie etwas an der Vorstellung
berührt?
Die Familienkonstellation hat mich
berührt: Ein Mann – Frau Schmitz –
heiratet eine Frau, zeugt eine
Tochter und entscheidet sich, selbst
Frau zu werden. Aber statt dass uns
jetzt die Familie um die Ohren fliegt,
richten sich die ProtagonistInnen
weiter gemütlich im Kokon der Kleinfamilie ein. Selbst als Frau Schmitz
von Narbe, Schönheits-OP und Alter
entstellt ist, halten Ehefrau und
Tochter unbeirrt an ihrer Liebe zu ihr
fest. Ja, sie bestehen darauf, nichts
Ungewöhnliches darin zu sehen. Dahinter steckt womöglich eine starke
Botschaft: Dass uns in dieser wechselhaften Welt nur die Liebe daran
erinnert, wer wir sind und wer wir
einmal waren. Obwohl wir also eine
enge Welt vorgelegt bekommen, vermittelt diese uns eine utopische
Kraft.
Haben Sie sich nach der Vorstellung
über das Stück unterhalten? Oder
haben Sie auf dem Heimweg noch
darüber nachgedacht?
Frau Schmitz reist ja nach Pakistan:
Ist Karachi ein dramaturgischer
Kniff? Oder eine eurozentristische
Chiffre? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?
Welche Frage würden Sie dem
Regieteam dieser Aufführung gerne
stellen?
Warum wurde für die Komödie eine
so strenge Form gewählt?
Frau Schmitz
von Lukas Bärfuss / Regie Barbara Frey
Uraufführung
Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad,
Lambert Hamel, Henrike Johanna Jörissen,
Dominik Maringer, Lisa-Katrina Mayer,
Markus Scheumann, Friederike Wagner,
Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy
28./31. Dezember / 3./10./19./28. Januar, Pfauen
Unterstützt von der Stiftung Corymbo
Mehr als Uni zu „Frau Schmitz“
10. Januar, 17:00
Foto: Matthias Horn
Stina Werenfels
Die Schweizer Filmeregisseurin Stina Werenfels hat mit „Dora oder die sexuellen
Neurosen unserer Eltern“ das (fast) gleichnamige Stück von Lukas Bärfuss auf die
Leinwand gebracht. Dora, ein Mädchen mit Behinderung, entdeckt ihre Sexualität und
kämpft um Selbstbestimmung. Die Verfilmung wurde, wie bereits ihr vorheriger Film
„Nachbeben“, an der Berlinale uraufgeführt und in mehreren Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert. Am 22. Oktober besuchte Stina Werenfels die Uraufführung
von Lukas Bärfuss’ Stück „Frau Schmitz“ in der Inszenierung von Barbara Frey.
36
37
9:00
Es ist ungewohnt leer und ruhig im Büro. Freddy nutzt
die Ruhe vor dem Sturm am Morgen, um die Abrechnung der Abendkasse des Vortages zu machen. Er
zählt das Bargeld und rechnet dieses mit den Kartenabrechnungen zusammen. „Homo faber“ war gestern
wieder ausverkauft.
10:25
Ins Büro der Theaterkasse kommt Bewegung, die Kassenmitarbeiterinnen finden sich für die Tagesplanung
im Büro ein. Zehn Kolleginnen teilen sich insgesamt
6.15 Vollzeitstellen. Heute sind sie zu fünft. Das Team
berichtet Freddy von einem turbulenten Abend mit
einem ausverkauften Pfauen und einer zusätzlichen
Veranstaltung im Rahmen von „Kultur Campus“. Diese
Woche ist das Programm ganz den Studierenden gewidmet mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen
und Workshops zum Thema Theater und Politik.
10:45
Es wird im Team besprochen, was für den heutigen
Tag ansteht. Es bedarf einer genauen Koordination,
um die 600 Vorstellungen pro Jahr auf fünf Bühnen an
den zwei Standorten Pfauen und Schiffbau reibungslos
in den Verkauf zu bringen.
11:00
Schicht mit
Freddy Andrés
Rodríguez
von Sandra Suter
Fotos: Robert Aebli
Für die Zuschauer werden bei einem Theaterbesuch vor allem zwei
Abteilungen des Theaters sichtbar. Die SchauspielerInnen auf der
Bühne und die Mitarbeiter an der Theaterkasse beim Kauf des
Tickets. Doch was passiert eigentlich in den Räumen hinter dieser
Theke alles, damit der Verkauf reibungslos läuft? Um dies herauszufinden, habe ich Freddy Rodríguez, den Leiter der Theaterkasse einen
Tag lang begleitet.
38
Kassenöffnung. Punkt 11 Uhr klingeln alle Telefone
gleichzeitig und während die Anrufe fleissig beantwortet
werden, kommt auch bereits der erste Kunde, ein
älterer Herr, an den Schalter zu Christa Müller. Er ist
Premierenabonnent und holt sich seine Karten ab. Die
nächste Kundin steht am Schalter: „Grüezi Frau
Schweizer“. Frau Schweizer hat per E-Mail Karten für
das Stück „Frau Schmitz“ bestellt und sie möchte
wissen, ob „Andorra“ auch einmal an einem Montag
gespielt wird. Am Montag kosten alle Tickets die Hälfte.
11:10
Nun kommen gleich mehrere Kunden an die Kasse und
es bildet sich eine Schlange. Christa Müller beantwortet
viele Fragen und verabschiedet jeden einzelnen Kunden
und jede einzelne Kundin mit Namen. Freddy erklärt mir,
dass das Schauspielhaus sehr grossen Wert auf die Beratung der Kunden legt. Die Mitarbeiterinnen sehen sich
die Inszenierungen an und die Dramaturgie des Hauses
nimmt sich viel Zeit, ihnen die Besonderheiten jeder
Inszenierung zu erklären. „Die Kasse ist die Visitenkarte
des Theaters“, sagt Freddy. „Die Kunden lassen sich
begeistern von einer guten Beratung. Eine offene,
freundliche und zugängliche Kasse und die Nähe zum
Publikum zeichnet uns aus“, meint er stolz.
15:15
Nach dem Mittagessen stelle ich Freddy die Frage
aller Fragen: „Was will das Publikum sehen?“ – „Die
Zürcher lassen sich nicht gerne auf unbekanntes
Terrain ein. Am meisten Erfolg bringt eine Kombination aus einem bekannten Titel, guten Kritiken in
den Zeitungen sowie guter Mund-zu-Mund-Propaganda. So eine Kombination hatte man hier am Haus
zum Beispiel bei der Produktion ,Die Physiker‘ “. Da
Freddy früher in Berlin am Deutschen Theater gearbeitet hat, kann er die beiden Städte miteinander
vergleichen. Seiner Meinung nach hat in Zürich die
Mund-zu-Mund-Werbung viel stärkeren Einfluss als
in Berlin, wo das Publikum eher auf die Zeitungskritiken reagiert. So kann es in Zürich vorkommen,
dass ein Stück mit schlechten Kritiken trotzdem viel
Zulauf hat, weil zum Beispiel der Regisseur oder das
Stück beliebt ist.
17:10
Übernächste Woche beginnt der Vorverkauf für
Dezember. Dieser Tag im Monat sei für die Kasse
wie Vollmond, sagt Freddy. Alles muss rechtzeitig zum
Verkaufsstart bereit sein, sonst habe er schlaflose
Nächte. Weitere wichtige Termine im Jahr sind Premieren, Vorstellungen für AbonnentInnen und – im
Moment wieder aktuell – das Familienstück. „Kinder im
Haus zu haben, ist was ganz Besonderes“, schwärmt
Freddy. „Diese junge Energie, die das Haus erfüllt,
wenn kurz vor 10 Uhr die aufgeregten kleinen Köpfe
unter der Kasse durchstürmen!“
Für die Vorbereitung des Verkaufs muss Freddy im
Ticketsystem die Vorstellungen einrichten und aufgrund
der Vorlage der Technischen Direktion, die je nach Bühnenbild variiert, den Saalplan und die Plätze einzeichnen.
Die Stücktitel erhält er jeweils von der Dramaturgie, die
Daten und Zeiten der Vorstellungen von der Chefdisponentin aus dem Künstlerischen Betriebsbüro. Die Preise
werden in der Verwaltungsdirektion besprochen. Verschiedene Ticketaktionen werden vom Marketing initiiert.
So hat Freddy permanent Kontakt zu vielen anderen
Abteilungen. Ausserdem ist eine Absprache mit dem
Foyerpersonal nötig, wenn es eine ungewöhnliche Einlasssituation gibt oder wenn die Zuschauertribünen
speziell bezeichnet werden sollen, wie es im Schiffbau
meist der Fall ist.
19:00
Pünktlich um 19 Uhr öffnet die Abendkasse. Jetzt sind
am Schalter nur noch Tickets für den jeweiligen Abend
erhältlich. Die Erfahrung in den letzten Jahren zeigt,
dass die Gäste immer knapper vor Stückbeginn ihre
Tickets an der Kasse abholen. Da der Eingang des
Pfauen gleich neben der Tramhaltestelle liegt, kann es
passieren, dass auf einen Schlag fünfzehn oder
zwanzig Leute gleichzeitig an die Kasse kommen.
Studierende erhalten seit dieser Spielzeit Last39
Freddy mit Kassenmitarbeiterin Christa Müller (l.)
und seiner Stellvertreterin Evelyne Albin.
„Man könnte mehr aufeinander hören. Das Publikum
sollte neugierig bleiben, sich einlassen auf neue
Theaterströmungen und sich vom Theater begeistern
lassen. Das Haus sollte ein Ohr für die Interessen und
Bedürfnisse der Zuschauer haben. Wenn man das
schafft, kann man sich gegenseitig begeistern.“
Alberto Giacometti, Werke 1949 – 1965, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, Foto: Dominic Büttner, © Succession Alberto Giacometti / 2016 ProLitteris, Zürich
28.10.2016 — 15.01.2017
19:20
Freddy erzählt mir, wie er beim Theater gelandet ist.
Er hat in Kuba, wo er aufgewachsen ist, Kunstgeschichte studiert. Die wissenschaftliche Arbeit war
ihm zu einsam und die Theaterluft gefiel ihm. Seine
erste Berufserfahrung sammelte er als Dramaturgieassistent bei der Hörspielabteilung eines Radiosenders.
Das Theater blieb bis heute sein ständiger Begleiter.
Er liebt den Kontakt mit Kunden, liebt es, Probleme zu
lösen, Alternativen zu suchen, kleine Herausforderungen anzunehmen und sich für die Kunden einzusetzen. Die grosse Flexibilität, die geforderte Dynamik
und Fähigkeit, schnell mit Problemen umzugehen, die
Spontaneität, Anpassungsfähigkeit und ein schnelles
Denken sind für Freddy ganz klar theaterspezifische
Eigenschaften und unterscheiden auch seine Arbeit
hier vom Vertrieb in anderen Umfeldern. Ich frage
Freddy, was er den Leuten als Vermittler zwischen
Theater und Publikum zum Schluss mitteilen möchte.
EIDENBENZ / ZÜRCHER AG
Minute-Tickets bereits ab Öffnung der Abendkasse
und müssen diese nicht mehr erst kurz vor Vorstellungsbeginn abholen. Das entlastet die Kasse bei
vollen Vorstellungen etwas und schenkt den Studierenden eine zusätzliche Dreiviertelstunde Vorlauf für
ein günstiges Ticket.
GIACOMETTI
MATERIAL
UND VISION
KUNSTHAUS
ZÜRICH
du – seit 1941
16.12. 2016 – 19. 3. 2017
Die Meisterwerke in Gips, Stein, Ton und Bronze
40
41
www.landesmuseum.ch
Der Diskrete
B rie f:
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Foto: Raphael Hadad
Eine Gruppe von zehn jungen Menschen, die in die Schweiz geflohen sind, traf sich im
Herbst im Schauspielhaus zu einem zehntägigen Schreibworkshop. Begleitet vom syrischen Dramatiker Mudar Alhaggi und vom Schweizer Dramaturgen Erik Altorfer setzten
sie sich mit ihren eigenen Geschichten auseinander und begannen zu schreiben. Entstanden sind Texte, die sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart ziehen.
Hier einige kurze Auszüge daraus.
Die vollständigen Texte des Schreibworkshops können Sie im Original und
in der deutschen Übersetzung unter schauspielhaus.ch/ourvoice nachlesen.
42
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Fotos: T+T Fotografie
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Der Besuch der
alten Dame
Der Teufel mit den drei
goldenen Haaren
Das Gelübde
von Friedrich Dürrenmatt
Regie Viktor Bodó
nach einem Märchen der Brüder
Grimm, mit Live-Musik von Schtärneföifi, in einer Bearbeitung von
Meret Matter und Stefanie Grob
B
Frau Schmitz
von Lukas Bärfuss
Regie Barbara Frey
D
Homo faber
nach dem Roman von Max Frisch
Regie Bastian Kraft
von Dominik Busch
Regie Lily Sykes
G
Der Josa mit der
Zauberfiedel
nach dem Original von
Janosch
Regie und Bearbeitung
Enrico Beeler
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Die Verwandlung
nach der Erzählung von
Franz Kafka
Regie Gísli Örn Garðarsson
44
45
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pfauen:sounds
Lambchop
Scott Matthew /
Rodrigo Leão
Michael Nyman
Drei hochkarätige Konzerte erwarten
die Besucher der neuen Konzertreihe
im Pfauen. Im Februar stellt Mastermind Kurt Wagner mit „Flotus“ sein
wagemutiges neues Album vor. Im
Zentrum steht seine Stimme: gesampelt, gefiltert, bearbeitet und mit
neu daraus erzeugten Beats. In
Zürich wird die legendäre USKultband beweisen, dass dies noch
immer unverwechselbar nach
Lambchop klingt.
G
Schauspielhaus auf Reisen
Nathan der Weise
Zwei Stars von zwei Kontinenten,
zwei Meister der bittersüssen Melancholie spielen im März exklusiv
im Schauspielhaus: Der in New
York lebende australische SingerSongwriter Scott Matthew mit dem
samtig-rauen Bass und den ironischeigenwilligen Songs und Rodrigo
Leão, Musiklegende aus Portugal,
stellen ihr erstes gemeinsames
Album „Life Is Long“ vor.
Im Mai gibt uns der grosse Filmmusiker Michael Nyman mit seiner
14-köpfigen Band die Ehre. Nyman
ist berühmt für seine Musik in Jane
Campions „Das Piano“ und vor allem
in Peter Greenaways Filmen wie beispielsweise „Der Koch, der Dieb,
seine Frau und ihr Liebhaber“ oder
„Prosperos Bücher“ – der Verfilmung
von Shakespeares „Der Sturm“.
Nach über zwanzig Jahren ist Nyman
nun mit Neukompositionen und
seinen grössten Erfolgsstücken
wieder in Zürich zu hören.
Landestheater Niederösterreich, St. Pölten, 17./18. Februar
Der Besuch der alten Dame
Haus der Kultur „Walther von der Vogelweide“, Bozen, 15./16. März
pfauen:sounds
Wer hat Angst vor Hugo Wolf?
Die Konzertreihe des Schauspielhauses Zürich
in Kooperation mit AllBlues Konzert AG:
National Performing Arts Center — National Theater & Concert Hall, Taipeh, 17./18. März
Bühne frei für Mick Levčik!
Theater Chur, 11. Januar
46
Lambchop: 8. Februar; Scott Matthew / Rodrigo
Leão & Band: 16. März; Michael Nyman & Band:
10. Mai, jeweils Pfauen, 20:00
Ab 22. Dezember im Kino
47
Demnächst
Der Junge, den es nicht gab
nach dem Roman von Sjón
Mit Michael Neuenschwander
Regie Sophia Bodamer
Der isländische Autor und Songwriter Sjón
Hans Kremer im Atelier, Fotos: Isabelle Krötsch
erzählt vor dem historischen und politischen
Hintergrund Islands eine packende, bildgewaltige, manchmal ins Traumhafte abgleitende
„Bald norwegisch kalt,
bald ägyptisch feurig ...
...
und immer mit einem liebenden Blick.“ Im neuen Format
„Close Up“ zeigen Ensemblemitglieder ihre eigenen Arbeiten.
Dramaturgin Gwendolyne Melchinger sprach mit Ensemblespieler
Hans Kremer und Künstlerin Isabelle Krötsch über die Arbeit
an ihrem neuen Projekt „PEER.GYNT“, einer szenischen Lesung
mit Musik und Live-Zeichnung.
Nach Büchners „Lenz“ beschäftigt ihr
euch jetzt mit dem grossen IbsenDrama „Peer Gynt“. Ihr habt ein ganz
eigenes Format und daraus eine besondere Arbeitsweise entwickelt.
Könnt ihr das ein wenig beschreiben?
Mit dem LAUT.MALEN feiern wir die
vereinten Künste. Diese kommen im
Theater heutzutage zwar fast immer
zusammen, aber bei uns findet diese
Begegnung so statt, dass man das
feinsinnige Zusammenspiel wie in
einem Brennglas betrachten und das
48
Entstehen des gemeinschaftlichen
Kunstwerks in einem Atelier mitverfolgen kann. Das Geschichtenerzählen, die Musik und die LiveZeichnung ergeben erst beim
Zuschauer ein ganzes – und dadurch
sehr individuelles – Bild. Wir arbeiten
zudem im Kollektiv, das heisst alle, in
diesem Fall vier, Künstler wirken –
gleichberechtigt und verantwortungsvoll auf das Gesamte wie auf
den Partner achtend – in einer Werkstatt zusammen. Unsere Arbeit ba-
siert dabei auf einer Grundpartitur von Text, Musik und Motiven,
die sich Abend für Abend weiterentwickelt.
Hans, was ist für dich das Besondere
an „PEER.GYNT“?
Mir liegt das Geschichtenerzählen
besonders am Herzen. Unser
„PEER.GYNT“ ist eine heterogene
Mischung der Kunststile und Denkformen; das entspricht meiner pluralistischen Weltanschauung. Der Impuls
ist, dieses dramatische Gedicht mit
verwegener Laune in seinem Spielmaterial auszuschöpfen. Wir begehen
und bilden ab mit Distanz, mit Einfühlung, bald norwegisch kalt, bald
ägyptisch feurig und immer mit einem
liebenden Blick. „Peer Gynt“ ist, ähnlich
wie „Faust“ oder bestimmte Stücke von
Shakespeare, einer der Theatertexte,
die zeitlos das Wesentliche des Lebendigen an sich unter die Lupe nehmen
und zugleich alle essenziellen Themen
unserer Gesellschaft in einem sagenhaften Wurf vereinen. Allen, die für
Denken und Staunen im Theater
etwas übrig haben, sei „PEER.GYNTLAUT.MALEN“ empfohlen.
Isabelle, was ist für dich das Besondere an eurer Art, zu arbeiten?
Das Tolle am Live-Zeichnen als Teil
einer Theaterform ist, dass es in gewisser Weise eine Art des Live-InSzene-Setzens ist, das anders als
ein Regiekonzept oder eine gebaute
Bühnenarchitektur nur den Hauch
eines Augenblicks existiert und als
Impuls ausreicht, ganze Assoziationswelten zu entfachen, die man als
Schöpfer der Zeichnung nicht kontrollieren kann. Da wir eine offene
Werkstatt sind, können auf diese
Weise auch aktuellste Erkenntnisse
subkutan in die Arbeit einfliessen.
„Peer Gynt“ ist sowohl hoch philosophisch, als auch politisch aktuell,
dabei aber auch lebensnah und
sinnlich. Das übt auf mich als Künstlerin eine enorme Anziehungskraft
aus und stellt eine Herausforderung
dar. Über das Zeichnen kann ich diese
unterschiedlichsten Aspekte des symbolischen Lebenswegs sanft oder
auch mal frech unterstreichen und der
Zuschauer hat dennoch immer genügend Raum, sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Und wir
hören-sehen ja in gewisser Weise
auch eine ganze Peer-Gynt-„Oper“ mit
Edvard Griegs Bühnenmusik und einigen weiteren grossartigen Komponisten. Und das alles live! Es ist eine
wunderschöne Aufgabe, diese PeerGynt-Opulenz zu vermitteln. Die LiveZeichnung ist ein wundervolles
Medium dazu.
peer.gynt.ch
Geschichte eines 16-jährigen Jungen und Aussenseiters und seiner Leidenschaft für den
Film, den Stummfilm …
März, Pfauen/Kammer
Hans Schleif
von Matthias Neukirch und Julian Klein
Mit Matthias Neukirch
Regie Julian Klein
Hans Schleif war Architekt, Archäologe,
Familienvater und ranghohes Mitglied der SS.
Sein Enkel Matthias Neukirch, seit der letzten
PEER.GYNT
Spielzeit Mitglied im Ensemble des Schau-
Eine szenische Lesung mit Musik und
Live-Zeichnung
dessen Biografie. Mit dem Versuch, Vergangen-
Mit Hans Kremer (Wort und Spiel), Norbert
Groh (Akkordeon und Klavier), Isabelle Krötsch
(Live-Zeichnung und Gesamtgestaltung),
Esther Schöpf (Violine und Gesang)
13./15. Januar, Pfauen/Kammer
spielhauses, begibt sich auf die Suche nach
heit und Gegenwart zu verknüpfen, macht
seine sehr persönliche Arbeit, die für den
Friedrich-Luft-Preis nominiert wurde, die Geschichte unmittelbar greifbar.
21. Januar / 5. Februar, Pfauen/Kammer
49
Ihre
Warum ich
gerne Theater
schaue …
Was bewegt Zürich?
Ensemblemitglieder fragen nach
Claudius Körber:
„Was hat dich dazu bewegt, in Zürich einen
Club zu gründen, und was denkst du, kann
Zürich woanders bewegen?“
Nik Bärtsch: Mit vier Partnern zusammen den
Club Exil zu gründen, war Hilfe zur Selbsthilfe.
Da ich in meiner Heimatstadt Zürich keine Institution im Rücken hatte, in der ich zusammen mit meinen Kollegen mehrmals im Jahr
(geschweige denn jede Woche) spielen und
üben konnte, habe ich 2004 den ehemaligen
Bazillus-Club montags gemietet und zusammen mit dem Drummer Kaspar Rast geleitet,
um dann 2009 meinen eigenen Club, das Exil,
mitzubegründen. Mit den Montagskonzerten
haben wir eine Bonsai-Institution gezüchtet
und weitergepflegt, in der wir als WorkingBand jede Woche ein lokales Meisterschaftsspiel bestreiten, um permanent fit für die
Champions League zu sein.
Wie meine Exil-Partner wollte ich nicht Bestehendes kritisieren, sondern unsere Idee
eines lebendigen Clubs von Musikern und
Musikliebhabern für MusikliebhaberInnen
verwirklichen. Das ist brutal lehrreich – man
trägt plötzlich den Hut des Veranstalters und
lernt, wie sich der anfühlt, ob er einem ins
Gesicht rutscht oder wie man in ihn hineinwachsen kann.
Co-Founding, Co-Leading, Co-Learning: Kooperationen ganz allgemein gefallen mir sehr.
Der Community-Organismus Exil macht gerade deshalb ungeheuer Spass. Ich glaube,
am meisten durch Initiativen bewegen zu können, die aus echten Bedürfnissen und purer
kreativer Lust entstehen. Diese Form von
künstlerischer Initiative – oder neudeutsch:
cultural entrepreneurship – kann viel Ausstrahlung entwickeln und in der ganzen Welt
Schule machen. Man erlernt lokal geerdetes
Know-how, das dann plötzlich andere aktive
Freaks interessiert und Schule machen kann.
Wie zum Teufel haben die das gemacht?
Nik Bärtsch ist ein international
erfolgreicher Zürcher Pianist, Komponist
und Musikproduzent. Er ist unter anderem
Mitgründer des Clubs Exil im Kreis 5.
Claudius Körber, geboren 1982 in Dresden, wechselte
2013 vom Schauspielhaus Graz ans Schauspielhaus Zürich.
50
Kulturtipps aus dem
Schauspielhaus Zürich
Auch für waschechte oder alteingesessene
Zürcher ist es spannend, eine Stadtführung mitzumachen. Oft sieht man altbekannte Orte mit
neuen Augen. Interessant ist beispielsweise
eine Nachtwächterführung durch die Altstadt.
Oder thematische Rundgänge über Zürcher
Geschäfte mit Geschichte oder Powerfrauen in
Zürich. Wer lieber allein unterwegs ist, kann
mit Büchern wie „Zürich. Eine Stadt in Biographien“ oder „Spaziergänge durch das Zürich der
Literaten und Künstler“ Zürcher Geschichte(n)
auf eigene Faust entdecken.
Katrin Hohenacker, Eventmanagerin
Wer sich einmal etwas gönnen will, dem kann ich
wärmstens einen Besuch im Seebad Enge ans
Herz legen, da ist jetzt nämlich Saunazeit. Sowohl in der Sauna, im Ruhebereich als auch im
Café geniesst man den Seeblick und sobald es
dämmert, wird die Feuerschale angezündet. Und
ja, nach dem Aufguss springt man in den See.
Leidenschaft
Unser
Engagement
Diese Frage hat Rita von Horváth, seit
1995 am Schauspielhaus, beantwortet.
In ihrer Tätigkeit als Souffleuse betreut
sie alle Proben und Vorstellungen einer
Inszenierung. Der besondere Blickwinkel, der sich daraus ergibt, spiegelt sich
in ihrer Antwort: „Hand aufs Herz : interessieren Sie sich für die Folgen der Familienfehde zwischen den Montagues
und den Capulets? – Ich nicht. Ich gehe
nicht ins Theater, um interessante Geschichten erzählt zu bekommen, über
Menschen in Krisen, an Wendepunkten
oder Ähnliches. Ich gehe ins Theater,
um Schauspieler zu sehen, die sich
kunstfertig unterwerfen. Die mit Leichtigkeit, gedanklicher und gefühlsmässiger
Anbindung Sätze sagen, die jemand
Inspiration
für alle
heute, vor zweihundert Jahren oder vor
zweitausend Jahren geschrieben hat.
Wenn ich Schauspieler sehe, die das
„Eingesperrtsein in einem Satz“ mir als
ganze Welt präsentieren, mir zeigen,
dass ihr Vehikel, der Text, sie zu Herren
über grenzenlosen Raum macht, dass
sie in der Lage sind, im Moment auf
das Vorangegangene zu reagieren und
zu antworten, dass sie dem Vorangegangenen gefolgt sind und mir im
Moment ihres Sprechens alles über die
Figur und ihre Situation erzählen, dann
bin ich verzaubert.“
Simon Sramek, Bühnenbildassistent
Unerwartet eine Terminlücke – ich bin im ToniAreal (Campus der Zürcher Hochschule der
Künste ZHdK), meine Kollegin muss los, zum
Abschied der Tipp: „Warst du schon auf der
Dachterrasse? Mach das doch jetzt gleich!“
Kitschigerweise geht die Sonne gerade unter.
Also Fahrstuhl in den 8. Stock, alle Gänge sind
leer – ich frage mich, ob ich wirklich einfach so
da hinauf darf. Bei jeder Tür und jeder Reinigungsfachkraft vermute ich das Ende meines
kleinen Ausflugs, aber niemand hält mich auf.
Dann steh ich da, über Zürich, hab’ ein riesiges
Dach für mich allein. Es riecht nach Grossstadtherbst und Rushhour – quatsch, das zu beschreiben: nehmt einfach den Fahrstuhl in den
8. Stock bei Sonnenuntergang.
Anne Britting, Theaterpädagogin
Audio-Einführungen
Zu allen Pfauen- und Schiffbauproduktionen
finden Sie kurze Stückeinführungen unter
schauspielhaus.ch – alles, was Sie wissen
müssen in drei Minuten. Über unseren YoutubeKanal youtube.com/SchauspielhausZ erhalten
Sie die Einführungen und ausserdem spannende Trailer und Künstlerinterviews im Abo.
Impressum journal
Januar / Februar / März 2017
Redaktionsschluss 12. Dezember 2016
Abonnement
Das Journal erscheint 3x jährlich
und kann gegen einen Unkostenbeitrag
von 12 Franken pro Jahr unter
schauspielhaus.ch abonniert werden.
Herausgegeben
von der Schauspielhaus Zürich AG
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Redaktion
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Karolin Trachte (Redaktionsleitung),
Amely Joana Haag, Andreas Karlaganis,
Gwendolyne Melchinger, Irina Müller,
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Korrektorat
Johanna Grilj, Daniela Guse,
Annika Herrmann-Seidel,
Sandra Suter, Karolin Trachte
Gestaltung
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Druck Speck Print AG, Baar
Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft.
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Das Journal wird unterstützt von der
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Gemeinsam, denn: Together we’re smarter.
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