Soziologie Lernheft 19

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Soziologie
Lernheft 19
Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
Inhaltsverzeichnis
19.1
Einleitung ...............................................................................................
2
19.2
Soziologie als Wissenschaft von der Politik ..........................................
2
19.2.1
Die Macht, die Herrschaft und der Staat ...............................................
7
19.2.2
Die vier bedeutendsten gesellschaftlichen Kollektivakteure .................
10
19.3
Selbstlernaufgaben ................................................................................
12
19.4
Zusammenfassung ................................................................................
13
19.5
Hausaufgabe .........................................................................................
14
19.6
Lösungen zu den Selbstlernaufgaben ...................................................
14
19.7
Anlage....................................................................................................
14
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01-25400-01
Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
19.1
Lernheft 19
Einleitung
Nach der Arbeitssoziologie in der Reihe der speziellen Soziologien gilt unser Interesse
in dieser Lerneinheit der „Politiksoziologie“. Sie ist ebenfalls eine wichtige und relativ
lang bestehende Bindestrichsoziologie und bildet gleichsam eine wissenschaftliche
Brücke zwischen der Soziologie und der Politologie. Während diese aber in erster
Linie das politische System im Blick hat, beschäftigt man sich in der Politiksoziologie
vor allem mit dem Verhältnis zwischen Politik und Gesellschaft. Im Folgenden wird es
eingangs um die Geschichte des politiksoziologischen Denkens gehen und später
speziell um seine wichtigen Begriffe Staat, Macht und Herrschaft. Abschließend beleuchten wir das politische Geschehen noch im Hinblick auf die bedeutendsten Kollektivakteure in heutigen Gesellschaften.
Sobald Sie sich intensiv mit dem Text dieser Kurseinheit auseinandergesetzt haben,
sollten Sie ein kursorisches Gesamtbild von der Politiksoziologie von ihren Anfängen
bis in unsere Zeit gewonnen haben, festgemacht an einschlägigen Begriffen und Institutionen. Die Selbstlernaufgaben und die Hausaufgabe stellen so vermutlich kein großes Problem mehr zur Bearbeitung dar.
Erklärung der Symbole
19.2
Selbstlernaufgaben
Hausaufgabe
Zusammenfassung
Hinweis bzw. Tipp
Lösungen zu den
Selbstlernaufgaben
Notizen
Soziologie als Wissenschaft von der Politik
Unter der Berücksichtigung der jeweiligen Herrschaftsordnung ist es das Ziel der Politiksoziologie, politische Phänomene des soziokulturellen Zusammenlebens gründlich
zu erforschen. Neben der Politikwissenschaft trifft sich die Politiksoziologie in vielen
Fragestellungen mit der Staats- und Verfassungslehre, der Geschichtswissenschaft
und der politischen Ökonomie. In der Politiksoziologie geht man grundsätzlich davon
aus, dass Politik und Staat keine abgehobenen Bereiche jenseits von Kultur und Gesellschaft bilden, sondern auf vielfältige Weise mit dem gesellschaftlichen Alltagsleben
verwoben sind.
Demgemäß untersuchen Politiksoziologen die Beziehungen, Wechselwirkungen und
gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Weltanschauungen, Ideologien, Wertsystemen, Sozialstrukturen, sozialen Gebilden und Verhaltensweisen einerseits und
staatspolitischen Ordnungen, Herrschaftssystemen, Institutionen, Macht-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen andererseits.
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Vor der Etablierung der Soziologie als eine eigenständige Fachwissenschaft sind bereits Philosophen und Gelehrte mit wissenschaftlichen Traktaten hervorgetreten, welche die Entwicklung der politischen Soziologie stark beeinflusst haben. Und zwar war
es schon der griechische Philosoph Aristoteles (389 – 322 v. Chr.), der seine auf Sokrates aufbauende Lehre zur Tugend des Menschen in eine Staatslehre münden ließ.
Die Politik des Staates hat dieser zufolge auch die soziale Aufgabe, ein gutes und
tugendhaftes Leben der Bürger zu befördern, indem er die Voraussetzungen dafür
schafft. Nachhaltig wirksam in der Wissenschaft wurde die Einteilung und Kritik der
Staatsformen durch Aristoteles im Gefolge Platons. Aristoteles unterschied zwischen
sechs Grundtypen staatlicher Führung, wobei er drei positive Formen ihren jeweiligen
Entartungen gegenüberstellte: Zum Nutzen aller sei demnach die Alleinherrschaft der
Monarchie, die Herrschaft der Wenigen in der Aristokratie und die Herrschaft der Vielen in der Politie.
Zum Nutzen nur des Herrschers bzw. der Herrschenden dagegen seien die Einmannherrschaft der Tyrannis, die Herrschaft der Wenigen in der Oligarchie und die Herrschaft der Vielen in der Demokratie. Daran ist ersichtlich, dass auch der fortschrittlich
denkende Aristoteles noch ein schlechtes Bild von einer puren Demokratie hatte. Er
bevorzugte stattdessen die so benannte „Politie“, was sozusagen eine Mischung aus
Oligarchie und Demokratie ist, insofern nach seiner Vorstellung einige erlesene Köpfe
(Vernünftige und Besonnene), durch Wahlen bestimmt, im Auftrag aller Staatsangehörigen regieren sollen.
Abb. 1:
Entstehung der „Politie“ durch Oligarchie und Demokratie
Nach dem italienischen Philosophen Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) ist Politik als
Kunst des vorteilhaften Umgangs mit der Macht zu verstehen. Zur Erhaltung der
Staatsmacht legt er den Herrschern in der Renaissance sogar nahe, bei gesellschaftlichen Notstandsverhältnissen jenseits ethischer Werte und Normen skrupellos zu
handeln.
Machiavelli wurde mit dieser Auffassung, die er in Bezug auf Beispiele der römischen
Geschichte vertrat, zum Urheber der Lehre von der „Staatsräson“ und brach damit
gleichzeitig mit der mittelalterlichen Tradition christlicher Staatstheorie, welche die
Herrschaft über Länder als von Gott verliehen verstand („König oder Kaiser von Gottes Gnaden“). Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) gilt als eigentlicher Begründer der Gesellschafts- und Staatslehre. Den Staat fasste er als notwendige Institution zur Beherrschung der von Natur aus zerstörerisch wirkenden mensch-
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lichen Antriebskräfte auf. Im „Naturzustand“ grassiert nach Hobbes der reine Egoismus und ist der „Krieg aller gegen alle“ Normalität.
In diesem Zusammenhang stellt er seine berühmt-berüchtigte Behauptung auf, dass
der Mensch dem Menschen ein Wolf ist („homo homini lupus“). Vor dem Hintergrund
dieses pessimistischen Grundgedankens erscheint ein „Gesellschaftsvertrag“ unumgänglich, der vor allem als Unterwerfungsvertrag unter die Obhut eines Staates zu
verstehen ist. Nach Hobbes‘ bekanntem Werk „Leviathan“ ist dem Staat als Garant
der Rechts- und Herrschaftsordnung die absolute Gewalt über alle Bürger zu übertragen. Über Gut und Böse sowie selbst über das Religionsbekenntnis der Bürger habe
der Staat zu bestimmen.
Dagegen war der französische Baron Montesquieu (1689 − 1755) hundert Jahre später schon viel freiheitlicher im Denken gesinnt. Er hat die soziologische Geschichtsbetrachtung und die politische Forderung des „Liberalismus“ wissenschaftlich begründet.
So verwundert es nicht, dass er zu einem intellektuellen Wegbereiter der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung wurde. Montesquieu legte mit seinem Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“ eine historisch vergleichende Theorie von Staatsformen vor.
Er untersuchte darin die sozialen Bedingungen für die Entstehung und Erhaltung der
Demokratie, Monarchie und Despotie. Solche Dinge wie Staatsverfassung, staatliche
Einrichtungen und Gesetzgebung erklärt Montesquieu erstmalig aus solchen Sachen
wie Klima und Bodenbeschaffenheit von Ländern sowie aus den Sitten, der Religion
und dem Gemeingeist von Völkern.
Eine große wissenschaftliche Leistung ist auch sein Ausbau der von John Locke gestifteten Lehre von der sogenannten „Gewaltenteilung“, d. h. der Aufteilung der
Staatsgewalt in Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exekutive (ausführende Gewalt)
und Judikative (rechtsprechende Gewalt) um der Freiheit willen. Durch die politische
Umsetzung dieser Idee konnten die Konzentration und der Missbrauch politischer
Macht im Lauf der Geschichte abgebaut werden. In gegenseitiger Kontrolle bilden die
drei Gewalten im besten Falle ein Gleichgewichtssystem bei der Ausübung staatlicher
Macht. (Vgl. Reinhold, G. [Hg. u.a.]: Soziologielexikon, 1997: 496f.)
Trotz freiheitlicher Gesinnung war der Staatstheoretiker Montesquieu noch ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie, in der die Macht des Königs durch eine Verfassung zwar recht eingeschränkt ist, in der er aber noch mehr oder weniger stark regieren konnte. Dagegen schlug sich sein Bewunderer und Landsmann Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) theoretisch schon ganz auf die Seite der Demokratie, wiewohl mit
kritischen Vorbehalten zu ihrer Entwicklung.
Er erkannte sie vernünftigerweise als die notwendig sich herausbildende Herrschaftsform unter zivilisierten Menschen an, wobei er vor allem das republikanische Politiksystem der bereisten USA als Modell einer funktionierenden Demokratie verstand. In
der Ablehnung der Herrschaft des Adels (Aristokratie), aus dem er selbst kommt, geht
Tocqueville der Frage nach, wie ein demokratisches Staatswesen möglich ist, bei dem
sich Freiheit und Gleichheit harmonisch verbinden.
Im diagnostizierten Streben nach Gleichheit seit Jahrhunderten sieht Tocqueville nämlich weitsichtig die Freiheit des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes bedroht; und zwar
dann, wenn demokratische Bestrebungen in einen neuartigen Despotismus umschlagen, d. h. wenn eine sich stark nivellierende Massengesellschaft einer Diktatur erliegt,
wie in der weiteren Geschichte Europas ja mehrmals geschehen (z. B. im Nationalsozialismus). Zur Abwehr von Konformismus (politische Anpassung) und Unfreiheit forderte Tocqueville die politische Gewährleistung von staatlicher Dezentralisierung, von
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
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Gewaltenteilung und von der Eigenverantwortung des Bürgers. Wegen seines fortschrittlichen Denkens über Staat und Gesellschaft sah der Philosoph und Soziologe
Raymond Aron in Tocqueville gar einen Begründer der Soziologie neben Comte und
Marx, dem es anders als diesen theoretisch nicht um die Auswüchse des industriellen
bzw. des kapitalistischen Prozesses, sondern um diejenigen der Demokratie ging.
Mit seinem Konzept des Positivismus wollte Comte die Soziologie – nachdem die
ersten beiden Stadien in der Geschichte des menschlichen Denkens schon überwunden seien – auf einen sachlichen Weg wissenschaftlicher Forschung bringen, um für
die Entwicklung der Gesellschaft politisch die richtigen Schlüsse ziehen zu können,
wie im dritten Lernheft gezeigt worden ist. Darin haben wir uns auch schon vergegenwärtigt, wie Marx den gesellschaftspolitischen Prozess geschichtsnotwendig durch
den Kampf der Arbeiterklasse gegen die noch herrschende Klasse der Kapitalisten
interpretierte, um über die Führung des Proletariats letztlich zur klassenlosen Gesellschaft zu kommen.
Bei dem soziologischen Klassiker Vilfredo Pareto (1848 – 1923) kommen als Herrschende nicht nur die Kapitalisten oder Arbeiter, sondern alle möglichen Eliten infrage,
die in vernunftgemäßer Führung die überwiegend irrational handelnden Individuen
politisch steuern; z. B. der grundbesitzende Adel oder die Priester-, Militär- und Beamtenelite. Nach der „Zirkulation der Eliten“ sei die Geschichte von Gesellschaften gemäß Pareto vor allem dadurch gekennzeichnet, dass in ständiger Wiederholung nicht
mehr erfolgreich herrschende, dekadent gewordene Eliten durch neue, tatkräftige
Eliten verdrängt werden. In ähnlicher Weise hat zur fast gleichen Zeit sein italienischer
Landsmann Gaetano Mosca (1858 – 1941) in seiner Theorie der „politischen Klasse“
die Auffassung vertreten, dass jede politisch stabile Gesellschaft auf die Herrschaft
einer straff organisierten, privilegierten und leistungsfähigen Minderheit über eine zur
Selbstregulierung unfähigen Mehrheit angewiesen sei.
Begrifflich differenziertere Beiträge als Pareto und Mosca zur Politiksoziologie hat Max
Weber (1864 – 1920) vorgelegt. Das zeigt sich in seinen sozialwissenschaftlich prägenden Definitionen zahlreicher Grundbegriffe wie Macht, Herrschaft, Staat, Partei
oder Verband, in seiner historisch orientierten und idealtypisch verfassten Herrschaftssoziologie, in seiner analytisch durchdringenden Erforschung der modernen
Bürokratie als wesentliches Element des abendländischen Rationalisierungsprozesses und nicht zuletzt in seiner überzeugenden Verhältnisbestimmung von Politik und
Ethik in der Schrift „Politik als Beruf“, die auf die oft zitierte Feststellung hinausläuft:
„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ (Weber, M.: Politik als Beruf, 1919: 66.)
Neben solchen politiksoziologischen Abhandlungen allgemeiner Art hat Weber auch
welche zeitgeschichtlicher Natur geliefert, in denen es hauptsächlich um die demokratisch orientierte Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg geht. Alles in
allem kann Weber vor dem Hintergrund der Fülle solcher Arbeiten und ihrer begrifflichen Schärfe als ein wichtiger Mitbegründer der politischen Soziologie gewürdigt werden. Bekannte Soziologen des 20. Jahrhunderts wie Karl Mannheim, Reinhard Bendix
oder Jürgen Habermas berufen sich in ihrem politiksoziologischen Denken ausdrücklich auf ihn.
Die Politiksoziologie hat sich im Lauf ihrer Geschichte viele verschiedene Wissensgebiete erarbeitet. Geballt dargelegt geht es in ihr um die Erforschung folgender Punkte
(Vgl. Reinhold, G. [Hg. u.a.]: Soziologielexikon, 1997, S. 499.):
–
um die Einbettung politischer Strukturen und Prozesse in den soziokulturellen
Lebenszusammenhang;
5
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–
um die Art der politische Macht in totalitären bis demokratischen Gesellschaftsformen und um die kulturellen und sozialen Legitimationsgrundlagen der politischen Herrschaft;
–
um die Entstehung politischer Ideologien, Mentalitäten, Einstellungen, Meinungen
und um die Bildung von Vorurteilen und Feindbildern im Zusammenhang mit bestimmten sozialen Verhältnissen;
–
um das gesellschaftlich positive oder negative Wirken von Eliten, herausgestellt
durch verschiedene Elitetheorien („Elitenproblem“);
–
um die zunehmende Bürokratisierung im Kontext der Rationalisierung sich entwickelnder Industriegesellschaften („Bürokratieforschung“);
–
um die politischen Parteien und Parteiensysteme in verschiedenen Gesellschaften („Parteiensoziologie“);
–
um das Parlament in seiner strukturellen Gliederung, seinem Formenwandel,
seinen Fraktionen, Fachausschüssen und Anhörungen, seinem Lobbyismus und
seinem Abgeordnetenverhalten;
–
um die Interessenverbände (Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften) und ihre
Beiträge zur politischen Willensbildung und -durchsetzung („Verbändeforschung“);
–
um die Wechselwirkungen und gegenseitigen Einflussnahmen zwischen dem
Staat, der Öffentlichkeit und den Massenmedien;
–
um den Zusammenhang politischen Denkens und Handelns mit den weltanschaulichen Grundorientierungen einer Gesellschaft;
–
um die Formen und Intensitäten politischer Anteilnahme der Gesellschaftsangehörigen, was z. B. das Wählerverhalten betrifft;
–
um die Herausbildung, Entwicklung und politische Einflussnahme sogenannter
„sozialer Bewegungen“;
–
um die Auswirkungen globaler Vernetzungen auf die nationalstaatliche Politik.
Fasst man all diese vielen Forschungspunkte abstrakt zusammen, so lässt sich sagen, dass die zentralen Themen der politischen Soziologie die institutionelle Ordnung
politischer Herrschaft, ihre Funktionen und die sozialen Determinanten des Wandels
dieser Ordnung sind. Hierbei stehen vor allem kollektive Großakteure im Mittelpunkt
der Forschung, insofern sie in der Verfolgung ihrer ideellen und materiellen Interessen
Herrschaft ausüben bzw. die Herrschaftsausübung des übergeordneten Kollektivakteurs „Staat“ beeinflussen.
So wollen wir nun der Frage nachgehen, was die Macht oder Herrschaft eines Staates
überhaupt ausmacht und wie wirkungsvoll gesellschaftliche Kollektivakteure wie politische Parteien, Verbände, soziale Bewegungen oder die politische Öffentlichkeit Einfluss auf seine Macht und Herrschaft nehmen. Da Max Weber hierin viel Entscheidendes vorgedacht hat, wollen wir unter folgendem Punk hauptsächlich auf ihn Bezug
nehmen.
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
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Die Macht, die Herrschaft und der Staat
Laut Weber bedeutet Macht kurz „jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung,
den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese
Chance beruht.“ (Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 1985, S. 38.) Demnach ist
Macht etwas Allgemeines, das jeder Mensch in der Alltagswelt der Möglichkeit nach
auf andere ausüben kann. Die Definition schließt aber freilich nicht aus, dass Träger
der Macht neben Einzelpersonen auch Gruppen, Verbände, Parteien oder ganze
Staaten sein können, da sie alle in sozialen Beziehungen mit anderen Gesellschaftsakteuren stehen.
In diesem Zusammenhang ist auch der soziologisch herausgestellte Gedanke wichtig,
dass Macht nicht von allgemeinen Handlungsträgern ausgehen muss, um sozial zu
wirken, sondern allein schon durch ihre Verankerung in kognitiven Strukturen (also in
den Köpfen von Gesellschaftsmitgliedern) handlungsleitend ist. Der Begriff der Macht
ist somit schwer dingfest zu machen. Alle möglichen Situationen und Konstellationen
können Gesellschaftsakteure in die Lage versetzen, den eigenen Willen gegen das
Widerstreben anderer durchzusetzen.
Einen wissenschaftlichen Ausweg aus dieser Komplexität bietet der Begriff der Herrschaft, denn er ist definitionsgemäß präziser als der Machtbegriff auf das Handeln
einzelner Sozialeinheiten hin zu beziehen. Jeder Macht wohnt erfahrungsgemäß die
Tendenz inne, sich zur Herrschaft zu institutionalisieren, wenn die soziale Umwelt es
zulässt. In demokratisch entwickelten Gesellschaften, in denen dem Individuum Freiheitsrechte garantiert sind, wird versucht, mithilfe von Gewaltenteilung, der Rechtsordnung oder den Massenmedien die Machtausübung transparent und berechenbar
zu machen.
Seit der Reformation wird mit dem Begriff der Macht vermehrt derjenige der Herrschaft
in Verbindung gebracht, im Sinne der konkreten Ausübung von Macht mitunter als
Zwang. Soziologisch sind mit „Herrschaft“ insbesondere seit Weber solche sozialen
Beziehungen gemeint, die auf dauerhafte Über- und Unterordnung angelegt sind,
wobei diese Hierarchie gerechtfertigterweise durch gute Gründe bestehen soll. Im
Gegensatz zu Marx, der Macht und Herrschaft gleichermaßen verstand, stellte Weber
einen Unterschied zwischen beiden heraus, indem er Herrschaft als eine spezielle
Form legitimer Macht interpretierte.
Man erkenne eine legitime Herrschaft daran, dass die von ihr Betroffenen sie als vernünftig anerkennen und ihr deshalb Gehorsam leisten. „Herrschaft soll heißen die
Chance“, so Weber knapp, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft, 1985: 38.) Zur
Präzisierung dieser Aussage unterschied Weber zwischen drei Typen legitimer, d. h.
nicht etwa durch rohe Gewalt erzwungener Herrschaft:
–
„Charismatische Herrschaft“: Ihre Legitimität gründet sich auf dem irrationalen
Glauben der Beherrschten an außergewöhnliche, wenn nicht gar übernatürliche
Fähigkeiten des Herrschers (Führerkult)
–
„Traditionale Herrschaft“: Sie legitimiert sich durch die Verehrung des Überkommenen, d. h. aufgrund des Glaubens an die Unantastbarkeit des Überlieferten
aus der Vergangenheit
–
„Rationale oder legale Herrschaft“: Sie gewann in modernen Zeiten zunehmend
an Bedeutung, wobei ihre Legitimität auf dem Glauben an die Legalität rational
vorgegebener Ordnungen (Satzung) und auf der Anerkennung des Anweisungsrechtes ihrer Vertreter im Verwaltungsstab (Bürokratie) basiert
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
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Macht und Herrschaft sind nach den Definitionen Webers nicht allein Dinge, die Staaten oder Regierungen innehaben, sondern prinzipiell alle Menschen oder Gruppen
über andere Gesellschaftsakteure ausüben können. Wie aber ist speziell die Beziehung zwischen Macht oder Herrschaft und Staat zu denken? Die Idee des „Machtstaates“, die schon in der Antike einige Sophisten beschäftige, wurde zu Beginn der Neuzeit, wie oben gezeigt, von Machiavelli weiterentwickelt und später noch drastischer
von Hobbes vertreten.
Auch die moderne Staatslehre sieht im Staat im Wesentlichen einen Machtverband,
wobei seine Macht als Mittel begriffen wird, die Einheit, Freiheit und Selbsterhaltung
der „Nation“ zu sichern, die definitionsgemäß durch eine gemeinsame Kultur und
Sprache ihres Volkes geprägt ist. Weber dagegen versteht den Staat in seiner Herrschaftssoziologie weniger als Inhaber und Anwender von Macht und mehr als einen
politischen Anstaltsbetrieb, der über das Gewaltmonopol verfügt und, wenn nötig, in
Anspruch nimmt. Der moderne Staat (so wie er sich hauptsächlich in Europa und
Nordamerika herausgebildet hat) ist so gesehen ein auf Legitimität gestützter Herrschaftsverband von Menschen über Menschen mit dem erworbenem Monopol, Gewalt
gesellschaftlich anzuwenden.
Der moderne Staat leistet sich dafür einen bürokratisch korrekt nach vereinbarten
Regeln handelnden Verwaltungsstab, der das Monopol körperlichen Zwang auszuüben wahrnimmt, wenn es zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung nötig
ist. Neben Territorialität, Gewaltmonopol und Fachbeamtentum ist Weber zufolge der
moderne Staat deshalb an einer bürokratischen Herrschaft erkennbar. Nach klassischer Vorstellung ist der Staat zudem nach außen hin durch den Anspruch auf volle
Unabhängigkeit („Souveränität“) von anderen Staaten gekennzeichnet.
Abb. 2:
Ausübung von Macht
Zum Gebiet und Volk eines Staates gehört also immer auch seine potenzielle Gewalt.
Unabhängig von allen politischen Zielen eines Staates (z. B. Gebietsgewinn durch
Krieg) ist die älteste und umfassendste Funktion der Staatsgewalt die des Schutzes
seiner Bürger was ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Freiheit betrifft. Nach Hobbes
kommt es zur Gründung von Staaten und zur freiwilligen Übertragung von Zwangsmitteln an die Staatsgewalt deshalb, weil die einzelnen Gesellschaftsmitglieder angesichts der Vorstellung eines ungeregelten, von Gewalt beherrschten „Naturzustandes“
erkennen, dass sie sich nur durch eine solche Unterwerfung umfassend gegen den
„Krieg aller gegen alle“ schützen können.
Der moderne Staat ist aufgrund der allgemeinen Anerkennung seiner gesetzlich geregelten Gewalt mit dem Schutz aller seiner Bürger im Kollektiv beauftragt. Dieser beinhaltet – ermöglicht durch Steuermittel – den militärischen Schutz gegen äußere Feinde (andere Staaten), den Schutz gegen Naturgewalten (Katastrophenschutz), aber
auch den Schutz gegen mögliche Schäden, welche Bürger sich gegenseitig zufügen
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können (Polizeischutz). Im Laufe der Industrialisierung gewann auch das kollektive
Schutzziel der „sozialen Sicherheit“ im Rahmen des „Wohlfahrtsstaates“ eine wichtige
Dimension. Und zwar zu dem Zweck, die Arbeitnehmer und ihre Familien vor den
Risiken kapitalistischer Produktionsverhältnisse (Arbeitsunfall, unversorgtes Alter,
Krankheit, Arbeitslosigkeit) zu schützen. Auch die institutionelle Ordnung des Staates
und seiner Verfassung („Verfassungsschutz“) ist durch die Staatsgewalt zu gewährleisten, indem sie über die Einhaltung der geltenden Gesetze und der Verfassungsnormen wacht.
Die Verfassung eines Staates regelt über Grundrechte unter anderem die Beziehungen zwischen ihm und Teilen der Gesellschaft, die nicht unmittelbar unter seiner Gewalt stehen, sondern sich mehr oder weniger frei entwickeln können. Man fasst diese
Teile soziologisch heute mit dem Begriff der Zivilgesellschaft zusammen.
Ihr steht der Staatsapparat mit seinen hoheitlichen Funktionen gegenüber, die im Einzelnen durch die Regierung, durch das Parlament, durch die Justiz, durch Behörden
oder durch die Polizei erfüllt werden. Die soziale Sphäre der Zivilgesellschaft umfasst
dagegen alle gesellschaftlichen Zusammenschlüsse von Privatleuten, die zur Verfolgung ihrer Interessen und zur Lösung sozialer Probleme eingegangen werden, beispielsweise im Rahmen von Sportvereinen, Bürgerinitiativen, Wohlfahrtsverbänden
oder Nichtregierungsorganisationen.
Mit „Zivilgesellschaft“ bezeichnet man also die Gesamtheit der nichtstaatlichen Kooperationen in selbstorganisierter und selbstverwalteter Form, durch die verantwortlich
handelnde Bürger sich für die Zivilisierung und Demokratisierung ihres gesellschaftlichen Umfeldes einsetzen; was sich letztlich auch durchaus staatsverändernd auswirken kann, etwa durch Gesetzesänderungen. Trotz ihrer relativen Freiheit ist die Zivilgesellschaft in ihrer Entwicklung freilich auf staatlich geschützte Rechte angewiesen
und auf staatlich vorgegebene Regeln abgestellt. So kann man sagen, dass die Zivilgesellschaft in einem inneren Gegensatz zum Staat und seiner Gewalt steht, die sie
zu ihrer Sicherheit allerdings doch braucht. Das ist ein grundsätzlich anderes Politikverhältnis als das äußere, in dem ein Staat zu einem andern Staat steht.
Die Macht über die Staatsgewalt liegt in modernen Gesellschaften natürlich nicht mehr
in den Händen einzelner absolutistischer Herrscher (Königin, Kaiser), sondern wird
durch die Gewaltenteilung geregelt, die als einer der zentralen Punkte in der Verfassung verankert ist. Wie gesehen, ist die Gewaltenteilung ein auf Montesquieu zurückgehendes Prinzip zur Durchsetzung einer demokratischen Grundordnung, um einerseits individuelle Grundrechte zu garantieren und andererseits der Gefahr denkbaren
Missbrauchs konzentrierter politischer Macht zu begegnen.
Im Parlamentarismus moderner Industriegesellschaften ist der Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative realisiert, damit sie sich
gegenseitig kontrollieren. Zur politischen Kontrolle trägt heutzutage auch viel die Kritik
der Medien an sozialpolitischen Missständen bei, die dadurch auch den politischen
Willensbildungsprozess vorantreiben, der ursprünglich Hauptaufgabe von Parteien
und Interessenverbänden war. Neben „Parteien“ und „Verbänden“ sind die medienvermittelte „politische Öffentlichkeit“ und die „Sozialen Bewegungen“ die wichtigsten
gesellschaftlichen Kollektivakteure. Diesen soll daher im Folgenden unser politiksoziologisches Interesse gelten. (Vgl. dazu Joas, H. (Hg.): Lehrbuch der Soziologie, 2007,
S. 520ff.)
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Die vier bedeutendsten gesellschaftlichen
Kollektivakteure
Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft ist für das Verständnis der Moderne wesentlich. Als soziales Gebilde ist der demokratisch organisierte Staat ein
Bestandteil der Gesellschaft, wobei er sie als übergreifende politische Macht stark
mitbestimmt und mitgestaltet, sodass beide Sphären weitgehend verschränkt sind. Die
zentralen gesellschaftlichen Kollektivakteure in demokratisch verfassten Staatsgesellschaften sind politische Parteien, politische Verbände, soziale Bewegungen und die
politische Öffentlichkeit.
Politische Parteien sind Verbindungen von Menschen, die aufgrund gleicher Ideen
oder Interessen Einfluss auf die politische Willensbildung erstreben, insbesondere
durch ihre Stellung zur Wahl der Volksvertretung. Vordringliches Ziel jeder Partei ist
deshalb immer der Wahlerfolg. Ab einem festgelegten Prozentergebnis ermöglicht er
die Entsendung von Abgeordneten in Parlamente und gegebenenfalls auch die Beteiligung an Regierungen, die z. B. in Deutschland typischerweise Koalitionsregierungen
sind. Gemäß Grundgesetz müssen Parteien in einer bestimmen Weise organisatorisch aufgebaut sein. Allerdings genießen sie Privilegien wie etwa die staatliche Teilfinanzierung ihrer Ausgaben. Hauptaufgaben der Parteien sind die Mobilisierung von
Mitgliedern und Wählern, die orientierende Integration von Wählerschaften, das Erstellen politischer Programme und die Hervorbringung politischer Eliten.
Politische Parteien in Deutschland und anderen Demokratien haben quasi eine Vermittlerposition zwischen Gesellschaft und Staat, was die politische Willensbildung
betrifft. Sie stehen hier gleichsam zwischen zwei Stühlen, denn ihre Förderung
(„Parteienfinanzierung“) durch den Staat verpflichtet sie einerseits diesem gegenüber,
andererseits sind sie Zusammenschlüsse zur Repräsentation des Volkes und also der
Gesellschaft als Ganze gegenüber verpflichtet. Die soziologische Parteienforschung
unterscheidet zwischen verschiedenen Typen von Parteien und Parteiensystemen
(z. B. Zweiparteien- versus Mehrparteiensystem). Diese hängen in ihren Strukturen
und in ihren Beständen hauptsächlich von der Art des Wahlrechtes, vom Wahlverhalten der Bürger, von der Zusammensetzung der Wählerschaft sowie von den Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen Großorganisationen wie etwa Gewerkschaften
oder Arbeitgeberverbände ab.
Als politische Verbände bezeichnet man Interessenorganisationen, die in engem
Kontakt mit Parteien stehen können, die ihnen für gewöhnlich politisch nahestehen.
Verbände repräsentieren ihre recht homogene Mitgliederschaft in erster Linie bezüglich bestimmter Berufsstände. Das Organisationsziel von Verbänden ist die Verteidigung und Durchsetzung von Mitgliederinteressen, die oftmals nicht offenbar sind,
sondern durch die Verbandsleitungen intern ausgehandelt und definiert werden müssen. Die Verbandsinteressen gilt es nicht nur gegenüber der Staatsmacht (z. B. durch
Verhandlungen mit Ministern), sondern auch gegenüber anderen Verbänden zu vertreten, sodass Verbände folglich oft zu dauerhaften Verhandlungssystemen zusammengeschlossen sind. Das wichtigste System ist hierbei dasjenige zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Rahmen der Festsetzung von Gehältern
(„Tarifverhandlungen“).
Es ist eine staatlich anerkannte Form des sogenannten „Korporativismus“ (auch „Korporatismus“ genannt). Die Einigungsergebnisse aus Tarifverhandlungen z. B. haben
denselben Status wie rechtliche Regelungen durch den Staat. In ihrer Vermittlungsfunktion entlasten Verbände Staatsregierungen, da Entscheidungen, was etwa Verteilungskonflikte betrifft, nicht durch das Parlament herbeigeführt werden müssen. Eine
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Sonderform von Verbänden sind Zwangsverbände wie z. B. die sogenannten „Kammern“, denen notwendige Öffentlichkeitsaufgaben zur Selbstverwaltung und Selbstregulierung staatlich übertragen wurden, wie etwa die Organisation von Prüfungen im
Berufsbildungswesen durch die Industrie- und Handelskammern. Die Macht großer
Verbände darf nicht unterschätzt werden, denn Industrieverbände, Gewerkschaften
oder Kirchen haben trotz globaler Wirtschafts- und Politikzwänge nach wie vor einen
starken Einfluss auf die Entscheidungen von Regierung und Parlament.
Ein weiterer wichtiger Kollektivakteur sind die sogenannten sozialen Bewegungen.
Wie Parteien vertreten und fördern sie verschiedene Interessen der Bevölkerung ohne
jedoch mit dem Ziel, Funktionen im Parlament oder der Regierung zugesprochen zu
bekommen. In Deutschland und anderen westlichen Industrienationen haben soziale
Bewegungen wie die Frauen-, Ökologie-, Friedens-, Bürgerrechts- oder Studentenbewegung seit den 1960er-Jahren die politische Landschaft vielfältig mitgeprägt und den
sozialen Wandel mitgestaltet. Sie unterscheiden sich von den großen Volksparteien
hauptsächlich durch eine kleinere soziale Basis, durch eine weniger straffe Organisation und durch eine engere thematische Bandbreite.
Es geht bei ihren Interessenvertretungen auch nicht um die Durchsetzung bestimmter
politischer Programme und ambitionierter Persönlichkeiten, sondern vor allem um den
Protest gegen bestimmte Gesellschaftsverhältnisse, die als ungerecht empfunden
werden. Adressat dieser Protestpolitik ist einerseits die Staatsgewalt in Gesetzgebung, Regierung und Justiz, andererseits die politisch interessierte Öffentlichkeit insgesamt, um sie für die eigene Sache zu gewinnen. Aufgrund ihrer Focusierung auf ein
bestimmtes Thema (z. B. Krieg oder Umwelt) sind soziale Bewegungen oft nur konjunkturelle Erscheinungen. Sie entstehen und vergehen je nach sozialer Problemlage
und können mal mehr, mal weniger präsent sein. Da die heutigen Industriestaaten
aber zusehends mit globalen Weltproblemen konfrontiert sind, verlieren staatlich gebundene Parteien gegenüber international orientierten sozialen Bewegungen zunehmend an Boden in der politischen Sinnstiftung. Angesicht dieses Trends soll der Soziologie zu sozialen Bewegungen später im Lehrgang ein eigenes Heft in der Reihe der
„Bindestrichsoziologien“ zukommen.
Schließlich darf das Machtpotenzial der Öffentlichkeit, die Gegenwelt zur Privatheit
sozusagen, bei der Frage, wohin sich Gesellschaften entwickeln, nicht vergessen
werden, denn sie mischt in funktionierenden Demokratien definitionsgemäß auch kräftig mit bei der politischen Meinungs- und Willensbildung. Zentral für die Schaffung und
Erhaltung politischer Öffentlichkeit sind die Medien, welche die Gesellschaft ihrer
interessierten Leser, Zuhörer und Zuschauer gegenüber der staatlichen Politik sozusagen in sozialpolitische Stellung bringt.
Vermittelt durch die Medien stellt sich die politische Öffentlichkeit basisdemokratisch
bei der sogenannten „Massenkommunikationen“ ein, wenn gesellschaftsrelevante
Probleme etwa am Arbeitsplatz, in Vereinen, in Religionsgemeinschaften, in Nachbarschaften oder in Familien besprochen werden. Bestenfalls bilden „Medien“ und „Massenkommunikation“ eine kritische und sich gegenseitig befruchtende Einheit in der
Meinungs- und Urteilsbildung über öffentliche Angelegenheiten.
Eine wache Öffentlichkeit dergestalt ist erfahrungsgemäß auch ein Garant für demokratische Verhältnisse im Staat, vorausgesetzt die Interessen, Forderungen und Themen aus der breiten Masse werden medial angemessen repräsentiert und finden Resonanz in der Tätigkeit von Gesetzgebung und Regierung. Für die Interessenvertretung von Parteien, Verbänden oder sozialen Bewegungen können die Sprachrohre
der Medien entscheidende Verstärkerfunktionen haben.
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
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Dass die politische Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert in demokratischen Gesellschaften hat, ist z. B. daran ersichtlich, dass Parlamente öffentlich tagen. Auf diese
Weise geben sie den Bürgern über die mediale Verbreitung zumindest die Gelegenheit zur passiven Teilnahme an ihren Kommunikationen, sodass sie sich in der Massenkommunikation niederschlagen können. Auch die spezielle Soziologie zu den Medien und der Massenkommunikation wird wegen ihrer heutigen Bedeutung noch Thema einer späteren Lerneinheit im weiteren Verlauf des Lehrgangs sein.
Abb. 3:
Bildliches Beispiel für ein modernes Parlament
Quelle:
http://de.wikipedia.org/wiki/Parlament
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages traditionell versammelt zur Debatte im
Plenarsaal des Reichstagsgebäudes. Schon in der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche (1849), bei der man sich nach der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung von 1789 richtete, wurde zwischen
„linken“ und „rechten“ Gruppierungen unterschieden. Damals wie heute saßen und
sitzen aus der Sicht des Parlamentspräsidenten (Rednerpult) links die Fortschrittlichen, denen es um die soziale Erneuerung der Gesellschaft geht (z. B. SPD) und auf
der rechten Seite im Parlament die konservativen Gruppierungen (z. B. CDU), die
mehr um den Erhalt bestehender Errungenschaften bedacht sind.
19.3
Selbstlernaufgaben
1.
Wer war der Begründer der Lehre von der Staatsräson und was versteht man
darunter?
2.
Tocqueville war ein Befürworter der Demokratie als Staatsform für zivilisierte
Menschen. Trotzdem hatte er als Staatstheoretiker ein ambivalentes Verhältnis
zu ihr. Was macht diese Doppelwertigkeit aus?
3.
Weber machte neben der traditionalen und rationalen Herrschaftsform noch die
charismatische Herrschaft als gesellschaftlich wirkend aus. Welche unheilvolle
Zeit nach ihm kann zur Bestätigung der gesellschaftlichen Wirksamkeit dieser
Herrschaftsform genannt werden?
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
Lernheft 19
4.
Das Zweiparteiensystem (Beispiel USA) und Mehrparteiensystem (Beispiel BRD)
sind üblich in demokratischen Staaten. Welches Parteisystem ist oft in nichtdemokratischen Staaten, z. B. in kommunistisch regierten vorzufinden?
5.
Wodurch unterscheiden sich soziale Bewegungen von politischen Volksparteien
hauptsächlich?
19.4
Zusammenfassung
Das 19. Lernheft ist der Politiksoziologie gewidmet. Es führt uns in die zentralen Thematiken dieser altehrwürdigen Bindestrichsoziologie ein. Neben ihrer Geschichte ging
es uns vor allem darum, wie die Begriffe „Macht“, „Herrschaft“ und „Staat“ politiksoziologisch korrekt aufeinander zu beziehen sind und wie die bedeutendsten gesellschaftlichen Kollektivakteure politisch wirken. Im Folgenden seien die wichtigsten Punkte
dieser Lerneinheit zusammenfasst:
–
Vor der Entwicklung der Soziologie als eigenständiges Wissenschaftsfach etwa
durch Auguste Comte sind bereits Philosophen und Gelehrte mit wissenschaftlichen Abhandlungen hervorgetreten, welche die politische Soziologie auf den
Weg gebracht haben. Zu nennen sind hier vor allem die kritische Unterscheidung
von Staatsformen durch Aristoteles, Machiavellis Konzept von der Staatsräson,
die Gesellschafts- und Staatslehre Hobbes‘, Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung und die Demokratietheorie Tocquevilles
–
Viele wichtige Beiträge zur Politiksoziologie hat Max Weber geliefert, indem er
Grundbegriffe wie Macht, Herrschaft, Staat, Partei oder Verband nachhaltig definierte, eine idealtypisch verfasste Herrschaftssoziologie in historisch vergleichender Art vorgelegt hat, die moderne Bürokratie als einen bestimmenden Faktor okzidentaler Rationalisierung erforschte, eine berühmte Schrift zur Beziehung zwischen Politik und Ethik konzipierte und auch zeitgeschichtliche Stellungnahmen
politiksoziologischer Art niedergeschrieben hat
–
Im Gegensatz zu Marx, der die Begriffe Macht und Herrschaft in derselben Weise
verstand, stellte Weber einen Unterschied zwischen ihnen heraus, indem er Herrschaft als eine spezielle Form legitimer Macht interpretierte. Legitime Herrschaft
sei daran zu erkennen, dass die von ihr Betroffenen sie als gut begründet anerkennen und ihr deshalb Gehorsam leisten. Weber unterschied drei Typen legitimer Herrschaft: die charismatische, traditionale und rationale (legale) Herrschaft
–
Die älteste und umfassendste Funktion der Staatsgewalt ist die des Schutzes der
Staatsbürger, was ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Freiheit angeht. Neben dem
militärischen Schutz, dem Katastrophenschutz und dem Polizeischutz übernahm
der Staat in moderner Zeit auch den Schutz der sozialen Sicherheit und den
Schutz der Verfassung
–
Neben der Gewaltenteilung trägt zur politischen Kontrolle heutzutage auch viel
die Kritik der Medien an sozialpolitischen Missständen bei, wobei sie sich im demokratischen Sinne an der Massenkommunikation orientieren sollte. Medien beeinflussen so auch den politischen Willensbildungsprozess, dessen Gestaltung
einst Hauptaufgabe von Parteien und Interessenverbänden war. Neben politischen Parteien und politischen Verbänden sind die medienvermittelte politische
Öffentlichkeit und die sozialen Bewegungen die wichtigsten gesellschaftlichen
Kollektivakteure
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Spezielle Soziologie: Politiksoziologie
19.5
Lernheft 19
Hausaufgabe
1.
Die italienischen Soziologen Pareto und Mosca interpretieren die politische
Herrschaft von Gesellschaften in ähnlicher Weise. Erläutern Sie in wenigen
Sätzen, wie Pareto sie versteht!
2.
Inwiefern kann man politiksoziologisch mit Recht behaupten, dass politische
Parteien zwischen Staat und Gesellschaft stehen?
19.6
Lösungen zu den Selbstlernaufgaben
1.
Der Begründer der Lehre von der Staaträson war Niccolò Machiavelli. Sie besagt,
dass die staatliche Macht unter allen Umständen gegenüber umstürzlerischen
Bestrebungen und gegenüber religiösen Ansprüchen zu erhalten ist.
2.
Einerseits die Erkenntnis, dass das demokratische Streben nach Gleichheit sich
seit langem berechtigterweise diagnostizieren lässt, andererseits die Befürchtung, dass gleichmacherische Bestrebungen in despotische Verhältnisse umschlagen, welche die Freiheit des Individuums bedrohen.
3.
Die mit unsäglichem Leid verbundene charismatische Herrschaft im faschistischen Europa des 20. Jahrhunderts, verkörpert insbesondere durch den „Führer“
Adolf Hitler.
4.
Das Einparteiensystem, das z. B. in China als offizieller „Volksrepublik“ hochgehalten wird.
5.
Durch eine kleinere soziale Basis, durch eine weniger straffe Organisation und
durch eine engere thematische Bandbreite.
19.7
Anlage
Vertiefende Literatur zu diesem Lernheft:
Joas, H. (Hg.):
Lehrbuch der Soziologie, 2007, S. 505 – 539.
Kaina, V. (Hg.), Römmele, A. (Hg.): Politische Soziologie:
Ein Studienbuch, 2008.
Weber, M.:
Politik als Beruf, 1919.
Quelle:
Cartoons: www.ideevisuell.de
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