Das Wesen und die Bedeutung der Stimmungen in der

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Bergische Universität Wuppertal
Master Erasmus Mundus
„Deutsche und französische Philosophie in Europa“
Das Wesen und die Bedeutung der
Stimmungen in der Fundamentalontologie
Heideggers
Masterarbeit
Dana Mudrová
Betreuung: Prof. Dr. László Tengelyi
Wuppertal 2009
Hiermit bestätige ich, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst und keine anderen
als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe.
Wuppertal, Juni 2009
Dana Mudrová
2
Inhalt
Einleitung.................................................................................................................4
1. Kapitel: Quelle und Methode.............................................................................12
1.1. Fundamentalontologie................................................................................13
1. 1. a) Fundamentalontologie, existenziale Analyse (Sein und Zeit)..........13
1. 1. b) Fundamentalontologie und Metontologie, Transzendenz und
Metaphysik (GA 26, Vom Wesen des Grundes, Was ist Metaphysik?)........17
1. 1. c) Metaphysik und formale Anzeige (GA 29/30).................................19
1. 2. Methodische Rolle der Stimmungen in der Fundamentalontologie als
existenziale Analytik.........................................................................................24
1. 2. a) Stimmungen als methodischer Zugang zur Ganzheit des Daseins
(Ausweisung der Sorge), zum eigentlichen Ganzseinkönnen: Sein und Zeit
......................................................................................................................24
1. 2. b) Stimmungen und ihre Rolle für Transzendenz (GA 26, Was ist
Metaphysik?, Vom Wesen des Grundes).......................................................30
1. 2. c) Grundstimmung des Philosophierens (GA 29/30)............................35
1. 3. Zusammenfassung von 1. Kapitel.............................................................37
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen.....................................................................39
2.1. Sein und Zeit: Furcht und Angst.................................................................39
2. 1. a) Befindlichkeit ..................................................................................39
2. 1. b) Befindlichkeit und Zeitlichkeit.........................................................45
2. 1. c) Zusammenfassung............................................................................48
2. 2. GA 29/30: Langeweile...............................................................................49
2. 2. a) Drei Schichten der Langeweile: Gelangweiltwerden von...,
Sichlangweilen bei..., tiefe Langeweile........................................................50
2. 2. b) Langeweile und Zeitlichkeit.............................................................54
2. 2. c) Zusammenfassung............................................................................55
2. 3. Zusammenfassung von 2. Kapitel............................................................56
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse...............58
3. 1. Stimmungen – Methode und Struktur ......................................................58
3. 2. Zur Frage nach dem Ursprung der Stimmungen.......................................60
Zusammenfassung..................................................................................................62
Literaturverzeichnis................................................................................................65
3
Einleitung
Einleitung
Stimmungen stellen in der letzten Zeit ein ziemlich populäres Thema dar. Es ist
nicht übertrieben zu sagen, dass vor allem Heidegger dieses Thema neu eröffnet
hat, obwohl er selbst die philosophische Arbeit auf diesem Gebiet von Augustin,
Pascal, Keirkegaard oder Scheler1 anerkennt. Ganz oft werden Stimmungen mit
dem Thema „Gefühle“, „Affektivität“ oder „Sensibilität“ verwechselt, das die
Stimmungen als psychologisches Phänomen betrachtet. Bei Heidegger geht es um
eine tiefgehende und begründende, also „fundamentale“ Bestimmung des Seins
des Daseins, die so etwas wie Gefühle, Affektivität oder Sensibilität erst
ermöglicht. Das Dasein ist nämlich immer schon gestimmt, es befindet sich in
einer Stimmung. Meine Arbeit soll als ein Überblick der früheren Texte
Heideggers in Hinsicht auf Stimmungen dienen. Es geht mir nicht um eine
weitgehende Interpretation oder textkritische Arbeit. Ich versuche die Struktur und
ontologische Bedeutung der Befindlichkeit, bzw. Stimmung bei Heidegger zu
erklären.
Welche Fragen stellt man mit dem Thema der Stimmungen? Heideggers
Fundamentalontologie bietet eine Art des Wegs zu den Fragen der Philosophie,
bzw. Phänomenologie. Eine von diesen Fragen ist die Frage nach Erkenntnis, die
sich als sekundäre oder nur scheinbare Frage zeigt. Im Zeitalter, in dem Heidegger
gearbeitet hat, war nämlich die Erkenntnis der Gegenstand des Streits zwischen
Realismus und Idealismus, zu dessen Klärung auch Husserl viel beigetragen hat.
Heidegger wollte noch tiefer als Husserl gehen. Stimmungen sind die Weise
unseres
In-der-Welt-seins, d. h. sie ermöglichen erst solches Erkennen. Die
zweite Frage ist die Frage nach den Stimmungen selbst. Sie sind schon immer da
und doch überkommen sie uns. Wir können also zwei Bereiche des Fragens
bestimmen:
1
Heidegger hat nicht das Thema der Stimmungen erfunden, sondern wiedereröffnet und
erweitert. Er selbst beruft sich vor allem in seiner Angstanalyse auf Kierkegaard. Sonst
interpretiert er sowohl Aristotelische, Pascalische und Augustinische Motive der Affektivität
und Gefühle, als auch auf Max Scheler oder Kant neu.
4
Einleitung
1. Welche Rolle spielen Stimmungen für die Erkenntnis? Sind sie ein Modus
des Erkennens?
2. Woher überkommen uns Stimmungen?
Die erste Frage ist nicht meine zentrale Frage, trotzdem möchte ich sie kurz
erörtern, weil sie sich an der philosophischen Tradition ausrichtet. Die
Erkenntnisfrage dient nämlich als begrenzende Frage, die Heidegger immer
erwähnt, wenn er zeigen will, dass seine fundamentale Ontologie tiefer geht und
ursprünglicher ist als Erkenntnisfragen. Damit kann Heidegger auch deutlicher
beschreiben, was Erschließen heißt und wie es mit der Wahrheit (als
Erkenntniswahrheit) zusammenhängt. Die Erschließenfunktion haben gerade
Stimmungen, deswegen finde ich es richtig, sich auch mit der Erkenntnisfrage
hier kurz zu beschäftigen.
Heidegger geht von der Erklärung des Problems bei Husserl aus. Husserl hat
als erster das Problem des Streits zwischen Idealismus und Realismus so
beschrieben, dass klar geworden ist, worin es liegt. Worum geht es in diesem
Streit? Es geht um das Problem der Transzendenz, bzw. um das der Möglichkeit
der Erkenntnis2: Wie kann man die Kluft zwischen dem Subjekt (dem
Bewusstsein) und dem Objekt (der Außenwelt) überwinden? Die Antwort des
Idealismus lautet: durch mein Bewusstsein. Wie kann ich dann aus dem
Bewusstsein zur objektiven Welt, zur objektiven Bedeutung kommen? Ist die
ganze Welt nur eine Projektion von meinem Bewusstsein? Der Realismus hat das
umgekehrte Problem: Die objektive Welt „schickt“ ihre Abbilder ins Bewusstsein.
Wer garantiert aber die Wahrhaftigkeit des Abbildes? Gott? Beide Lösungen sind
unhaltbar und Husserl erklärt, warum: Schon die Frage selbst ist nämlich falsch
gestellt und stellt, Husserls Meinung nach, ein Pseudoproblem dar. Die Frage
vermischt zwei Positionen oder mit anderen Worten ein doppeltes Verhältnis des
Ichs: Die Position eines „natürlichen Menschen“ und die Position des
„transzendentalen Subjekts“. Der natürliche Mensch ist schon in der Welt, d. h. er
ist von der Außenwelt überzeugt und muss sich nicht nach dem Zugang zu Dingen
2
EDMUND HUSSERL: „Cartesianische Meditationen“, in: Gesammelte Schriften / Edmund Husserl
(Bd. 8). Hrsg. von Elisabeth Ströker, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1992, S. 84-85
5
Einleitung
in der Welt fragen. Der Mensch verhält sich aber auch zur Welt als zum Ganzen,
das das Sein des Seienden in der Welt und seinen Sinn ausmacht. Dieses
Verhältnis kommt vom transzendentalen Subjekt her, das die Transzendenz des
Objekts im Bewusstsein (innerhalb der Immanenz) konstituiert. Aus der Position
des transzendentalen Ichs kann man nach der Sinnbildung und damit nach den
Erkenntnisstrukturen fragen. Das Bewusstsein ist an die Welt und ihre
Gegenstände durch die Intentionalität gebunden. Transzendenz3 ist auch ein
intentionaler Bezug zum Gegenstand, der von Wahrnehmungen ausgeht. Es geht
jetzt Husserl darum, diesen Bezug zu beschreiben. Damit wird die
Erkenntnisleistung (als intentionale Leistung) erklärt, ohne eine „Objektivität“
beweisen zu müssen. Aus der Position des Bewusstseins des transzendentalen Ich
kann man beschreiben, was im Bewusstsein des natürlichen Ich beim Erkennen
geschieht. Die Methode der Beschreibung soll Phänomenologie (mit ihren
„Reduktionen“) sein. Husserl glaubte, dass er - wenn man die Struktur der
konstituierenden Intentionalität beschreibt – den Fehler der „dogmatischen
Weltanschauungen“ des Idealismus und Realismus vermeidet. Phänomenologie
sei deskriptiv und nicht „dogmatisch“ im Sinne einer absoluten Seinsetzung.
In den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs4, am Anfang von Sein und
Zeit5 sowie in Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz6
geht Heidegger immer wieder zurück auf das Problem des Realismus, Idealismus
und Erkenntnisfragens. Es geht ihm jedoch nicht um eine Erkenntnistheorie oder
Beschreibung des Erkennens. Erkennen ist laut Heidegger eine Seinsart des
Subjekts, die schon voraussetzt, das Subjekt und Objekt eine Beziehung haben
(nämlich das In-der-Welt-sein)7. Darin stimmt er mit Husserl überein. Und doch
reicht Heidegger nicht die Beschreibung der Transzendenz auf Grund der
3
4
5
6
7
„Transzendenz in jeder Form ist ein innerhalb des Ego sich konstituierender Seinssinn“,
EDMUND HUSSERL (1992), S. 86
MARTIN HEIDEGGER: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“, in: Gesamtausgabe/ II.
Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 20). Klostermann, Frankfurt am Main, 1979, § 20 (im
folgenden Text abgekürzt mit „GA 20“)
MARTIN HEIDEGGER: „Sein und Zeit“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften
1914-1970 (Bd. 2). Hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Klostermann, Franfurt am
Main, 1977, §§ 10., 12., 13., 43., 44. (im folgenden Text abgekürzt mit „SZ“)
MARTIN HEIDEGGER: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ in:
Gesamtausgabe / II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 26). Hrsg. von Klaus Held,
Klostermann, Frankfurt am Main, 1978, S. 153-171 (im folgenden Text abgekürzt mit „GA
26“)
SZ, § 12.
6
Einleitung
Intentionalität, wie es Husserl versucht. Auch Intentionalität ist nämlich in der
Seinsweise des menschlichen In-der-Welt-seins begründet. Heidegger vertieft also
die Frage nach dem Erkennen, die auch enthüllt, warum es in der Sache selbst
liegt, dass wir Erkenntnis überhaupt als Problem fassen können (obwohl sie kein
richtiges Problem darstellt).
Erkennen ist eine von mehreren Arten des „In-Seins“8 (des In-der-Welt-seins),
die Heidegger als „Nur-noch-verweilen bei...“ bezeichnet. Es ist auch eine Weise
unseres Besorgens in der Welt. Erkennen hat also eine gestufte Struktur9. Der
Grund ist das „In-Sein“ als „Schon-sein-bei“ einer Welt. Erste Stufe ist dann
etwas, das wir als Intentionalität bezeichnen können: das „Sichrichten-auf“ etwas.
Zweite Stufe ist das „Sichaufhalten-bei“ einem Seiendem, worauf sich das Dasein
richtet, und gründet im „Sichrichten-auf“, das ihr die „Perspektive“ gibt, von wo
man das Seiende ansieht. Dritte Stufe vollzieht sich als „Vernehmen“, das wir
dann viertens als „Verwahrung“, als Besitz oder Behalten der Erkenntnis haben.
Alle Stufen gehen von dem In-Sein aus, doch so, dass das Erkennen das In-Sein
modifiziert: Wir verhalten uns zum Seienden so, dass wir es erkennen. Wir sehen
auf das innerweltliche Seiende seinem Aussehen nach hin, richten auf es unsere
Aufmerksamkeit und damit wir es vernehmen, bestimmen wir es im Vernehmen
und sagen es im Bestimmen aus. „Dieses vernehmende Behalten einer Aussage
über ... ist selbst eine Weise des In-der-Welt-seins“10. Es geht aber nicht um einen
Prozess des Vorstellens, dessen Produkte „innerhalb“ des Subjekts bleiben. Das
Dasein ist im Besorgen immer schon bei der Welt („draußen“). Erkennen als eine
Art des Besorgens ist das Wie des In-der-Welt-seins. Befindlichkeit, bzw.
Stimmungen sind auch ein Moment des „In-Seins“ und konstituieren die
Erschlossenheit des Da des Da-seins. Sie sind ursprünglicher als das, was wir
gewöhnlich Erkennen nennen. Sie verfärben das Erkennen und beeinflussen, dass
und wie wir in Erkennen „sehen“ und dass wir überhaupt „sehen“ können11. Die
Fundamentalontologie sollte
verstehen, wie die Dinge sind, und nicht eine
Erkenntnis gewinnen. Im Sinne einer unthematischen Vertrautheit mit den Dingen
8
9
10
11
Das „In-Sein“ nicht im Sinne einer räumlichen Bestimmung, sondern das „In“ als Welt, wo
etwas uns berühren, begegnen kann (im Sinne von "betreffen“ – Stimmung), vgl. SZ, § 12.
GA 20, S. 219-220
SZ, § 13., S. 83
„Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein
Sichrichten auf...allererst möglich .“ SZ, S. 182
7
Einleitung
in der Welt könnte man vielleicht Stimmungen (in der Einheit mit Verstehen und
Rede) als ursprüngliches Erkennen im weitesten Sinne bezeichnen.
Mit dieser „erkennenden“ Funktion der Stimmungen haben auch Pascal oder
Augustinus gearbeitet, wie Heidegger an ihre Liebe und Haß12 erinnert und die
zugleich auch Max Scheler13 thematisiert hat. Wenn man nämlich das Erkennen
als ursprüngliches Entdecken versteht, dann ist das Erkennen im Sinne einer
Wissenschaft ein Verdeckendes. Verdecken und Entdecken selbst sind jedoch auf
Grund der Stimmungen und des ganzen Seinszusammenhanges des In-der-Weltseins möglich. Heidegger betont, dass Liebe und Haß nicht die einzigen
„erkennenden“ Stimmungen sind. Stimmungen im allgemeinen als Moment der
Struktur des In-der-Welt-seins haben die Funktion des Erschließens. Alle
Stimmungen erschließen die Welt. Sie erschließen die Welt meistens so, dass wir
nicht den Grund des Erschließens sehen: Wir sind bei den erschlossenen Dingen,
die wir besorgen. In diesem Sinne verschließen Stimmungen das eigentliche
In-der-Welt-sein. Es gibt jedoch auch Grundstimmungen, die den Grund der
Erschlossenheit, bzw. Verschlossenheit der Welt erschließen (und zwar so, dass sie
das Besorgen verschließen). Obwohl Heidegger als Grundstimmung zuerst die
Angst wählt, nimmt er sie nur als ein Beispiel. Später führt er die Analyse mit
Hilfe einer anderen Grundstimmung durch, nämlich mit der Langeweile. Es ist
jedoch nicht uninteressant, dass gerade die christliche Philosophie mit der
erkennenden Funktion der Angst arbeitet. Die Inspiration zu Angstanalyse suchte
Heidegger bei Augustinus, Luther und Kierkegaard. Seine Interpretation hat
jedoch die Aufgabe die Wurzeln des menschlichen Daseins zugänglich zu machen
und nicht Gott zu „erkennen“ oder in den Glauben springen.
Erschlossenheit des Daseins und der Welt hängt mit der Wahrheit14 zusammen.
Wahrheit interpretiert Heidegger15 – gegen den traditionellen logischen Begriff,
der eine Übereinstimmung des Urteils mit seinem Gegenstand bedeutet –
12
13
14
15
Vgl. GA 20, S. 222-223 oder SZ, S. 185
MAX SCHELER: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß,
1913
Es ist nicht die Absicht meiner Arbeit, die Frage nach Wahrheit bei Heidegger zu stellen. Ich
wollte das Thema nur für Vorstellung der Verbindung von Erschlossenheit, Erkennen und
Wahrheit kurz skizzieren. Die Interpretation von ALETHEIA geht nämlich weiter zur AussageStruktur (Als-Struktur). Es wäre jedoch das Thema für eine selbständige Arbeit.
Vgl. SZ, § 44. oder GA 26, S. 135-160, oder GA 29/30, § 8. c) und §72. b)
8
Einleitung
aufgrund des griechischen Wortes ALETHEIA: Entdecktheit, Unverborgenheit im
Sinne des Sehenlassens des Seienden in seiner Unverborgenheit. Etwas entbergen
oder entdecken, können wir nur in der Welt, die erschlossen ist. Erschlossenheit
heißt Befindlichkeit (Stimmung), Verstehen und Rede. Erschlossenheit ist jedoch
zugleich Verschlossenheit (sowie zum Sein des Daseins gehört Faktizität und
Verfallen), also Wahrheit und doch Unwahrheit: Beide sind gleichursprünglich,
weil wir in der Welt auch gleichursprünglich auf die Weise der eigentlichen oder
uneigentlichen Existenz sind. Erkenntnis und Wahrheit sind also Begriffe, die in
der Erschlossenheit liegen, d. h. mit der erschließenden Funktion der Stimmungen
zusammenhängen.
Die zweite Frage ist für meine Arbeit die zentrale Frage, weil sie immer wieder
auftaucht. Sie hängt mit dem Problem der Verwechselung dessen, was Heidegger
als Stimmungen nennt, und dessen, was wir als Gefühle oder „Laune“ verstehen,
zusammen. Heidegger selbst weist schon auf das zweite Buch der Rhetorik von
Aristoteles hin, die mit den Stimmungen arbeiten lehrt und dessen spätere
Interpretationen
die
Affekte und Gefühle auf ein begleitendes Phänomen
degradiert haben16. Ob man also überhaupt eine Frage nach dem „Woher“ der
Stimmungen stellen darf und wie man sie befriedigend beantworten kann, dazu
sollte uns der Blick in die Struktur der Daseinsanalyse helfen, den ich in dieser
Arbeit anbieten möchte. Ich habe meine Arbeit in drei Kapitel geteilt:
1. das methodische Kapitel (Quelle und Methode)
2. das strukturelle Kapitel (Struktur der Stimmungen)
3. das rechtfertigende Kapitel, das zeigen soll, ob die Daseinsanalyse
bezüglich der Methode und Struktur überzeugend war (Ursprung der
Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse).
Wie ich am Anfang erwähnt habe, hat Heideggers Stimmungsanalyse das
Interesse für Rolle der Stimmungen in der Bestimmung des menschlichen Wesens
geweckt, obwohl vor allem die, die er in seinem späteren Werk entwickelt hat.
Solche Untersuchungen sind oft anthropologisch angelegt – es geht gerade um
16
SZ, S. 184-185
9
Einleitung
Bestimmung des menschlichen Wesens - und versuchen auch andere Stimmungen
zu analysieren. Aus den Forschern, die sich mit der Stimmungen intensiv
beschäftigt haben, würde ich Klaus Held17 nennen, der Heideggers Stimmungen
vor allem von der Seite der Geschichtlichkeit aus betrachtet. Aus der
französischsprachigen Literatur darf man nicht Michel Haar18 vergessen. Eine
umfangreiche Studie und zugleich auch einen Überblick der gegenwärtigen Texte
über Stimmungen bei früherem Heidegger kann man im Buch von Boris Ferreira19
finden. Den Stimmungen hat seine Beachtung auch Romano Pocai20 geschenkt.
Die Aufgabe und das Wesen der Stimmungen in Heideggers Werk hat dann
Byung-Chul Han21 bearbeitet. Aus den allgemeineren Studien über das Wesen der
Stimmungen, die nicht nur Heideggers Analysen sondern auch die Texte Schelers,
Pascals oder Descartes behandeln, sind die von Paola-Ludovica Coriando22 (das
Thema der Dichtung und Stimmungen) oder von Otto Friedrich Bollnow23 (eine
philosophisch-anthropologische Untersuchung) bekannt. Ganz aktuell ist ein
Sammelband von Eliane Escoubas24 erschienen, der die Texte zum Thema der
Stimmungen (nicht nur bei Heidegger) von unterschiedlichen Autoren enthält. Es
gibt natürlich mehrere Texten zum Thema „Stimmungen“. Ich habe jedoch die
Autoren genannt, mit deren Büchern jeder, der mit dem Thema der Stimmungen
bei Heidegger arbeitet, umgehen sollte. Ich habe auch manche von diesen
Büchern zu meiner Arbeit verwendet (Bemerkungen und Aufweisungen zu dieser
sekundären Literatur habe ich in Fußnoten geschrieben).
17
18
19
20
21
22
23
24
Z. B. KLAUS HELD: „Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger“, in: Zur philosophischen
Aktualität Heideggers, Bd. 1, Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler, Klostermann,
Frankfurt am Main, 1991
Z. B. MICHEL HAAR: „Le primat de la 'Stimmung' sur la corporéité du 'Dasein', in: Heidegger
Studies 2, 1986, S. 67-80
BORIS FERREIRA: Stimmung bei Heidegger, Springer, Dordrecht, 2002
ROMANO POCAI: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927-1933, Karl
Alber, Freiburg, 1996
BYUNG-CHUL HAN : Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, Fink,
München, 1996
PAOLA-LUDOVICA CORIANDO : Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen, Philosophische
Abhandlungen, Bd .85, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M., 2002
OTTO FRIEDRICH BOLLNOW: Das Wesen der stimmungen, Klostermann, Frankfurt a. M., 1941
ELIANE ESCOUBAS (Hrsg.): Affect et affectivité dans la philosophie moderne et la
phénoménologie, Affekt und Affektivität in der neuzeitlichen Philosophie und der
Phänomenologie, L'Harmattan, Paris, 2008
10
Einleitung
Ich möchte mich bei Herrn Prof. Dr. László Tengelyi für seine Betreuung an der
Bergischen Universität Wuppertal, für seine Bemerkungen und Erklärungen
herzlich bedanken.
11
1. Kapitel: Quelle und Methode
1. Kapitel: Quelle und Methode
Schon aus dem Titel meiner Arbeit folgt, dass die Analyse der Stimmungen von
den früheren Texten Heideggers ausgehen wird, d. h. von denen bis zum Jahr
1929/1930. Es handelt sich vor allem um diese Texte:
Sein und Zeit (1927, GA 2)25
Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz ( Marburger
Vorlesung SS 1928, GA 26)26
Vom Wesen des Grundes27, Was ist Metaphysik?28 (1929, GA 9, Wegmarken)
Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30, GA 29/30)29
Ich habe die Texte hinsichtlich ihrer Einheitlichkeit und der Beziehung zum
methodischen Wert der Stimmungen für die Fundamentalontologie ausgewählt. In
den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung WS
1925, GA 20)30 ist zwar schon viel von der fundamentalen Problematik, die in
Sein und Zeit zentral ist, entwickelt, jedoch stimmen die beiden Texte
im
Wesentlichen überein (deswegen verwende ich nur Sein und Zeit). Das Thema
dieses Kapitels sollte einen Blick auf die Methode der Fundamentalontologie und
ihre Entwicklung in den oben genannten Texten darbieten (1.1.) und dann sich der
methodischen Relevanz der Stimmungen in der Fundamentalontologie widmen
(1.2.). Fundamentalontologie hat sich nämlich von Sein und Zeit in bestimmten
25
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29
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MARTIN HEIDEGGER: „Sein und Zeit“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften
1914-1970 (Bd. 2). Hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Klostermann, Franfurt am
Main, 1977 (im folgenden Text abgekürzt mit „SZ“)
MARTIN HEIDEGGER: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ in:
Gesamtausgabe / II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 26). Hrsg. von Klaus Held,
Klostermann, Frankfurt am Main, 1978, S. 135-285 (im folgenden Text abgekürzt mit „GA
26“)
MARTIN HEIDEGGER: „Vom Wesen des Grundes“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung:
Veröffentlichte Schriften 1914-1970, Wegmarken (Bd. 9), Hrsg.: F.-W. von Herrmann, 1976
MARTIN HEIDEGGER: „Was ist Metaphysik?“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung: Veröffentlichte
Schriften 1914-1970, Wegmarken (Bd. 9), Hrsg.: F.-W. von Herrmann, 1976
MARTIN HEIDEGGER: „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“, in:
Gesamtausgabe/ II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Freiburger Vorlesungen (Bd. 29/30),
Hrsg.: F.-W. von Herrmann, 2004 (im folgenden Text abgekürzt mit „GA 29/30“)
MARTIN HEIDEGGER: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“, in: Gesamtausgabe/ II.
Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 20). Klostermann, Frankfurt am Main, 1979
12
1. Kapitel: Quelle und Methode
Nuancen verändert. Noch im Text Metaphysische Anfangsgründe der Logik im
Ausgang von Leibniz aus dem Jahr 1928 scheint Heidegger das Konzept der
Fundamentalontologie zu verteidigen, obwohl die Betonung in den Texten aus
dem Jahr 1929 auf andere Aspekte der Analyse gelegt ist und als Metaphysik
dargestellt wird. Schließlich kann man in den Grundbegriffen der Metaphysik
schon erfahren, dass das Denken Heideggers zur sogenannten Kehre strebt und
könnte als „Übergangstext“ betrachtet werden.
1.1. Fundamentalontologie
Heidegger stellt sich in seinen Texten die Frage nach dem Sinn des Seins und
bestimmt damit, was die Philosophie sei31, nämlich Ontologie. Die Philosophie ist
für ihn eine fundamentale Ontologie und bleibt Ontologie im Sinne der
Metaphysik
als
Grundgeschehens
des
Daseins
im
Menschen.
Dieses
Grundgeschehen ist nämlich das Geschehen der ontologischen Differenz, d. h. des
Unterscheidens von Sein und Seiendem, das mit der Weltbildung zusammenhängt.
Wie sich die Ontologie Heideggers entwickelt hat, soll die folgende Erklärung der
Methode Heideggers in seinen früheren Texten vorführen.
1. 1. a) Fundamentalontologie, existenziale Analyse (Sein und
Zeit)
Die Methode der Fundamentalontologie ist zum erstmal ausführlich in Sein und
Zeit32 vorgestellt, obwohl man ihr Projekt schon früher unter dem Namen der
„Hermeneutik der Faktizität“ (1923) oder „theoretischer Urwissenschaft“ (1919)33
31
32
33
Eine Bestimmung oder „Definition“ der Philosophie ist auch, nach Boris Ferreira, eine der
Hauptaufgaben nicht nur seines Buches über Stimmungen (BORIS FERREIRA: Stimmung bei
Heidegger, Springer, Dordrecht, 2002), sondern auch des Denkens Heideggers. Philosophie ist
ein Geschehen des Fragens. Das Dasein als Fragendes bezeugt seine Ungleichgültigkeit zu
seinem Sein, weil es fragen kann. Fragen ist sein Seinsmodus. Wenn Philosophie also eine
Ungleichgültigkeit bedeutet, dann hängt sie mit den Stimmungen zusammen. Heidegger selbst
in GA 29/30 spricht über Weckung der Grundstimmung des Philosophierens. Philosophie sei
Geschehen, Geschehen des Philosophierens.
SZ, §§3.-4., Zweites Kapitel (§§5.-8.)
Vgl. FRANCO VOLPI: „Der Status der Existentialen Analytik“, in: Martin Heidegger: Sein und
Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch, Akademie Verlag, Berlin, 2001, S. 31
13
1. Kapitel: Quelle und Methode
findet. Ihr Name hängt mit der Hauptaufgabe der Betrachtung in Sein und Zeit
zusammen, die nicht nur im Fragen nach dem Sein (d. h. Ontologie) liegt und
damit Kritik der „Grundbegriffen“ der Wissenschaften ermöglicht, sondern vor
allem im Fragen nach dem Sinn des Seins überhaupt (Fundamentalfrage, Frage
nach dem Fundament aller Ontologien) liegt. Das Sein wurde nämlich vergessen,
man arbeitete immer nur mit einem „selbstverständlichen“ Begriff des Seins. Wie
kann man nach dem Sein selbst und seinem Sinn fragen? Heidegger schlägt die
drei folgenden Schritte vor: (1) Einen ursprünglichen Zugang zum Sein zu finden
und ihn zu betrachten (das Dasein) und (2) von ihm her seinen Sinn zu bestimmen
(die Zeitlichkeit), damit (3) der Sinn von Sein überhaupt mittels dieses Umwegs
erscheinen würde.
Die Seinsfrage kann am besten durch das Seiende zugänglich werden, indem
dieses sie stellt, d. h. ein Seinsverständnis besitzt, also vom Sein bestimmt34 und
betroffen ist. Diese Bedingung erfüllt Heidegger zufolge das „Dasein“. Das
„Dasein“ ist der Begriff für die menschliche Seinsart35, der bezeichnet, dass „es
diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“36. Dieses
Seinsverhältnis setzt voraus, dass das Dasein sein Sein versteht und versteht als
sein Sein (es ist ihm erschlossen), d. h. es geht ihm um seine „Existenz“. Das
Dasein versteht sich aus seiner Existenz, es
existiert faktisch (existenzielles
Verständnis der Existenzmöglichkeiten: Wie-sein, eigentlich oder uneigentlich).
Was aber die Existenzialität des Existierens ausmacht, also welche Strukturen die
Existenz konstituieren - das ist eine Frage des existenzialen Verständnisses.
Deswegen ist die Fundamentalontologie zuerst eine existenziale Analytik des
Daseins.37 Das Problem liegt aber darin, dass das Dasein zwar ontologisch (im
34
35
36
37
„Sein liegt im Dass- und Sosein [...], im »es gibt«“ SZ, S. 9, Günter Figal spricht in diesem
Zusammenhang über „Selbstgegebenheit“ des Daseins, die das Dasein als exemplarisches
Seiende rechtfertigt (Vgl. GÜNTER FIGAL: Heidegger zur Einführung, Junius, Hamburg, 1992, S.
44)
Der Begriff des Daseins ist zwar in SZ für menschliche Seinsart vorbehalten, aber in GA 26
können wir auch eine Formulierung über das „Dasein im Menschen“ finden, die dann auch in
GA 29/30 bedeutsam ist. (Mitsein, Rede,Man, Mitdasein)
SZ, S. 16
Jean Grondin sieht das Verhältnis der Fundamentalonologie zur Daseinsanalytik in Sein und
Zeit nicht ohne Probleme. Es ist seiner Meinung nach undeutlich, ob Fundamentalontologie
sich vor oder in der Daseinsanalyse vorfindet. Meine Arbeit stellt sich nicht die textkritische
Aufgabe. Heidegger selbst geht es nicht um ein System des Begründens, sondern um eine
Destruktion und in diesem Sinne um eine vorgängige Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn
des Seins überhaupt. JEAN GRONDIN: „Die Wiedererweckung der Seinsfrage“, in: Martin
Heidegger: Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch, Akademie Verlag,
14
1. Kapitel: Quelle und Methode
Sinne vorontologisch – vages Seinsverständnis) ist, aber ihm selbst ist das Dasein
ontologisch am fernsten, weil es sein Sein von Seiendem in der Welt her versteht
(das Dasein ist ihm selbst ontisch am nächsten). Solche „Daseinsvergessenheit“
geht Hand in Hand mit der Seinsvergessenheit. Die Daseinsanalyse sollte den
angemessenen Zugang darstellen, der das Dasein „an ihm selbst von ihm selbst
her zeigen kann“38. Diese Formulierung erinnert an Husserlsche Maxime „Zu den
Sachen selbst!“. Die Fundamentalontologie ist nämlich keine philosophische
Richtung oder neue und bessere Methode der Philosophie, sondern eine
„phänomenologische“ Methode.
Unter „Phänomenologie“ versteht Heidegger vor allem die Methode, die das
„Wie“39 der Betrachtung bedeutet. „Die Sache selbst“ als das durch Fragen
Gesuchte leitet das Fragen selbst, d. h. geht von einem Verständnis aus40. Der
Gegenstand des Fragens bestimmt die Methode und das Fragen und nicht
umgekehrt.
Heideggers
Interpretation
des
vorläufigen
Begriffes
der
„Phänomenologie“ hat dann natürlich mit dem oben genannten „Sichzeigen“
einen Zusammenhang. Die Phänomenologie besteht aus zwei Worten:
PHAINOMENON (1) und LOGOS (2).
1. Das „Phänomen“ kommt aus dem griechischen PHAINOMENON, das
Heidegger als „das Sich-an-ihm-selbst-zeigende“41 versteht. Darin sind
dann drei Momente enthalten, die drei Arten des Begriffes von Phänomen
entsprechen: Der formale, vulgäre und phänomenologische Begriff von
Phänomen. Der formale Begriff betrifft die Form des Phänomens, also die
Beziehung dessen, was sich zeigt, und der Bedingungen des Sich-zeigens.
Der vulgäre ist dann das
„gewöhnliche“ Verständnis von Phänomen,
nämlich als das, was sich „anschaulich“ zeigt (das Seiende). Der
phänomenologische Begriff von Phänomen geht an die ermöglichende
Bedingung des Sich-zeigens (die Welt, in deren Licht das Dasein sein Sein
versteht).
2. LOGOS versteht Heidegger als Rede, die die Sache selbst sehen lässt. Sie
38
39
40
41
Berlin, 2001, S.12-13
SZ, S. 23
„Der Ausdruck 'Phänomenologie' bedeutet primär einen Methodenbegriff“, SZ, S. 37
„Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her“, SZ, S. 7
SZ, S. 38
15
1. Kapitel: Quelle und Methode
hat mit der verstehenden Auslegung der Existenz zu tun (siehe später
unten), die „etwas als etwas“ sehen lässt. Das Verstehen ist nämlich ein
zirkelhaftes Verstehen im Sinne der hermeneutischen Auslegung – das
Verstehen eignet sich verstehend sein Verstandenes an, d. h. artikuliert das
Verständnis (etwas als etwas) des Seins. In dieser Artikulation zeigen sich
die Strukturen des Daseins selbst. In diesem Sinne ist die Phänomenologie
Hermeneutik, weil sie die Strukturen des Seinsverständnis auslegt. Solche
Auslegung ist aber nicht mehr eine „selbstverständliche“, sondern
„destruierende“, weil sie die verborgenen Strukturen enthüllt, den Grund
der Verborgenheit entdeckt und damit die Seinsvergessenheit des Daseins
und auch alles, was zu der Verdeckung der Seinsfrage gehört (d. h. die
Geschichte der Ontologie42), „destruiert“. In solcher Destruktion folgt man
den wesentlichen Strukturen43 des Problems und damit ist die Destruktion
positiv gemeint.
Den Vorbegriff der Phänomenologie formuliert dann Heidegger auf folgende
Weise: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst
her sehen lassen“44. Das heißt, dass die Phänomenologie eine deskriptive
Funktion hat (wie es auch Husserl proklamierte) im Sinne des „Sehenlassens“,
wobei der Charakter der Beschreibung von den Phänomenen her geleitet ist (das
Wie der Beschreibung soll das Wie des Sich-zeigens sein). „Sehenlassen“ sollte
jedoch die Phänomenologie das „zunächst und zumeist“ Verborgene (das Sein des
Seienden und seine Strukturen, d. h. sie ist Ontologie), sie sollte es entdecken,
d. h. zum Phänomen (zum phänomenologischen Begriff von Phänomen) bringen.
Das kann sie aber nur von dem vulgären Begriff des Phänomens her, von dem
Seienden als Dasein.
Heiddeger dachte an keine strenge Methode, sondern an eine Methode, die den
Grund des Seins ausweist und freigibt und zwar im Sinne eines hermeneutischen
und destruierenden Zirkels. Phänomenologie soll keine „Richtung“, sondern eine
42
43
44
Das Dasein ist geschichtlich, weil sein Sinn in der Zeitlichkeit liegt. Heidegger verknüpft hier
seine Philosophie mit der von Dilthey in der Betonung der Geschichtlichkeit des menschlichen
Daseins. Destruktion bedeutet nicht in diesem Sinne Zerstörung aller Tradition, sondern ein
entdeckendes Beschränken und bewusstes Übernehmen.
„die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des
Seins gewonnen wurden“, SZ, S. 30
SZ, S. 46
16
1. Kapitel: Quelle und Methode
Möglichkeit45
darstellen.
Heidegger
mit
seinem
Fragen
destruiert
das
„selbstverständliche“ Seinsverständnis, bzw. Seinsvergessenheit des alltäglichen
Daseins, um seine Strukturen, seinen Grund zu gewinnen. Diese Strukturen will er
dann auf die Zeitlichkeit hin als Sinn des Daseins interpretieren46. Seine Absicht
ist dabei die philosophische „Temporalität“ zu unterscheiden, weil es Heidegger
mit Philosophie47 als Ontologie letztendlich um Sein überhaupt geht. Diese
Temporalität stellt jedoch das Problem dar, das Heidegger später damit auflöst,
dass
er
Ontologie,
bzw.
Philosophie
als
Metaphysik
im
Sinne
des
Grundgeschehens des Daseins deutet (vgl. 1.1.b). Damit ist Philosophie nicht
mehr von dem alltäglichen Dasein unterschieden und das Problem der
Verständlichkeit der Temporalität fällt mit dem ekstatisch-horizontalen Projekt der
Zeitlichkeit zusammen, nämlich in der Bewegung der Transzendenz.
1. 1. b) Fundamentalontologie und Metontologie, Transzendenz
und Metaphysik (GA 26, Vom Wesen des Grundes, Was ist
Metaphysik?)
In den Arbeiten nach Sein und Zeit erfährt Heideggers Methode und Analyse eine
bestimmte Kehre oder ein Scheitern48. Heidegger schenkt diesmal seine
Beachtung dem Problem des Seinsverständnisses, um zu erläutern, dass es sich
um keine Leistung der Subjektivität handelt49. Während in Sein und Zeit das
Seinsverständnis für Voraussetzung genommen wurde, wird seine Möglichkeit
45
46
47
48
49
SZ, S. 51
Günter Figal weist darauf hin, dass „Interpretation“ mehr als die Grundsturkturen des
alltäglichen Seinsveständnisses anbietet, d. h. sie ist in diesem Sinne philosophisch. Die Zeit
solches philosophischen Begreifens ist aber nicht dieselbe wie der Alltäglichkeit.
Philosophische Zeitlichkeit nennt Heidegger Temporalität. Während das alltägliche ekstatischeinheitliche Zeitlichkeitverständnis durch die horizontalen Schemata begrenzt ist, die
Temporalität sollte über sie hinausgehen (Sinn des Seins überhaupt). Diese Temporalität hat
jedoch keine Verbindung zu der alltäglichen Zeitlichkeit und ist damit nicht phänomenologisch
ausweisbar und verständlich. GÜNTER FIGAL (1992), S. 85 - 100
Günter Figal betont, dass Philosophie zwar auch ein Verhalten des Daseins, eine Weise des
alltäglichen Spiels „Antwort-Frage, Bestimmtheit-Unbestimmtheit“ ist, doch sie kein
alltägliches Handeln sei und deswegen unterschiedlich. GÜNTER FIGAL (1992), S. 89-92
Vgl. GA 26, S. 201, Vgl. THEODORE KISIEL: „Das Versagen von Sein und Zeit“, in: Martin
Heidegger: Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch, Akademie Verlag,
Berlin, 2001, S. 253-281 oder CLAUDIUS STRUBE: Das Mysterium der Moderne, Wilhelm Fink
Verlag, München, 1994, oder GÜNTER FIGAL(1992), S. 99
Vgl. T. KISIEL (2001), S. 253-281
17
1. Kapitel: Quelle und Methode
zum Hauptthema des weiteren Denkens Heideggers. In den Vorlesungen
Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (GA 26)
thematisiert Heidegger nicht nur die Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern er zielt
damit auf die zirkelhafte Begründung der in Sein und Zeit behandelten Sorge, die
in der Transzendenz der Welt liegt und mit ihrer ekstatisch-horizontalen
Temporalität
zusammenhängt
(Ek-sistenz).
Jetzt
ist
im
Zentrum
der
Aufmerksamkeit Heideggers die temporale Analytik. Er entfaltet die Thematik der
zeitlichen Fundierung der Sorge in Sein und Zeit. Sorge vereinheitlicht nämlich
alle
Strukturmomente
des
Daseins
als
In-der-Welt-sein.
Sorge
heißt
Nichtgleichgültigkeit zum eigenen Sein (das Dasein ist Seinkönnen, Entwurf),
d. h. sie erschließt das Da des Daseins. Das In-der-Welt-sein ist in seiner
besorgenden Struktur (Befindlichkeit, Verstehen, Rede, Verfallen) zugleich
zeitlich:
Sorge
ist
„Sich-vorweg-schon-sein-in
(der
Welt)
als
Sein-bei
(innerweltlich) begegnendem Seienden“50. Der Sinn der Sorge liegt in dieser
ekstatischen Zeitlichkeit (die Heidegger von der vulgär verstandenen Zeit
unterscheidet), d. h. im Transzendieren51. Die Zeitlichkeit ist Grund der möglichen
Einheit des In-der-Welt-seins. In GA 26 sowie in den Texten Vom Wesen des
Grundes und Was ist Metaphysik? wird das Transzendieren selbst betrachtet.
Diesmal richtet sich also nicht Fundamentalontologie auf die Strukturen des
Dasein, sondern auf das vorausgesetzte Seinsverständnis als Geschehen der
ontologischen Differenz (Transzendenz) im Sinne des Welteingangs von
Seienden. Für diese Absicht, die Heidegger auch zu der Fundamentalontologie
rechnet, verwendet er einen neuen Begriff: Metontologie52(die metaphysische
Ontik).
In GA 2653 wurde also noch einmal die Aufgabe der Fundamentalontologie
beschrieben und die andere Aspekte betont (nämlich der Welteingang von
Seiendem). Heidegger stellt wieder die Frage, warum Fundamentalontologie eine
existenziale Analytik sein soll und was „Existenz“ besagt. Die faktische Existenz
des Daseins nämlich ermöglicht, dass das Sein verstanden wird (und dass es
50
51
52
53
SZ, S. 332
SZ, § 69., Ek-stase – Trans-zendieren – Entrückung
Ähnlich wie Max Scheler Metanthropologie oder Metaszienzen, Vgl. T. KISIEL (2001), S. 263
GA 26, S. 196-202
18
1. Kapitel: Quelle und Methode
gibt)54 und zwar verstanden aus einer möglichen Ganzheit von Seiendem
(Geworfenheit). Es geht jetzt um die Korrelation von Sein und Seienden, um
Rechtfertigung des Seinsverständnisses. Die existenziale Analyse ist von dem
ausgezeichneten Seienden ausgegangen (vom seinsverstehenden Dasein), dessen
Seinsweise (Existenzialien) sie beschrieben hat, damit sie zurück zu diesem
Seienden gekehrt wurde, wobei dieses Seiende in ein eigentliches Seiendes
verwandelt wurde. Die „Kehre“ knüpft jedoch an die temporale Analytik an, weil
die Zeitlichkeit die innere Möglichkeit des Seinsveständnisses darstellt55. Diese
Bewegtheit der Existenz des Daseins ist das transzendierende Geschehen, das das
Seiende im Ganzen und den Ort des Daseins in ihm bestimmt. Das Seiende im
Ganzen ist das Thema der Metontologie (die Metaphysik der Existenz).
Fundamentalontologie und Metontologie bilden den Begriff der Metaphysik56 (im
Sinne des verwandelten und destruierten traditionellen Begriffs). Existenz und
damit also auch Philosophieren sind aufgrund des Transzendierens die
Metaphysik57.
1. 1. c) Metaphysik und formale Anzeige (GA 29/30)
„Philosophieren kann nur, wer schon entschlossen is58t“ lesen wir schon in GA 26.
In GA 29/30 führt Heidegger seine „destruierende und destruierte Metaphysik“
fort und Philosophieren als Grundgeschehen des Daseins59 wird jetzt ausdrücklich
entfaltet: Deswegen auch der Name „Grundbegriffe der Metaphysik“. Heidegger
hat in GA 29/30 vor, nach dem Weltbegriff zu suchen (er treibt dabei auch eine
bestimmte „Naturphilosophie“). Bei diesem Suchen soll man verstehen, wie man
überhaupt solches Suchen durchführen kann, was die eigentliche Metaphysik hier
bedeutet und warum heißt Metaphysik Philosophieren. Heidegger spricht in
diesem Text nicht mehr über fundamentale Ontologie. Seine Metaphysik jedoch
54
55
56
57
58
59
„die Möglichkeit, dass es Sein im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung die faktische Existenz
des Daseins“, GA 26, S. 199
Das Sein war immer mit der Vorstellung des In-der-Zeit-seins verknüpft. Vgl. SZ, S. 25
Vgl. GA 26, S. 202
Vgl. vor allem Was ist Metaphysik?
GA 26, S. 22
Was ist Philosophie mit dem Hinsicht auf Stimmungen? Vgl. REUDIGER SAFRANSKI: Ein Meister
aus Deutschland, Fischer, Frankfurt am Main, 2001, S. 217-230 oder BORIS FERREIRA (2002)
19
1. Kapitel: Quelle und Methode
bleibt wie in Sein und Zeit wesentlich Fragen, das den Fragenden selbst in Frage
stellt (in-begriffliches Denken). Ontologie ist dann vor allem von der
ontologischen Differenz her verstanden und zwar in dem destruierenden Sinne
(Grundfragen neu entspringen zu lassen und aus der Tradition der Ontologie sich
zu befreien und sie anzueignen). In GA 29/30 fragt Heidegger nicht nach dem
Sein des Daseins, sondern nach dem Seienden im Ganzen, also nach dem
Weltbegriff, der natürlich ein Aspekt des Daseins als In-der-Welt-seins ist
(deswegen auch inbegriffliches Denken) und der zugleich das Sein des Seienden
sowie des Fragenden befragt. Heidegger nennt seine Methode diesmal nicht
Hermeneutik, wie in Sein und Zeit, sondern er spricht über Kreisen60. Es handelt
sich wieder um keinen logischen Zirkel, sondern um einen Kreisgang, der die
verschiedenen Blicke ins Zentrum ermöglicht. Dieses Kreisen gründet allerdings
in einer gewissen Grundauffassung des Lebens und in der Voraussetzung der
Auslegbarkeit. Möglichkeit der Auslegung selbst liegt dabei im Entwurf, der als
ontologische Differenz im Dasein des Menschen geschieht.
Was
ist
Metaphysik?
Metaphysik
ist
charakteristisch
durch
ihre
Zweideutigkeit. Einerseits verbindet man mit dem Begriff der Metaphysik etwas,
das mit der Wahrheit, Logik und Weltanschauung zusammenhängt (was jedoch
nicht Metaphysik selbst ist). Andererseits ist in der Metaphysik eine wesentliche
Unsicherheit: Die Geschichte der Metaphysik beweist, dass trotz aller Mühe um
Gewissheit und Gründlichkeit, es keinen Fortschritt in den „Erkenntnissen“ gibt.
Diese Zweideutigkeit weist auf die Bewegung im menschlichen Dasein hin.
Metaphysik ist also kein Streben nach der Sicherheit, sondern Schrecken vor der
Fraglichkeit und im Schrecken auf das eigene Selbst-sein-können zu kommen.
Das Fragen betrifft auch den Fragenden. Das soll uns überzeugen, dass die Frage
nach Metaphysik aus ihr selbst gestellt sein muss, weil sie mit nichts anderem
vergleichbar ist. Metaphysik ist Geschehen, menschliches Tun, wie wir selbst
sind, wenn wir philosophieren. Philosophieren geschieht mit uns in unserem
Grunde. Metaphysische Begriffe, die aus dem philosophierenden Geschehen
entstehen, sind nicht unsere Schöpfung, sondern sie stammen aus unserer
Ergriffenheit durch das Fragen selbst. Diese Ergriffenheit kommt aus der
60
GA 29/30, S. 266-267
20
1. Kapitel: Quelle und Methode
Stimmung. Philosophieren, sowie alle menschliche Handlungen, ist durch eine
Stimmung durchstimmt. Deswegen bringt Heidegger auch das Beispiel von
Novalis ins Spiel, der über Philosophie als Heimweh spricht. Das passt gut zu der
Absicht Heideggers, weil Heimwehauf das weltliche „Zuhause“ zeigt, auf das „im
Ganzen“ der Welt, zu dem wir immer unterwegs sind. Aus dem Heimweh zu
philosophieren, heißt, die Endlichkeit und Einsamkeit unseres Unterwegs zu
verstehen. Ähnlich kann man auch das oben genannte Schrecken verstehen, als
eine Stimmung des Philosophierens, d. h. Weckung zum inbegrifflichen Fragen.
Was aber rechtfertigt Heidegger, dass er Metaphysik als Philosophieren
begreift? Ist doch nicht Metaphysik nur ein Teil der Philosophie, eine Disziplin?
Dieses allgemeine Bewusstsein über Metaphysik versucht Heidegger zu
destruieren. Er verwendet dazu seine Auslegung der Geschichte und Etymologie
des Begriffes „Metaphysik“: META TA PHYSIKA. PHYSIS heißt im alten
griechischen Sinne das Geschehen des Wachstums, das auch den Menschen ohne
sein Zutun betrifft. Heidegger interpretiert es also als „Walten des Seienden im
Ganzen“61, von dem ist auch der Mensch durchgewaltet und er versteht diese
Macht des Waltens des Waltenden. In seinem Verständnis hat sich der Mensch
über diesem Walten immer schon ausgesprochen: In seiner Weise des Existierens
ist immer dieses Verständnis mitbegriffen und im Verhalten ausgesprochen als
LOGOS. LOGOS nämlich offenbart das Waltende und musst also schon im
Walten selbst liegen. Diese Verbindung von PHYSIS und LOGOS soll
rechtfertigen, dass Philosophieren (als Aussprechen des „im Ganzen“ oder des
Waltenden) ursprünglich in PHYSIS liegt. PHYSIS hat nämlich zwei
Bedeutungen: Walten des Waltenden und Walten als Wesen (Sein) des Seienden
(ONTIA). Philosophieren heißt Fragen und als inbegriffliches Fragen, also Fragen
nach dem Walten des Seienden im Ganzen (d. h. nach dem Sein des Seienden) ist
metaphysisch. Das ist die Erste Philosophie nach Aristoteles. Wie steht es mit dem
META? META hatte ursprünglich eine bloß technische Bedeutung in der Ordnung
der Bücher von Aristoteles. Nach seinem Tod nämlich wurde seine Philosophie
zur Erkenntnis, zur Schulphilosophie und war in drei Disziplinen zerfallen: Ethik,
Logik, Physik. Die Texte, die seine Schüller nicht zu den drei Disziplinen ordnen
61
GA 29/30, S. 40
21
1. Kapitel: Quelle und Methode
konnten, also die von der Ersten Philosophie, haben sie „hinter“ die Physik
gestellt. META hieß also hinter. Im Mittelalter hat das META eine inhaltliche
Bedeutung gewonnen als „über“ (lat. Trans). Die Erste Philosophie wurde als
Wissenschaft über Übersinnliches zur Theologie und Begründung Gottes
umgedeutet. Und schließlich in der neuzeitlichen Philosophie soll Metaphysik als
gewisse
und
sichere
Wissenschaft
dienen
nach
dem
Vorbild
der
Naturwissenschaften. Heideggers Aufgabe ist also die Metaphysik in ihrem
ursprünglichen Sinne der Ersten Philosophie zu interpretieren - aus dem
Geschehen im Menschen selbst: Das ist ein Philosophieren.
Philosophie hat also Aufgabe: eine Stimmung für Philosophieren zu wecken.
Philosophie soll den Menschen zu seinem Dasein bringen. Sie kann nicht selbst
ihm sein Selbst-sein-können zeigen, sondern sie muss ihn für ihn wecken, „auf
den Rand der Möglichkeit“ bringen, „der Möglichkeit, dem Dasein wieder
Wirklichkeit, d. h. seine Existenz zu geben“62. Überschreiten dieses Randes ist
dann die Sache des im Augenblick zur Grundstimmung geweckten menschlichen
Entschlusses. In GA 29/30 kommen wir zu diesem Rand durch Fragen nach der
Welt, nach dem Seienden im Ganzen, das uns unverborgen ist und im LOGOS
sich ausspricht. Das Unverborgene – ALETHEIA – heißt die Wahrheit an dem
Verborgenen zu gewinnen63. Un-verborgenheit, A-LETHEIA, weist jedoch auf
eine Negativität, Privation hin. Es ist unsere Endlichkeit, die das Verborgene
offenbar macht. Wahrheit als Unverborgenheit sind Schicksal des menschlichen
endlichen Daseins.
Wie hängt jedoch diese Aufgabe des Philosophierens mit den Grundbegriffen
der Metaphysik zusammen? Heidegger bezeichnet an dieser Stelle die
metaphysischen Begriffe als formale Anzeige. Die Methode der formalen
Anzeige64 wurde schon in Sein und Zeit verwendet65, aber nicht als eine
ausdrücklich philosophische, bzw. phänomenologische Methode genannt. Es
handelt sich um die entscheidende Rolle der „Als-Struktur“. In GA 29/30 dient
die Als-Struktur als Zugang zu dem Phänomen der Welt und zum Welteingang des
62
63
64
65
GA 29/30 S. 257
Wahrheit als Raub, GA 29/30, S. 43-44
Alle Existenzialien sind formale Anzeigen, weil sie für jede Vereinzelung gelten.
Vgl. „Aufweisende Freilegung“ SZ, S. 11 oder SZ, § 44., § 69. b). Vgl. auch das Problem der
anzeigenden und formalen Funktion der Zeit bei T. KISIEL (2001), S. 257
22
1. Kapitel: Quelle und Methode
Seienden66. Die Als-Struktur weist das Weltbildende im Dasein auf. Die oben
genannte Offenbarkeit und Einheit des Seienden im Ganzen und des Seienden als
solchem liegt in der Interpretation der Als-Struktur. Das „Als“ ist nicht nur ein
sprachlicher Ausdruck (im Aussagesatz), der die Beziehung zwischen zwei
Gliedern aussagt, sondern diese Beziehung geschieht
als formale Anzeige.
Heidegger versteht die formale Anzeige als Begreifen im Sinne der Anweisung zu
einer eigentümlichen Aufgabe. Die Anweisung ist Anweisung zum Sein zum
Tode. Wir verhalten uns immer zu dem eigenen Tod, aber wir können uns zum
Tod als unseren Tod verhalten, d. h. unsere Selbstheit als Da-sein-können zu
verstehen und zu unserem Handeln uns entschließen. Heidegger im Unterschied
zu den früheren Texten betont die Jemeinigkeit unseres eigentlichen Handelns.
Die Aufgabe, die die formale Anzeige anzeigt, ist Verwandlung des Daseins. Die
metaphysischen Begriffe sind noch nicht verwandelt, aber als formale Anzeige
beanspruchen sie die Verwandlung in das Da-sein. Sie sind formal, weil das
Da-sein immer je meines ist, und anzeigend, weil sie selbst noch nicht begreifen.
Die formale Anzeige
ist nie isoliert von Dasein, Handeln und Welt. Der
Zusammenhang der Verweisung und die Verwandlung des Daseins ist verbunden
mit dem Geschehen des Entwurfs und als solche geschichtlich. Das Dasein ist
nämlich seine Existenz, d. h. sein Verhalten zum Seienden als solchen macht die
Existenz aus. Dieses Verhalten ist nur aufgrund unserer Hineingehaltenheit in das
Nichts möglich, dank der Negativität (Endlichkeit), zu der wir kommen können,
zu der wir uns verwandeln können und worauf die metaphysischen Begriffe
formal anzeigen. Philosophieren mit seiner Aufgabe der Verwandlung des Daseins
(zu seiner Endlichkeit, zu dem Selbst-sein-können) als Geschehen im Dasein
hängt mit der Geschichtlichkeit zusammen - Geschichtlichkeit nicht im Sinne der
Geschichte, sondern im Sinne des eigentlichen Handelns, Grundgeschehens des
Daseins im Entwerfen, Grundgeschehen der ontologischen Differenz.
66
GA 29/30, § 70.
23
1. Kapitel: Quelle und Methode
1. 2. Methodische Rolle der Stimmungen
Fundamentalontologie als existenziale Analytik
in
der
1. 2. a) Stimmungen als methodischer Zugang zur Ganzheit
des Daseins (Ausweisung der Sorge), zum eigentlichen
Ganzseinkönnen: Sein und Zeit
In Sein und Zeit hat Heidegger begründet, warum die Fundamentalontologie
zuerst als Daseinsanalyse verstanden sein soll. Die Daseinsanalyse arbeitet
nämlich mit dem vorgängigen Fragen nach dem Sinn des Seins, die jedoch vom
Sinn des Seins des Daseins ausgeht67. Heidegger schickt voraus, dass eine solche
Analytik nicht vollständig sei, weil ihre Aufgabe in der Ausarbeitung der Frage
nach dem Sein liegt und damit notwendig begrenzt ist.68Es wurde erklärt, warum
das Dasein als exemplarisches Seiendes dient. Das Dasein ist nicht nur das nach
seinem Sein Fragende, sondern auch das Befragte, wobei die Struktur des
Fragens, das Wie (Ausweisung), betrachtet wurde. Wir bewegen uns im
hermeneutischen Zirkel – Fragen selbst ist durch die Struktur ermöglicht, die es
befragt.
Was folgt aus dem Fragen? Das Dasein ist ein solches Seiendes, dass „es
diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“69. Existenziale
Analytik geht von dem verstehenden Umwillen70 eigener Existenz, das das
Wesen71 des Daseins bestimmt, und von der Jemeinigkeit des Seins aus, d. h. dass
das Sein, das ich verstehe und nach dem ich fragen kann, immer meines ist. Wie
ich bin, d. h. wie das Dasein je meines ist, hängt von meiner Wahl ab (es ist jedoch
keine Wahl meines Willens, sondern durch eine Stimmung ermöglichte Wahl):
entweder eigentlich oder uneigentlich zu sein, d. h. entweder Da-sein oder Flucht
(Daseinsvergessenheit). Beide Modi sind legitim und gleichwertig. Das Dasein ist
67
68
69
70
71
In Sein und Zeit hat Heidegger vor, wie schon im Titel steht, die Beziehung des Seins und der
Zeit zu erklären, weil Zeit immer die ausgezeichnete ontologische Funktion als Kriterium der
Scheidung von Seinsregionen hatte. Vgl. SZ, S. 25
SZ, S. 23
SZ, S. 16
Heidegger bestimmt den formalen Begriff der Existenz folgendermaßen: „Dasein ist Seiendes,
das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält“, SZ, S. 71
„Das »Wesen« des Dasein liegt in seiner Existenz“, SZ, S. 56
24
1. Kapitel: Quelle und Methode
immer je seine Möglichkeit. Dass das Dasein immer meines ist, das besagt eine
Nichtgleichgültigkeit zu eigenem Sein. Schon in dieser Bestimmung können wir
die Struktur72 des Daseins ahnen, deren Name lautet: „das In-der-Welt-sein“.
Das In-der-Welt-sein ist ein einheitliches Phänomen, obwohl in ihm drei
untereinander verflochtene Momente enthalten sind:
4. Das „in-der-Welt“ (die Welt)
5. Das Seiende, das als 'In-der-Welt-sein' ist (Wer)
6. Das In-Sein als solches („Wie“ ist das Dasein in der Welt)
Für unseren Zweck ist vor allem das Moment des „In-Seins“ wichtig, weil
Stimmungen ein von den drei Momenten des „In-Seins“ darstellen. Es hat wieder
dreifache Struktur:
1) Befindlichkeit (bzw. ihre ontische Gestalt „Stimmung“)
2) Verstehen
3) Rede
Natürlich bilden auch diese Momente eine Einheit und bestimmen die drei
Momente des In-der-Welt-seins. Alle als „In-Sein“ (Wie) konstituieren die
Erschlossenheit des Daseins (Wer) seinem Da (Welt), und zwar in einer
eigentlichen (Selbst-sein-können) oder uneigentlichen (Verfallen) Weise. Wenn
wir jetzt diese Struktur vor Augen haben, müssen wir fragen, woher sie kommt
und wie sie einheitlich sein kann? Was phänomenologisch ihre Ganzheit bezeugt?
Und hier bringt Heidegger die methodische Rolle der Befindlichkeit, bzw.
Stimmungen zur Sprache. Die Schlüsselrolle der Stimmungen ist schon in der
Bestimmung der Phänomenologie als „hermeneutischer“ Phänomenologie zu
erkennen, die das „Sprechen“ der Stimmungen notwendig mit dem „Hören“
(Hören der Stimme von Stimmungen, Hören des Rufs der Sorge) verbindet, sogar
diese Verbindung verlangt73. Damit ist auch solcher Zugang zur Struktur des In72
73
Struktur der Existenz des Daseins: Existenzialien, SZ, S. 59
Auf diesen Zusammenhang weist Klaus Held hin: „Durch Heideggers Stimmungsanalyse
bekommt das Hören für die Phänomenologie eine mit dem Sehen gleichwesentliche Bedeutung.
Diese
Paradigmenerweiterung
signalisiert
der
Methodentitel
'hermeneutische
Phänomenologie'. In der Tat konnte Heidegger die systematische Tragweite des
Stimmungphänomens nur entdecken, weil er aus der hermenutischen Tradition den Gedanken
aufnahm, dass das Denken als Auslegung auf ein Hören angewiesen ist.“ S. 35 (KLAUS HELD:
„Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger“, in: Zur philosophischen Aktualität
Heideggers, Bd. 1, Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler, Klostermann, Frankfurt
am Main, 1991, S. 31-57)
25
1. Kapitel: Quelle und Methode
der-Welt-seins möglich, der ihre Ganzheit anschauen kann – durch eine
Grundbefindlichkeit. Durch die Angst hört man den Ruf des eigentlichen Selbstsein-könnens, entdeckt sich in der Angst als Sein zum Tode und diese Negativität
durchstimmt als Endlichkeit das ganze Geschehen des Daseins, das als
Zeitlichkeit erscheint. Obwohl alle drei Momente des In-Seins die Erschlossenheit
gleichursprünglich bilden, erfüllt die Befindlichkeit die eigentliche methodischerschließende Funktion. Sie stellt jedoch „nur“ den Zugang dar – ohne Verstehen
und Rede würde das In-der-Welt-sein nur sozusagen „in der Tür stehen bleiben“.
Wovor bringt uns also die Grundbefindlichkeit? Sie stellt einen Zugang zur
Unterscheidung der eigentlichen und uneigentlichen Seinsweise dar, der die
Einheit der Sorge (1) und damit Einheit der Zeitlichkeit (2) rechtfertigt, und
Geschichtlichkeit des Daseins (3) entdeckt. Alle drei Themen sind dann im
Heideggerischen Denken zentral, die mit bestimmten Nuancen immer wieder
zurückkommmen.
(1) Die Analyse der Angst bereitet die Daseinsanalyse auf die Fassung der
ursprünglichen Seinsganzheit des Daseins im Begriff der Sorge als ursprünglicher
Nichtgleichgültigkeit des Daseins zu seinem Sein vor. Grundbefindlichkeit der
Angst enthüllt die Faktizität, Geworfenheit des Daseins in die Welt, in der es ihm
um sein Seinkönnen, den Entwurf (Existenzialität), d. h. sich besorgen bei dem
innerweltlich Seienden (Modus des In-Seins als Verfallen) geht. Faktizität,
Existenzialität und Verfallen sind Momente der Sorge. In den Stimmungen macht
man elementare Erfahrungen mit seiner Geworfenheit (wir befinden uns inmitten
des Seienden, das wir besorgen) und die Grundstimmungen enthüllen
ausdrücklich die Geworfenheit in die Möglichkeiten der Welt – das besorgende
verfallene Man verliert auf einmal seine besorgbare Welt, um die Welt (als Nichts,
als Unheimliches) zu sehen. Das Dasein ist zu seinem Da-sein, zu sich selbst
gebracht.
Angst vereinzelt: Angst ist Angst vor unserer Nichtigkeit,
Unmöglichkeit des Seinkönnens (Tod). Diese Endlichkeit ist Grund der
Negativität, die das Entwerfen durchstimmt. Aus dieser Negativität ruft die
Stimme der Sorge im Gewissen, ruft das Man zum Da-sein, zum Selbstsein und
damit zum Übernehmen der Schuld unserer Negativität. Die Grundstimmung
26
1. Kapitel: Quelle und Methode
bereitet den Sprung in die Entschlossenheit für Verantwortung (wir nur eine
Möglichkeit wählen74) vor. Die Wahl, eigentlich oder uneigentlich zu sein, ist
keine Freiheit des Entscheidens, sondern eine verbindliche Freiheit, die mit der
Endlichkeit des Daseins zusammenhängt. Die Negativität der Geworfenheit ist
auch Grund der Verfallenheit. Zugleich gibt es aber die Möglichkeit des Hörens
von Gewissen. Grundstimmung ist die Bereitschaft für Sich-rufen-lassen zur
Entschlossenheit, zum eigentlichen Verstehen und zum Handeln-lassen des
Selbst-sein-könnens. Entschlossenheit modifiziert das In-der-Welt-sein und sie
ermöglicht75 erst das eigentliche Miteinandersein, die intersubjektive Welt.
Entschlossenheit erschließt das Da für einen Zufall, der das eigentliche Handeln
ist. Wie wir im zweiten Kapitel sehen werden, sind Stimmungen und die aus ihnen
folgende Erschlossenheit und Entschlossenheit, etwas, das uns überfällt und doch
immer da ist. Unsere Wille, unser Bewusstsein oder unsere Entscheidung können
sie nicht ausrufen, sondern sie sind immer schon aufgrund der Stimmungen
möglich.
Ohne Grundbefindlichkeit könnten wir also nicht einmal die Unterscheidung
zwischen der eigentlichen und uneigentlichen Existenz machen und nur schwer
die ganze Analyse in Gang bringen. Grundbefindlichkeit ist die Methode der
Enthüllung des Verborgenen: Wir müssen nicht eine Art der Reflexion
durchführen, um anzuschauen, welche Weise der Erschlossenheit unsere Existenz
trägt und dass sie einheitlich sind.
(2) Das Phänomen der Zeitlichkeit als Einheit und Sinn der Sorge enthüllt sich
aus
der Verbindung
zwischen
vorlaufender
Entschlossenheit
und
dem
Ganzseinkönnen. Die Grundstimmung der Angst hat das Selbst und die Weise der
Existenz (eigentliche und uneigentliche) mittels des Kontrasts zur Endlichkeit
entdeckt, zu der das Verstehen immer schon vorläuft. Die Entschlossenheit ist
auch „zu Ende gedacht76“: Das Gewissen ruft uns aus der Negativität und
74
75
76
Vgl. OTTO PÖGGELER: Der Denkweg Martin Heidegger, Neske, Pfullingen, 1963, S. 60-61
Vgl. Klaus Held, der das Miteinandersein und die gemeinsame Welt als durch die gestimmte
Entschlossenheit gebildeten interpretiert. Grundstimmung ist wirkliche Gemeinsamkeit,
während mit den flüchtigen Stimmungen ist man allein. KLAUS HELD (1991), S. 36, Vgl. GA 26,
S. 270: „ Es wäre zu zeigen, wie Faktizität , wie Individuation in der Zeitlichkeit gründen, die
als Zeitigung sich in sich selbst einigt und vereinzelt im metaphysischen Sinne, als principium
individuationis. Diese Vereinzelung aber ist die Voraussetzung für das ursprüngliche
commercium zwischen Dasein und Dasein.“
SZ, S. 404-405
27
1. Kapitel: Quelle und Methode
erschließt uns damit ständig unser ganzes Seinkönnen. „Die Frage nach dem
Ganzseinkönnen ist eine faktisch-existenzielle. Das Dasein beantwortet sie als
erschlossenes77“. Ganzseinkönnen und Entschlossenheit verbinden sich in dem
Umwillen der Existenz. Vorlaufen zum Tod ist zukünftige Charakterisierung, die
Negativität, die wir übernehmen müssen, welche dagegen in die Vergangenheit,
bzw. Gewesenheit deutet. Beide erschließen die Situation unseres Da, wo wir uns
mit dem Seienden begegnen (Vergegenwärtigung). Das In-der-Welt-sein ist also in
seiner besorgenden Struktur (Befindlichkeit, Verstehen, Rede, Verfallen) zugleich
zeitlich:
Sorge
(innerweltlich)
ist
„Sich-vorweg-schon-sein-in
begegnendem
Seienden“78.
(der
Diese
Welt)
als
Zeitlichkeit
Sein-bei
bezeichnet
Heidegger als ekstatische Zeitlichkeit (die er von der vulgär verstandenen Zeit
unterscheidet). Ekstatisch nennt er sie deswegen, weil sie alle drei Dimensionen
der Zeit auf einmal offenbart und vereinheitlicht: im vorlaufenden Verstehen der
Endlichkeit (Zukunft) sind wir (Gegenwart) immer schon da (Gewesenheit).
Ekstase ist die Bewegung des Transzendierens79, weil Zeitlichkeit als Sinn der
Sorge die Erschlossenheit der Welt und des Seienden in der Welt ermöglicht.
Ekstatische Einheit der Zeitlichkeit bildet horizontalen Schemen, wohin die
Ekstasen entrücken. Dieses Geschehen der Zeitlichkeit ist ihre Zeitigung und, weil
es aus dem Vorlaufen zum Tod sich primär zeitigt, ist auch endlich. Endlichkeit ist
Auf-sich-zukommen der Nichtigkeit. Diese Zeitlichkeit ist ursprüngliche
eigentliche Zeitlichkeit. Es ist wichtig zu bemerken, dass in diesem Fall die
beiden Modi nicht gleichwertig sind, sondern dass die uneigentliche Zeitlichkeit
in der eigentlichen fundiert ist. Das sind das wiederum Stimmungen, die den
Zugang zu der beiden Modi der Zeitlichkeit darstellen, obwohl sie unsere
Gewesenheit (Geworfenheit) enthüllen, d. h. Stimmungen selbst sind durch
Zeitlichkeit möglich. Zeitlichkeit offenbart sich (auch methodisch) wieder durch
Stimmungen, weil sie uns durchstimmt (als Endlichkeit).
(3) Der Zusammenhang der Stimmungen und Geschichtlichkeit ist nicht in
Sein und Zeit ausdrücklich durchgeführt (das kommt erst mit der GA 29/30).
Trotzdem widmet sich Heidegger der Geschichtlichkeit im Zusammenhang mit
77
78
79
SZ, S. 409-410
SZ, S. 332
SZ, § 69., Ek-stase – Trans-zendieren – Entrückung
28
1. Kapitel: Quelle und Methode
der Zeitlichkeit. Geschichtlichkeit meint nicht Historie, sondern das Geschehen
der vorlaufenden Entschlossenheit, der Zeitigung des Daseins, also es handelt sich
in diesem Sinne um eigentliches Erschließen der Geschichte aus der zeitlichen
Natur der Sorge. Die Möglichkeiten erschließen wir aus der Geworfenheit in die
Welt. „Das entschlossene Zurückkommmen auf die Geworfenheit birgt ein
Sichüberliefern überkommener Möglichkeiten in sich80“, die wir vererben und in
unserem Schicksal wählen. Schicksal heißt also Erschlossensein für den Zufall,
für den Augenblick des Übernehmens der Geworfenheit. Und weil die
vorlaufende Entschlossenheit eine gemeinsame Welt bildet, hat Geschichtlichkeit
zugleich auch gesellschaftliche Gestalt im „Geschick“. Diese authentische
Geschichtlichkeit geschieht als Wiederholung der Möglichkeiten des gewesenen
Da-seins, die aber ausdrücklich und neu geschieht. Im eigentlichen Modus der
Zeitlichkeit sollte Wiederholung als angeeignete geschichtliche „Tradition“
anfangen81 und Geschichte als Disziplin destruiert sein.
Grundbefindlichkeit spielt also bei Heidegger methodisch eine Schlüsselrolle.
Mit Befindlichkeit ist die Bewegung des Entwerfens im Gang gebracht, die
Bewegung zwischen der eigentlichen und uneigentlichen Existenz, die Bewegung
der Sorge. Damit ist auch das Ganzseinkönnen des Daseins legitimiert. Durch die
Grundbefindlichkeit ist das Dasein vereinzelt, d. h. erschlossen, zugleich ist die
Welt als solche von ihm erschlossen. Grundbefindlichkeit bringt das Dasein zu
sich selbst als In-der-Welt-sein: die Angst ist Angst vor dem In-der-Welt-sein als
solchem, Angst vor dem Tod im Sinne des eigentlichsten Seinkönnens. Obwohl
Heidegger das Seinsverständnis des Daseins und seinen Entwurfcharakter betont
(auch hinsichtlich der Freiheit und vor allem der Ursprünglichkeit des
Ganzseinkönnens der Sorge), methodisch ist seine Analyse durch die
Grundbefindlichkeit, bzw. Grundstimmungen gerechtfertigt. Das Spiel zwischen
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit trägt die ganze Daseinsanalyse in ihren
zeitlichen und geschichtlichen Konsequenzen. Sie ist aber mittels Stimmungen
gespielt, bzw. entdeckt.
80
81
SZ, S. 507
Der spätere Heidegger spricht über den Anfang, vgl. KLAUS HELD (1991), S. 36 ff.
29
1. Kapitel: Quelle und Methode
1. 2. b) Stimmungen und ihre Rolle für Transzendenz (GA 26,
Was ist Metaphysik?, Vom Wesen des Grundes)
Obwohl in GA 26 die Stimmungen, bzw. Angst nur in eine Fussnote erwähnt
sind82, der Transzendenz widmen sich auch die Texten Vom Wesen des Grundes
und Was ist Metaphysik?. In diesen Texten kann man eine „neue“ Funktion der
Stimmungen finden, nämlich für die Transzendenz des Daseins im Sinne der
temporalen Analytik und Bestimmung der Seinsverständnis als Geschehen der
ontologischen Differenz. Während die Thematik der Transzendenz im GA 26 und
in Vom Wesen des Grundes mittels der Frage nach Grund und Wahrheit erlangt
wird, also die Struktur des Seinsverständnis selbst betrachtet (als ob wir schon in
der Position der eigentlichen Selbst wären83, d. h. die Geschichte der Philosophie
unter den destruirenden Blick aneignen würden), wird in Was ist Metaphysik?, das
als ein komplementärer Text zum Vom Wesen des Grundes gilt84, beschrieben, wie
man durch die Grundstimmungen zur Erfahrung der Bewegtheit des Selbst und
der Welt als Bewegtheit der nichtendnen Offenbarung des Seienden im Ganzen
kommt (Bewegung der Transzendenz als ontologische Differenz). Es geht nicht
mehr um Wahl des Eigentlichseins, sondern um eine nähere Bestimmung der
Verbindlichkeit der Freiheit des Eigentlichseinkönnes und um Be-gründung des
Seinsverständnisses im Sinne des Welteingangs des Seienden. Als Analyse des
Geschehens des Transzendierens ist diese eine temporale Analytik. Betrachten
wir jetzt zusammen mit Heidegger, was in der Transzendenz geschieht und welche
methodische Rolle in ihr und ihrer temporalen Bedeutung die Stimmungen
spielen.
Ähnlich wie in Sein und Zeit bleibt auch jetzt das Verhältnis des Fragens und
Befragens des Fragenden zentral. Im Unterschied zum Sein und Zeit ist dieses
Verhältnis als metaphysisches Geschehen thematisiert. Das Fragen des Daseins
stellt das Fragende selbst in Frage: es ist die Frage, die immer an das Ganze geht
82
83
84
Im Zusammenhang mit der möglichen Theologie, GA 26, S. 211
Darauf weisst auch das Zitat aus GA 26 hin: „Philosophieren kann nur, wer schon entschlossen
ist“, GA 26, S. 22
Vgl. Vorwort Heideggers zu Vom Wesen des Grundes
30
1. Kapitel: Quelle und Methode
und es in diesem Sinne übersteigt. „Transzendenz bedeutet Überstieg“85. Das
Dasein ist transzendent, d. h. sein Vollzug ist ein Übersteigen. Das Dasein ist
Übersteigen, in dem „sich“ das Dasein zu dem Seienden „im Ganzen“86 verhält.
Das geschieht im alltäglichen Gestimmtsein. Was verstehen wir (und die
Wissenschaft) unter dem Seienden? Etwas, was ist. Wie aber kommen wir darauf,
dass es ist? Heidegger weist darauf hin, dass das Seiende und das Nichts
zueinander gehören, sogar die Offenbarung des Seienden das Nichts erfordert.
Logisch „ist“ das Nichts nicht. Es geht aber um ein ursprünglicheres Nichts als die
bloße Verneigung oder Nicht-Seiendes. Mit dem wissenschaftlichen Erfassen
haben wir keinen Zugang zu diesem ursprünglicheren Nichts, weil der Verstand
schon von ihm abhängt. Wenn wir aber von dem alltäglichen gestimmten
Sich-Befinden inmitten des Seienden „im Ganzen“ ausgehen, können wir zur
Grunderfahrung des Nichts kommen. Diese methodische Rolle erfüllen eben die
Grundstimmungen.
Heidegger erwähnt zwei Grundstimmungen: die tiefe Langeweile, die in ihrer
Gleichgültigkeit das Seiende „im Ganzen“ ausdrücklich offenbart, und die Angst,
die eine ausgezeichnete Grundstimmung ist, weil sie das Nichts offenbart. Andere
Stimmungen (z. B. Freude an der Gegenwart des Daseins eines geliebten
Menschen) situieren und enthüllen uns, wo wir uns befinden: in der Welt. Das
Dasein hat in seinem Existieren immer schon das Seiende auf die Welt hin
überstiegen (deswegen kann es sich zu ihm verhalten, obwohl Welt und Selbstsein
unthematisch bleiben). Kurz gesagt: Transzendenz ist „In-der-Welt-sein“. Die
Welt vereinheitlicht die Struktur der Transzendenz, ihr Begriff ist also ein
„transzendentaler“ im Sinne der Ganzheit des Umwillen des Daseins. Welt (auch
philosophisch-geschichtlich betrachtet) ist das vorgängige Wie im Ganzen, das auf
das menschliche Dasein relativ ist87. Die Stimmungen also enthüllen unsere
Befindlichkeit in der Welt (als unausdrückliches „im Ganzen“), zugleich jedoch
85
86
87
Vom Wesen des Grundes, S. 137
Das ist etwas anderes als sich verhalten zum Ganzen des Seienden (Seiende in seiner Allheit,
vgl. Wissenschaft), Was ist Metaphysik?, S. 44
Ist die Welt dann etwas Subjektives, wenn sie zum Dasein gehört? Was besagt nun das
„Subjektives“? Heidegger betont, dass die Selbstheit des Daseins, die sich mit dem
transzendierenden Geschehen des Worumwillen des Daseins enthüllt, kein Ich ist. Diese
Selbstheit ist neutral und stellt die Voraussetzung für Ichheit oder Ich-Du-Beziehung dar.
Zugleich gibt die Selbstheit einen Welteingang des Seienden frei.
31
1. Kapitel: Quelle und Methode
den Grund der Offenbarkeit des Seienden „im Ganzen“ verbergen. Die
Grundstimmungen dagegen haben die eigentliche Funktion des Enthüllens. Das
Nichts im Ganzen und das Seiende im Ganzen sind eins, deswegen auch beide
oben
genannten
Grundstimmungen
das
Grundgeschehens
des
Daseins
(Transzendieren) enthüllen. Verbergen und Enthüllen sind auch zwei Weise
desselben Geschehens des Transzendierens. Für die Enthüllung der Bewegung des
Transzendenz ist die Angst geeignet. In der Angst erfährt das Dasein nämlich eine
Bodenlosigkeit, in der das besorgte Seiende in der Welt als gleichgültig und
unheimlich erscheint. Wir haben keinen Halt mehr (die Welt ist gleichgültig) und
der Mensch verwandelt sich in sein reines Da-sein – Welt und Selbst sind eins
(ununterscheidet, nicht differenziert): das Nichts. Nichts nichtet, d. h. in seinem
Kontrast offenbart es das Seiende als Seiendes und in der Differenz von Seiendem
und Welt meldet sich das Nichts (aber als abweisende Verweisung auf das Seiende
im Ganzen). Nichtung als Geschehen der Differenz produziert Welt als Horizont
für Offenbarung des Seienden (Welteingang des Seienden). Nichtung des Nichts
verbirgt sich in ihrem Geschehen. Dank des nichtenden Geschehens des Nichts
kann sich das Dasein zum Seienden und damit zu sich selbst verhalten – alltäglich
unausdrücklich (Verhalten zum Seienden) oder ausdrücklich (Philosophieren)88.
Das in Angst enthüllte Da-sein macht aus den Menschen den Platz des Nichts, wir
sind in das Nichts immer hineingehalten. Nichtung des Nicht in uns ist von
unserer Endlichkeit freigegeben, die wir nicht selbst entdecken können, sondern
wir müssen gerade auf eine Grundstimmung warten. Unsere Freiheit als Wille soll
man im Sinne der eigentlichen (also verbindlichen) Bereitschaft für Sichüberkommen-lassen durch eine Grundstimmung89 verstehen.
In GA 26 und Vom Wesen des Grundes ist die Bewegung der Freiheit als Wille
weiter beschrieben, wieder im Sinne einer verbindlichen Freiheit. Das
Seinsverständnis ist nämlich in der Bewegung der Freiheit be-gründet. Hier
kommt zum Zug auch die temporale Analytik. Die Analyse des Transzendierens
ist jetzt nicht durch Stimmungen, sondern temporal entfaltet. Obwohl die
Hauptaufgabe dieses Kapitel in der methodische Rolle der Stimmungen liegt, für
88
89
Auch wenn wir nicht die Angst erfahren, ist unsere Existenz von dem Geschehen des Nichts
getragen. Die abweisende Verweisung des Nichts auf das Seiende im Ganzen ermöglicht
unsere fliehende Alltäglichkeit.
Vgl. KLAUS HELD (1991), S. 42, oder Was ist Metaphysik?, S. 58
32
1. Kapitel: Quelle und Methode
Verständnis der Gesamtzusammenhänge, die sich auch später mit Stimmungen
verflechten, erkläre ich hier kurz auch die Zeitlichkeit des Transzendierens. Der
Brennpunkt stellt hier das Umwillen dar, das nicht nur auf das Willen sondern
auch auf die Zukünftigkeit hinweist.
Im Umwillen hat sich das Dasein zu ihm selbst überstiegen. Jetzt stellt sich die
Frage, „wie“. Die Antwort ist im Umwillen sich selbst des Daseins enthalten: Es
ist der Wille sich selbst auf Möglichkeiten zu entwerfen. Diesen Willen muss man
jedoch vom Wollen unterscheiden. Der Wille ist nämlich kein Verhalten (das wäre
sie von Transzendenz abhängig), sondern er ist der Überstieg, er ist das
Welt-Bildende (als Wohin des Transzendierens und Wohin unseres Seinkönnens).
Heidegger bezeichnet den Willen als Freiheit90. Dieser Wille als Freiheit ist nicht
etwas, wofür wir uns entscheiden können. Deswegen ist das Moment der
Grundstimmung mit ihrer überkommenden Natur und das Moment der
Endlichkeit (die die Grundstimmung auch zugänglich macht) wichtig. „Freiheit
ist Freiheit zum Grunde“91 und im dreifachen Gründen erscheint der Charakter der
Freiheit. Die Struktur des Gründens entspricht mehr oder weniger der
Sorge-Struktur, jetzt aber im Bezug auf die Transzendenz.
Das erste Gründen nennt Heidegger „Stiftung“. Es ist ein Überschwung der
Möglichkeiten des Daseins selbst (dank seines Umwillen), ein Entwurf der Welt
(Weltgründen). Dieses Moment könnte man als „Freiheit“ verstehen. Diese
„Freiheit“ zu den Möglichkeiten ist jedoch durch das zweite Gründen begrenzt:
Das Dasein befindet sich inmitten des Seienden. Es ist von Seiendem
eingenommen, gestimmt, nimmt in ihm Boden (oder in der Fall der
Grundstimmungen diese Boden verliert). Es entwirft von dem Seienden her seine
bestimmten Möglichkeiten, wodurch es die entworfenen Möglichkeiten der Welt
entzieht (es ist eigentlich auf die Welt angewiesen). Dieses Moment ist auch ein
Moment der Freiheit als Gründen, aber gerade in ihrer verbindlichen Form:
Freiheit ist endlich, weil der Überschwung und Entzug der Möglichkeiten
zueinander gehören. Das dritte Gründen ist Be-gründen, das das Offenbarmachen
von Seiendem an ihm selbst ermöglicht. Begründen ermöglicht also das Verhalten
zu Seiendem und als Gründen auch alle Warumfragen, Ausweisen und Suchen der
90
91
„Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst“, Vom Wesen des Grundes, S. 163
Vom Wesen des Grundes, S. 164
33
1. Kapitel: Quelle und Methode
Ursachen des Seienden, einschließlich des Verhaltens als Erkennen. Begründen ist
Seinsverständnis, das in der Einheit von Eingenommenheit und Weltentwurf liegt.
Alle drei Weisen des Gründens bilden einen Spielraum: die Freiheit ist Grund der
Einheit der Sorge. Die Freiheit erklärt Heidegger weiter als Ab-grund des Daseins.
Damit ist der Aspekt der Verbindlichkeit gemeint, in dem das Dasein vor seine
endliche Wahl gestellt ist. Das Dasein kann sich selbst im Transzendieren als
Abgrund verstehen – es vernichtet mit dem Geschehen seiner endlichen Existenz
bestimmte Möglichkeiten. Es entwirft und bildet zwar die Welt, zugleich aber ist
es auf diese Welt und diese bestimmten Möglichkeiten in der Welt angewiesen,
geworfen. Diese abgründige Bewegung liegt in der Bewegung der ursprünglichen
Zeitlichkeit.
Das Umwillen des Daseins hat sich als Grund der Bewegtheit der Freiheit
erwiesen, die das Transzendieren des Seinsverständnisses be-gründet. Es ist
deswegen, weil Umwillen zeitlich gegründet ist. Das Dasein verhält sich zum
Seienden, weil es ihm um sein Sein geht. Das Dasein entwirft sich in die Zukunft,
versteht seine Befindlichkeit und seine Möglichkeiten von der Zukunft her. Diese
Zukunft ist aber eine ekstatische Zukunft, die mit dem Behalten oder Geweseem
und Gegenwärtigem verbunden ist. Es ist eine Bewegung des Entwerfens, die ihre
Einheit in der Einheit der Zeitlichkeit hat (mit der Endlichkeit zusammenhängt).
Die Bewegung der Zeitlichkeit ist Zeitigung und hat Gestalt einer freien
ekstatischen Schwingung92: Freier, weil die bindende Freiheit des Umwillen,
ekstatischer, weil die zeitlichen Ekstasen (Gewärtigen, Behalten, Gegenwärtigen)
ein einheitliches „Wohin“ ihrer Entrückung – einen einheitlichen Horizont von
Möglichkeiten überhaupt – produzieren, dessen Name die Welt ist. Die
Schwingung der Ekstasen führt also zu einem Überwurf in die Welt, die den
Welteingang des Seienden ermöglicht. Die Welt ist dabei kein Seiendes, sondern
sie zeitigt sich: Die Welt weltet und waltet (wir lassen sie welten und walten: wir
sind auf sie als auf die Möglichkeit unseres Seinkönnens angewiesen). Es ist das
endliche Dasein selbst, das als Zeitlichkeit in ihrer Zeitigung das Dasein in die
Welt wirft (Entzug), die es entwirft (Überschwung). Das Dasein im Menschen ist
die einheitliche Bewegung der Zeitigung, bzw. Schwingung, bzw. Nichtung.
92
GA 26, S. 268 ff.
34
1. Kapitel: Quelle und Methode
Zeitigung ist innere Möglichkeit der Transzendenz. Diese Bewegung ist endlich.
1. 2. c) Grundstimmung des Philosophierens (GA 29/30)
Wir haben gesehen, dass die Metaphysik als Philosophieren eine Aufgabe hat:
Den Menschen ins Da-sein verwandeln. Sie kann das nicht einfach machen,
sondern nur mit der Hilfe der Grundstimmung. Wir wissen schon, dass
Stimmungen das Da-sein offenbaren . In GA 29/30 spielt Grundstimmung schon
bewusst eine zentrale methodische Rolle für Möglichkeit des Philosophierens.
Mehr als um Beschreibung der Seinsweisen des Daseins (wie in Sein und Zeit)
geht es Heidegger um Bestimmung der Aufgabe der Philosophie als Metaphysik,
die in der stimmungmäßigen Bewegungseinheit der Welt und des Menschen liegt.
Die Analyse der Grundstimmung sowie die Analyse des LOGOS sollten uns
vorbereiten für das Eingehen in das Geschehen des Waltens der Welt. Wir müssen
lernen, auf den Zufall zu warten, der uns das „im Ganzen“zeigt, die Welt, die wir
durch das Geschehen des Entwurfs bilden, aber die uns zugleich in diesem
Geschehen durchwaltet93. Diese Welt ist ein Spielraum der Möglichkeiten, die
durch sich selbst als Ermöglichung unserer Verwirklichung beschränkt ist. Der
Spielraum bildet die Möglichkeiten nicht nur für Verhalten zum Seienden, sondern
auch für aufweisende Funktion des LOGOS. Für diese Arbeit ist jetzt vor allem
der methodische Weg zum „im Ganzen“ und zur Verwandlung über die
Grundstimmung wichtig.
Philosophieren heißt eine Grundstimmung zu wecken, die uns schon immer
durchstimmt. Nicht einmal die Metaphysik verwandelt den Menschen, sondern
bringt ihn „nur“ zur Empfänglichkeit für die für eigentliche Verwandlung
notwendige Grundstimmung. Auch Philosophieren bewegt sich jedoch in der
Grundstimmung, in der Grundstimmung des Heimwehs oder Schreckens. Die
Philosophen sind nämlich nicht die Schon-Aufgeweckten oder Verwandelten, sie
sind immer in der Gefahr und Unsicherheit, ob sie philosophieren oder nicht, sie
sind immer „unterwegs“. Heidegger, der diesmal den Begriff der Welt sucht,
verwendet methodisch eine Grundstimmung, die das „im Ganzen“ der Welt als
93
„Im Entwurf waltet die Welt“, GA29/30, S. 530
35
1. Kapitel: Quelle und Methode
solcher erschließt und „einen wesentlichen Einblick in das Dasein des
Menschen“94 ermöglicht. Dazu dient die Grundstimmung der tiefen Langeweile,
die Heidegger mit der Grundstimmung des Philosophierens (Heimweh) aufgrund
der alemannischen Etymologie der Langeweile vereinheitlicht95. Langeweile
erschließt die Welt „im Ganzen“ und befragt damit zugleich das Dasein. Im
Unterschied zu Sein und Zeit geht es jetzt um das Moment der Weltbildung96 im
menschlichen Dasein. In Was ist Metaphysik? war schon die tiefe Langeweile für
Enthüllung des Seienden „im Ganzen“ als geeignet erwähnt. Zugleich ist auch die
geschichtliche Rolle dieser Stimmung mitthematisiert: Die Stimmung offenbart
das Seiende selbst, Offenbarmachen ist ein Geschehen, das als Geschehen die
Welt bildet (Welt als Handlung und als Bewegung: Welt waltet, Überantwortung
als index der inneren Endlichkeit). Die Möglichkeit einer Grundstimmung ist
durch Grundstimmung selbst entdeckt: die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit,
Endlichkeit und Vereinzelung.
Es gibt nicht nur die Grundstimmung des Philosophierens, sondern eine
Grundstimmung. Das hängt mit dem Wesen der Stimmungen zusammen: Wir
wählen nicht die Stimmung für das Philosophieren oder andere Handlungen,
sondern die Stimmung kommt von selbst, überfällt uns, ist schon immer da als
Wie unseres Miteinander-Daseins, sie be-stimmt unser Handeln und Fragen. Eine
Grundstimmung zu wecken heißt nicht, sie bewusst zu machen, sondern warten,
empfänglich zu sein, sie wach werden lassen, nicht ihr entgegen handeln. Es stellt
sich die Frage, ob wir also passiv sein müssen, um eine Grundstimmung zu
wecken. Heidegger betont, dass Stimmungen nicht in der Passivität-AktivitätUnterscheidung liegen, sondern im Wie des Da-seins. Das ist auch der Unterschied
zwischen
den
Versuchen
unsere
heutige
Lage
als
weltgeschichtliche
Ortbestimmung (Diagnose und Prognose der Kultur) zu beschreiben und wie wir
da sind – als ständig der Langeweile entgegenhandelnd. Wir suchen eine Rolle in
94
95
96
GA 29/30, S. 487
GA 29/30, S. 120
Vgl. Interpretation von Günter Figal: „ Die Analysen von Sein und Zeit berücksichtigen nur die
Bewegtheit des Daseins in einer Welt, in der man eigentlich oder uneigentlich »da« sein
konnte, ohne dass die Welt als solch e sich dadurch änderte. Demgegenüber geht es jetzt um
die Möglichkeit »neuer Welten«, es geht darum, den Zeitcharakter der Welt anders als nur in
der Orientierung an der Zeitlichkeit des Daseins, sofern so die Zeitlichkeit des In-der-Weltseins ist, zu denken. Jetzt kommt es Heidegger auf den Gedanken an ,dass aus der Zeit
überhaupt die Welt neu entspringt.“ GÜNTER FIGAL (1992), S. 113
36
1. Kapitel: Quelle und Methode
der Weltgeschichte, weil wir nicht uns selbst hören, weil wir vor der Langeweile
fliehen. Es ist interessant, dass in diesem Text Heidegger nicht betont, dass die
uneigentliche Weise des Existierens gleichwertig ist, sondern die Aufgabe der
Philosophie für Verwandlung zur eigentlichen Seinsweise, obwohl es in seiner
Analyse der Langeweile über alltägliches Dasein geht (d. h. von den
oberflächlicheren Formen Langeweile zu der tiefe Langeweile). Langeweile als
lange Zeit verweist auf Zeitlichkeit. Es ist also die Zeit, die unser Fragen
be-stimmt und in Grundstimmung uns durchstimmt. Und Zeitlichkeit ist nichts
anders als Endlichkeit. Die Absicht Heideggers ist jedoch nicht die Langeweile
selbst zu beschreiben, sondern um Langeweile als Grundweise des Daseins, in der
wir uns bewegen, ausweisen. Philosophieren kann uns die Möglichkeit einer
Stimmung erklären, nicht aber Stimmung selbst. Das Fragen selbst, Fragen nach
Durchstimmung durch Langeweile befreit das Wesen des Menschen. Langeweile
offenbart nämlich die Bedrängnis zum Übernehmen unseres Da-seins, die sich
gewöhnlich versagt. Das Wie des Fragens ist Langeweile, die zu der Zeitlichkeit
führt. Die Analyse der Langeweile ermöglicht uns auch zu verstehen, worin die
Not unserer heutigen Lage liegt: Es bleibt die Bedrängnis aus und wir handeln
gegen Langeweile. Die Aufgabe der Philosophie ist dann dank der Analyse der
Langeweile, das Warten auf die Langeweile zu erlernen, die dann zu der
Übernahme des Da-seins führen kann.
1. 3. Zusammenfassung von 1. Kapitel
Für meine Arbeit ist wichtig zu sehen, dass die ursprüngliche Methode und Thema
sich
mit
der
Entwicklung
des
Denkens
Heideggers
verschoben
hat.
Fundamentalontologie, die als vorläufige Analyse zu eigenem Fragen nach Sinn
des Seins überhaupt führen sollte, hat sich in eine Metaphysik verwandelt, die
zugleich als menschliches Grundgeschehen verstanden sei. Die Daseinsanalyse
hat die Themen eröffnet, die für Heidegger wichtig geworden sind. In der
Daseinsanalyse in Sein und Zeit wurde vor allem die Selbstheit durch
Grundstimmungen entdeckt und betrachtet, in GA 26 und Texten Vom Wesen des
Grundes und Was ist Metaphysik? dann die Bewegung der Transzendenz
37
1. Kapitel: Quelle und Methode
(ontologische Differenz) hinsichtlich des Seienden im Ganzen, das sich in GA
29/30 als Weltanalyse97 erweist. Frage nach dem Sinn des Seins bleibt jedoch im
Hintergrund und deswegen können wir immer über Ontologie sprechen.
Die Stimmungen haben eine immer wichtigere methodische Rolle in der
heideggerischen Philosophieren gespielt. In Sein und Zeit stellen sie den Zugang
zur Einheit der Sorge, also zur Zeitlichkeit und Endlichkeit, dar. In Was ist
Metaphysik? haben sie auch eine enthüllende Funktion für die ontologische
Differenz, die die Bewegtheit des Daseins erklärt. Und schließlich in GA 29/30
haben sie ganz wesentliche philosophische Aufgabe bekommen. In den
Stimmungen klingt nämlich Endlichkeit, wesentliche Negativität des Daseins, als
Zeitlichkeit, die unser Da-sein durchstimmt, ob ausdrücklich oder unausdrücklich.
Stimmungen können wir nicht selbst ausrufen, sie sind schon da. Wir als
Philosophen können nur versuchen auf sie zu warten, empfindlich zu sein, nicht
ihnen entgegenhandeln. Dann erscheint uns vielleicht in einem Augenblick die
ganze bewegliche Struktur des Daseins – Welt und Nichtung, Sein und Seiende,
Selbstheit, Freiheit und Verbindlichkeit -, um doch wieder vergessen zu werden.
Es wird immer wieder stärkere die Betonung Heideggers auf das Geschehen des
Daseins und auf die „Aufgabe“. Die Endlichkeit, die uns durchstimmt,
durchwaltet als Welt – Welt und Zeit sind endlich.
97
Günter Figal weist darauf hin, dass dabei die Jemeinigkeit des Daseins nicht mehr betont ist,
sondern die Neutralität des Daseins, die die Gemeinsamkeit der Welt beim Weltbilden
wichtigere Rolle spielt. GÜNTER FIGAL (1992), S. 115-117
38
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
In diesem Kapitel möchte ich die Struktur der Stimmungen behandeln. Es soll
gezeigt werden, wie konkret die Analyse der Stimmungen durchgeführt wird und
welche Momente sie hat. Heidegger thematisiert Stimmungen vor allem in Sein
und Zeit und in der GA 29/30. Deswegen möchte ich auch dieses Kapitel in zwei
Teile gliedern: 2.1. Sein und Zeit (Furcht und Angst), 2.2. GA 29/30 (Langeweile).
Heidegger arbeitet vor allem mit zwei Grundstimmungen – Angst und tiefe
Langeweile – und zwar auch in seinen anderen Texten. Wo es für das Verständnis
notwendig sein wird, weise ich auch auf diese anderen Texte hin.
Stimmungen eröffnen den Weg zu ihrem Grund selbst, der in der Zeitlichkeit
liegt und der wesentlich für Selbstverständnis des Daseins ist.
2.1. Sein und Zeit: Furcht und Angst
Die methodische Seite von Stimmungen in Sein und Zeit wurde im vorigen
Kapitel beschrieben. Jetzt komme ich zu den einzelnen Momenten und
Bezeichnungen der Stimmungen, die ich jedoch im Zusammenhang mit der
Systematik und mit dem Ziel des ganzen Texts Heideggers erkläre, d. h. mit dem
Aspekt der In-Sein-Struktur und des Ganzseinkönnens der Sorge (2.1. a) und mit
dem Aspekt der Zeitlichkeit (2.1. b).
2. 1. a) Befindlichkeit
Wenn Heidegger den § 29. in Sein und Zeit mit den Worten beginnt, dass
Befindlichkeit, bzw. ihre ontische Gestalt – Stimmung – als ein fundamentales
Existenzial betrachtet werden muss, ist damit gemeint, dass Stimmung zu den
wesentlichen Zügen des Daseins gehört. Stimmung ist eine primäre Seinsweise
des Daseins als Geworfensein – das Dasein befindet sich so und so, es ist immer
irgendwie in der Welt. Stimmungen in der Einheit mit Verstehen und Rede
39
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
nämlich erschließen (oder verschließen) unsere Möglichkeiten, sie erschließen
unser Leben als Ganzes, als unser ganzes Geschehen in der Welt. Dank der
Stimmungen verstehen wir diese Möglichkeiten und zwar gerade als unsere
Möglichkeiten – wir erfahren unthematisch in Stimmungen, dass wir sind und zu
sein haben (das nennt Heidegger Faktizität). Wenn wir uns mit Befindlichkeit
beschäftigen möchten, müssen wir also nicht nur Befindlichkeit, sondern auch
Verstehen und Rede als konstitutive Momente der Erschlossenheit des Daseins
behandeln, weil sie alle gleichursprünglich und verbunden sind. Stimmung stimmt
das Verstehen durch und die Rede artikuliert die Bedeutsamkeit des Seienden in
der Welt aus dem gestimmten Verstehen98. Deswegen möchte ich nicht nur
Befindlichkeit, sondern auch Verstehen und Rede hinsichtlich der Stimmungen
begreifen.
Stimmungen, Verstehen und Rede hängen mit dem „In-Sein“ des In-der-Weltseins zusammen – das „In-Sein“ nicht im Sinne einer räumlichen Bestimmung
verstanden, sondern das „In“ als Welt, wo etwas uns berühren, begegnen, d. h.
stimmungmäßig betreffen kann99. „Etwas“ - das Seiende – kann nur innerhalb der
Welt berühren und die Welt ist dem befindlich gestimmten Dasein erschlossen und
durch es erschlossen100. Die ursprüngliche Erschlossenheit der Welt setzt
Befindlichkeit voraus und Stimmung ist die Weise der Erschlossenheit unserer
Befindlichkeit. Stimmungen bringen das Dasein zu seinem „Da“, sie sind das
„Situiertsein“101 des Daseins. Damit ist jedoch der Zugang des Daseins zum
Seienden als Innerweltlichem gemeint, zu einer innerweltlichen „Situation“.
Stimmungen sind mannigfaltig und damit ist auch Weltlichkeit mannigfaltig, d. h.
das Zuhandene102 ändert sich mit Stimmungen, mit Befindlichkeit des
'In-der-Welt-seins'.
Damit sind wir zum zweiten Moment gekommen, zum Verstehen. Die Welt ist
98
99
100
101
102
„Jedes Verstehen hat seine Stimmung. Jede Befindlichkeit ist verstehend. Das befindliche
Verstehen hat den Charakter des Verfallens. Das verfallend gestimmte Verstehen artikuliert
sich bezüglich seiner Verständlichkeit in der Rede“, SZ, S. 444
SZ, § 12.
Die Berührung setzt eine „Welthabe“ voraus – ohne das durch Stimmungen welterschlossene
und welterschließende Dasein gibt es kein Seiendes und keine Welt: Das bedeutet eine
erschließende Aufgewiesenheit des Daseins auf die Welt
Nicht räumlich verstanden: Das Da-sein als In-der-Welt-sein erst die Räumlichkeit erschließt
(SZ,§ 12.,§ 22.-24., § 28.)
Das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit (SZ, S. 184)
40
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
nämlich als Bedeutsamkeit erschlossen – wir verstehen befindlich das
Worumwillen unseres In-der-Welt-seins. Wir sind „da“, um... . Die Welt (das Da)
ist erschlossen, um zu sein, weil wir zu sein haben. Das Verstehen ist Verstehen
unseres Seinkönnens, es ist ein Entwurf. Das Verstehen bedeutet das Sein des
Sein-könnens im Sinne der Möglichkeiten des Daseins, was es mit dem
innerweltlichen Seienden machen kann: Das Seiende ist hinsichtlich seiner
Möglichkeiten freigegeben. Deswegen ist Möglichkeit nicht etwas, das sein kann,
sondern was ist. Das Verstehen konstituiert, so wie die gestimmte Befindlichkeit,
ursprünglich das „Da“ unseres Seins – das Dasein versteht sich „zunächst und
zumeist“ aus seiner Welt, die durch Stimmungen erschlossen ist. Das Verstehen ist
befindlich und Stimmungen erschließen das jeweilige Verständnis.
Das bringt uns zum dritten Moment, weil Rede die Artikulation der
befindlichen Verständlichkeit des Da (des Bedeutungsganzen) ist. Rede redet das
Beredete (das Worüber der Rede) an, sie spricht sich aus (in der Mitteilung; das
im Mitsein Geredete) und die Art des Sprechens zeigt die Befindlichkeit (die
Bekundung der Befindlichkeit). Rede ist nicht nur das ontologische Fundament
der Sprache, sondern zu ihren Möglichkeiten gehören auch Schweigen und Hören
– beide geben etwas zum Verstehen, beide sind erschlossen dazu, etwas
Verständliches zu hören (das, was wir hören, etwas bedeutet). Rede gliedert das
Sein in mannigfaltige Seinsweisen, ohne die Einheit des In-der-Welt-seins zu
brechen.
Alle drei Momente des In-seins sind einheitlich im Begriff der Sorge, weil es
unserer Existenz um ihr Sein (in der Welt) geht, wozu Befindlichkeit, Verstehen
und Rede dienen. Ihre Einheit entdeckt gerade Stimmung. Kann jede Stimmung
diese Einheit entdecken und wie kann sie die Einheit entdecken? Bis jetzt haben
wir theoretisch über Befindlichkeit und ihre Stelle in der Struktur des Daseins als
In-der-Welt-seins gesprochen. Was können wir jedoch konkret unter Stimmungen
vorstellen? Wie treffen, erleben und bearbeiten wir Stimmungen in der Welt?
Wie gesagt, das Dasein ist immer schon gestimmt, auch wenn wir „keine
Laune“
haben.
Gerade
„keine
Laune“
der
Alltäglichkeit
ist
die
Grundgestimmtheit103, in deren Grenzen sich bestimmte Stimmungen bewegen.
103
Grundgestimmtheit darf man nicht mit Grundstimmung verwechseln. Im ersten Fall handelt
sich um die alltägliche „Ungestimmtheit“ oder „Verstimmung“ als Stimmung, in der sich der
41
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Diese alltägliche Gestimmtheit zeigt sich im Vergleich mit Stimmungen, welche
die Grenze der alltäglichen Situation überschreiten – etwas ist anders als
„normalerweise“. Heidegger unterscheidet dabei oberflächlichere von tieferen
Stimmungen. Die oberflächlicheren Stimmungen halten das Dasein im Verfallen
an die Welt, sie zeigen aber auch schon, dass etwas „stimmt“ oder „nicht stimmt“
im Vergleich mit dem „Normalerweise“ (das bezieht sich auf unser Verständnis).
Die tieferen Stimmungen, bzw. Grundbefindlichkeiten sind methodisch wichtiger,
weil sie die Struktur unseres Verständnisses nicht nur entdecken, sondern als
fraglich104 entdecken, und damit zeigen sie unser Sein in seinem „Da“ als
ursprüngliche Erschlossenheit. Meistens ist dieses „Da“ unseres Seins
unthematisch (gerade in oberflächlicheren Stimmungen) und Stimmungen stellen
die Abkehr des Daseins weg von sich selbst dar – wir sorgen uns um uns und
zerstreuen damit unseren Charakter des 'In-der-Welt-seins' in der alltäglichen
Abkehr zum Besorgten. Diese Abkehr ist auch eine Erschlossenheit unseres „Da“
– wir sind da, in der Welt, wir befinden uns da, aber in der Weise der Flucht des
Daseins vor sich selbst, vor seiner Geworfenheit. In Befindlichkeit ist unser „Da“
erschlossen, aber zugleich verschlossen. Der Fluchtcharakter der Stimmungen
wird aber nur dann als Flucht erkannt, wenn wir eine tiefere Stimmung erlebt
haben, sonst bleibt er verdeckt, vergessen.
Die tieferen Stimmungen stellen einen Bruch in der Alltäglichkeit dar, der
einen Zugang zum „Da“ ermöglicht, aber zugleich sind sie „nur“ die extremen
Ausschläge105 der alltäglichen Grundgestimmtheit. Eine solche tiefe Stimmung,
bzw. Grundbefindlichkeit ist die Angst. Heidegger unterscheidet dabei die Furcht
von der Angst, um zu zeigen, worin der Unterschied zwischen oberflächlicheren
und tieferen Stimmungen konkret besteht. An diesem Beispiel können wir den
doppelten Charakter der Stimmungen sehen, nämlich: das „Da“ des Daseins zu
erkennen und vor ihm zu fliehen.
104
105
Lastcharakter des Daseins offenbart (SZ, S.179). In dem zweiten Fall geht es um eine
Stimmung, die den Grund des Daseins offenbart.
Fraglichkeit ist für Boris Ferreira der entscheidende Punkt seiner Interpretation der Bedeutung
von Stimmungen, bzw. von tieferen Stimmungen; BORIS FERREIRA (2002)
Diesen Begriff verwendet Heidegger erst in GA 29/30 im Sinne der Stimmungen, die uns
ausdrücklich als Stimmungen überfallen (gegenüber der alltäglichen Ungestimmtheit). GA
29/30, S. 102
42
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Die Furcht106 ist „nur“ eine oberflächlichere Stimmung, weil sie „intentional“
ist – wir fürchten uns vor etwas, das aus dieser Welt kommt (das Innerweltliche)
und was sich als erschlossene Möglichkeit nähert. Das Fürchten erschließt die
Welt als das, woraus etwas Furchtbares kommt. Aber zugleich ist zu sehen, dass
wir es sind, die sich fürchten, d. h. das Dasein fürchtet um sein Sein und es kehrt
sich in der Flucht vor sich selbst zum Innerweltlichen (zum Furchtbaren) ab.
Diese Flucht vor sich selbst bleibt aber, wie gesagt, unthematisch – deswegen ist
die Furcht „nur“ eine oberflächlichere Stimmung.
Die Angst107 ist dagegen Angst vor Unbestimmtem – die Welt ist
„da“
unbedeutsam, wir haben Angst vor dem In-der-Welt-sein selbst, weil wir nicht
verstehen, woher die Angst kommt. Sie ist „da“ und doch „nirgends“ – das ist die
Welt als solche, als „im Ganzen“ und zugleich als „Nichts“108, die Welt in ihrer
Weltlichkeit, wovor wir uns ängstigen; die Welt als solche, d. h. ohne Bedeutung
für uns, weil Bedeutung mit Zuhandenem verbunden ist und die Welt ist die
Möglichkeit des Zuhandenen. Die Angst ermöglicht nicht die Weltlichkeit zu
begreifen, aber sie erschließt sie. In der Angst erfahren wir die Unmöglichkeit
unseres Verstehens aus der Welt109. Diese Erfahrung der Unmöglichkeit des
Verstehens ist Erfahrung der Endlichkeit des Verständnisses – unsere Endlichkeit
bedeutet primär nicht, dass wir sterblich sind, sondern dass unser Verständnis als
fraglich erscheint110. Die zwei Weisen des Seins – eigentliche und uneigentliche
Existenz - sind aber gleichursprünglich. Man darf das nicht meinen, dass das
Dasein erst mit der Entdeckung der eigentlichen Existenz „wirklich“ da ist.
Allerdings kommt erst mit einer tiefen Stimmung die Aneignung der Fraglichkeit
unseres Verständnisses, die Aneignung seiner Endlichkeit.
Jetzt stellt sich die Frage, wie das Dasein die Unverständlichkeit seines
106
107
108
109
110
SZ, § 30.
SZ, § 40.
Vgl. die Nichtung des Nichts, das in der Angst zugänglich ist, Was ist Metaphysik?
Wir entdecken, dass Verstehen uneigentlich und eigentlich sein kann: Das uneigentliche
versagt sich, das eigentliche zeigt sich in seiner Fraglichkeit als Vorlaufen zum Tode in der
Angst.
Günter Figal interpretiert diese „Endlichkeit des Verständnisses“ als Erfahrung der
Unbestimmtheit. Jeder weis, dass er stirbt, aber die Erfahrung darüber ist auf sich selbst nicht
übertragbar. Tod ist also Möglichkeit, welche die volle Unbestimmtheit darstellt, die wir mit
einem bestimmten Handeln zu beantworten versuchen, obwohl es immer nur eine Antwort ist.
„Im alltäglichen Dasein geht es nicht nur unter anderem, sondern wesentlich um dieses
Zusammenspiel von Frage und Antwort.“ GÜNTER FIGAL (1992), S. 89
43
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Seinkönnens entdeckt. Die Antwort lautet: dank der in Angst beinhalteten
Vereinzelung. Was bedeutet sie? Vereinzelung heißt, dass das Dasein für die
Möglichkeit der Eigentlichkeit des Seins des Daseins frei ist. Mein Seinkönnen
zeigt sich als unverständlich – ich bin zwar umwillen meiner selbst Seiender aber
ohne Entwurf, weil ich mich nicht aus der Welt und dem Innerweltlichen
verstehen kann (gewöhnlich - in der Alltäglichkeit - hat das Verstehen nämlich
den Charakter des Verfallens, d. h. es ist entwerfend zu einem Seinkönnen,
worumwillen je das Dasein existiert, aber meistens im Sinne der Abkehr zu
Innerweltlichem,
von
dem
aus
wir
uns
verstehen).
Die
alltägliche
Grundgestimmtheit, die mir das Zuhause in seiner Vertrautheit gewährt, wird
plötzlich nur zu einer Möglichkeit, weil ich in der Angst gerade un-zuhause bin
(die andere Möglichkeit erscheint als Versagen der Alltäglichkeit, als Übergang zu
der eigentlichen Existenz). Warum vereinzelt die Angst? Ich verstehe die Welt
nicht mehr und sehe plötzlich, dass die Angst aus mir selbst kommt – ich ängstige
mich um mein Seinkönnen als solches. Das Seinkönnen als solches ist nämlich
aus dem Vorlaufen des Verstehens zum letzten Seinkönnen verstanden. Der eigene
Tod, mein Tod als Möglichkeit der Unmöglichkeit des „Verhaltens zu...“ ist das
letzte Seinkönnen von dem aus alles konkrete Seinkönnen in der Welt verstanden
sind. Das Dasein ist das Sein zum Tode. Ich habe nicht Angst vor dem Tod, aber
aus dem Tod ist ausdrücklich die Jemeinigkeit des Daseins zugänglich und
zugleich die Negtivität (Endlichkeit) thematisch. Wir ängstigen uns vor der
Möglichkeit der Unmöglichkeit des Seinkönnens. Mir enthüllt sich in der Angst
die Wahl selbst zu sein, mit der ich meine Endlichkeit, die das In-der-Welt-sein
darstellt, wähle. Das In-der-Welt-sein ist ein Ganzes im doppelten Sinne: (1) das
Vorlaufen zum Tode bringt vor die Möglichkeit eigene Endlichkeit zu entdecken,
die zugleich (2) Grund des Verfallens an die Welt ist. Wir sind da, um zu sein zu
haben. Wir können nur in der Welt sein. Damit haben wir jedoch für immer einige
Möglichkeiten, die wir entwerfen, vernichtet. Die Welt kommt aus unserem
nichtenden Da-sein111.
Wie kann das an die Welt verfallene Dasein zu sich selbst kommen? Es ist
angerufen: durch Gewissen ruft die in Angst gestimmte Sorge zum eigentlichen
111
Vgl. Was ist Metaphysik?
44
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Seinkönnen. Der Ruf des Gewissens ist Rede im Modus des Schweigens. Der
Rufer ist zugleich der Hörer112, das uneigentliche Man ist zu seinem Selbst-seinkönnen gerufen. Wenn ich diesen Ruf verstehe, bin ich vorbereitet für Angst, für
Freiheit und Verantwortung, für eigentliches Handeln in Situationen. Die
Entschlossenheit für das Hören ist immer eine vorlaufende Entschlossenheit, in
der ich durch das Vorlaufen zum Tod vereinzelt bin (Ich entschließe mich). Mit
der Möglichkeit zu sich selbst kommen ist die eigentliche Zeitlichkeit verbunden.
Sie hat sich enthüllt, wenn Heidegger nach der Einheit der Sorge durch Angst
fragt. Die Einheit der Sorge hat ihren Sinn in der eigentlichen Zeitlichkeit, die
ekstatisch ist, d. h. sie immer alle drei zeitlichen Dimensionen verknüpft: Die
eigentliche Situation ist etwas Gegenwärtiges, sie ist der Augenblick, der aber aus
dem
vorlaufenden
Verstehen
(Zukunft)
und
aus
der
vereinzelnden
Grundstimmung (Geworfenheit, Gewesenheit) entspringt. Damit sind wir das
Thema der Zeitlichkeit erlangen.
2. 1. b) Befindlichkeit und Zeitlichkeit113
Die Angst hat die Ganzheit der Sorge enthüllt. Diese Ganzheit liegt im
verstehenden Vorlaufen zum Tode, das in der Angst schweigend das Dasein zu
sich selbst ruft. Das Verstehen als Verstehen der Möglichkeit (Entwurf) ist primär
mit der Zukunft verbunden. Die Befindlichkeit bringt dagegen das Dasein vor sein
Dass, also vor seine Geworfenheit, d. h. Befindlichkeit ist primär die Gewesenheit
(Befindlichkeit zeigt einen Modus der Gewesenheit). Das Verfallen ist dann mit
der Gegenwart primär verbunden. Damit ist nicht gemeint, dass das eine nur die
Zukunft ist, das andere nur die Gewesenheit und das dritte nur die Gegenwart,
sondern dass das eine die Gegenwart und Gewesenheit durch die Zukunft
modifiziert, das andere die Zukunft und die Gegenwart durch die Gewesenheit
modifiziert und das dritte die Gewesenheit und Zukunft durch die Gegenwart
modifiziert. Sorge ist in ihrer Struktur zeitlich. Als Geschehen des Daseins ist sie
112
113
Vgl. Interpretation von BYUNG-CHUL HAN: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei
Martin Heidegger, Fink, München 1996, S. 48
SZ, § 68.
45
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
das
„Je-schon-vor-einer-Zukunft-sein“.
Diese
einheitliche
(ekstatische)
Zeitlichkeit ist also Sinn der Sorge und ermöglicht sowohl ihre Momente, als auch
ihre Einheit. Obwohl Heidegger beginnt die Analyse der Erschlossenheit diesmal
vom Verstehen114 her, aber dank des ekstatischen Charakters der Zeitlichkeit sind
alle zeitliche Dimensionen auf einmal verbunden. In unserem Fragen nach dem
Wesen der Stimmungen können wir also zuerst die Stimmungen betrachten,
obwohl wir sie wieder in Zusammenhang mit weiteren Momenten der Sorge
bringen sollen.
Wie zeitigen sich also Stimmungen und was sagen sie über Zeitlichkeit aus?
Die Stimmungen bringen das Dasein auf die Gewesenheit (auf seine
Geworfenheit) zurück. Die Gewesenheit ist schon da, d. h. die Zeitlichkeit in der
Tat ermöglicht Stimmungen. Deswegen ist es wichtig, auch die Zeitlichkeit der
Stimmungen jetzt zu behandeln. Ähnlich, wie Furcht und Angst einen
uneigentlichen bzw. eigentlichen Modus der Befindlichkeit darstellen, hat auch
ihre Zeitlichkeit einen uneigentlichen und eigentlichen Modus115. An dem Beispiel
dieser Stimmungen kann dank des ekstatischen Charakters der Zeitlichkeit gezeigt
werden, welche Struktur eine eigentliche und eine uneigentliche Zeitlichkeit hat.
Die Furcht fürchtet sich vor etwas, worauf sie wartet – die Furcht hat die
Gestalt der uneigentlichen Zeitlichkeit des „Gewärtigen“. „Gewärtigen“ fürchtet
um etwas, nämlich um das Seinkönnen, das aber „vergessen“ ist. Geweseheit, die
das Furchtbare als Furchtbares erschließt, ist vergessen und es sieht so aus, dass
das Gewärtigen primär ist. Das sich fürchtende Besorgen kann jedoch in der
Furcht keine bestimmte Möglichkeit ergreifen und ist verworren. Das verwirrte
Gegenwärtigen nimmt das Zuhandene ohne Sinn. Die Gewesenheit der Furcht,
die im Vergessen seiner selbst liegt, modifiziert also die Gegenwart und Zukunft
als Gegenwärtige und Gewärtigen.
Die Angst ist auch Angst vor und um etwas. Im Unterschied zur Furcht sind
aber Wovor und Worum dasselbe – nämlich das Dasein selbst als In-der-Welt-sein.
Die Welt hat ihre Bedeutung verloren, das Seiende sagt uns nichts und doch
114
115
Heidegger will die Hauptrolle des Vorlaufens zum Tode also Zeitigung des Daseins primär aus
der Zukunft betonen.
SZ, § 68.
46
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
müssen wir ihm in seiner Leere begegnen. Die Angst ist nicht Gewärtigen, weil
das, wovor wir uns ängstigen, schon da ist – nämlich das In-der-Welt-sein selbst,
das Da des Seins. Es ist unmöglich sich zu besorgen, sich zu entwerfen. Mit dieser
Unmöglichkeit entsteht dann die Möglichkeit des eigentlichen Seinkönnens (wie
schon oben gesagt wurde). Die Gewesenheit hat hier nicht die Gestalt einer
Erinnerung, sondern der Möglichkeit der Wiederholbarkeit der Geworfenheit: Aus
dem zukünftigen Seinkönnen kommt das Seinkönnen auf das geworfene Da
zurück – damit ist ein Entschluss, der für eigentliche Zeitlichkeit des Verstehens
wichtig ist, möglich als Möglichkeit des Sprunges. Die eigentliche Gegenwart ist
ein Halten dieser Möglichkeit in Bereitschaft (in der eigentlichen Zeitlichkeit des
Verstehens wird diese Bereitschaft zum Augenblick).
Der Entschluss ist schon Sache des Verstehens (der Entschlossene versteht die
mögliche Angst), das sich eigentlich aus der Zukunft als Vorlaufen zum Tode
zeitigt. Das Verstehen ist aber schon befindlich und wenn es durch die Stimmung
der Angst gestimmt ist, zeitigt es sich aus dem Vorlaufen so, dass es das Dasein
wieder und doch neu zu seinem eigensten Seinkönnen bringt. Vorlaufen –
Augenblick – Wiederholung: Hier ist gut die ekstatische Verknüpfung des
Zeitigens der Befindlichkeit und des Verstehens zu sehen. Wenn das Verstehen
sich aber von der Stimmung der Furcht zeitigt, dann versteht das Dasein sein
Seinkönnen aus dem besorgbaren Seienden und vergisst sein eigenstes geworfenes
Seinkönnen: Jetzt stehen wir vor der uneigentlichen ekstatischen Zeitlichkeit:
Gewärtigen
–
Gegenwärtiges
– Vergessen116.
Das Vergessen
und
die
Wiederholung117 sind die Zeitigungen der Stimmungen, in denen sich zwei
Möglichkeiten der Existenz – eigentliche und uneigentliche – erscheinen. Die
eigentliche Zeitlichkeit ist endlich, weil gerade das Vorlaufen zum Tode den
Entwurfspielraum definiert. Die eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich also primär
aus der Zukunft, die uneigentliche aus der Gegenwart, die den Zukunftscharakter
der eigentlichen Zeitlichkeit verdeckt. Die eigentliche (endliche) Zeitlichkeit ist
die ursprüngliche Zeitlichkeit und der Grund der uneigentlichen, weil sie die
116
117
Diese uneigentliche Zeitigung gilt auch für das Sorge-Moment des Verfallens und zwar in
Form eines ungehaltenen Gewärtigen – zerstreuten Unverweilen / Aufenthaltlosigkeit /
entspringenden Gegenwärtigen – Vergessen.
Die Zeitlichkeit ist auch der Grund der Geschichtlichkeit, die wieder eigentliche (als
vorlaufend-wiederholender Augenblick) oder uneigentliche (als Gegenwärtigung des „Heute“,
Vergessen des Alten) sein kann. Vgl. 1. Kapitel
47
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Möglichkeit des Begegnens mit dem Seiendem aus sich selbst schafft (im
Augenblick), während in der uneigentlichen Zeitlichkeit das Man das besorgte
Seiende vergegenwärtigt, von dem her es seine Möglichkeiten versteht.
2. 1. c) Zusammenfassung
Die Analyse der konkreten Stimmungen, Angst und Furcht, hat uns bewiesen, dass
sie nicht nur eine wichtige methodische Rolle spielen, sondern auch, welches
Wesen sie haben, dass sie diese Rolle überhaupt spielen können. Befindlichkeit,
bzw. Stimmung ist das „In-Sein“ des In-der-Welt-seins (sie konstituiert die
Erschlossenheit, bzw. Verschlossenheit des Daseins), sie stellt das Moment der
Faktizität in der Sorge dar und in der Zeitlichkeit bringt sie das Dasein zu seiner
Geworfenheit (Gewesenheit). Natürlich
alle diese Funktionen der Stimmung
können nicht ohne andere Momente des Daseins sein, weil sie nur in der Einheit
verständlich ist.
Das Dasein ist immer schon gestimmt, weil es immer schon in der Welt ist.
Das In-Sein der Befindlichkeit enthält jedoch eine Hierarchie innerhalb des
„Immer-gestimmt-seins“ (Ungestimmtheit): Es gibt oberflächlichere und tiefere
Stimmungen. Stimmungen sind die Weise, wie wir uns zu unserem Sein schon
immer verhalten: Entweder uneigentlich, d. h. im ursprünglichen Verfallen (eine
oberflächlichere die Eigentlichkeit verschließende
Stimmung als Abkehr von
Selbstsein und Zugang zu innerweltlich Seiendem), oder eigentlich, d. h. im
Entschließen zum Selbstseinkönnen (tiefere Stimmung als Zugang, als
Bereitschaft zum Selbstsein). Die Grundstimmungen (die tiefere Stimmungen)
haben dabei in der ganzen Daseinsanalyse die Funktion, das Dasein zu seinem
eigentlichen Seinkönnen zu bringen und die Selbstheit zu betonen118. Stimmungen
haben sich als das „Wie“ des In-der-Welt-seins gezeigt und als solche gehören sie
zur Bewegung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Weisen des Daseins.
„Die Stimmung kommt weder von Außen noch von Innen, sondern ist die Weise,
wie die Entgrenzung, der Mensch selbst als Dasein, zur Welt gehört als deren
118
BYUNG-CHUL HAN (1996), S. 104
48
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Offenheit119“.
Was die Zeitlichkeit angeht, die sich als Sinn der Sorge erwiesen hat, hat sie
auch einen eigentlichen und uneigentlichen Modus, wobei der eigentliche der
ursprüngliche ist. Die Stimmungen sind nur auf Grund der Zeitlichkeit möglich.
Eigentliche und uneigentliche Zeitlichkeit der Stimmungen (Wiederholung und
Vergessen) spiegeln den Charakter der Stimmungen: Erschließen (Wiederholung)
und Verschließen (Vergessen), Zugang und Abkehr.
2. 2. GA 29/30: Langeweile
Es wurde im vorigen Kapitel erklärt, Langeweile soll als Stimmung des
Philosophierens geweckt werden. Heidegger beschreibt nicht die Weckung selbst,
aber er geht Schicht für Schicht tiefer in die Langeweile, bis der Grund der
Langeweile durch Langeweile selbst enthüllt wird: die eigentliche Zeitlichkeit.
Damit ist noch nicht die Langeweile geweckt. Ihre Analyse soll jedoch dazu
dienen, das Sein des Menschen, sein Geschehen, das eigentlich Zeitlichkeit ist,
zum Fragen vorzubereiten. In diesem Kapitel möchte ich die Analyse der
Langeweile (2.2. a) und ihre Zeitlichkeit (2.2. b) verfolgen.
Wie früher bleibt auch jetzt im Hintergrund die Endlichkeit des Menschen,
obwohl sie im Teil zur Analyse der Langeweile in GA 29/30 nicht ausdrücklich im
Spiel ist. Eine Verweis darauf kann man vielleicht in der Bemerkung über eine
„tödliche Langeweile“120 sehen. Zeitlichkeit ist diesmal von der Seite der Welt als
des sich versagenden leeren „im Ganzen“ her durchgeführt und als Geschehen der
Zeit im Dasein thematisiert.
Methodisch ist Heidegger nicht wichtig zu untersuchen, was Langeweile selbst
ist, sondern er fragt nach der Langeweile im Sinne einer Situation. Diese Situation
ist langweilig. Was das heißt, muss in die einzelnen Aspekten zergliedert und nach
ihrer inneren Einheit gesucht werden.
119
120
PAOLA LUDOVIKA CORIANDO: Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen, Philosophische
Abhandlungen, Bd. 85, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M., 2002, S. 135
GA 29/30, S. 145, S. 162
49
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
2. 2. a) Drei Schichten der Langeweile: Gelangweiltwerden
von..., Sichlangweilen bei..., tiefe Langeweile
Heidegger geht also wieder von der alltäglichen Erfahrung mit der Langeweile
aus. Es reicht nicht eine langweilige Situation nur zu beobachten, sondern sie so
zu beobachten, wie wir uns in ihr bewegen. Als Leitfaden für phänomenologische
Ausweisung verwendet er die Zusammengehörigkeit der Langeweile und des
Zeitvertreibes. Diese Zusammengehörigkeit hat einen tieferen Grund, dem wir
jetzt dank dieses Leitfadens folgen werden und uns in die Tiefe der Langeweile
begeben. Es gibt drei Schichten der Langeweile: Gelangweiltwerden von...,
Sichlangweilen bei..., und tiefe Langeweile.
Wenn wir uns in einer langweiligen Situation – Heidegger verwendet das
Beispiel des Wartens auf den Zug am Bahnhof – befinden, erkennen wir sie dank
unserer Neigung sich gegen sie zu wenden, sie zu vertreiben. Langeweile und
Zeitvertreib gehören zueinander und auch zu der langweiligen Situation. Diese
Situation hat zeitliche Grenzen. Unser Zug fährt in vier Stunden. Was können wir
mit den vier Stunden machen? Wir bemerken, dass die Zeit langsam läuft – wir
sehen immer wieder auf die Uhr. In dem alltäglichen Besorgen nehmen wir die
Zeit fast nicht wahr, wir „vergessen“ die Zeit: Wir sind beim und inmitten des
Seienden in unserer alltäglichen Beschäftigung. Wenn wir aber gelangweilt sind,
dann betrifft uns die Zeit, bedrängt uns und wir wollen durch Zeitvertreib dieses
Zaudern und Zögern der Zeit überwinden. Wir bewegen uns in einer „flatternden
Unruhe“121 - wir wollen die Zeit ausfüllen, es geht aber nicht. Die Langeweile hält
uns in dem zu langsamen Gang der Zeit hin. Es ist nicht die Zeit des Umgangs mit
den Dingen, sondern eine Zwischenzeit, aus der wir weg wollen. Wenn wir
hingehalten werden, lassen uns die Dinge leer: In der Langeweile sind die Dinge
so, dass sie keine Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Sie zeigen nur die Zeit als
solche und das Beschäftigt-sein-wollen. Die Dinge versagen sich und doch sind
wir in dieser leeren Umgebung hingehalten. Das weist auf die Macht der Zeit hin.
Die Dinge haben ihre bestimmte Zeit, die wir in Langweile nicht antreffen.
Langeweile scheint sehr geeignet für Enthüllung der Zeit zu sein. Obwohl die
Zeit evident eine wichtige Rolle spielt, wissen wir über ihr Wesen noch nichts – es
121
GA 29/30, S. 141
50
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
ist die bedrängende Zeit, die wir ausfüllen wollen, aber nicht können. Die Analyse
der Langeweile sollte uns zum Wesen der Zeit bringen und nicht umgekehrt. Aus
dem ersten Moment der Langweile haben wir also Hingehaltenheit der zögernden
Zeit und Leergelassenheit der Dinge gewonnen. Wie diese Momente wesentlich
sind und worin ihre Einheit liegt – das muss jetzt durch den zweiten Schritt der
Analyse gezeigt werden.
Bis jetzt handelte es sich um das Gelangweiltwerden von etwas in einer
bestimmten zeitlich begrenzten Situation, die von außen und unerwartet kommt.
Obwohl wir einen Zeitvertreib suchen, hält uns die langsame Zeit in der
Langeweile hin. Die langweilige Situation entleert die Dinge, die uns dann nichts
zum Besorgen bieten. In dieser langweiligen Situation können wir ganz genau
sagen, was uns langweilt. Der Spielraum der Langeweile ist durch seine
Eindeutigkeit und durch unser Festgesaugtwerden an die Situation bestimmt. Es
gibt jedoch auch andere Langeweile, die, Heideggers Meinung nach, eine tiefere
Schicht der Langeweile darstellt: Sichlangweilen bei etwas, z. B. bei einem
gesellschaftlichen Empfang. Es handelt sich auch um eine Situation, deren
Umstände sind jedoch andere. Für diese Situation haben wir uns nämlich die Zeit
genommen. Wir sind „beschäftigt“ mit der Gesellschaft und doch sagen wir
danach, dass wir uns gelangweilt haben. Heidegger beginnt also erneut wieder
mit Hilfe des Leitfadens des Zeitvertreibes diese andere Art der Langeweile zu
betrachten. Auf den ersten Blick gibt es keinen Zeitvertreib, weil auch die
Situation nicht langweilig aussieht. Es fehlt die Unruhe und Bedrängnis der Zeit,
weil wir selbst die Zeit für diese Situation genommen haben. Für diese Situation
ist also typisch ganz umgekehrt eine Unbestimmtheit und unsere Lässigkeit: Wir
wissen nicht, was uns langweilt122. Das, was wir aus der Analyse des
„Gelangweiltwerdens von...“ gewonnen haben, können wir nicht für diesen Fall
der Langeweile verwenden. Heidegger beginnt also am Anfang: Wo ist
Zeitvertreib zu suchen? Zeitvertreib ist unauffällig, weil er sich nicht ausdrücklich
gegen etwas wendet. Diese Situation selbst ist der Zeitvertreib, bei dem wir uns
doch langweilen. Wir sind auf dem Empfang, wir sind dabei, wir unterhalten uns,
weil wir Zeit dafür haben. Wir suchen keine Beschäftigung und wir überlassen
122
Wanken des Verständnisses, Vgl. B. FERREIRA (2002), S. 220
51
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
uns dem, was sich am gesellschaftlichen Abend abspielt. Wir uns langweilen in
der Lässigkeit unseres „Zeit-habens“. In der Lässigkeit sind wir selbst das
Langweilende, wir sind uns selbst überlassen, aber nicht als Subjekt, sondern
irgendwie unbekannt. In dieser Lässigkeit bildet sich also die Leere. „Diese Leere
ist die Zurückgelassenheit unseres eigentlichen Selbst“123. Wir haben die Zeit
genommen und damit der Zeit selbst die Möglichkeit gegeben, uns hinzuhalten:
Wir sind dabei und doch steht die Zeit, auch wenn wir gerade nicht auf die Uhr
sehen. Wir sind ganz in der Gegenwart und doch durch die stehende Zeit
gebunden. Wir erfahren die Macht der Zeit, die uns hinhält und uns uns selbst
überlässt. Diese Gegenwart dehnt sich so aus, dass sie Gewesenheit und Zukunft
modifiziert und ihren Horizont beschneidet. Das ausgedehnte Jetzt ist in unserem
Dasein – das sind wir selbst als Gebundenes an die Zeit, als in der stehenden Zeit
hingehalten. Zeit steht und stellt uns: Das ist das Langweilende in dieser
Situation. Wir selbst sind das Langweilende, es ist unsere Zeit als das
unbestimmte Unbekannte, was uns langweilt. Die zum Stehen gebrachte Zeit
bildet eine Leere. Diese Leere stellt und bindet uns. In dieser Langeweile enthüllt
sich also schon etwas von der Bewegung der Zeit, von der Zeitlichkeit. Wir haben
entdeckt, dass die Zeit, die wir für den Abend haben, während dieses Abends
steht. Das bemerken wir nicht sofort, weil wir in der Situation die Zeit vertreiben
(in verwandelter Weise gegenüber dem ersten Fall). Das Stehen der Zeit fühlen
wir durch die Langeweile, die danach kommt und uns sagt, dass wir uns
gelangweilt haben, d. h. der Abend wie eine Beschäftigung aussah, aber es war
eigentlich unsere bewusste Pause zwischen den Beschäftigungen. Die stehende
Zeit hielt uns, band uns, als wir die Zeit für Unterhalten am Abend hatten. Wir
haben die Macht der Zeit in uns selbst erfahren.
Heidegger versteht diese zweite Langeweile als tiefere. Er hat noch keine
Regel oder Grund dafür, warum sie tiefer sein sollte. Das will er noch durch die
weitere Analyse entdecken. Vorläufig jedoch nimmt er an, dass die Bildung der
Leere im „Sichlangweilen bei...“ ursprünglicher als die Leergelassenheit der
Dinge im „Gelangweiltwerden von...“ ist, sowie die Hingehaltenheit der
stehenden Zeit ursprünglicher als Hingehaltenheit in der langweiligen Situation
123
GA 29/30, S. 180
52
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
ist.
Schließlich analysiert Heidegger dritten Fall der Langeweile, den er als „tiefe
Langeweile“
bezeichnet:
„Es
ist
einem
langweilig“,
wenn
man
am
Sonntagnachmittag auf der Strasse in der Stadt spaziert. Diese Langweile ist noch
unbestimmter als die vorige. Zeitvertreib ist nicht mehr zu entdecken, weil wir uns
total der Langeweile übergelassen. Das Dasein hat sich schon gewandelt und in
dieser Verwandlung verstanden, dass der Zeitvertreib machtlos ist. Diese
Stimmung kann uns ermöglichen, uns selbst ausdrücklich zu verstehen. Von der
Macht der Langeweile sind wir gezwungen uns selbst zuzuhören. In der tiefen
Langeweile ist „einem“ indifferenten Niemanden langweilig und doch mir selbst.
Tiefe Langeweile heißt eine Gleichgültigkeit gegenüber der Situation und dem
Subjekt. Auf einmal zeigt sich das Seiende im Ganzen als solches, wir sind vor es
gestellt, aber zugleich – wegen der Gleichgültigkeit und Ohnmacht124 – versagt es
sich uns, ist leer. Wir können nicht die Dinge besorgen oder lassen und deswegen
sehen wir sie „im Ganzen“ (gegenüber der Leere in dem ersten Fall der
Langeweile, wo wir doch immer in der Unruhe suchen etwas zu tun). Das ist
Grund der Leergelassenheit als solche: Die Leere ist Versagen des Seienden im
Ganzen. Versagen hat jedoch etwas zu tun mit Sagen im Sinne des
Offenbarmachens der Möglichkeiten des Besorgens oder Lassens. Versagen
eröffnet zwar nicht die Möglichkeiten, aber es weist auf sie als auf die
versagenden, und noch dazu ist das Dasein diesen versagenden Möglichkeiten
ausgeliefert. Darin liegt der Grund der Hingehaltenheit als solcher: Im Versagen
sind die brachliegenden Möglichkeiten angesagt, hingehalten . Versagen sagt an,
weist auf die Möglichkeiten als Möglichkeiten des Daseins hin. Sie hängen
miteinander zusammen. Die Analyse hat also den Grund von beiden Momenten
der
Langeweile
enthüllt,
der
mit
unseren
Möglichkeiten
als
solchen
zusammenhängt. Sie sind gesehen, weil sie sich versagen, aber gerade im
Versagen sind sie uns angesagt. Es stellt sich die Frage, worin die Einheit den
Momenten liegt.
124
Es handelt sich um einen Bruch des Verständnisses, Vgl. B. FERREIRA (2002), S. 189-199
53
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
2. 2. b) Langeweile und Zeitlichkeit
Die Analyse der tiefen Langeweile hat die ursprüngliche Leergelassenheit und
Hineingehaltenheit enthüllt. Die Einheit von beiden Momenten ist durch die
Zeitlichkeit garantiert. Wir haben in der Analyse der tiefen Langeweile noch
nichts über die Zeitlichkeit erfahren und noch mehr: Schon von Anfang an lehnt
sie überhaupt die Zeit ab, die zu vertreiben wäre. Es ist merkwürdig, weil die
oberflächlicheren Formen der Langeweile doch die Zeit begriffen haben.
Heidegger geht der Struktur der tiefen Langeweile nochmal detailiert nach.
Das Sichversagen alles Seienden stellt das Dasein in die volle Weite der
Möglichkeiten als solchen im Ganzen, d. h. sowohl der gewesenen, als auch der
zukünftigen Möglichkeiten. Das Dasein ist von dieser Weite betroffen, d. h. von
den Möglichkeiten, die zu ihm gehören aber die sich in der tiefen Langeweile
versagen. Das im Ganzen sich versagende Seiende ruft das Dasein im Menschen
zu ihm selbst, zu seinem Sein-Können. Das Seiende im Ganzen ruft als
Möglichkeiten und weist auf
Möglichkeiten,
die
es
sich selbst als auf das Ermöglichende dieser
hinhält.
Hingehaltenheit
hat
die
Gestalt
der
Hingezwungenheit von der Weite zum Zusammennehmen in die Spitze, in der die
Hingehaltenheit zusammenbricht. Diese Bewegung der Spitze und Weite – das
Geschehen im Ermöglichenden des Daseins und Ermöglichung des Daseins (das
Seiende im Ganzen) – heißt Stimmen. Die Stimmungen stimmen, weil die Weite
durch die Spitze gebrochen ist. Es bleibt zu fragen, warum dieses Geschehen das
Geschehen der Zeitlichkeit ist. Heidegger hilft sich mit der Formulierung des
Versagens des Seienden im Ganzen: „Alles – in aller Hinsicht, Rücksicht und
Absicht zumal entzieht sich das Seiende“125. Diese drei Sichten für jedes Tun und
Lassen des Daseins bilden einen „All-Horizont“ der Zeit, der das „im Ganzen“
(Offenbarkeit) ermöglicht. Das „im Ganzen“ versagt sich jedoch, entzieht sich.
Durch das Versagen erscheint das Gebanntsein des Da-seins durch den
Zeithorizont. Wir fühlen den Bann in der tiefen Langeweile, aber wir können ihn
nicht erklären, weil das Seiende im Ganzen sich versagt, nichts aussagt. Wir
überlassen uns dieser Macht des Banns. Das Gebanntsein durch Zeit ist der
125
GA 29/30, S. 218
54
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Ursprung der Leergelassenheit. Die Weite, die in der tiefen Langeweile erscheint,
ist die Weite der ganzen Zeit des Daseins in ihrer Einheit. Und doch wissen wir,
dass das Versagen etwas sagt: Es ruft uns zu der Möglichkeit als solcher (Spitze).
Die banennde Zeit also ermöglicht zugleich die Freiheit des Daseins. Das Daseins
befreit sich zum Selbst-sein-können. Das Dasein entschließt sich zu sich selbst.
Dieses Rufen der banennden Zeit führt zu dem Augenblick, zum „Blick der
Entschlossenheit“126, der die Situation eines Handelns eröffnet. Der Bann ist
gebrochen durch den „Blick in der drei Richtungen der Sicht“127. Das Dasein hat
inmitten je das Bestimmte zu sein, konkret zu sein. Im Augenblick liegt die
Grundmöglichkeit der eigentlichen Existenz des Daseins. Die Zeit selbst also
vereinheitlicht die Leergelassenheit und Hingehaltenheit, die Zeit selbst bricht in
ihre bannende Weite als Spitze. Das ist das Wesen der Zeit, die wir selbst sind.
Zeitlichkeit ist das Schwingen zwischen Spitze und Weite, zwischen Bann und
Augenblick. Dieses Schwingen heißt Stimmen. Tiefe Langeweile ist also auch
Schwingen: Schwingen zwischen Versagen und Ansagen – das schon offenbarte
Seiende im Ganzen versagt sich und damit sagt es die Offenbarkeit an. Das Wesen
der Langeweile liegt im Wesen der Zeit des Daseins. Das führt Heidegger zu einer
Interpretation des Wortes „Langeweile“: Die Weile wird lang, d. h. der
Zeithorizont wird weit, unbestimmt und drängt zum Augenblick als eigentlicher
Möglichkeit, drängt zur Existenz inmitten des Seienden im Ganzen. Es geht aber
nicht um Aufhellung der Langweile selbst. Das Dasein in uns ist befragt und zwar
mittels Langeweile. Wir können nicht etwas erklären, nur ständig fragen. Das ist
die Aufgabe und das Wesen der Philosophie nach Heidegger.
2. 2. c) Zusammenfassung
Die Analyse der drei Schichten der Langeweile hat uns gezeigt, dass es
oberflächlichere und tiefere Stimmungen geben, denen wir denselben Namen
geben, und trotzdem enthüllen sie im unterschiedlichen Grad ihren einheitlichen
Grund. Mit Recht nennen wir sie alle drei „Langeweile“, weil sie gerade
126
127
GA 29/30, S. 224
GA 29/30, S. 226
55
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
denselben Grund haben. Warum die Langeweile gerade so stimmt, wie sie stimmt,
obwohl immer auf eine andere Weise? Die Analyse der Langeweile hat erwiesen,
dass die Zeitlichkeit des Daseins selbst Ursache der Langeweile ist. Die Richtung
der Untersuchung war also das Abbauen der oberflächlicheren Schichten, die über
langweilige Dinge und langweilende Zeit zur im Grunde langweilenden
Zeitlichkeit des Daseins gegangen ist. Deswegen war es auch nicht möglich die
gewonnenen Erlebnisse der Analyse der ersten Form der Langeweile für die
Analyse der zweiten Form zu verwenden, sowie die Erlebnisse der zweiten Form
der Langweile für die dritte. Aus der tiefen Langeweile sind jedoch alle andere
Formen der Langeweile und ihre Momente verständlich.
2. 3. Zusammenfassung von 2. Kapitel
Grundstimmungen erschließen das Da-sein. Sie ermöglichen einheitlich das
Geschehen des Daseins in seiner Zeitlichkeit anzuschauen und führen zur
Möglichkeit des Selbst-sein-könnens, zu dem sich das Dasein im ekstatisch
gezeitigten und aus der Angst gestimmten Augenblick entschließt. Der Zweck der
beiden Grundstimmungen ist jedoch in Nuancen zu unterscheiden, und wie sie
voneinander unterschiedlich sind, sind auch die Weisen ihres Erschließens
unterschiedlich. Die Angst wird für die Bezeugung des Ganzseinkönnens in
Anspruch genommen. Das Problem der Ganzheit des Daseins hängt in Sein und
Zeit mit dem Tod zusammen. Die Angst ist zu dieser Aufgabe ausgewählt, weil sie
aus der Endlichkeit im Sinne des Seins zum Tode ausdrücklich stimmt. Im Falle
der tiefen Langeweile ist eine solche Stimmung zum Philosophieren gesucht, aus
der wir Welt, Endlichkeit und Einsamkeit des Daseins befragen könnten. Sie sollte
uns zur Verwandlung in das Dasein bringen, aus dem wir die Fragen eigentlich
und metaphysisch stellen können. Aus das Dasein sollten wir uns zum
eigentlichen
Handeln
entschließen.
Die
tiefe
Langeweile
ist
durch
Gleichgültigkeit charakteristisch, d. h. sie ist auch zum Tod in diesem Sinne
gleichgültig128. Die Zeitlichkeit ist also hier nicht mehr von Endlichkeit her
thematisiert, sondern von der Stimmung der Langeweile, die das Seiende im
128
Vgl. B. FERREIRA (2002), S. 190 oder BYUNG-CHUL HAN (1996), S. 41-43
56
2. Kapitel: Struktur der Stimmungen
Ganzen offenbart. Das Geschehen der Zeitlichkeit wird aus der Analyse des
Seienden im Ganzen gewonnen.
Die allgemeine Struktur, Züge und der erschließende Prozess der Stimmungen
bleibt jedoch vergleichbar. Tiefe Stimmungen bringen vor das Da des Daseins, vor
das Dass der Existenz. Sie erschließen die Welt, das Selbst und das Wie des
Daseins. Sowohl tiefe Langeweile, als auch Angst sind von der Situation
unabhängig: Sie sind schon immer da und sie kommen ausdrücklich unerwartet,
sie überkommen uns. Sie bereiten zum Sprung in die eigentliche Situation vor,
weil sie aus der Zeitlichkeit stammen und die Zeitlichkeit offenbaren.
57
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und
Rechtfertigung der Analyse
Es bleibt uns die Aufgabe zurückzufragen, was wir über das Wesen der
Stimmungen gelernt haben, ob das für unser Fragen nach dem Ursprung der
Stimmungen überzeugend war und ob dieses Fragen selbst legitim ist. Wir
gewinnen keine Antwort, sondern neue Fragen tauchen auf. Versuchen wir jetzt
unser Fragen bezüglich der Struktur und Methode Heideggers (3.1.) und
hinsichtlich des Ursprungs der Stimmungen (3.2.) zu entwickeln.
3. 1. Stimmungen – Methode und Struktur
Heidegger betont die methodische Rolle der Stimmungen. Sie sind das
Erschließende – im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne. Wenn es
phänomenologisch möglich sein sollte, zur Struktur des menschlichen Daseins zu
kommen, dann stellen die Stimmungen dazu den besten Schlüssel dar. Wir treffen
alltäglich auf Stimmungen. Sie beeinflussen unser Handeln und das, wie wir
„objektiv“ dieselben Dinge doch anders sehen und sehen können. Sie entdecken
wirklich unsere Welt. Dass sie auch die Welt als solche, die Welt als unser
Seinkönnen im Grunde unserer Existenz zugänglich machen, ist schon Leistung
der Heideggerschen Analyse. Mit Heidegger gewinnen Stimmungen wieder ihren
entdeckenden Status zurück. Stimmungen ermöglichen Heidegger das Spiel des
eigentlichen und uneigentlichen Modus der Existenz in Bewegung zu setzen.
Deswegen muss er die Stimmungen auch hierarchisch teilen: oberflächlichere und
tiefere Stimmungen (Grundstimmungen). Unter oberflächlicheren Stimmungen
kann er alle auf Objekte und alltägliche Situationen bezogene Stimmungen
umfassen. Die tieferen Stimmungen dagegen sollten eine unheimliche,
ungewöhnliche Situation darstellen, in der wir nicht mehr alltäglich sicher sind.
Es ist die Ungewissheit, Unbestimmtheit der Grundstimmungen, die sie
auszeichnet. Damit will Heidegger nicht sagen, dass die oberflächlicheren
Stimmungen „falsch“ sind und die Grundstimmungen „richtig“ (obwohl man in
58
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse
GA 29/30 das Gefühl hat, dass es die menschliche Aufgabe ist, das Dasein in sich
selbst zu hören und zu übernehmen). Sonst sind beide Weisen der Stimmungen
legitim als zwei gleichwertige Weisen der Existenz. Die uneigentliche Weise der
Existenz folgt auch aus der Bewegung im Dasein, aus der Zeitigung der
Zeitlichkeit.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie wir die Grundstimmungen wecken können,
wenn sie nicht willentlich aufrufbar sind. Sie sind latent schon da und kommen
ausdrücklich selbst, unerwartet. Und doch sollten wir Heideggers Meinung nach
das Warten auf sie lernen. Diese Frage stellt sich auch Klaus Held: „Woher
empfängt dieses Sichloslassen und Sich-der-Grundstimmung-Überlassen seinen
Anstoß?“129. Es gibt mehrere Grundstimmungen, das sagt Heidegger schon in
Sein und Zeit130 und bestätigt dies mit der Analyse der Langeweile in GA 29/30131.
Prinzipiell kann jede Stimmung „abgebaut“ und ihre tiefere Schicht gefunden
werden. Heidegger erwähnt z. B. die gerüstete Freude132 an die verstandene
faktische Möglichkeit des Daseins, die mit
der durch die Angst aufgeruften
Entschlossenheit kommt, oder die Freude133 an der Gegenwart des Daseins eines
geliebten Menschen. Es bietet sich auch eine Analyse des Glücks134. Langeweile
hatte einen Äquivalent im Heimweh135 oder Schrecken136. Wählen wir aus diesen
(oder auch anderen) Grundstimmungen? Bestimmt nicht, weil wir auf sie warten.
Sie überkommen uns, dies oder jene. Die Grundstimmung ist jedoch wichtig für
den Übergang zur Eigentlichkeit. Sie stellt eine Bereitschaft für ihn dar. Dieses
Ereignis des Übergangs bezeichnet Heidegger später als „Anfang“. Klaus Held
setzt dieses „Anfangenkönnen“ als eine Bedingung für das Kommen einer
Grundstimmung. Es ist die Kraft für den Anfang. Welche Stimmung stimmt dann
das Anfangenkönnen137? Grundstimmungen warten latent, bis sie geweckt werden
129
130
131
132
133
134
135
136
137
KLAUS HELD (1991), S. 42
SZ, S. 189
GA 29/30, S. 89
SZ, S. 410
Was ist Metaphysik?, S. 110
Vgl. OTTO FRIEDRICH BOLLNOW: DAS WESEN DER STIMMUNGEN, KLOSTERMANN, FRANKFURT A. M., 1941
GA 29/30, S. 7
GA 29/30, S. 31
Diese Frage geht zwar über die früheren Texte hinaus, ich finde aber wichtig diesen
Zusammenhang mit unseren Fragen im Rahmen dieser Arbeit zu erwähnen. Heidegger
thematisiert in seinen früheren Texten nämlich das Stimmen selbst und das Wesen der
Stimmungen im Rahmen seiner Ontologie - nicht die Möglichkeit des Wartens und Weckens
der Grundstimmung. Das ist dann das Thema, das eher mit der Geschichtlichkeit verbunden ist:
59
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse
– durch eine andere Stimmung, eine Grundstimmung des Anfangenkönnens138.
Diese Aufgabe erfüllt die Stimmung des Staunens139 oder Sichverwunderns, die
Heidegger in seinen späteren Texten aus der Tradition von Platon und Aristoteles
schöpft. Staunen trägt seine Anfangskraft in sich selbst, es braucht keine andere
Stimmung zur Weckung. Es reicht uns dieser kurze Blick in die spätere Arbeit
Heideggers, um zu sehen, dass Stimmungen für Heidegger ein sehr wichtiges
Thema bleiben und manche von Fragen, die mit den früheren Texten auftauchen,
ausgearbeitet werden.
3. 2. Zur Frage nach dem Ursprung der Stimmungen
Aus der Struktur des Philosophierens Heideggers folgt, dass die Stimmungen das
Dass und Wie unseres In-der-Welt-seins sind. Wir sind schon immer irgendwie da,
in der Welt. Und dieses „Schon-immer-irgendwie-da“ heißt das Gestimmtsein.
Der Ursprung des Gestimmtseins liegt in der ganzen ekstatisch-zeitlichen Struktur
des Daseins. Stimmungen sind die Weise, wie wir als endliche Wesen da sind. Es
ist die Endlichkeit, die wir verstehen auf Grund der Stimmung – entweder auf eine
eigentliche oder uneigentliche Weise.
Woher also kommen die Stimmungen selbst, die uns stimmen? Heidegger will
nicht diese Frage lösen – wir sollten nicht über Stimmung sprechen, sondern in ihr
handeln (im Sinne des Philosophierens)140. Für ihn ist sie überflüssig, weil es ihm
um das Sein des Daseins geht, zu dem wir dank der erschließenden Funktion der
Stimmungen näher kommen können. Wir stellen diese Frage nach dem Ursprung
der Stimmungen, weil wir unter Stimmungen zunächst und zumeist die
Stimmungen verstehen, die wir alltäglich kennen: Freude, Trauer, Furcht usw. Mit
Heidegger können wir sagen, dass diese Stimmungen oberflächlich sind. Sie
138
139
140
der neue Anfang, der mit der Eigentlichkeit kommt, der Wiederholung bedeutet.
KLAUS HELD (1991), S. 44
Staunen bildet ein Gleichgewicht zur Angst, die das Dasein zur Bereitschaft für einen Sprung
in die Eigentlichkeit bringt. Vgl. KLAUS HELD (1991), S. 51: „Nur von der Grundbefindlichkeit
der Angst her empfängt das Dasein im Vorlaufen zum Tode den Stoß, aufgrund dessen es sich
im Gewissenhabenwollen in die Eigentlichkeit rufen läßt. Aber daraus erklärt sich noch nicht
die Bereitschaft und Fähigkeit, in der Entschlossenheit des Augenblicks geschichtlich zu
handeln. Dies vermag das Dasein deshalb, weil es von der Grundbefindlichkeit des Staunens
her im Stiften von Anfängen die Geburt wieder-holen kann.“
GA 29/30, S. 103
60
3. Kapitel: Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der Analyse
erschließen die Dinge in der Welt, die wir besorgen können. Deswegen sprechen
wir so oft über Stimmung der Landschaft oder über ein „Machen“ der
romantischen Atmosphäre usw. Wir denken, dass wir unsere Stimmungen auf die
Dinge oder Situationen übertragen. Es ist jedoch ein ähnlicher Fall wie mit der
Furcht, mit dem „Gelangweiltwerden von“ oder dem „Sichlangweilen bei“ - das
sind alles oberflächlichere Stimmungen, die uns in die Welt und zum Besorgen
der Dinge kehren. Im Besorgen sind wir bei Dingen und in einer Situation, d. h.
wir gehen mit Dingen um, wir befinden uns in einer Situation. Wir denken, dass
die Dinge in uns eine Stimmung verursachen, die wir dann den Dingen selbst
zusprechen (z. B. eine abenteuerliche Reise, ein langweiliges Buch). Diese
Übertragung ist jedoch nur auf Grund unseres In-der-Welt-seins möglich. Wir sind
schon immer gestimmt und Stimmungen ändern sich nur aus einer
Gegenstimmung. Wir denken, dass wir die Stimmung ändern oder machen, sie
überwinden oder uns ihr unterwerfen. Es ist jedoch das Grundgeschehen in uns,
das sich in den Stimmungen meldet, weil wir immer schon da sind.
Oberflächlichere Stimmungen verdecken das Gundgeschehen, aber das ist auch
eine Weise seines Sichmeldens. Grundstimmungen dagegen erschließen diesen
Grund selbst: das Grundgeschehen des Daseins, seine Zeitlichkeit, Weltbildung
und Weltausgeliefertheit. Sie erschließen das Dasein selbst, uns selbst, wie wir da
sind. Das Stimmen ist das Geschehen der Leergelassenheit und Hingehaltenheit,
Spitze und Weite unserer Seinsmöglichkeiten. Das Stimmen ist das Geschehen der
Zeitlichkeit, der Endlichkeit. Die Frage nach dem Ursprung der Stimmungen ist
eigentlich die Frage nach den Weisen unserer Existenz.
61
Zusammenfassung
Zusammenfassung
Meine Arbeit dient als Überblick der früheren Texte Heideggers, die mit dem
Thema der Befindlichkeit, bzw. Stimmungen zusammenhängen. Es handelt sich
um die Texte, die man zur Fundamentalontologie rechnen kann, d. h. die bis zum
Jahr 1929/1930 (vor der sogenannten Kehre). Ich habe Stimmungen nicht nur
hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Struktur betrachtet, sondern auch von der Seite
ihrer methodischen Funktion für Fundamentalontologie. Diese Betrachtung leitet
im Hintergrund die Frage nach dem Ursprung der Stimmungen. Die Ausarbeitung
der Struktur und Stelle der Stimmungen in der fundamentalen Ontologie soll uns
erklären, warum man diese Frage stellt und was man über Stimmungen aus der
Analyse Heideggers lernt. Ich habe meine Arbeit in drei Kapitel geteilt. Das erste
(Quelle und Methode) hat für Aufgabe nicht nur die methodische Rolle der
Stimmungen zu behandeln, sondern auch die Methode Heideggers überhaupt
darzustellen, d. h. was er unter Fundamentalontologie versteht und wie sich ihre
Bestimmung langsam mit der Zeit ändert, bzw. wie Heidegger bestimmte Aspekte
aufhebt. Das zweite Kapitel (Struktur der Stimmungen) thematisiert das Wesen
der Stimmungen und ihre Struktur und auch ihren Zusammenhang mit der
Zeitlichkeit. Das dritte Kapitel (Ursprung der Stimmungen und Rechtfertigung der
Analyse) ist ein rekapitulierendes Kapitel, das aus den durchgeführten Analysen
die leitende Frage nach dem Ursprung zu verstehen versucht.
Das erste Kapitel ist in zwei Abschnitte geteilt: Der erste betrachtet das
Konzept der Fundamentalontologie in ihren Verwandlungen, der zweite umfaßt
die eigene methodische Aufgabe der Stimmungen in verschiedenen Aspekten. Das
Projekt der Fundamentalontologie hat sich zum Ziel gesetzt, den Sinn des Seins
überhaupt durch das Befragen des Seins des fragenden Seienden (Daseinsanalyse)
zu entdecken, und zwar mittels einer Hermeneutik (im Sinne der verstehenden
Auslegung)
und
Destruktion
der
Geschichte
der
Ontologie
(die
„selbstverständliche“ ontologische Aussage neu befragen). Das fragende Seiende
ist der Mensch als Dasein, als In-der-Welt-sein, und ihm ist der Unterschied von
Sein und Seienden eigen. Auf dieser Fähigkeit beruht dann die ganze
62
Zusammenfassung
Fundamentalontologie in ihrer Wandlung: zuerst im Sinne der Selbstheit141 des
Daseins (Wer ist in der Welt), dann im Sinne des Geschehens dieses
Unterscheidens142 selbst (Transzendenz – Beziehung des Seins und Seiendem) und
schließlich als Weltbildung und Weltausgeliefertsein143 (Frage nach dem
Weltbegriff) – Fundamentalontologie, Metonotologie und Metaphysik. Alle
Analysen haben zu der einheitlichen Struktur des In-der-Welt-seins, Zeitlichkeit
und Geschichtlichkeit die methodische Hilfe der Stimmungen in Anspruch
genommen. Stimmungen als die Weise, wie das Dasein in der Welt ist, erschließen
nämlich die Dinge in der Welt (innerzeitlich) für unser Besorgen – das ist die
verfallene uneigentliche Weise der Existenz – oder erschließen das In-der-Weltsein als solches in seiner Ganzheit und Einheit (und Zeitlichkeit als solcher) – das
ist dann die eigentliche Weise der Existenz. Die Entwicklung der Interpretation
geht über die Einheit der Sorge144, deren Moment Stimmung ist, zum Geschehen
des Grundes145 und schließlich zum Geschehen der Zeitlichkeit146. Alle drei
Aspekte hängen mit der Endlichkeit eng zusammen: Im Sinne des Seins zum
Tode147, des Nichts148, Abgrundes149 oder Banns150. Endlichkeit als Zeitlichkeit
stimmt die Stimmungen. Wir sind da – zeitlich, endlich.
Das zweite Kapitel, das sich der Struktur der Stimmungen selbst widmet, ist
auch in zwei Teile gegliedert: Der erste thematisiert die Stimmungen der Angst
und Furcht, der zweite dann die Stimmung der Langeweile. Im ersten Teil habe
ich zuerst die Befindlichkeit allgemein behandelt: Wir sind immer schon
gestimmt, wir befinden uns in der Welt. Stimmungen (als ontische Gestalt der
Befindlichkeit) sind jedoch nicht die einzigen, die die Erschlossenheit bilden. Zu
den Stimmungen gehört auch Verstehen und Rede. Sie bilden eine einheitliche
Struktur des In-Seins des In-der-Welt-seins und zwar im Begriff der Sorge, der
zugleich auf Zeitlichkeit hinweist. Diese Einheit ist jedoch durch die
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
SZ
Was ist Metaphysik?, Vom Wesen des Grundes
GA 29/30
SZ
Was ist Metaphysik?, Vom Wesen des Grundes
GA 29/30
SZ
SZ, Was ist Metaphysik?
Vom Wesen des Grundes
Als Grund der Leergelassenheit, GA 29/30
63
Zusammenfassung
Grundstimmung der Angst zugänglich. Furcht und Angst dienen als Beispiele für
die Unterscheidung zwischen einer oberflächlicheren Stimmung und einer
Grundstimmung. Beide haben erschließende oder verschließende Funktion. Im
zweiten Teil ist die Analyse der Langeweile beschrieben. Diesmal handelt es sich
um eine Stimmung in ihren unterschiedlichen Gestalten – tieferen und
oberflächlicheren. Die tiefe Langeweile ist auch eine Grundstimmung, deren
Grund sich als Bewegung der Zeitlichkeit enthüllt. In beiden Teilen können wir
erfahren, dass es hierarchische Unterschiede der Stimmungen gibt. Die
Grundstimmung ermöglicht es uns die Weise unserer Existenz zu verwandeln, sie
ist eine Bereitschaft für diese Verwandlung des Daseins. Dazu können die
Grundstimmungen jedes Dasein bringen. Das Wie dieses Bringens ist natürlich je
nach der Grundstimmung unterschiedlich.
Das dritte Kapitel versucht zu erklären, warum wir eine Frage nach dem
Ursprung der Stimmungen gestellt haben. Wenn wir jetzt nach der Analyse wieder
diese Frage stellen, wissen wir, dass sie im Heideggerschen Sinne aus unserer
alltäglichen Erfahrung mit Stimmungen kommt. Zunächst und zumeist haben wir
es aber mit den oberflächlicheren Stimmungen zu tun: Dann ist dieses Fragen
nach dem Objekt, das die Stimmung ausruft, oder dem Subjekt, das seine
Stimmung auf Objekte überträgt, eine Frage aus der uneigentichen Weise der
Existenz. Wenn wir jedoch die tiefere Stimmung, eine Grundstimmung erlebt
haben, dann enthüllt sich uns die Ganzheit des Daseins, wie wir sind: Die Frage
nach Ursprung der Stimmungen geht zu ihrem Grund, nämlich zum Dasein selbst,
das zeitlich ist. Wir können immer wieder neue Analysen der anderen
Stimmungen durchführen, aber der Sinn liegt nicht darin, die Stimmungen selbst
zu beschreiben, sondern die Verwandlung des Dasein zu verstehen und diese
Möglichkeit auch zu übernehmen.
64
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
Texte von Martin Heidegger:
1. „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“, in: Gesamtausgabe/ II.
Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 20). Klostermann, Frankfurt am
Main, 1979
2. „Sein und Zeit“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung: Veröffentlichte
Schriften 1914-1970 (Bd. 2). Hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann,
Klostermann, Franfurt am Main, 1977
3. „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ in:
Gesamtausgabe / II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944 (Bd. 26). Hrsg.
von Klaus Held, Klostermann, Frankfurt am Main, 1978, S. 135-285
4.
„Vom Wesen des Grundes“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung:
Veröffentlichte Schriften 1914-1970, Wegmarken (Bd. 9), Hrsg.: F.-W. von
Herrmann, 1976
5. „Was ist Metaphysik?“, in: Gesamtausgabe / I. Abteilung: Veröffentlichte
Schriften 1914-1970, Wegmarken (Bd. 9), Hrsg.: F.-W. von Herrmann,
1976
6. „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“, in:
Gesamtausgabe/ II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Freiburger
Vorlesungen (Bd. 29/30), Hrsg.: F.-W. von Herrmann, 2004
Sekundärliteratur:
1. OTTO FRIEDRICH BOLLNOW: DAS WESEN
DER
STIMMUNGEN,
KLOSTERMANN,
FRANKFURT A. M., 1941
2. PAOLA-LUDOVICA CORIANDO: Affektenlehre und Phänomenologie der
Stimmungen, Philosophische Abhandlungen, Bd .85, Vittorio Klostermann,
Frankfurt a. M., 2002
3. BORIS FERREIRA: Stimmung bei Heidegger, Springer, Dordrecht, 2002
65
Literaturverzeichnis
4. GÜNTER FIGAL: Heidegger zur Einführung, Junius, Hamburg, 1992
5. JEAN GRONDIN: „Die Wiedererweckung der Seinsfrage“, in: Martin
Heidegger: Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch,
Akademie Verlag, Berlin, 2001
6. BYUNG-CHUL HAN: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin
Heidegger, Fink, München, 1996
7. KLAUS HELD: „Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger“, in: Zur
philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 1, Hrsg. von Dietrich
Papenfuss und Otto Pöggeler, Klostermann, Frankfurt am Main, 1991
8. EDMUND HUSSERL: „Cartesianische Meditationen“, in: Gesammelte Schriften
/ Edmund Husserl (Bd. 8). Hrsg. von Elisabeth Ströker, Felix Meiner
Verlag, Hamburg, 1992, S. 84-85
9. THEODORE KISIEL: „Das Versagen von Sein und Zeit“, in: Martin Heidegger:
Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch, Akademie
Verlag, Berlin, 2001
10. OTTO PÖGGELER: Der Denkweg Martin Heidegger, Neske, Pfullingen, 1963
11. REUDIGER SAFRANSKI: Ein Meister aus Deutschland, Fischer, Frankfurt am
Main, 2001
12. CLAUDIUS STRUBE: Das Mysterium der Moderne, Wilhelm Fink Verlag,
München, 1994
13. FRANCO VOLPI: „Der Status der Existentialen Analytik“, in: Martin
Heidegger: Sein und Zeit, Klassiker Auslegen, Hrsg. von Thomas Rentsch,
Akademie Verlag, Berlin, 2001
66
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