Nur zum internen Gebrauch, in keiner Weise zur Veröffentlichung!! Dr. Hans Christian Knuth Raum und Gott Aktuelle Erfahrungen mit dem Thema „Räume“ in der kirchlichen Praxis Anknüpfungspunkte und Herausforderungen für die theologische Reflexion Es gibt eine Vielzahl von Anlässen in der Praxis kirchlichen Lebens, über das Thema „Raum“ in grundsätzlicher Weise nachzudenken1. Es sind Erfahrungen mit konkreten Problemen einerseits und mit neu entdeckten Möglichkeiten des Umgangs mit kirchlichen Räumen andererseits, die ein vertieftes theologisches und anthropologisches Interesse am Raum und an den Räumen hervorgerufen haben. Einige dieser Anknüpfungspunkte für meine Überlegungen in den folgenden Kapiteln möchte ich hier zunächst beschreiben. a) Es scheint mir bemerkenswert und eine der vielen kleineren Ironien der Geschichte, dass das Thema „Raum“ in dem Moment einen immer größeren Raum im theologisch interessierten Nachdenken einnimmt, da die konkreten kirchlichen Räume nicht nur metaphorisch im Sinne der kirchlich verantworteten Gestaltungsräume im gesellschaftlichen Leben, sondern auch dinglich im Sinne von Gebäuden, Kirchräumen und Gemeindehäusern in ihrer Existenz gefährdet sind, jedenfalls real weniger und kleiner werden. Eine neue Wahrnehmung und Wertschätzung der Bedeutung des Raumes, ja des „Schatzes“, den wir insbesondere mit unseren alten Kirchen besitzen, setzt ein in dem Moment, da wir erste schmerzliche Verluste erleben – und uns fragen, warum es so weh tut, Kirchen entwidmen und umnutzen, verschenken, vermieten, verkaufen oder abreißen zu müssen2. Jede vollzogene oder drohende Umwidmung oder Abgabe einer Kirche ist ein hoch symbolträchtiges Ereignis und ein Politikum allerersten Ranges für die Menschen im Dorf, im Stadtteil – und macht uns bewusst, dass das Dasein einer Kirche ein hochsymbolisches Datum ist und von weitreichender (symbol-)politischer Relevanz für das Leben in der ländlichen Region, im städtischen Raum. Kirchen strukturieren die historisch gewordenen ländlichen oder städtischen Lebensräume. Kirchen erinnern an die Pfade und Verhältnisse „unter dem Pflaster“ Anstöße in der letzten Zeit: Nordelbische Stimmen, Themaheft „Kirchen abreißen“, 3/2004, und „Gärten und Gebäude“, 10/2204; zeitzeichen, Themaheft „Heilige Räume, profane Räume“, 11/2004; chrismon 1/2005, S. 30ff.: „Spielraum Kirche – füllen Sie eine Kirche, die kaum genutzt wird, mit Ihren Träumen und Ideen!“ 1 2 der aktuellst realisierten Bebauungspläne und Verkehrsführungskonzepte. Als Markierungen in der Topografie des städtischen Raumes haben sie orientierende und identitätsstiftende Bedeutung wenn nicht für das reflektierende Bewusstsein, so doch für das faktisch vollzogene (gelebte) Raum- und Atmosphäre-Erleben im Alltag der Menschen – sie fühlen sich dort zu Hause, wo sie „die Kirche im Dorf“ wissen, und sie konstituieren u.a. auch mit Hilfe „ihrer“ Kirche das jeweilige eigene „Dorf“, in dem sie in der Großstadt leben3. Früher haben die Menschen das natürlich sehr genau gewusst: jeder Kirchenbau war eine raumpolitisch-strategische Entscheidung. Die alten Heiligtümer werden überbaut und überboten, der Sakralbau begründet die Zentralität der menschlichen Siedlungen, das Gegenüber von Bischofsdom und Bürgerkirche drückt eine Spannung aus und einen Epochenwandel, die Tochtergründungen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Vororten und Neubausiedlungen sind ein Zeichen „wir gehen mit euch“. An den Küsten dienten die Kirchtürme als Seezeichen, und in den Dörfern und Kleinstädten auf dem flachen Land strukturieren die Kirchbauten bis heute die Wahrnehmung der Landschaft. b) Beeindruckend ist die Entdeckung des Kirchraums als des „anderen“ Raums gegenüber den Räumen der alltäglichen Erfahrung und Nutzung, die als Wohnräume, Arbeitsräume, Verkaufsräume, Trainingsräume, Ausstellungsräume usw. ihrer jeweiligen Zweckrationalität unterworfen sind. Der „andere Raum“ wird bewusst aufgesucht und erlebt als ein bergender Raum für eine Zeit des Rückzugs aus den Alltagsgeschäften4. Von der besonderen Atmosphäre wird eine katalysatorische, heilende Funktion in Bezug auf die Ordnung des Seelenlebens erwartet. Das Eintreten und Eintauchen in die Aura dieser (äußeren) Räume öffnet auch Zugänge zu verschlossenen, verborgenen inneren Räumen, bringt Seelenräume zur Entfaltung in Meditation und Schweigen, Einkehr und Gebet. Die Sinnlichkeit und Beredsamkeit der kirchlichen Innenräume ist der Ausgangspunkt der schnell expandierenden Kirchenpädagogik. Ihre Literatur ist schon unübersehbar5. Im Sinne eines neuen „Sehet und schmecket“ hat sich eine reichhaltige Didaktik und Methodik entwickelt, die dazu hilft, den Raum zu entdecken: den Raum in seinen vielfältigen Zeichen zu lesen, seine Vgl. Nordelbische Stimmen, 3/2004, S. 7ff.: „Der Grass-Schock“, und S. 21ff.: „Haftpunkte menschlicher Sehnsucht“; F. Steffensky, Die Dialektik von Form und Geist. Zur Theologie des protestantischen Kirchenbaus, in: Räume riskieren, hg. Von Kirche in der Stadt , Bd. 11, Hamburg-Schenefeld 2003. 3 Vgl. F. Scherz, Stadtkulturen und kirchliche Raumstruktur, in: Pastoraltheologie 12/2004, S. 468ff., bes. 475, 480. 4 Vgl. z. B. die Kampagne des Gemeindedienstes der Nordelbischen Kirche „Tritt ein – die Tür steht offen“. Mit dem ADAC zusammen wurde ein spezieller Atlas für autofahrende und radfahrende Touristen erarbeitet, in dem alle „offenen“ Kirchen im Land eingetragen sind. 5 Allein unter „www.amazon.de“ finden sich 5 neue lehrbuchartige Werke zum Stichwort „Kirchenpädagogik“ und 6 neue (kirchenpädagogische) Werke zum Stichwort „Kirchenräume“. 2 3 Gestimmtheiten und Schwingungen zu erleben, seine Klänge und Resonanzen zu hören, seine Anmutung wahrzunehmen und seine Botschaft zu innervieren. Es ist dies ein religionspädagogisches Experimentierfeld mit offenen Übergängen zur Seelsorge, zur Liturgie und zu einer Frömmigkeitspraxis, die die „Ästhetik“ des Raumes einbezieht in die Pflege der liturgischen Gemeinschaft und der Innerlichkeit des Gebets6. c) Zurzeit erleben wir die Renaissance der politischen Bedeutung des kirchlichen Raumes als öffentlichen, überparteilichen, vertrauensbildenden und kommunikationsermöglichenden Raumes, unter dessen „Dach“ sich alle versammeln und vergemeinschaften können. – Große Unglücke finden ihre seelische Bearbeitung in öffentlichen Ritualen. Die gottesdienstliche Liturgie am Symbolort Kirche bringt in der Zeit der Not die staatserhaltende und sozialhygienische, gemeinschaftsstiftende Funktion der Volkskirche neu zur Geltung. – Staatstragende Kundgebungen7 finden mit prominenten weltlichen und kirchlichen Rednern in der „Offenen Kirche“ statt. Der Tag der deutschen Einheit, die Europa-Woche, die Millenniumsfeierlichkeiten und die Gedenktage zu Holocaust oder Kriegsende sind allesamt Anlässe, an denen sich das gesellschaftliche Establishment, die politische Elite zum Gottesdienst in den Kirchraum begibt, in dem gewissermaßen die Gründungssituation des Mensch-Sein- und Zusammen-Leben-Könnens wiederholt und begangen (und gegebenenfalls auch theologisch reflektiert) wird. Das sog. Kirchenasyl, das uns gelegentlich Probleme mit dem Innenministerium beschert, basiert auf der Idee eines rechtsfreien Raumes, in den die weltliche Jurisdiktion nicht hinein reicht. Zur kasuellen Respektierung des Kirchenasyls genügt es nicht, dass etwa eine Flüchtlingsfamilie in einer gemeindeeigenen Wohnung untergebracht und betreut wird, sondern sie muss beherbergt werden im sakralen Bezirk: in einer Kirche oder in unmittelbar baulich mit ihr zusammen hängenden gemeindlichen Funktionsräumen. – Dieses rechtshistorische Relikt offenbart die potentiell obrigkeitskritische (mit der Gründungssituation, s.o., gegebene) Bedeutung des Kirchenraumes. Die Friedens- und Montagsgebete und -demonstrationen nahmen ihren Ausgang im liturgisch genutzten Raum, der jeweiligen städtischen Hauptkirche. Die Symbolkraft der Inszenierung im alten Kirch-Raum wurde weltanschauungsübergreifend politisch genutzt, sie gewährte Schutz und verlieh der staatszersetzenden Bewegung zusätzliche Schubkraft. 6 Das Pädagogisch-theologische Institut in Nordelbien unterhält eine Stelle für Kirchenpädagogik. In der Vikariatsausbildung ist ein kirchenpädagogischer Studientag seit Jahren ein Bestandteil des Curriculums. 7 Z. B. „Wider den Faschismus – gegen Gewalt“ am 29. 1. 05 in Kiel. 4 In Situationen der Christenverfolgung gehört die Verweigerung von Räumen (der Versammlung, des Gebets, des Studiums usw.), z.B. in der Türkei, oder die Zerstörung der Kirchen, wie z. B. in Indonesien, zur Strategie der symbolischen und physischen Ausgrenzung und Vernichtung des religiösen Feindes. Dem sakralen Raum wohnt also sowohl eine die Lebensordnungen erhaltende, als auch eine sie kritisierende Macht inne; seine Zerstörung kann bis auf den heutigen Tag den Tod der Seele der Gemeinschaft bedeuten. d) Das Denken in Kategorien des Raumes gewinnt allgemein in den theologischen Disziplinen an Boden – wie zuvor schon in der Philosophie (P. Sloterdijk), der Soziologie (M. Löw), der Psychologie (D. Winnicott), der Semiotik, in der Literatur- und in anderen Geisteswissenschaften. Der biblische Text wird als Spielraum entdeckt (G. M. Martin), die Liturgie als Raum der Inszenierung geistlicher Präsenz reflektiert (M. Meyer-Blanck). Die kirchliche Praxis wird vom Bestattungsritual bis zum Konfirmandenunterricht als Segensraum beschrieben, dessen Potentiale neu wahrgenommen und gestaltet werden können (U. Wagner-Rau). Statt TrauerPhasen in quasi-gesetzlicher Abfolge zu durchleben, begibt sich die Seele vielmehr je und je in die verschiedenartigen Trauer-Räume, in denen sie ihre Verletzungen ausheilen kann (W. Teichert). Die hier entwickelten humanwissenschaftlich-theologischen Kategorien arbeiten mit der RaumMetaphorik. Umgekehrt kann man auch sehen, dass sich von ihnen her erst die ästhetische und religiöse Wirkmächtigkeit von Räumen neu entschlüsseln lässt. Der Kirchraum erschließt sich als „intermediärer Raum“ (U. Wagner-Rau8), in dem der Mensch als geliebtes Gotteskind und als sündiger Gottesfeind „gehalten“ ist. Die theologische Begrifflichkeit des Raumes und der Räumlichkeit ist nicht allein metaphorisches Reden – der Kirchraum selbst ist Architektur gewordenes Symbol des „Beziehungsraumes“ zwischen Gott und Mensch und seiner soteriologischen Qualitäten (F. Steffensky9). e) Darum ist in kirchlichen Räumen nicht alles möglich. Wenn der Raum als der Raum, der er ist, sich konstituiert einerseits durch sein ideelles, architektonisches Konzept, in das je und je eine Vgl. „... viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod“. Praktisch-theologische Reflexionen über Trost und Trösten, Pastoraltheologie 1/2004, s. 2ff., bes. S. 6 – 9 („Trost und Raum“) 9 Vgl. Die Dialektik von Form und Geist, a.a.O. 8 5 epochale Theologie investiert ist (H. C. Knuth10) – und andererseits durch seinen Gebrauch: d.h. durch seine Ausstattung mit Geschichten und Symbolen, durch die Rituale, die in ihm begangen, die Gebete, die in ihm gesprochen, die Beziehungen, die in ihm gelebt werden – dann kann jeder Umbau und jede andere Nutzung des Raumes entweder stimmig sein oder ihn zerstören. Manche Dinge sind instinktiv tabu, unpassend, peinlich, kontraproduktiv; manche Dinge gewinnen im Kirchraum auch neue Dimensionen oder erst ihre eigentliche Tiefe. Manchmal kommt es zu aufschlussreichen Spannungen und Friktionen, die geistlich produktiv sind und Entwicklungen anstoßen. f) In der Diskussion über Umnutzung, Verkauf oder Abriss von Kirchen oder Gemeindezentren ist gegen das schnelle Urteil, „um die Bauten aus den 60er und 70er Jahren ist es auch nicht schade“, ein neues Hinsehen auf die sakrale Qualität der diskriminierten Architektur in Glas und Beton entstanden.11 Damit entsteht ein neues Empfinden und Urteilen, was Räume uns wert sind. Es schärft die Wahrnehmung auch der politischen Bedeutung der alten wie der neuen Kirchen- und Gemeinde-Bauten im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung und des gegenwärtigen „großkirchlichen“ Niedergangs. Und es wirft die Frage auf: wer besetzt den Raum, der kirchlicherseits (gegebenenfalls) aufgegeben wird? Es ist nicht nur die Frage, welche religiöse oder weltliche Konkurrenz die Gebäude neu besetzt und mit ihrem Geist oder Ungeist bewohnt. Es geht auch um die Frage, wer das Vakuum im topographischen wie im ideographischen, gesellschaftlichen Raum füllt, wenn die volkskirchliche Religiosität sich aus der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit hier und da zurückzieht. Zusammengefasst: Die Mentalität und Philosophie der Postmoderne hat es auch mit sich gebracht, dass wir nicht mehr primär die „Zeitlichkeit“ des Menschen und die großen konsistenten universalen Erzählungen seiner Geschichte erleben und reflektieren. An die Stelle des Denkens in Entwicklungsphasen, Stadien und Epochen ist generell das Denken in Räumen und Dimensionen, Atmosphären und koexistenten Welten getreten.12 In diesen globalen Paradigmenwechsel ist die kirchliche (Wieder-)Entdeckung der heiligen Räume, der 10 Vgl. Kirche und Kirchenbau seit 1945 in Hamburg, in: Dächer der Hoffnung, hg. Von H.-G. Soeffner, H. C. Knuth, C. Nissle, Hamburg 1995, S. 27 - 39 11 Vgl. M. Ludwig, Kirche – offen für die Zukunft? Gedanken zur Nutzung und Erhaltung der Kirchenbauten des 20. Jahrhunderts, in: Räume riskieren, a.a.O., S. 87ff., bes. S. 104 - 106 12 Vgl. „Eine Reise um die Welt in 80 Tagen“ (Jules Verne, 1873 ) mit „Eine Reise um den Tag in 80 Welten“ (Julio Cortázar, 1979). 6 Räumlichkeit des menschlichen Daseins als „Wohnen“, der christlichen Gemeinde als Segensraum und Spielraum einbezogen. Das wandernde Gottesvolk, das in Zelten unterwegs ist, entdeckt im Zeitalter der globalen Mobilität, dass es auf Reisen ist, von Ort zu Ort – nur um zu suchen nach Räumen, in denen es Ruhe findet und stille sein kann zu seinem Gott. Religiöse Gemeinschaften brauchen offensichtlich besondere Räume, in und an denen sie sich „verorten“ können, von denen her und auf die hin ihre Seele, wandernd, leben kann. Um den Zugewinn zu ermessen, der mit der praktischen Wiederaneignung der Dimension des Raumes gegeben ist, gilt es, die Geschichte des Raumes in Theologie und Philosophie neu zu studieren. Dem dienen die folgenden Kapitel. 7 Raum als Existenzial Martin Heidegger Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit" zunächst die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit bezogen, um im zweiten Teil die Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität zu reflektieren. Interessanterweise beginnt aber der erste Teil mit einer Analyse des „In-der-Welt-Seins überhaupt als Grundverfassung des Daseins" (§ 12 ff.) „Sein in" ist die Seinsart eines Seienden, das ein Vorhandensein in einem anderen Vorhandenen ist, wie das Wasser in einem Glase. Dieses Vorhandensein „in" einem anderen ist ein ontologischer Charakter, den Heidegger „kategorial“ nennt und der zu Seiendem von nichtdaseinsmäßiger Seinsart gehört. „In-Sein" dagegen meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein „Existenzial“. „In-Sein ist demnach der formale existentiale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-Seins hat."(S. 54) Nochmals wird betont der ontologische Unterschied zwischen dem In-Sein als „Existenzial“ und der Inwendigkeit (dem „Sein-in“) von Vorhandenem als „Kategorie“. Das Dasein hat zwar auch ein eigenes „Im Raum sein", aber nur auf dem Grunde des In-der-Welt-Seins überhaupt. (S. 56) „Das Verständnis des In-der-Welt-Seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins." (S. 56) Diese existenziale Räumlichkeit ist keine Eigenschaft des Daseins, ohne die es sein könnte oder auch nicht. Dasein ist nie ohne In-Sein. Beziehung zur Welt kann das Dasein nur aufnehmen, weil es "In-der-Welt-Sein" ist. In-der-Welt-Sein ist eine Grundverfassung des Daseins. Nun ist im Dasein selbst und für es diese Seinsverfassung immer schon irgendwie bekannt. Sie soll aber auch erkannt werden. Das in dieser Aufgabe ausdrückliche Erkennen nimmt sich selbst als Welterkennen zur exemplarischen Beziehung der Seele zur Welt. Und nun ist ganz entscheidend, dass als der primäre Modus des In-der-Welt-Seins das Erkennen von Welt bzw. das Ansprechen und Besprechen von Welt (Logos) fungiert. Das Ansprechen und Besprechen von Welt ist der primäre Modus des In-der-Welt-Seins. Diese ontologische Prämisse muss immer irgendwie ontisch vorgegeben sein. 8 Bei der Entfaltung der Weltlichkeit der Welt kommt Heidegger noch einmal auf die Räumlichkeit des Daseins zu sprechen. In welchem Sinne ist der Raum ein Konstituens der Welt, die ihrerseits als Strukturmoment des In-der-Welt-Seins charakterisiert wurde? Mit dem In-der-WeltSein des Daseins ist der Raum zunächst als Räumlichkeit entdeckt. (S. 111) Der Raum wird für das Erkennen auf dem Boden der Räumlichkeit zugänglich. Der Raum ist weder im Subjekt noch ist die Welt im Raum. "Der Raum befindet sich nicht im Subjekt noch betrachtet dieses die Welt, 'als ob' sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene 'Subjekt', das Dasein, ist räumlich." (S. 111) Der Raum zeigt sich als Apriori. Während Heidegger nach diesen Vorüberlegungen zur Räumlichkeit des Daseins übergeht in eine fundamentalontologische Analyse der Zeitlichkeit des Daseins, kommt er später noch einmal auf das Verhältnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu sprechen. Müssen Zeitlichkeit und Räumlichkeit nebengeordnet werden? Oder ist "der existenzialzeitlichen Analyse des Daseins Halt geboten durch das Phänomen, das wir als daseinsmäßige Räumlichkeit kennenlernten und als zum In-der-Welt-Sein gehörig aufzeigten?" (S. 367) Die Räumlichkeit des Daseins gründet aber in der Zeitlichkeit, sie wird im Sinne der existenzialen Fundierung von der Zeitlichkeit 'umgriffen'. So muss nun nach den zeitlichen Bedingungen der Möglichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit gefragt werden, die ihrerseits das Entdecken des innerweltlichen Raumes fundiert. Es gilt zunächst, wie oben entwickelt, dass das Dasein nie bloß im Raum „vorhanden“ ist. (S. 368) Es füllt nicht wie ein reales Ding ein Raumstück aus. Vielmehr nimmt das Dasein Raum ein. Es ist nie nur in dem Raumstück vorhanden, den der Leibkörper ausfüllt. Das Dasein ist geistig - und kann deshalb in einer Weise „räumlich“ sein, die einem ausgedehnten Körperding wesenhaft unmöglich bleibt. Das existierende Dasein räumt sich immer schon einen Spielraum ein. Dieses Sicheinräumen wird konstituiert durch Ausrichtung und Entfernung, wobei Ent-fernung meint, die Aufhebung der Ferne, also eher die Annäherung. Das Dasein entdeckt so etwas wie Gegend. Wohin gehören die Gegenstände (das Zeug)? Diese Besorgnis (wohin gehören die Gegenstände?) hat Bezug zur Bewandtnis. Bewandtnis ist nur möglich im Horizont einer erschlossenen Welt. Die Welt aber ist nicht im Raum vorhanden, dieser lässt sich vielmehr nur innerhalb von Welt entdecken. „Auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des Dasein in den Raum möglich." (S. 369) 9 Peter Sloterdijk In einem Exkurs zu Heideggers Lehre vom existenzialen Ort hat Peter Sloterdijk im ersten Band seines großen philosophischen Werkes über die „Sphären“ diese von Heidegger herausgearbeiteten existenzialen Strukturen des Daseins in den Zusammenhang seiner Philosophie gestellt. Er unterstreicht, dass nur wenigen Heidegger-Interpreten klargeworden zu sein scheint, dass sich unter dem sensationellen Programmtitel "Sein und Zeit" auch eine keimhaft revolutionäre Abhandlung über Sein und Raum verbirgt. Nicht als Einziger, aber vehement weist Sloterdijk darauf hin, dass, wie er sagt, die existenziale Analytik der Zeit in einer entsprechenden Analytik des Raumes verankert sei und dass beide wiederum in einer Existenzial-Analytik der Bewegung gründen. Man könne zwar eine ganze Bibliothek über Heideggers Lehre von Zeit und Geschichte lesen, einige Abhandlungen auch über seine Lehre von der Bewegung; allerdings über seine Ansätze zu einer Theorie der ursprünglichen Einräumung des Raumes oder „Ontotopologie“ könne man nichts lesen. Sloterdijk unterstreicht mit einem Zitat aus "Sein und Zeit" (S. 105): „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe", dass Daseinsräumlichkeit als Näherung und Orientierung nur durch Destruktion der Raumkonzepte der vulgären Physik und der („klassischen“) Metaphysik zum Zuge kommen kann. Dasein sei eine immer schon vollzogene "Wohntat", Ergebnis eines Ur-sprungs ins Einwohnen (Sloterdijk S. 337) - und so gehöre Räumlichkeit der Existenz wesenhaft zu. Man müsse die sogenannte "Behälterphysik" überwinden. Das Haus des Seins sei kein Gehäuse, in dem die Existierenden ein- und ausgingen. Heideggers radikale phänomenologische Aufmerksamkeit entziehe den vieltausendjährigen Reichen der Behälterphysik und -Metaphysik den Boden. Der Mensch sei weder ein Lebewesen in seiner Umwelt, noch ein Vernunftwesen im Gewölbe des Himmels, noch ein vernehmendes Wesen im Inneren Gottes. Folgerichtig fällt auch das Reden von der „Umwelt“, das seit den Zwanziger Jahren im Aufkommen ist, unter die phänomenologische Kritik. Das herkömmliche Denken manifestiere sich als existenziale Raumblindheit in den alten Weltbildern, weil es den Menschen mehr oder weniger umstandslos einer umschließenden Natur als Kosmos integriere. Sloterdijk versteht sein Gesamtwerk "Sphären" als Versuch, das in Heideggers Frühwerk eingeklemmte Projekt "Sein und Raum" aus seiner Verschüttung zu bergen. (S. 345) In einem späteren Kapitel, das als „theologische Vorschule zur Theorie des gemeinsamen Innen" bezeichnet wird, kommt Sloterdijk noch einmal auf den frühen Heidegger zu sprechen und bezeichnet die klassische Theologie als erste analysis situs, „denn alle Orte im Seienden stellen Situationen im Verhältnis zur absoluten Mitte dar. Radikale Ontologie ist darum nur als „Situologie“ möglich - ein Sachverhalt, der nirgendwo deutlicher als in Heideggers frühem 10 Denken zum Vorschein kommt." Mit diesem Hinweis auf die Situation kommen wir möglicherweise einen Schritt weiter im Verhältnis der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Daseins. Luthers Verständnis vom Raum: Zunächst lässt sich feststellen, dass Luther besonders durch den biblischen alttestamentlichen Doppelsinn des Raumes geleitet wird, wenn er etwa in der Auslegung von Psalm 4 in den operationes in psalmos (WA 5, S. 101 ff.) darauf hinweist, dass „gehört werden“ und „weiten Raum bekommen“ eine Tautologie ist - so ähnlich wie „trösten“ und „weiten Raum verschaffen“ (WA 5, S. 101, Zeile 10 ff.): „Est autem 'dilatasti mihi' seu 'latitudo' ista hebraismus et metaphora vel metonymia propria scipturae, quam nos sine figura consolationem dicimus, sicut contra angustiam tristitiam et afflictionem dicimus." Luther schildert die hebräische Redeweise als metaphorisch oder als Vertauschung (Metonymie), wenn „Enge“: „Angst“ heißt und „weiter Raum“: „Trost“. Und durch Enge und Weite werden die Natur der Traurigkeit und der Freude ausgedrückt, denn das ganze Gesicht wird zusammengezogen oder auch erweitert, je nachdem, wie es sich befindet. Ungleich systematischer und ontologisch reflektierter redet er allerdings in seiner Streitschrift gegen die Schweizer Kontrahenten im Abendmahl, wenn es darum geht, das Sitzen Christi zur Rechten Gottes protologisch zu verstehen. Luther gibt sich an dieser Stelle enorme Mühe, um das, was er als schriftgemäß vorgegeben sieht, dass nämlich das Sakrament den Leib Christi nicht nur repräsentiert, sondern dass es der Leib Christi ist, auch denkerisch zu erfassen, vor allem im Hinblick auf die Unendlichkeit der göttlichen Natur des im Abendmahl präsenten Gottmenschen Christus. Natürlich geht es nach Luther nicht darum, mit den Augen nach oben zu sehen, wenn man vom Himmel spricht, und demgemäß das Abendmahl hier auf Erden einzusetzen. Gottes Wort und Werke gehen nämlich nicht nach unserer Augen Gesicht. Auch Luther unterscheidet zwischen dem Ort und einem in dem Ort befindlichen Körper, so wie sich der Wein im Fass oder das Wasser im Fass treffen und der Wein nicht mehr Raum einnimmt noch das Fass mehr Raum gibt als soviel, wie Wein da ist. Oder ein Holz oder Baum im Wasser nicht mehr Raum einnimmt noch das Wasser mehr Raum gibt als soviel, wie Baum im Wasser ist. So ist auch ein Mensch, der in der Luft wandelt, einer, der nicht mehr Raum von der Luft um sich her nimmt, noch gibt die Luft mehr als wie groß der Mensch ist. Auf diese Weise gehören Körper und Raum zusammen. Und sie geben sich gegenseitig Stück um Stück ab - wie ein Kannengießer die Kannen in seiner Form abmisst, gießt und fasst. Aber dieses Verständnis vom Sein eines Dinges im Raum ist für das Abendmahl nicht relevant, denn hier geht es um das unbegreifliche Sein eines Dinges an einem Ort, wenn dieser Körper nicht konkret an einem Ort ist und sich nicht nach dem Raum des Ortes abmisst, sondern viel oder wenig Raum einnimmt - so wie die Engel und die Geister an Stätten oder Orten sein 11 können. Denn ein Engel oder Teufel kann in einem ganzen Haus oder in einer Stadt sein, er kann aber auch in einer Kammer oder in einer Büchse, ja sogar in einer Nussschale sein. Der Ort sei wohl leiblich und begrenzt und habe seine Maße nach der Länge, Breite und Dicke; aber das, was darin ist, habe nicht die gleiche Länge, Breite und Dicke. So wie der Teufel in die Menschen fährt und schließlich auch in die Säue, so dass eine ganze Legion von Teufeln in einem Menschen sein kann, etwa 6000 Teufel, so ist das eine andere Art von Sein an einem Ort. Auf solche Weise war auch der Leichnam Christi nicht zu messen oder zu begreifen, als er auferstand. Er nahm sich keinen Raum und der Stein blieb aus Stein und gab ihm keinen Raum. Ebenso kann Christus auch im Brot sein, obwohl er sich auch daneben zeigen kann, wie er will. Denn wie der versiegelnde Stein und die verschlossene Tür unverändert und unverwandelt bleiben und doch sein Leib zugleich an dem Ort ist, so ist er auch im Sakrament zugleich dort, wo Brot und Wein ist - und doch bleiben Brot und Wein für sich selbst unverwandelt und unverändert. Gott selbst allerdings ist zugleich ganz und gar an allen Orten und füllt alle Orte und wird doch von keinem Ort abgemessen und begriffen nach dem Raum. Luther unterscheidet also auch, wie ein Ding im Raume ist. Ganz ähnlich wie Heidegger geht er aus von dem Konstituiertsein des Raumes, dadurch dass wir ihn erfassen: "Sieh unsere leiblichen Augen und Gesichter an. Wenn wir die Augen auftun, so ist unser Gesicht in einem Augenblick über fünf oder sechs Meilen Weges und zugleich an allen Orten, die in solchen sechs Meilen sind gegenwärtig, und ist doch nur ein Gesicht, ein Auge. Kann das ein leibliches Gesicht tun? Meinst du nicht, dass Gottes Gewalt könne auch eine Weise finden, dass auch alle Kreatur also gegen Christus Leib sei gegenwärtig und durchläuftig?" Christologisch geurteilt kann es nicht einen Raum geben, in dem Gott Mensch ist, und einen anderen, in dem er Gott ist. Denn dann würden Raum und Ort die zwei Naturen voneinander sondern und Personen zertrennen und es wäre nicht Christus: „Nein, Geselle, wo du mir Gott hinsetzest, da musst du mir die Menschheit mit hinsetzen. Sie lassen sich nicht sondern und voneinander trennen. Es ist eine Person worden und scheidet die Menschheit nicht so von sich wie Meister Hand seinen Rock auszeut und von sich legt, wenn er schlafen geht.“ Es geht eben darum, dass Gott auf unbegreifliche geistliche Weise anwesend ist, da er keinen Raum nimmt noch gibt, sondern durch alle Kreatur fährt, wo er will, wie mein Gesicht, um ein großes Gleichnis zu geben, so sagt Luther, durch Luft, Licht oder Wasser fährt und ist und nicht Raum nimmt noch gibt, wie ein Klang oder Ton durch Luft und Wasser oder Brett oder Wand fährt und ist und auch nicht Raum nimmt noch gibt. Genauso wie Licht und Hitze durch Luft, Wasser, Glas, Kristall und dergleichen fährt und ist und auch nicht Raum gibt noch nimmt. Und dergleichen viel mehr. Oder wie eine Stimme eines Predigers an einem Ort ist, nämlich in seinem Munde, und dann vier-, fünf- oder zehntausend Ohren in einem Augenblick diese 12 Stimme hören, die doch keine andere ist als die in dem Munde des Predigers und zugleich in allen Ohren des Volkes. Luther amüsiert sich über die konkrete Vorstellung, die er Tölpelgedanken nennt, als sei Gott „ein großes weites Wesen, das die Welt füllt und durchausragt gleichsam als wenn ein Strohsack voll Stroh steckte und oben und unten dennoch ausragte eben nach der ersten leiblichen begreiflichen Weise. Da würde freilich Christus Leib ein lauter Gedicht und Gespenst sein, als ein großer Strohsack, da Gott mit Himmel und Erden innen wäre. Das hieße aber grob genug von Gott reden und gedacht.“ So redet Luther nicht, sondern sagt, dass Gott nicht „ein ausgereckt lang, breit, dick, hoch, tief Wesen sei, sondern ein übernatürlich, unerforschlich Wesen, das zugleich in einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über allen und außer allen Kreaturen“ ist. Dieser Leib wird nicht umzäunt, "denn ein Leib ist der Gottheit viel, viel zu weit und könnte vieltausend Gottheiten drinnen sein. Wiederum auch viel, viel zu enge, dass nicht eine Gottheit drinnen sein kann. Nichts ist zu klein, Gott ist noch kleiner, nichts ist zu groß, Gott ist noch größer. Nichts ist zu kurz, Gott ist noch kürzer; nichts ist zu lang, Gott ist noch länger; nichts ist zu breit, Gott ist noch breiter; nichts ist zu schmal, Gott ist noch schmäler und so fortan ist‘s ein unaussprechlich Wesen über und außer allem, das man nennen oder denken kann." Im Sinne der Christologie ist eben Gott und Mensch eine Person und die zwei Naturen sind so miteinander vereinigt, dass sie näher zusammengehören als Leib und Seele. So muss Christus auch da Mensch sein, wo er Gott ist. Ist er aber an einem Ort Gott und Mensch, warum sollte er dann nicht an einem anderen Ort auch Gott und Mensch sein? Und warum nicht am dritten, vierten, fünften Ort? Nein, wo Gott und Mensch eine Person sind, da ist er zugleich auch als Mensch an allen Orten. Und Luther sagt: „Wohl ist's wahr, dass unsere Vernunft hier sich närrisch stellt zu denken, weil sie das Wörtlein 'in' gewohnt ist nicht anders zu verstehen denn auf eine leibliche begreifliche Weise wie Stroh im Sack und Brot im Korbe ist, darum wo sie hört, dass Gott sei in dem oder in diesem, denkt sie immer des Strohsacks und Brotkorbes, aber der Glaube vernimmt, dass 'in' gleich so viel ‚in‘ dieser Sache gilt, als über, außer, unter, durch und wie der Herr durch und allenthalben. Ach, was rede ich von so hohen Dingen, die doch unaussprechlich sind und für den Einfältigen unnötig, den Schwärmern aber gar umsonst, dazu auch schädlich. Denn sie verstehen‘s doch so wenig als der Esel den Psalter, ohne dass sie etwa ein Stücklein herauszwacken mögen, das sie lästern und schänden..." Im Protokoll des Marburger Gesprächs von 1529 heißt es denn auch an entscheidender Stelle einmal: Deus potest facere quod non sit in loco et quod in loco. Hic multa erat controversia de loco. (WA 30 III S. 136 Zeile 31 bis 33) Und in einem Bericht über das Marburger Gespräch sagt Luther zu Zwingli und Ökolampad auf die Frage, ob Gott je einen Leib hätte ohne einen 13 besonderen Raum - : den allergrößten Leib, damit alle anderen Leiber inbegriffen seien, nämlich die ganze Welt, würde Gott ohne einen Raum enthalten: „Darum hat die Welt kein statt, darin sie ist, dazu schwiegen sie all still." WA 30 III S. 148. Die biblische Vorstellung vom Raum Helmut Köster hat im theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Band 8, S. 187 ff) unterschieden zwischen dem griechischen „topos“ und dem alttestamentlichen „makom“. Das griechische „topos“ sei ein geografischer Raum, der etwas enthält, das alttestamentliche „makom“ sei eine Stätte, an der sich etwas befindet. Nach griechischem Denken lässt sich der Raum nicht trennen von der jeweiligen Sache, die in diesem Raum vorhanden ist und ihn ganz erfüllt (S. 193). Im Alten Testament wird jeder Ort "bestimmt in einem Verhältnis zu einer Sache, die sich dort befindet, zu einem Geschehen, das sich dort abspielt oder zu einem Menschen oder einem Volk, das dort wohnt. Die konkrete Gefülltheit, Sachbezogenheit und Besitzvorstellung beherrscht hier die Anschauung vom Ort viel stärker als im griechischen Sprachgebrauch." (S. 194) In der Weisheit heißt es, dass nicht mehr seine Stätte zu haben identisch sei mit dem Aufhören des Daseins. Deshalb wird vom Gottlosen immer wieder gesagt, dass seine Stätte ihn verleugnet, wenn er zugrunde geht. (Hiob 8, 18 vgl. 18, 21, 20, 9, Psalm 35 Vers 10) (Köster S. 199) Wichtig ist auch der Hinweis, dass das neutestamentliche „topos“ „die von Gott gegebene Möglichkeit des Daseins" bezeichnet. (Köster S. 200) Dieser Sprachgebrauch "setzt die alttestamentliche Ortsvorstellung insofern fort, als er von der durch Gott gegebenen Stätte redet, in der die glaubende Existenz ihren Grund hat. Diese Stätte ist in der Weisheit freilich weder das von Gott dem Volke gegebene Land noch irgendeine heilige Stätte wie der Tempel, sondern vielmehr losgelöst von der konkreten Ortsvorstellung die Ermöglichung von Heil, Buße und Barmherzigkeit." (S. 200) Philo versteht unter dem Raum dreierlei: den Platz, der von einem Körper erfüllt ist; den göttlichen logos, den Gott selbst mit nichtkörperlichen Kräften erfüllt hat; und Gott selbst, da er alle Dinge in sich umschließt. Gott selbst wird, ähnlich wie im rabbinischen Sprachgebrauch, als „topos“ bezeichnet. Gott ist der Ort schlechthin im kosmischen Sinne. Philo unterstreicht die aristotelische Kategorienlehre, wobei Raum und Zeit als „unabdingbare Bestimmtheiten des Daseins noch besonders aus den übrigen Kategorien herausgehoben werden." (Köster S. 202) In der Apokalypse des Johannes ist der Ort eine von Gott gegebene Daseinsmöglichkeit der Gemeinde und die Zusage, dass Gott der Gemeinde ihr Dasein erhalten will. Umgekehrt ist das Fehlen dieses Ortes gleichbedeutend mit der Vernichtung, der Auslöschung der Existenz (S. 207) Die Vorstellung vom Raum als Daseinsmöglichkeit weist nicht auf eine Spiritualisierung der Raumvorstellung hin, wir haben es hier eher zu tun mit einer die Existenz und die Existenzgrundlage betreffenden Interpretation des Raumes. 14 Zur Bedeutung des Begriffes Situation: Aristoteles Der Begriff der Situation findet sich schon bei Aristoteles, der ihn unter den zehn Kategorien anführt. Nach Trendelenburg sind sämtliche Kategorien aus der Struktur des Satzes abzuleiten. Categorias ex orationis natura dispositas esse (Trendelenburg: De categoriis 1833, p.12). Das, was ist, wird in den verschiedenen Hinsichten, in denen es Sein hat, ausgesagt: "Es geht in den Aussageweisen um Seinsweisen." (Vorländer, Philosophie des Altertums, RDE 183/84, S. 122.) Die Kategorien als Aussagen über Seiendes haben also ontologische Relevanz. Dabei stehen die vier Kategorien der Substanz, Quantität, Qualität und Relation im Vordergrund. Die Lage ist denn auch streng genommen nur eine von der Relation abgeleitete Kategorie. Nicht von jedem Seienden ist das Sein durch die Lage auszusagen. So haben zwei Teile einer Ebene, Körper und Räume eine Lage, nicht aber die Zahl, das Wort und die Zeit. Bei der Zahl könne man nicht aufweisen, wieso ihre Teile zueinander eine Lage haben oder wo sie liegen oder welche Teile aneinander grenzen. Ebenso wenig bei der Zeit, weil keiner ihrer Teile bleiben will. Was aber keinen Bestand hat, wie soll das eine Lage einnehmen?" (Aristoteles Kategorien 5 a, 23 ff übersetzt von Gohlke 1951 S. 31) Zahl, Zeit und Wort haben keine Lage, weil sie nicht aneinander grenzen, nicht dauern und entschwinden, wenn sie ausgesprochen sind. Von der „eins“ zur „zwei“ gibt es keinen Übergang, beide Zahlen stehen ebenso unvermittelt nebeneinander wie das Gestern dem Heute und das Substantiv dem Verb. Wollte man also das Sein von Seiendem von der Lage bestimmen, so würde man dies nach Aristoteles gerade verfehlen bei allem, was nichts Bleibendes ist. Man kann daher sagen, für Aristoteles sei Lage bzw. Situation nur eine Kategorie der äußeren Relation, nicht der inneren Essenz. Das Wesen eines Seienden, die erste Substanz (ousia) ist das selbständige existierende Einzelding, dessen Sein unabhängig von seiner Situation gegeben ist. (Vgl. Knuth: Zur Auslegungsgeschichte S. 356 ff) Hans-Georg Gadamer Die lange Geschichte des Situationsbegriffes, die in sich ein Leitfaden der Geschichte philosophischen Denkens überhaupt ist, mündet bei Heidegger und Gadamer in der ontologischen Frage nach dem Sein von Situationen. Der Begriff der hermeneutischen Situation, der auch bei Sloterdijk eine zentrale Rolle spielt, steht in „Sein und Zeit“ an dem entscheidenden Übergang von der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins zur ursprünglichen existenzialen Interpretation dieses Seienden. Die hermeneutische Situation misst das Ganze der Voraussetzungen der Auslegung. Das Verstehen der Situation ist selbst eine Grundart des Seins des Daseins. Bei Gadamer ist die Situation dadurch bestimmt, "dass 15 sie einen Standort darstellt, der die Möglichkeit des Sehens beschränkt". (Wahrheit und Methode, S. 286) Darum gehört der Begriff des Horizontes zum Begriff der Situation hinzu. Er charakterisiert die Endlichkeit alles historischen Verstehens, aber nicht nur als Beschränktheit, sondern ebenso auch als Offenheit der hermeneutischen Situation. Die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation bedeutet darum die Gewinnung des rechten Fragehorizontes angesichts der Überlieferung - und auch angesichts des Raumes. "Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, dass es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont. Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert." (Ebenda S. 288) Verstehen ist demnach der "Vorgang der Verschmelzung vermeintlich für sich seiender Horizonte". (S. 289) Fluidum der hermeneutischen Erfahrung ist zunächst ganz allgemein die Sprache. Aber hier ist es nun doch bei Gadamer nicht das griechische Sprachverständnis, an dem er sich sonst orientiert, sondern in eigentümlicher Sonderstellung das christliche Sprachverständnis: „In der Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie durch den griechischen Gedanken der Logik keimt vielmehr etwas Neues auf: die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt. Die Christologie wird zum Wegbereiter einer neuen Anthropologie, die den Geist des Menschen in seiner Endlichkeit der göttlichen Unendlichkeit auf eine neue Weise vermittelt. Hier wird das, was wir die hermeneutische Erfahrung genannt haben, seinen eigentlichen Grund finden." (Wahrheit und Methode, S. 405) Für Gadamer ist die Sprache nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht und in ihr stellt sich dar, dass die Menschen überhaupt Welt haben. „Für den Menschen ist die Welt als Welt da, wie sie für kein Lebendiges sonst Dasein hat, das auf der Welt ist. Dies Dasein der Welt aber ist sprachlich verfasst." (S. 419) „Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt - die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, dass sich ihr Welt darstellt. Die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen In-der-WeltSeins.“ (S. 419) Kaulbach: Im philosophischen Wörterbuch hat Kaulbach im Artikel „Raum" (Band 8, Spalte 89ff.) dargestellt, dass in der Kritik der reinen Vernunft Kant Raum und Zeit als Formen der sinnlichen Anschauung begreift. Sinnlich anschaulich werden Gegenstände nur in Raum und Zeit. Unsere Vorstellungen bilden sich durch die rezeptive Art und Weise, wie wir den Erscheinungen ausgesetzt sind, den Empfindungen. Aber bei den Empfindungen müssen wir das Materielle unterscheiden von dem rein Formalen. Empfindungen treten auf als Inhalte der Formen des 16 Raumes und der Zeit. Die Materie der Erscheinung ist a posteriori gegeben, während die Form „im Gemüte a priori bereitliegt, und daher abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden" muss. (Kant, Kritik der reinen Vernunft B 34, zitiert bei Kaulbach, Sp. 89) Raum und Zeit sind also „rein", d.h. a priori gegeben. Die menschliche Subjektivität hat nun die Eigentümlichkeit, „etwas von ihr Verschiedenes als ein räumliches Dort, als ein ‚Außerhalb‘ ansprechen zu können. Dadurch wird es möglich, Gestalt, Größe und gegenseitiges Verhältnis der Erscheinungen zu bestimmen. Raum und Zeit selbst können nicht angeschaut werden, weil sie ja nur die Formen oder Weisen des subjektiven Anschauens sind." (Ebenda 89 ff., vgl. Kritik der reinen Vernunft B 37) Raum und Zeit sind „Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen" und nicht selbst Dinge oder an Dingen vorkommende Bestimmungen. Räumlichkeit ist „eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Erscheinungen zugrunde liegt" (Kritik der reinen Vernunft B 38). Vom Raum, vom ausgedehnten Wesen, können wir „nur aus dem Standpunkte eines Menschen reden" (KrV B 42). So gelten die räumlichen Bestimmungen auch nur in der Perspektive unserer Subjektivität. Raum und Zeit gehören zwar zur Erfahrung der Sache, eignen ihr aber nicht „an sich". "Würde man Raum und Zeit zu Formen der Dinge an sich machen, dann müssten sie als Bedingung allen Daseins überhaupt auch dasjenige Gottes bedingen (Spinozismus)". (Kaulbach Sp. 90) Der Raum begründet aber die (äußere) Realität von Gegenständen möglicher Erfahrung und geht mit ein in deren ontologische Verfassung 17 Raum, Wort und Nähe Eberhard Jüngel Eberhard Jüngel hat in seinem Buch "Paulus und Jesus" besonders intensiv über die Nähe der Königsherrschaft Gottes als ontologische Frage reflektiert. "Das Gleichnis lehrt also, ‚das Jetzt zu verstehen‘ (G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, S. 45). Und indem es das Jetzt von seiner Zukunft her zu verstehen lehrt, kommt hier die Nähe der Gottesherrschaft als eine zukünftige in den Blick. Aber das Eigentümliche dieser Zukünftigkeit der Gottesherrschaft ist dies, dass die Zukunft hier nicht als ein Abstand zum Jetzt vorgestellt wird, sondern als eine schon die Gegenwart zu ihrem Anfang machende nahe Zukunft in den Blick kommt: Diese Zukunft steht nicht aus, sondern ragt in die Gegenwart herein. Sie kann als zeiträumlicher Abstand (von mir gesperrt, Knuth) überhaupt nicht erfasst werden und sperrt sich deshalb auch gegen die Doktrin von der „Naherwartung Jesu." (Jüngel, Paulus und Jesus, S. 154) Jüngel kritisiert an der traditionellen Gleichnisauslegung, dass das Verhältnis der Gottesherrschaft zu Jesus als ein Problem des Zeitraums diskutiert wird. „Gleichgültig, ob man die basileia als bereits gegenwärtig, als in der Gegenwart einbrechend, als unmittelbar bevorstehend oder als mehr oder weniger nah bevorstehend in der Verkündigung Jesu ansetzt, jedesmal wurde damit der basileia ein Platz innerhalb eines Zeitraumes angewiesen, der von einem in der Zeit existierenden Ich aus gemessen wird, so dass die Nähe der basileia als Entfernung zu einem zeitig existierenden Subjekt vorgestellt wird. Mit diesem Vorstellungsschema einer sich als Zeitraum erstreckenden Zeit meinte man die Ansage der Gottesherrschaft durch Jesus angemessen interpretieren zu können...“ (a.a.O. S. 140) Jüngel zitiert hier Martin Heideggers Kritik an den klassischen Vorstellungen, in denen Raum und Zeit als die Parameter der Abmessung von Nähe und Ferne als Zustände von Abständen erscheinen. (Vgl. Das Wesen der Sprache, in Unterwegs zur Sprache, S. 209). Doch so wenig dieses Zeitverständnis dem Jesu entsprechen dürfte, so wenig auch sein Raumverständnis. Die Nähe der Gottesherrschaft ist ein Gleichnis für die Qualität der Relation, nicht der Quantität. Und das heißt nach Jüngel: Jesus bringt die Gottesherrschaft als das die Verlorenen einigende Ereignis der Liebe zur Sprache (S. 163). „Dann geht es in seinem Wort (Gleichnis) um das Sein (nicht um den Willen!), um das Sein Gottes als Ereignis der Liebe und um das Neue Sein derer, die die Liebe Gottes gefunden hat." (a.a.O. S. 163) Das besagt für das Verständnis der Gleichnisrede Jesu grundsätzlich: „Die Nähe der Gottesherrschaft ist so nahe, dass sie der Sprachform des Gleichnisses bedarf, um überhaupt so zur Sprache zu kommen, dass der Mensch sich auf sie einzustellen vermag. Dann helfen die Gleichnisse Jesu, die nahe Zukunft der Gottesherrschaft nicht als etwas noch Ausstehendes, sondern als eine in die Gegend eindringende Macht zu verstehen und derselben zu entsprechen. Die nahe Zukunft der Gottesherrschaft ist kein (noch fehlender) Aus-Stand, 18 sondern ein (schon wirksamer) Ein-Stand. Ihm zu entsprechen rufen die Gleichnisse Jesu, in dessen Verhalten die geforderte Entsprechung selber bereits anschaulich geworden ist." (S. 168 f) „Wie uns die ausgelegten Gleichnisse Jesu zeigen, darf die Nähe der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu nicht so verstanden werden, als ob das Prädikat „engiken“ als Akzidenz der Gottesherrschaft zu dieser erst hinzukommt. Wenn Jesus von der Gottesherrschaft redet, redet er von ihr durchweg als von der nahen Gottesherrschaft, so dass die Nähe der Gottesherrschaft als Ausdruck ihres Wesens erscheint. Nähe und Gottesherrschaft sind nicht zwei in einem synthetischen Urteil verbundene Begriffe, sondern beide zusammen machen den theologischen Begriff der Verkündigung Jesu aus.“ (a.a.O. S. 175 ff) Vgl. auch die zusammenfassenden Thesen von Jüngel auf S. 196 f: „Jesus brachte das Wesen der Gottesherrschaft als die Nähe der Gottesherrschaft zur Sprache." (196) Und: „Der Ort der Nähe Gottes ist das Wort. Das Ereignis seiner Nähe ist das Zur-Sprache-Kommen Gottes" (S289). 19 Raum und Gott Es gehört zu den radikalsten Umbrüchen des neuzeitlichen Denkens, dass wir Gott nicht mehr vorstellen können als ein Seiendes in Raum und Zeit. Freilich haben Bibel und Theologie schon immer unterstrichen, dass er selbst – der Schöpfer von Raum und Zeit – nicht an die Grenzen seiner Schöpfung gebunden ist. Und trotzdem war er im Bewusstsein der Glaubenden immer auch mit messbaren Vorstellungen vom Raum verbunden: „Sitzend zur Rechten Gottes“, „der Herrscher des Himmels und der himmlischen Heerscharen“. Erst allmählich beginnen wir, auch emotional Abschied zu nehmen vom dreigestuften Weltbild, nach dem Gott zwar auf dieser Erde erschienen ist, aber doch im Grunde auf sie herabblickt. Es erfordert nun ein doppeltes Umdenken, wenn wir erkennen, dass nicht nur Gott unseren Begriffen von Raum und Zeit entnommen ist, sondern dass diese Begriffe, dass diese Realitäten nicht nur unserer unmittelbaren Erfahrung entzogen sind, sondern bedingt sind durch unsere Konstitution als Dasein in Räumlichkeit. Der erste Schock ging von Kant aus, dahingehend, dass jeder Gegenstand unserer Erfahrung nur erfahrbar wird in Raum und Zeit als Formen unserer (subjektiven) „Anschauung“. Der kantische Raum als Form der Anschauung geht immerhin noch aus von einem Raum „an sich“, von einer Wirklichkeit, die auch ohne unsere Erkenntnis und ohne unseren Erkenntnisvorgang postuliert werden muss. - Mit der Definition des Raumes bzw. besser der Räumlichkeit als Existential wird der Raum ontologisch als zum Sein des erkennenden Daseins gehörig definiert. Der Raum „an sich“, als solcher ist also nicht einmal mehr theoretisch zu postulieren. Kant beschreibt die Relation von Raum und Dasein in ontischen Begriffen, Heidegger in ontologischen, d. h. der Raum wird zur Räumlichkeit des Daseins. Während schon bei Kant gilt, dass der Raum nichts ist, sobald wir die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich zugrunde liegt, annehmen, während er also eine apriorische Anschauungsform darstellt, aber immer noch im Bezug auf eine Größe außerhalb des erkennenden Subjekts, wird der Raum bei Heidegger zu einer Funktion des erkennenden Subjekts selbst. Das Sein des Seienden erschließt sich als „Im-Raum-sein“ des Seienden - als eine Wesensform, nicht nur eine Erkenntnisform des Dasein - aber auch als nichts weiter. Bezogen auf den Raum als Ortsangabe für das Reden von Gott, müsste man auch vom Sein Gottes reden im Rahmen einer solchen existentialen Ontologie. Der Formulierung „Gottes Sein ist im Werden“ würde dann die Erkenntnis hinzugefügt werden: „Gottes Sein ist im Erkanntwerden“ - und das durch sein Wort. Wie aber ist das Verhältnis von Wort und Raum zu denken? 20 Heidegger formuliert in seinem Buch „Unterwegs zur Sprache“ (besonders in: „Aus einem Gespräch von der Sprache“ zwischen einem Japaner und einem Fragenden, in: „Unterwegs zur Sprache“ 12. Auflage 2001; S. 90): „Die Sprache ist das Haus des Seins“. In einem späteren Zusammenhang spricht er vom „Wesensraum“ der Sprache. Sein Gesprächspartner unterstreicht, dass der Begriff „Wesensraum“ korreliert mit der Wendung „Haus des Seins“, die nicht nur ein flüchtiges Bild ist, etwa ein „irgendwo zuvor aufgerichtetes Gehäuse, worin das Sein wie ein transportabler Gegenstand untergebracht ist“ meint. Und Heidegger antwortet: „In jener Wendung meine ich nicht das metaphysisch vorgestellte Sein des Seienden, sondern das Wesen des Seins, genauer der Zwiefalt von Sein und Seiendem, diese Zwiefalt jedoch hinsichtlich ihrer Denkwürdigkeit“. (S. 118) Entsprechend hat sich Gerhard Ebeling geäußert in seiner Auslegung des Vater-Unser, die er mit dem Satz beginnt: „Worte sind wie Herbergen“. Hierher gehört auch Bultmanns klassische Formulierung: Jesus sei ins Kerygma auferstanden. Unsere Überlegungen führen also auf die Frage zurück, wie der Raum sich verhält zum Wort, zur Sprache. Nach Aristoteles sind die Kategorien aus der Struktur des Satzes abzuleiten. Bei Luther ist der weite Raum der Raum des Trostes, und die Unendlichkeit Gottes ist zugleich gegeben in seiner Präsenz in den Sakramenten. Diese Präsenz wird durch das Hinzutreten des Wortes konstituiert, nach dem Satz des Augustin: „accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“. Auch nach Kant können wir vom Raum, vom ausgedehnten Wesen nur aus dem Standpunkt eines Menschen reden (kursiv von mir, Knuth). (Kr V B 42). Die menschliche Subjektivität hat die Eigentümlichkeit, „etwas von ihr Verschiedenes als ein räumliches Dort, als ein ‚Außerhalb‘ ansprechen zu können“ (kursiv von mir, Knuth). (Kaulbach Sp. 90). Auch für Heidegger erschließt sich die Räumlichkeit des Daseins primär im „Modus des In-derWelt-Seins, und zwar als Ansprechen und Besprechen von Welt (Logos)“. „Das existierende Dasein räumt sich immer schon einen Spielraum ein ... Das Dasein entdeckt so etwas wie Gegend“ (Sein und Zeit S. 369). Unmissverständlich wird bei Gadamer der hermeneutische Horizont des Verstehens im Medium der Sprache erschlossen. „Das Dasein der Welt aber ist sprachlich verfasst“ (Wahrheit und Methode S. 419). „Die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen In-der-WeltSeins“ (S. 419). Für Eberhard Jüngel bedarf die Nähe der Gottesherrschaft der Sprachform des Gleichnisses, „um überhaupt so zur Sprache zu kommen, dass der Mensch sich auf sie einzustellen vermag“ (Paulus und Jesus S. 168 f). Und noch zugespitzter: „Der Ort der Nähe Gottes ist das Wort. Das Ereignis seiner Nähe ist das Zur-Sprache-kommen Gottes“ (S. 289). 21 Karl Heinz Mencke fasst seinen Artikel „Raum“ (im LThK³, 1999; Sp. 854ff) wie folgt zusammen: „Was die christliche Tradition ‚Kirche‘ und in der Vollendung ‚Reich Gottes‘ oder ‚Himmel‘ nennt, ist nicht die Beschreibung eines Ortes, sondern die im ‚Dasein für den Anderen‘ glaubend, hoffend und liebend realisierte Annahme des in Christus gewährten Raumes und der durch ihn geschenkten Zukunft. Entsprechend kann ‚die Hölle‘ als Raum- und Zeitlosigkeit beschrieben werden. Auch sie ist kein Ort, sondern der Zustand derer, die dem anderen weder Raum noch Zeit schenken. Erst wenn der Leib Christi zu dem Raum geworden ist, in dem jedes Glied jedem anderen Raum gewährt (wenn Christus alles in allem und in allen ist), ist die ‚wirbestimmte Räumlichkeit‘ vollendet.“ (854 f) Schluss: Die eingangs gestellte Frage, ob die Einsicht in die Räumlichkeit des Daseins seine Zeitlichkeit aufhebt, lässt sich eindeutig verneinen. Mag es zuweilen so scheinen, als ob die Räume, in denen wir existieren, entscheiden über unsere Existenz, so ist es doch vielmehr umgekehrt, dass sich die Räume, der Raum schlechthin erschließt von der Existenz her. Das Medium dieser Erschließung ist das Wort. So wie das Wort die Zeit ansagt, spricht es den Raum an, holt ihn ein, lässt ihn anwesend sein. Himmel und Hölle, ja oben und unten, unendlich und winzig, breit und lang, hoch und tief, das alles sind Interpretationsmuster, in denen sich die Räumlichkeit des Menschen ausspricht. Die Sprachspiele der Physik, der Philosophie und der Theologie sind hoch differenziert und doch sind sie darin vergleichbar, dass es Sprachspiele sind. Sprachspiele allerdings mit fundamentalen Folgen. Indem die Theologie dem Menschen seinen Ort zuweist in Zeit und Raum, orientiert sie ihn nicht nur in seinem Handeln, sondern in seinem Sein. Indem sie das Sein Gottes mit dem Sein des Menschen in Beziehung setzt, lässt sie den Menschen Anteil haben am Sein Gottes, eröffnet sie ihm das Sein im Raume Gottes. Dieses Versetztwerden in einen Raum außerhalb seiner selbst, diese Existenz extra se, dieses „me esse extra me“, was fundamental zu unterscheiden ist vom „extra me“, ist der Ortswechsel vom Sein zum Tode zum Sein zum Leben. Die Mächte des Todes und die Mächte des Lebens sind auch Räume des Todes und Räume des Lebens. „Denn“, sagt Luther, „wo anders hin gelangt der Mensch, der auf Gott hofft, als in sein Nichts? Wohin aber sollte einer, der in sein Nichts geht, anders hingehen als dahin, woher er kam? Er kam aber von Gott und seinem Nichts, darum kehrt der zu Gott zurück, der in sein Nichts zurückkehrt.“ (Operationes in psalmos zu Psalm 5,12; WA 5, S. 168; Zeile 1 – 4) 22 Bischof Dr. Knuth: Schlusswort zum Thema auf der Veranstaltung in Hamburg Die Leitfrage meiner Erörterungen aber ist nicht mehr nur die Frage nach dem Zugewinn durch ein neues Bewusstsein vom Raum, sondern die viel brisantere Frage, ob die Entdeckung des Raumes grundsätzlich die Theologie des Wortes und damit auch die Kirche des Wortes in Frage stellt. Ist der Raum die Botschaft oder verschafft sich die Botschaft ihren Raum? Ein kleines Fazit: Es gehört für mich zu den schockierendsten Erfahrungen, als ich nach der Lektüre von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ erkennen musste, dass Raum und Zeit keine objektiven Größen sind, sondern Bedingungen meiner Erfahrung, „Formen der Anschauung“, wie Kant sagt. Der Raum ist die Perspektive des erkennenden Subjekts. Diese Perspektive ist geschichtlichem Wandel unterworfen. Umso entscheidender ist die Frage, wodurch unsere Raumerfahrung konstituiert wird. Was lässt mich Raum als solchen oder solchen erfahren? Die Antwort, darin ist man sich in der Postmoderne einig, lautet: Der Raum ist sprachlich verfasst. „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ (Heidegger) Unendlichkeit, Allgegenwart, ja, auch Ewigkeit sind sprachliche Interpretamente unserer Erfahrung. Umso lebenswichtiger ist die Frage, welche Sprache unsere Erfahrung leitet. Um auf den Anfang zurück zu kommen: Kirchen und Kirchengebäude sind Raumperspektiven, denen ein bestimmtes Gottes- und Menschenbild vorausgeht. Das lässt sich etwa im Vergleich einer mittelalterlichen Kathedrale mit einer reformierten Predigerkirche sehr klar belegen. Aber auch die weniger auffälligen Differenzen, etwa im Nachkriegskirchbau in Hamburg, lassen immer noch genaue Spuren bestimmter theologischer Schulen und Lehrdifferenzen deutlich werden. Der etwas abstrakte Weg durch einige der Stationen der Philosophie- und Theologiegeschichte zeigt jedenfalls eines ganz klar: Geistig und materiell leben wir immer in so oder so gestalteten Räumen und je nach dem, in welchen Räumen wir leben, entscheidet sich unser Leben (frei nach Elias Zenetti).