Raum und Gott

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Dr. Hans Christian Knuth
Raum und Gott
Aktuelle Erfahrungen mit dem Thema „Räume“ in der kirchlichen Praxis Anknüpfungspunkte und Herausforderungen für die theologische Reflexion
Es gibt eine Vielzahl von Anlässen in der Praxis kirchlichen Lebens, über das Thema „Raum“ in
grundsätzlicher Weise nachzudenken1. Es sind Erfahrungen mit konkreten Problemen
einerseits und mit neu entdeckten Möglichkeiten des Umgangs mit kirchlichen Räumen
andererseits, die ein vertieftes theologisches und anthropologisches Interesse am Raum und an
den Räumen hervorgerufen haben. Einige dieser Anknüpfungspunkte für meine Überlegungen
in den folgenden Kapiteln möchte ich hier zunächst beschreiben.
a)
Es scheint mir bemerkenswert und eine der vielen kleineren Ironien der Geschichte, dass das
Thema „Raum“ in dem Moment einen immer größeren Raum im theologisch interessierten
Nachdenken einnimmt, da die konkreten kirchlichen Räume nicht nur metaphorisch im Sinne
der kirchlich verantworteten Gestaltungsräume im gesellschaftlichen Leben, sondern auch
dinglich im Sinne von Gebäuden, Kirchräumen und Gemeindehäusern in ihrer Existenz
gefährdet sind, jedenfalls real weniger und kleiner werden. Eine neue Wahrnehmung und
Wertschätzung der Bedeutung des Raumes, ja des „Schatzes“, den wir insbesondere mit
unseren alten Kirchen besitzen, setzt ein in dem Moment, da wir erste schmerzliche Verluste
erleben – und uns fragen, warum es so weh tut, Kirchen entwidmen und umnutzen,
verschenken, vermieten, verkaufen oder abreißen zu müssen2.
Jede vollzogene oder drohende Umwidmung oder Abgabe einer Kirche ist ein hoch
symbolträchtiges Ereignis und ein Politikum allerersten Ranges für die Menschen im Dorf, im
Stadtteil – und macht uns bewusst, dass das Dasein einer Kirche ein hochsymbolisches Datum
ist und von weitreichender (symbol-)politischer Relevanz für das Leben in der ländlichen
Region, im städtischen Raum. Kirchen strukturieren die historisch gewordenen ländlichen oder
städtischen Lebensräume. Kirchen erinnern an die Pfade und Verhältnisse „unter dem Pflaster“
Anstöße in der letzten Zeit: Nordelbische Stimmen, Themaheft „Kirchen abreißen“, 3/2004, und „Gärten und
Gebäude“, 10/2204; zeitzeichen, Themaheft „Heilige Räume, profane Räume“, 11/2004; chrismon 1/2005, S. 30ff.:
„Spielraum Kirche – füllen Sie eine Kirche, die kaum genutzt wird, mit Ihren Träumen und Ideen!“
1
2
der aktuellst realisierten Bebauungspläne und Verkehrsführungskonzepte. Als Markierungen in
der Topografie des städtischen Raumes haben sie orientierende und identitätsstiftende
Bedeutung wenn nicht für das reflektierende Bewusstsein, so doch für das faktisch vollzogene
(gelebte) Raum- und Atmosphäre-Erleben im Alltag der Menschen – sie fühlen sich dort zu
Hause, wo sie „die Kirche im Dorf“ wissen, und sie konstituieren u.a. auch mit Hilfe „ihrer“
Kirche das jeweilige eigene „Dorf“, in dem sie in der Großstadt leben3.
Früher haben die Menschen das natürlich sehr genau gewusst: jeder Kirchenbau war eine
raumpolitisch-strategische Entscheidung. Die alten Heiligtümer werden überbaut und
überboten, der Sakralbau begründet die Zentralität der menschlichen Siedlungen, das
Gegenüber von Bischofsdom und Bürgerkirche drückt eine Spannung aus und einen
Epochenwandel, die Tochtergründungen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Vororten und
Neubausiedlungen sind ein Zeichen „wir gehen mit euch“. An den Küsten dienten die
Kirchtürme als Seezeichen, und in den Dörfern und Kleinstädten auf dem flachen Land
strukturieren die Kirchbauten bis heute die Wahrnehmung der Landschaft.
b)
Beeindruckend ist die Entdeckung des Kirchraums als des „anderen“ Raums gegenüber den
Räumen der alltäglichen Erfahrung und Nutzung, die als Wohnräume, Arbeitsräume,
Verkaufsräume, Trainingsräume, Ausstellungsräume usw. ihrer jeweiligen Zweckrationalität
unterworfen sind. Der „andere Raum“ wird bewusst aufgesucht und erlebt als ein bergender
Raum für eine Zeit des Rückzugs aus den Alltagsgeschäften4. Von der besonderen Atmosphäre
wird eine katalysatorische, heilende Funktion in Bezug auf die Ordnung des Seelenlebens
erwartet. Das Eintreten und Eintauchen in die Aura dieser (äußeren) Räume öffnet auch
Zugänge zu verschlossenen, verborgenen inneren Räumen, bringt Seelenräume zur Entfaltung
in Meditation und Schweigen, Einkehr und Gebet.
Die Sinnlichkeit und Beredsamkeit der kirchlichen Innenräume ist der Ausgangspunkt der
schnell expandierenden Kirchenpädagogik. Ihre Literatur ist schon unübersehbar5. Im Sinne
eines neuen „Sehet und schmecket“ hat sich eine reichhaltige Didaktik und Methodik entwickelt,
die dazu hilft, den Raum zu entdecken: den Raum in seinen vielfältigen Zeichen zu lesen, seine
Vgl. Nordelbische Stimmen, 3/2004, S. 7ff.: „Der Grass-Schock“, und S. 21ff.: „Haftpunkte menschlicher
Sehnsucht“; F. Steffensky, Die Dialektik von Form und Geist. Zur Theologie des protestantischen Kirchenbaus, in:
Räume riskieren, hg. Von Kirche in der Stadt , Bd. 11, Hamburg-Schenefeld 2003.
3
Vgl. F. Scherz, Stadtkulturen und kirchliche Raumstruktur, in: Pastoraltheologie 12/2004, S. 468ff., bes. 475, 480.
4
Vgl. z. B. die Kampagne des Gemeindedienstes der Nordelbischen Kirche „Tritt ein – die Tür steht offen“. Mit
dem ADAC zusammen wurde ein spezieller Atlas für autofahrende und radfahrende Touristen erarbeitet, in dem alle
„offenen“ Kirchen im Land eingetragen sind.
5
Allein unter „www.amazon.de“ finden sich 5 neue lehrbuchartige Werke zum Stichwort „Kirchenpädagogik“ und
6 neue (kirchenpädagogische) Werke zum Stichwort „Kirchenräume“.
2
3
Gestimmtheiten und Schwingungen zu erleben, seine Klänge und Resonanzen zu hören, seine
Anmutung wahrzunehmen und seine Botschaft zu innervieren. Es ist dies ein
religionspädagogisches Experimentierfeld mit offenen Übergängen zur Seelsorge, zur Liturgie
und zu einer Frömmigkeitspraxis, die die „Ästhetik“ des Raumes einbezieht in die Pflege der
liturgischen Gemeinschaft und der Innerlichkeit des Gebets6.
c)
Zurzeit erleben wir die Renaissance der politischen Bedeutung des kirchlichen Raumes als
öffentlichen, überparteilichen, vertrauensbildenden und kommunikationsermöglichenden
Raumes, unter dessen „Dach“ sich alle versammeln und vergemeinschaften können. – Große
Unglücke finden ihre seelische Bearbeitung in öffentlichen Ritualen. Die gottesdienstliche
Liturgie am Symbolort Kirche bringt in der Zeit der Not die staatserhaltende und
sozialhygienische, gemeinschaftsstiftende Funktion der Volkskirche neu zur Geltung. –
Staatstragende Kundgebungen7 finden mit prominenten weltlichen und kirchlichen Rednern in
der „Offenen Kirche“ statt. Der Tag der deutschen Einheit, die Europa-Woche, die
Millenniumsfeierlichkeiten und die Gedenktage zu Holocaust oder Kriegsende sind allesamt
Anlässe, an denen sich das gesellschaftliche Establishment, die politische Elite zum
Gottesdienst in den Kirchraum begibt, in dem gewissermaßen die Gründungssituation des
Mensch-Sein- und Zusammen-Leben-Könnens wiederholt und begangen (und gegebenenfalls
auch theologisch reflektiert) wird.
Das sog. Kirchenasyl, das uns gelegentlich Probleme mit dem Innenministerium beschert,
basiert auf der Idee eines rechtsfreien Raumes, in den die weltliche Jurisdiktion nicht hinein
reicht. Zur kasuellen Respektierung des Kirchenasyls genügt es nicht, dass etwa eine
Flüchtlingsfamilie in einer gemeindeeigenen Wohnung untergebracht und betreut wird, sondern
sie muss beherbergt werden im sakralen Bezirk: in einer Kirche oder in unmittelbar baulich mit
ihr zusammen hängenden gemeindlichen Funktionsräumen. – Dieses rechtshistorische Relikt
offenbart die potentiell obrigkeitskritische (mit der Gründungssituation, s.o., gegebene)
Bedeutung des Kirchenraumes.
Die Friedens- und Montagsgebete und -demonstrationen nahmen ihren Ausgang im liturgisch
genutzten Raum, der jeweiligen städtischen Hauptkirche. Die Symbolkraft der Inszenierung im
alten Kirch-Raum wurde weltanschauungsübergreifend politisch genutzt, sie gewährte Schutz
und verlieh der staatszersetzenden Bewegung zusätzliche Schubkraft.
6
Das Pädagogisch-theologische Institut in Nordelbien unterhält eine Stelle für Kirchenpädagogik. In der
Vikariatsausbildung ist ein kirchenpädagogischer Studientag seit Jahren ein Bestandteil des Curriculums.
7
Z. B. „Wider den Faschismus – gegen Gewalt“ am 29. 1. 05 in Kiel.
4
In Situationen der Christenverfolgung gehört die Verweigerung von Räumen (der Versammlung,
des Gebets, des Studiums usw.), z.B. in der Türkei, oder die Zerstörung der Kirchen, wie z. B.
in Indonesien, zur Strategie der symbolischen und physischen Ausgrenzung und Vernichtung
des religiösen Feindes.
Dem sakralen Raum wohnt also sowohl eine die Lebensordnungen erhaltende, als auch eine
sie kritisierende Macht inne; seine Zerstörung kann bis auf den heutigen Tag den Tod der Seele
der Gemeinschaft bedeuten.
d)
Das Denken in Kategorien des Raumes gewinnt allgemein in den theologischen Disziplinen an
Boden – wie zuvor schon in der Philosophie (P. Sloterdijk), der Soziologie (M. Löw), der
Psychologie (D. Winnicott), der Semiotik, in der Literatur- und in anderen
Geisteswissenschaften.
Der biblische Text wird als Spielraum entdeckt (G. M. Martin), die Liturgie als Raum der
Inszenierung geistlicher Präsenz reflektiert (M. Meyer-Blanck). Die kirchliche Praxis wird vom
Bestattungsritual bis zum Konfirmandenunterricht als Segensraum beschrieben, dessen
Potentiale neu wahrgenommen und gestaltet werden können (U. Wagner-Rau). Statt TrauerPhasen in quasi-gesetzlicher Abfolge zu durchleben, begibt sich die Seele vielmehr je und je in
die verschiedenartigen Trauer-Räume, in denen sie ihre Verletzungen ausheilen kann (W.
Teichert).
Die hier entwickelten humanwissenschaftlich-theologischen Kategorien arbeiten mit der RaumMetaphorik. Umgekehrt kann man auch sehen, dass sich von ihnen her erst die ästhetische und
religiöse Wirkmächtigkeit von Räumen neu entschlüsseln lässt. Der Kirchraum erschließt sich
als „intermediärer Raum“ (U. Wagner-Rau8), in dem der Mensch als geliebtes Gotteskind und
als sündiger Gottesfeind „gehalten“ ist. Die theologische Begrifflichkeit des Raumes und der
Räumlichkeit ist nicht allein metaphorisches Reden – der Kirchraum selbst ist Architektur
gewordenes Symbol des „Beziehungsraumes“ zwischen Gott und Mensch und seiner
soteriologischen Qualitäten (F. Steffensky9).
e)
Darum ist in kirchlichen Räumen nicht alles möglich. Wenn der Raum als der Raum, der er ist,
sich konstituiert einerseits durch sein ideelles, architektonisches Konzept, in das je und je eine
Vgl. „... viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod“. Praktisch-theologische Reflexionen über Trost und Trösten,
Pastoraltheologie 1/2004, s. 2ff., bes. S. 6 – 9 („Trost und Raum“)
9
Vgl. Die Dialektik von Form und Geist, a.a.O.
8
5
epochale Theologie investiert ist (H. C. Knuth10) – und andererseits durch seinen Gebrauch:
d.h. durch seine Ausstattung mit Geschichten und Symbolen, durch die Rituale, die in ihm
begangen, die Gebete, die in ihm gesprochen, die Beziehungen, die in ihm gelebt werden –
dann kann jeder Umbau und jede andere Nutzung des Raumes entweder stimmig sein oder ihn
zerstören. Manche Dinge sind instinktiv tabu, unpassend, peinlich, kontraproduktiv; manche
Dinge gewinnen im Kirchraum auch neue Dimensionen oder erst ihre eigentliche Tiefe.
Manchmal kommt es zu aufschlussreichen Spannungen und Friktionen, die geistlich produktiv
sind und Entwicklungen anstoßen.
f)
In der Diskussion über Umnutzung, Verkauf oder Abriss von Kirchen oder Gemeindezentren ist
gegen das schnelle Urteil, „um die Bauten aus den 60er und 70er Jahren ist es auch nicht
schade“, ein neues Hinsehen auf die sakrale Qualität der diskriminierten Architektur in Glas und
Beton entstanden.11 Damit entsteht ein neues Empfinden und Urteilen, was Räume uns wert
sind. Es schärft die Wahrnehmung auch der politischen Bedeutung der alten wie der neuen
Kirchen- und Gemeinde-Bauten im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung und des
gegenwärtigen „großkirchlichen“ Niedergangs.
Und es wirft die Frage auf: wer besetzt den Raum, der kirchlicherseits (gegebenenfalls)
aufgegeben wird? Es ist nicht nur die Frage, welche religiöse oder weltliche Konkurrenz die
Gebäude neu besetzt und mit ihrem Geist oder Ungeist bewohnt. Es geht auch um die Frage,
wer das Vakuum im topographischen wie im ideographischen, gesellschaftlichen Raum füllt,
wenn die volkskirchliche Religiosität sich aus der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit hier und da
zurückzieht.
Zusammengefasst:
Die Mentalität und Philosophie der Postmoderne hat es auch mit sich gebracht, dass wir nicht
mehr primär die „Zeitlichkeit“ des Menschen und die großen konsistenten universalen
Erzählungen seiner Geschichte erleben und reflektieren. An die Stelle des Denkens in
Entwicklungsphasen, Stadien und Epochen ist generell das Denken in Räumen und
Dimensionen, Atmosphären und koexistenten Welten getreten.12 In diesen globalen
Paradigmenwechsel ist die kirchliche (Wieder-)Entdeckung der heiligen Räume, der
10
Vgl. Kirche und Kirchenbau seit 1945 in Hamburg, in: Dächer der Hoffnung, hg. Von H.-G. Soeffner, H. C.
Knuth, C. Nissle, Hamburg 1995, S. 27 - 39
11
Vgl. M. Ludwig, Kirche – offen für die Zukunft? Gedanken zur Nutzung und Erhaltung der Kirchenbauten des 20.
Jahrhunderts, in: Räume riskieren, a.a.O., S. 87ff., bes. S. 104 - 106
12
Vgl. „Eine Reise um die Welt in 80 Tagen“ (Jules Verne, 1873 ) mit „Eine Reise um den Tag in 80 Welten“ (Julio
Cortázar, 1979).
6
Räumlichkeit des menschlichen Daseins als „Wohnen“, der christlichen Gemeinde als
Segensraum und Spielraum einbezogen.
Das wandernde Gottesvolk, das in Zelten unterwegs ist, entdeckt im Zeitalter der globalen
Mobilität, dass es auf Reisen ist, von Ort zu Ort – nur um zu suchen nach Räumen, in denen es
Ruhe findet und stille sein kann zu seinem Gott. Religiöse Gemeinschaften brauchen
offensichtlich besondere Räume, in und an denen sie sich „verorten“ können, von denen her
und auf die hin ihre Seele, wandernd, leben kann.
Um den Zugewinn zu ermessen, der mit der praktischen Wiederaneignung der Dimension des
Raumes gegeben ist, gilt es, die Geschichte des Raumes in Theologie und Philosophie neu zu
studieren. Dem dienen die folgenden Kapitel.
7
Raum als Existenzial
Martin Heidegger
Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit" zunächst die Interpretation des Daseins auf die
Zeitlichkeit bezogen, um im zweiten Teil die Geschichte der Ontologie am Leitfaden der
Problematik der Temporalität zu reflektieren. Interessanterweise beginnt aber der erste Teil mit
einer Analyse des „In-der-Welt-Seins überhaupt als Grundverfassung des Daseins" (§ 12 ff.)
„Sein in" ist die Seinsart eines Seienden, das ein Vorhandensein in einem anderen
Vorhandenen ist, wie das Wasser in einem Glase. Dieses Vorhandensein „in" einem anderen ist
ein ontologischer Charakter, den Heidegger „kategorial“ nennt und der zu Seiendem von nichtdaseinsmäßiger Seinsart gehört.
„In-Sein" dagegen meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein „Existenzial“. „In-Sein ist
demnach der formale existentiale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte
Verfassung des In-der-Welt-Seins hat."(S. 54)
Nochmals wird betont der ontologische Unterschied zwischen dem In-Sein als „Existenzial“ und
der Inwendigkeit (dem „Sein-in“) von Vorhandenem als „Kategorie“. Das Dasein hat zwar auch
ein eigenes „Im Raum sein", aber nur auf dem Grunde des In-der-Welt-Seins überhaupt. (S. 56)
„Das Verständnis des In-der-Welt-Seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die
Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins." (S. 56)
Diese existenziale Räumlichkeit ist keine Eigenschaft des Daseins, ohne die es sein könnte
oder auch nicht. Dasein ist nie ohne In-Sein. Beziehung zur Welt kann das Dasein nur
aufnehmen, weil es "In-der-Welt-Sein" ist. In-der-Welt-Sein ist eine Grundverfassung des
Daseins.
Nun ist im Dasein selbst und für es diese Seinsverfassung immer schon irgendwie bekannt. Sie
soll aber auch erkannt werden. Das in dieser Aufgabe ausdrückliche Erkennen nimmt sich
selbst als Welterkennen zur exemplarischen Beziehung der Seele zur Welt. Und nun ist ganz
entscheidend, dass als der primäre Modus des In-der-Welt-Seins das Erkennen von Welt bzw.
das Ansprechen und Besprechen von Welt (Logos) fungiert.
Das Ansprechen und Besprechen von Welt ist der primäre Modus des In-der-Welt-Seins. Diese
ontologische Prämisse muss immer irgendwie ontisch vorgegeben sein.
8
Bei der Entfaltung der Weltlichkeit der Welt kommt Heidegger noch einmal auf die Räumlichkeit
des Daseins zu sprechen. In welchem Sinne ist der Raum ein Konstituens der Welt, die
ihrerseits als Strukturmoment des In-der-Welt-Seins charakterisiert wurde? Mit dem In-der-WeltSein des Daseins ist der Raum zunächst als Räumlichkeit entdeckt. (S. 111) Der Raum wird für
das Erkennen auf dem Boden der Räumlichkeit zugänglich. Der Raum ist weder im Subjekt
noch ist die Welt im Raum. "Der Raum befindet sich nicht im Subjekt noch betrachtet dieses die
Welt, 'als ob' sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene 'Subjekt', das
Dasein, ist räumlich." (S. 111) Der Raum zeigt sich als Apriori.
Während Heidegger nach diesen Vorüberlegungen zur Räumlichkeit des Daseins übergeht in
eine fundamentalontologische Analyse der Zeitlichkeit des Daseins, kommt er später noch
einmal auf das Verhältnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu sprechen.
Müssen Zeitlichkeit und Räumlichkeit nebengeordnet werden? Oder ist "der existenzialzeitlichen Analyse des Daseins Halt geboten durch das Phänomen, das wir als daseinsmäßige
Räumlichkeit kennenlernten und als zum In-der-Welt-Sein gehörig aufzeigten?" (S. 367) Die
Räumlichkeit des Daseins gründet aber in der Zeitlichkeit, sie wird im Sinne der existenzialen
Fundierung von der Zeitlichkeit 'umgriffen'. So muss nun nach den zeitlichen Bedingungen der
Möglichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit gefragt werden, die ihrerseits das Entdecken des
innerweltlichen Raumes fundiert.
Es gilt zunächst, wie oben entwickelt, dass das Dasein nie bloß im Raum „vorhanden“ ist. (S.
368) Es füllt nicht wie ein reales Ding ein Raumstück aus. Vielmehr nimmt das Dasein Raum
ein. Es ist nie nur in dem Raumstück vorhanden, den der Leibkörper ausfüllt. Das Dasein ist
geistig - und kann deshalb in einer Weise „räumlich“ sein, die einem ausgedehnten Körperding
wesenhaft unmöglich bleibt.
Das existierende Dasein räumt sich immer schon einen Spielraum ein. Dieses Sicheinräumen
wird konstituiert durch Ausrichtung und Entfernung, wobei Ent-fernung meint, die Aufhebung
der Ferne, also eher die Annäherung. Das Dasein entdeckt so etwas wie Gegend. Wohin
gehören die Gegenstände (das Zeug)? Diese Besorgnis (wohin gehören die Gegenstände?) hat
Bezug zur Bewandtnis. Bewandtnis ist nur möglich im Horizont einer erschlossenen Welt. Die
Welt aber ist nicht im Raum vorhanden, dieser lässt sich vielmehr nur innerhalb von Welt
entdecken. „Auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des
Dasein in den Raum möglich." (S. 369)
9
Peter Sloterdijk
In einem Exkurs zu Heideggers Lehre vom existenzialen Ort hat Peter Sloterdijk im ersten Band
seines großen philosophischen Werkes über die „Sphären“ diese von Heidegger
herausgearbeiteten existenzialen Strukturen des Daseins in den Zusammenhang seiner
Philosophie gestellt. Er unterstreicht, dass nur wenigen Heidegger-Interpreten klargeworden zu
sein scheint, dass sich unter dem sensationellen Programmtitel "Sein und Zeit" auch eine
keimhaft revolutionäre Abhandlung über Sein und Raum verbirgt. Nicht als Einziger, aber
vehement weist Sloterdijk darauf hin, dass, wie er sagt, die existenziale Analytik der Zeit in
einer entsprechenden Analytik des Raumes verankert sei und dass beide wiederum in einer
Existenzial-Analytik der Bewegung gründen. Man könne zwar eine ganze Bibliothek über
Heideggers Lehre von Zeit und Geschichte lesen, einige Abhandlungen auch über seine Lehre
von der Bewegung; allerdings über seine Ansätze zu einer Theorie der ursprünglichen
Einräumung des Raumes oder „Ontotopologie“ könne man nichts lesen. Sloterdijk unterstreicht
mit einem Zitat aus "Sein und Zeit" (S. 105): „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf
Nähe", dass Daseinsräumlichkeit als Näherung und Orientierung nur durch Destruktion der
Raumkonzepte der vulgären Physik und der („klassischen“) Metaphysik zum Zuge kommen
kann. Dasein sei eine immer schon vollzogene "Wohntat", Ergebnis eines Ur-sprungs ins
Einwohnen (Sloterdijk S. 337) - und so gehöre Räumlichkeit der Existenz wesenhaft zu. Man
müsse die sogenannte "Behälterphysik" überwinden. Das Haus des Seins sei kein Gehäuse, in
dem die Existierenden ein- und ausgingen. Heideggers radikale phänomenologische
Aufmerksamkeit entziehe den vieltausendjährigen Reichen der Behälterphysik und -Metaphysik
den Boden. Der Mensch sei weder ein Lebewesen in seiner Umwelt, noch ein Vernunftwesen
im Gewölbe des Himmels, noch ein vernehmendes Wesen im Inneren Gottes. Folgerichtig fällt
auch das Reden von der „Umwelt“, das seit den Zwanziger Jahren im Aufkommen ist, unter die
phänomenologische Kritik. Das herkömmliche Denken manifestiere sich als existenziale
Raumblindheit in den alten Weltbildern, weil es den Menschen mehr oder weniger umstandslos
einer umschließenden Natur als Kosmos integriere. Sloterdijk versteht sein Gesamtwerk
"Sphären" als Versuch, das in Heideggers Frühwerk eingeklemmte Projekt "Sein und Raum"
aus seiner Verschüttung zu bergen. (S. 345)
In einem späteren Kapitel, das als „theologische Vorschule zur Theorie des gemeinsamen
Innen" bezeichnet wird, kommt Sloterdijk noch einmal auf den frühen Heidegger zu sprechen
und bezeichnet die klassische Theologie als erste analysis situs, „denn alle Orte im Seienden
stellen Situationen im Verhältnis zur absoluten Mitte dar. Radikale Ontologie ist darum nur als
„Situologie“ möglich - ein Sachverhalt, der nirgendwo deutlicher als in Heideggers frühem
10
Denken zum Vorschein kommt." Mit diesem Hinweis auf die Situation kommen wir
möglicherweise einen Schritt weiter im Verhältnis der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Daseins.
Luthers Verständnis vom Raum:
Zunächst lässt sich feststellen, dass Luther besonders durch den biblischen alttestamentlichen
Doppelsinn des Raumes geleitet wird, wenn er etwa in der Auslegung von Psalm 4 in den
operationes in psalmos (WA 5, S. 101 ff.) darauf hinweist, dass „gehört werden“ und „weiten
Raum bekommen“ eine Tautologie ist - so ähnlich wie „trösten“ und „weiten Raum verschaffen“
(WA 5, S. 101, Zeile 10 ff.): „Est autem 'dilatasti mihi' seu 'latitudo' ista hebraismus et
metaphora vel metonymia propria scipturae, quam nos sine figura consolationem dicimus, sicut
contra angustiam tristitiam et afflictionem dicimus." Luther schildert die hebräische Redeweise
als metaphorisch oder als Vertauschung (Metonymie), wenn „Enge“: „Angst“ heißt und „weiter
Raum“: „Trost“. Und durch Enge und Weite werden die Natur der Traurigkeit und der Freude
ausgedrückt, denn das ganze Gesicht wird zusammengezogen oder auch erweitert, je
nachdem, wie es sich befindet.
Ungleich systematischer und ontologisch reflektierter redet er allerdings in seiner Streitschrift
gegen die Schweizer Kontrahenten im Abendmahl, wenn es darum geht, das Sitzen Christi zur
Rechten Gottes protologisch zu verstehen. Luther gibt sich an dieser Stelle enorme Mühe, um
das, was er als schriftgemäß vorgegeben sieht, dass nämlich das Sakrament den Leib Christi
nicht nur repräsentiert, sondern dass es der Leib Christi ist, auch denkerisch zu erfassen, vor
allem im Hinblick auf die Unendlichkeit der göttlichen Natur des im Abendmahl präsenten
Gottmenschen Christus.
Natürlich geht es nach Luther nicht darum, mit den Augen nach oben zu sehen, wenn man vom
Himmel spricht, und demgemäß das Abendmahl hier auf Erden einzusetzen. Gottes Wort und
Werke gehen nämlich nicht nach unserer Augen Gesicht. Auch Luther unterscheidet zwischen
dem Ort und einem in dem Ort befindlichen Körper, so wie sich der Wein im Fass oder das
Wasser im Fass treffen und der Wein nicht mehr Raum einnimmt noch das Fass mehr Raum
gibt als soviel, wie Wein da ist. Oder ein Holz oder Baum im Wasser nicht mehr Raum einnimmt
noch das Wasser mehr Raum gibt als soviel, wie Baum im Wasser ist. So ist auch ein Mensch,
der in der Luft wandelt, einer, der nicht mehr Raum von der Luft um sich her nimmt, noch gibt
die Luft mehr als wie groß der Mensch ist. Auf diese Weise gehören Körper und Raum
zusammen. Und sie geben sich gegenseitig Stück um Stück ab - wie ein Kannengießer die
Kannen in seiner Form abmisst, gießt und fasst.
Aber dieses Verständnis vom Sein eines Dinges im Raum ist für das Abendmahl nicht relevant,
denn hier geht es um das unbegreifliche Sein eines Dinges an einem Ort, wenn dieser Körper
nicht konkret an einem Ort ist und sich nicht nach dem Raum des Ortes abmisst, sondern viel
oder wenig Raum einnimmt - so wie die Engel und die Geister an Stätten oder Orten sein
11
können. Denn ein Engel oder Teufel kann in einem ganzen Haus oder in einer Stadt sein, er
kann aber auch in einer Kammer oder in einer Büchse, ja sogar in einer Nussschale sein. Der
Ort sei wohl leiblich und begrenzt und habe seine Maße nach der Länge, Breite und Dicke; aber
das, was darin ist, habe nicht die gleiche Länge, Breite und Dicke. So wie der Teufel in die
Menschen fährt und schließlich auch in die Säue, so dass eine ganze Legion von Teufeln in
einem Menschen sein kann, etwa 6000 Teufel, so ist das eine andere Art von Sein an einem
Ort.
Auf solche Weise war auch der Leichnam Christi nicht zu messen oder zu begreifen, als er
auferstand. Er nahm sich keinen Raum und der Stein blieb aus Stein und gab ihm keinen
Raum. Ebenso kann Christus auch im Brot sein, obwohl er sich auch daneben zeigen kann, wie
er will. Denn wie der versiegelnde Stein und die verschlossene Tür unverändert und
unverwandelt bleiben und doch sein Leib zugleich an dem Ort ist, so ist er auch im Sakrament
zugleich dort, wo Brot und Wein ist - und doch bleiben Brot und Wein für sich selbst
unverwandelt und unverändert.
Gott selbst allerdings ist zugleich ganz und gar an allen Orten und füllt alle Orte und wird doch
von keinem Ort abgemessen und begriffen nach dem Raum.
Luther unterscheidet also auch, wie ein Ding im Raume ist. Ganz ähnlich wie Heidegger geht er
aus von dem Konstituiertsein des Raumes, dadurch dass wir ihn erfassen: "Sieh unsere
leiblichen Augen und Gesichter an. Wenn wir die Augen auftun, so ist unser Gesicht in einem
Augenblick über fünf oder sechs Meilen Weges und zugleich an allen Orten, die in solchen
sechs Meilen sind gegenwärtig, und ist doch nur ein Gesicht, ein Auge. Kann das ein leibliches
Gesicht tun? Meinst du nicht, dass Gottes Gewalt könne auch eine Weise finden, dass auch
alle Kreatur also gegen Christus Leib sei gegenwärtig und durchläuftig?"
Christologisch geurteilt kann es nicht einen Raum geben, in dem Gott Mensch ist, und einen
anderen, in dem er Gott ist. Denn dann würden Raum und Ort die zwei Naturen voneinander
sondern und Personen zertrennen und es wäre nicht Christus: „Nein, Geselle, wo du mir Gott
hinsetzest, da musst du mir die Menschheit mit hinsetzen. Sie lassen sich nicht sondern und
voneinander trennen. Es ist eine Person worden und scheidet die Menschheit nicht so von sich
wie Meister Hand seinen Rock auszeut und von sich legt, wenn er schlafen geht.“ Es geht eben
darum, dass Gott auf unbegreifliche geistliche Weise anwesend ist, da er keinen Raum nimmt
noch gibt, sondern durch alle Kreatur fährt, wo er will, wie mein Gesicht, um ein großes
Gleichnis zu geben, so sagt Luther, durch Luft, Licht oder Wasser fährt und ist und nicht Raum
nimmt noch gibt, wie ein Klang oder Ton durch Luft und Wasser oder Brett oder Wand fährt und
ist und auch nicht Raum nimmt noch gibt. Genauso wie Licht und Hitze durch Luft, Wasser,
Glas, Kristall und dergleichen fährt und ist und auch nicht Raum gibt noch nimmt. Und
dergleichen viel mehr. Oder wie eine Stimme eines Predigers an einem Ort ist, nämlich in
seinem Munde, und dann vier-, fünf- oder zehntausend Ohren in einem Augenblick diese
12
Stimme hören, die doch keine andere ist als die in dem Munde des Predigers und zugleich in
allen Ohren des Volkes.
Luther amüsiert sich über die konkrete Vorstellung, die er Tölpelgedanken nennt, als sei Gott
„ein großes weites Wesen, das die Welt füllt und durchausragt gleichsam als wenn ein
Strohsack voll Stroh steckte und oben und unten dennoch ausragte eben nach der ersten
leiblichen begreiflichen Weise. Da würde freilich Christus Leib ein lauter Gedicht und Gespenst
sein, als ein großer Strohsack, da Gott mit Himmel und Erden innen wäre. Das hieße aber grob
genug von Gott reden und gedacht.“ So redet Luther nicht, sondern sagt, dass Gott nicht „ein
ausgereckt lang, breit, dick, hoch, tief Wesen sei, sondern ein übernatürlich, unerforschlich
Wesen, das zugleich in einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über
allen und außer allen Kreaturen“ ist. Dieser Leib wird nicht umzäunt, "denn ein Leib ist der
Gottheit viel, viel zu weit und könnte vieltausend Gottheiten drinnen sein. Wiederum auch viel,
viel zu enge, dass nicht eine Gottheit drinnen sein kann. Nichts ist zu klein, Gott ist noch kleiner,
nichts ist zu groß, Gott ist noch größer. Nichts ist zu kurz, Gott ist noch kürzer; nichts ist zu lang,
Gott ist noch länger; nichts ist zu breit, Gott ist noch breiter; nichts ist zu schmal, Gott ist noch
schmäler und so fortan ist‘s ein unaussprechlich Wesen über und außer allem, das man nennen
oder denken kann."
Im Sinne der Christologie ist eben Gott und Mensch eine Person und die zwei Naturen sind so
miteinander vereinigt, dass sie näher zusammengehören als Leib und Seele. So muss Christus
auch da Mensch sein, wo er Gott ist. Ist er aber an einem Ort Gott und Mensch, warum sollte er
dann nicht an einem anderen Ort auch Gott und Mensch sein? Und warum nicht am dritten,
vierten, fünften Ort? Nein, wo Gott und Mensch eine Person sind, da ist er zugleich auch als
Mensch an allen Orten. Und Luther sagt: „Wohl ist's wahr, dass unsere Vernunft hier sich
närrisch stellt zu denken, weil sie das Wörtlein 'in' gewohnt ist nicht anders zu verstehen denn
auf eine leibliche begreifliche Weise wie Stroh im Sack und Brot im Korbe ist, darum wo sie
hört, dass Gott sei in dem oder in diesem, denkt sie immer des Strohsacks und Brotkorbes,
aber der Glaube vernimmt, dass 'in' gleich so viel ‚in‘ dieser Sache gilt, als über, außer, unter,
durch und wie der Herr durch und allenthalben. Ach, was rede ich von so hohen Dingen, die
doch unaussprechlich sind und für den Einfältigen unnötig, den Schwärmern aber gar umsonst,
dazu auch schädlich. Denn sie verstehen‘s doch so wenig als der Esel den Psalter, ohne dass
sie etwa ein Stücklein herauszwacken mögen, das sie lästern und schänden..."
Im Protokoll des Marburger Gesprächs von 1529 heißt es denn auch an entscheidender Stelle
einmal: Deus potest facere quod non sit in loco et quod in loco. Hic multa erat controversia de
loco. (WA 30 III S. 136 Zeile 31 bis 33) Und in einem Bericht über das Marburger Gespräch
sagt Luther zu Zwingli und Ökolampad auf die Frage, ob Gott je einen Leib hätte ohne einen
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besonderen Raum - : den allergrößten Leib, damit alle anderen Leiber inbegriffen seien,
nämlich die ganze Welt, würde Gott ohne einen Raum enthalten: „Darum hat die Welt kein statt,
darin sie ist, dazu schwiegen sie all still." WA 30 III S. 148.
Die biblische Vorstellung vom Raum
Helmut Köster hat im theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Band 8, S. 187 ff)
unterschieden zwischen dem griechischen „topos“ und dem alttestamentlichen „makom“. Das
griechische „topos“ sei ein geografischer Raum, der etwas enthält, das alttestamentliche
„makom“ sei eine Stätte, an der sich etwas befindet. Nach griechischem Denken lässt sich der
Raum nicht trennen von der jeweiligen Sache, die in diesem Raum vorhanden ist und ihn ganz
erfüllt (S. 193). Im Alten Testament wird jeder Ort "bestimmt in einem Verhältnis zu einer Sache,
die sich dort befindet, zu einem Geschehen, das sich dort abspielt oder zu einem Menschen
oder einem Volk, das dort wohnt. Die konkrete Gefülltheit, Sachbezogenheit und
Besitzvorstellung beherrscht hier die Anschauung vom Ort viel stärker als im griechischen
Sprachgebrauch." (S. 194) In der Weisheit heißt es, dass nicht mehr seine Stätte zu haben
identisch sei mit dem Aufhören des Daseins. Deshalb wird vom Gottlosen immer wieder gesagt,
dass seine Stätte ihn verleugnet, wenn er zugrunde geht. (Hiob 8, 18 vgl. 18, 21, 20, 9, Psalm
35 Vers 10) (Köster S. 199) Wichtig ist auch der Hinweis, dass das neutestamentliche „topos“
„die von Gott gegebene Möglichkeit des Daseins" bezeichnet. (Köster S. 200) Dieser
Sprachgebrauch "setzt die alttestamentliche Ortsvorstellung insofern fort, als er von der durch
Gott gegebenen Stätte redet, in der die glaubende Existenz ihren Grund hat. Diese Stätte ist in
der Weisheit freilich weder das von Gott dem Volke gegebene Land noch irgendeine heilige
Stätte wie der Tempel, sondern vielmehr losgelöst von der konkreten Ortsvorstellung die
Ermöglichung von Heil, Buße und Barmherzigkeit." (S. 200)
Philo versteht unter dem Raum dreierlei: den Platz, der von einem Körper erfüllt ist; den
göttlichen logos, den Gott selbst mit nichtkörperlichen Kräften erfüllt hat; und Gott selbst, da er
alle Dinge in sich umschließt. Gott selbst wird, ähnlich wie im rabbinischen Sprachgebrauch, als
„topos“ bezeichnet. Gott ist der Ort schlechthin im kosmischen Sinne. Philo unterstreicht die
aristotelische Kategorienlehre, wobei Raum und Zeit als „unabdingbare Bestimmtheiten des
Daseins noch besonders aus den übrigen Kategorien herausgehoben werden." (Köster S. 202)
In der Apokalypse des Johannes ist der Ort eine von Gott gegebene Daseinsmöglichkeit der
Gemeinde und die Zusage, dass Gott der Gemeinde ihr Dasein erhalten will. Umgekehrt ist das
Fehlen dieses Ortes gleichbedeutend mit der Vernichtung, der Auslöschung der Existenz (S.
207) Die Vorstellung vom Raum als Daseinsmöglichkeit weist nicht auf eine Spiritualisierung
der Raumvorstellung hin, wir haben es hier eher zu tun mit einer die Existenz und die
Existenzgrundlage betreffenden Interpretation des Raumes.
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Zur Bedeutung des Begriffes Situation:
Aristoteles
Der Begriff der Situation findet sich schon bei Aristoteles, der ihn unter den zehn Kategorien
anführt. Nach Trendelenburg sind sämtliche Kategorien aus der Struktur des Satzes abzuleiten.
Categorias ex orationis natura dispositas esse (Trendelenburg: De categoriis 1833, p.12). Das,
was ist, wird in den verschiedenen Hinsichten, in denen es Sein hat, ausgesagt: "Es geht in den
Aussageweisen um Seinsweisen." (Vorländer, Philosophie des Altertums, RDE 183/84, S. 122.)
Die Kategorien als Aussagen über Seiendes haben also ontologische Relevanz. Dabei stehen
die vier Kategorien der Substanz, Quantität, Qualität und Relation im Vordergrund. Die Lage ist
denn auch streng genommen nur eine von der Relation abgeleitete Kategorie. Nicht von jedem
Seienden ist das Sein durch die Lage auszusagen. So haben zwei Teile einer Ebene, Körper
und Räume eine Lage, nicht aber die Zahl, das Wort und die Zeit. Bei der Zahl könne man nicht
aufweisen, wieso ihre Teile zueinander eine Lage haben oder wo sie liegen oder welche Teile
aneinander grenzen. Ebenso wenig bei der Zeit, weil keiner ihrer Teile bleiben will. Was aber
keinen Bestand hat, wie soll das eine Lage einnehmen?" (Aristoteles Kategorien 5 a, 23 ff
übersetzt von Gohlke 1951 S. 31) Zahl, Zeit und Wort haben keine Lage, weil sie nicht
aneinander grenzen, nicht dauern und entschwinden, wenn sie ausgesprochen sind. Von der
„eins“ zur „zwei“ gibt es keinen Übergang, beide Zahlen stehen ebenso unvermittelt
nebeneinander wie das Gestern dem Heute und das Substantiv dem Verb. Wollte man also das
Sein von Seiendem von der Lage bestimmen, so würde man dies nach Aristoteles gerade
verfehlen bei allem, was nichts Bleibendes ist. Man kann daher sagen, für Aristoteles sei Lage
bzw. Situation nur eine Kategorie der äußeren Relation, nicht der inneren Essenz. Das Wesen
eines Seienden, die erste Substanz (ousia) ist das selbständige existierende Einzelding, dessen
Sein unabhängig von seiner Situation gegeben ist. (Vgl. Knuth: Zur Auslegungsgeschichte S.
356 ff)
Hans-Georg Gadamer
Die lange Geschichte des Situationsbegriffes, die in sich ein Leitfaden der Geschichte
philosophischen Denkens überhaupt ist, mündet bei Heidegger und Gadamer in der
ontologischen Frage nach dem Sein von Situationen. Der Begriff der hermeneutischen
Situation, der auch bei Sloterdijk eine zentrale Rolle spielt, steht in „Sein und Zeit“ an dem
entscheidenden Übergang von der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins zur
ursprünglichen existenzialen Interpretation dieses Seienden. Die hermeneutische Situation
misst das Ganze der Voraussetzungen der Auslegung. Das Verstehen der Situation ist selbst
eine Grundart des Seins des Daseins. Bei Gadamer ist die Situation dadurch bestimmt, "dass
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sie einen Standort darstellt, der die Möglichkeit des Sehens beschränkt". (Wahrheit und
Methode, S. 286) Darum gehört der Begriff des Horizontes zum Begriff der Situation hinzu. Er
charakterisiert die Endlichkeit alles historischen Verstehens, aber nicht nur als Beschränktheit,
sondern ebenso auch als Offenheit der hermeneutischen Situation. Die Ausarbeitung der
hermeneutischen Situation bedeutet darum die Gewinnung des rechten Fragehorizontes
angesichts der Überlieferung - und auch angesichts des Raumes. "Es macht die geschichtliche
Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, dass es keine schlechthinnige
Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont.
Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert."
(Ebenda S. 288) Verstehen ist demnach der "Vorgang der Verschmelzung vermeintlich für sich
seiender Horizonte". (S. 289)
Fluidum der hermeneutischen Erfahrung ist zunächst ganz allgemein die Sprache. Aber hier ist
es nun doch bei Gadamer nicht das griechische Sprachverständnis, an dem er sich sonst
orientiert, sondern in eigentümlicher Sonderstellung das christliche Sprachverständnis: „In der
Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie durch den griechischen Gedanken der Logik
keimt vielmehr etwas Neues auf: die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des
Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt. Die Christologie wird zum
Wegbereiter einer neuen Anthropologie, die den Geist des Menschen in seiner Endlichkeit der
göttlichen Unendlichkeit auf eine neue Weise vermittelt. Hier wird das, was wir die
hermeneutische Erfahrung genannt haben, seinen eigentlichen Grund finden." (Wahrheit und
Methode, S. 405)
Für Gadamer ist die Sprache nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der
Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht und in ihr stellt sich dar, dass die Menschen
überhaupt Welt haben. „Für den Menschen ist die Welt als Welt da, wie sie für kein Lebendiges
sonst Dasein hat, das auf der Welt ist. Dies Dasein der Welt aber ist sprachlich verfasst." (S.
419) „Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt - die Sprache hat ihr
eigentliches Dasein nur darin, dass sich ihr Welt darstellt. Die ursprüngliche Menschlichkeit der
Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen In-der-WeltSeins.“ (S. 419)
Kaulbach:
Im philosophischen Wörterbuch hat Kaulbach im Artikel „Raum" (Band 8, Spalte 89ff.)
dargestellt, dass in der Kritik der reinen Vernunft Kant Raum und Zeit als Formen der sinnlichen
Anschauung begreift. Sinnlich anschaulich werden Gegenstände nur in Raum und Zeit. Unsere
Vorstellungen bilden sich durch die rezeptive Art und Weise, wie wir den Erscheinungen
ausgesetzt sind, den Empfindungen. Aber bei den Empfindungen müssen wir das Materielle
unterscheiden von dem rein Formalen. Empfindungen treten auf als Inhalte der Formen des
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Raumes und der Zeit. Die Materie der Erscheinung ist a posteriori gegeben, während die Form
„im Gemüte a priori bereitliegt, und daher abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden"
muss. (Kant, Kritik der reinen Vernunft B 34, zitiert bei Kaulbach, Sp. 89) Raum und Zeit sind
also „rein", d.h. a priori gegeben. Die menschliche Subjektivität hat nun die Eigentümlichkeit,
„etwas von ihr Verschiedenes als ein räumliches Dort, als ein ‚Außerhalb‘ ansprechen zu
können. Dadurch wird es möglich, Gestalt, Größe und gegenseitiges Verhältnis der
Erscheinungen zu bestimmen. Raum und Zeit selbst können nicht angeschaut werden, weil sie
ja nur die Formen oder Weisen des subjektiven Anschauens sind." (Ebenda 89 ff., vgl. Kritik der
reinen Vernunft B 37) Raum und Zeit sind „Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen"
und nicht selbst Dinge oder an Dingen vorkommende Bestimmungen. Räumlichkeit ist „eine
notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Erscheinungen zugrunde liegt" (Kritik der
reinen Vernunft B 38). Vom Raum, vom ausgedehnten Wesen, können wir „nur aus dem
Standpunkte eines Menschen reden" (KrV B 42). So gelten die räumlichen Bestimmungen auch
nur in der Perspektive unserer Subjektivität. Raum und Zeit gehören zwar zur Erfahrung der
Sache, eignen ihr aber nicht „an sich". "Würde man Raum und Zeit zu Formen der Dinge an
sich machen, dann müssten sie als Bedingung allen Daseins überhaupt auch dasjenige Gottes
bedingen (Spinozismus)". (Kaulbach Sp. 90)
Der Raum begründet aber die (äußere) Realität von Gegenständen möglicher Erfahrung und
geht mit ein in deren ontologische Verfassung
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Raum, Wort und Nähe
Eberhard Jüngel
Eberhard Jüngel hat in seinem Buch "Paulus und Jesus" besonders intensiv über die Nähe der
Königsherrschaft Gottes als ontologische Frage reflektiert. "Das Gleichnis lehrt also, ‚das Jetzt
zu verstehen‘ (G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, S. 45). Und indem es das Jetzt von seiner
Zukunft her zu verstehen lehrt, kommt hier die Nähe der Gottesherrschaft als eine zukünftige in
den Blick. Aber das Eigentümliche dieser Zukünftigkeit der Gottesherrschaft ist dies, dass die
Zukunft hier nicht als ein Abstand zum Jetzt vorgestellt wird, sondern als eine schon die
Gegenwart zu ihrem Anfang machende nahe Zukunft in den Blick kommt: Diese Zukunft steht
nicht aus, sondern ragt in die Gegenwart herein. Sie kann als zeiträumlicher Abstand (von mir
gesperrt, Knuth) überhaupt nicht erfasst werden und sperrt sich deshalb auch gegen die Doktrin
von der „Naherwartung Jesu." (Jüngel, Paulus und Jesus, S. 154) Jüngel kritisiert an der
traditionellen Gleichnisauslegung, dass das Verhältnis der Gottesherrschaft zu Jesus als ein
Problem des Zeitraums diskutiert wird. „Gleichgültig, ob man die basileia als bereits
gegenwärtig, als in der Gegenwart einbrechend, als unmittelbar bevorstehend oder als mehr
oder weniger nah bevorstehend in der Verkündigung Jesu ansetzt, jedesmal wurde damit der
basileia ein Platz innerhalb eines Zeitraumes angewiesen, der von einem in der Zeit
existierenden Ich aus gemessen wird, so dass die Nähe der basileia als Entfernung zu einem
zeitig existierenden Subjekt vorgestellt wird. Mit diesem Vorstellungsschema einer sich als
Zeitraum erstreckenden Zeit meinte man die Ansage der Gottesherrschaft durch Jesus
angemessen interpretieren zu können...“ (a.a.O. S. 140) Jüngel zitiert hier Martin Heideggers
Kritik an den klassischen Vorstellungen, in denen Raum und Zeit als die Parameter der
Abmessung von Nähe und Ferne als Zustände von Abständen erscheinen. (Vgl. Das Wesen
der Sprache, in Unterwegs zur Sprache, S. 209). Doch so wenig dieses Zeitverständnis dem
Jesu entsprechen dürfte, so wenig auch sein Raumverständnis. Die Nähe der Gottesherrschaft
ist ein Gleichnis für die Qualität der Relation, nicht der Quantität. Und das heißt nach Jüngel:
Jesus bringt die Gottesherrschaft als das die Verlorenen einigende Ereignis der Liebe zur
Sprache (S. 163). „Dann geht es in seinem Wort (Gleichnis) um das Sein (nicht um den Willen!),
um das Sein Gottes als Ereignis der Liebe und um das Neue Sein derer, die die Liebe Gottes
gefunden hat." (a.a.O. S. 163)
Das besagt für das Verständnis der Gleichnisrede Jesu grundsätzlich: „Die Nähe der
Gottesherrschaft ist so nahe, dass sie der Sprachform des Gleichnisses bedarf, um überhaupt
so zur Sprache zu kommen, dass der Mensch sich auf sie einzustellen vermag. Dann helfen die
Gleichnisse Jesu, die nahe Zukunft der Gottesherrschaft nicht als etwas noch Ausstehendes,
sondern als eine in die Gegend eindringende Macht zu verstehen und derselben zu
entsprechen. Die nahe Zukunft der Gottesherrschaft ist kein (noch fehlender) Aus-Stand,
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sondern ein (schon wirksamer) Ein-Stand. Ihm zu entsprechen rufen die Gleichnisse Jesu, in
dessen Verhalten die geforderte Entsprechung selber bereits anschaulich geworden ist." (S.
168 f)
„Wie uns die ausgelegten Gleichnisse Jesu zeigen, darf die Nähe der Gottesherrschaft in der
Verkündigung Jesu nicht so verstanden werden, als ob das Prädikat „engiken“ als Akzidenz der
Gottesherrschaft zu dieser erst hinzukommt. Wenn Jesus von der Gottesherrschaft redet, redet
er von ihr durchweg als von der nahen Gottesherrschaft, so dass die Nähe der Gottesherrschaft
als Ausdruck ihres Wesens erscheint. Nähe und Gottesherrschaft sind nicht zwei in einem
synthetischen Urteil verbundene Begriffe, sondern beide zusammen machen den theologischen
Begriff der Verkündigung Jesu aus.“ (a.a.O. S. 175 ff)
Vgl. auch die zusammenfassenden Thesen von Jüngel auf S. 196 f: „Jesus brachte das Wesen
der Gottesherrschaft als die Nähe der Gottesherrschaft zur Sprache." (196) Und: „Der Ort der
Nähe Gottes ist das Wort. Das Ereignis seiner Nähe ist das Zur-Sprache-Kommen Gottes"
(S289).
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Raum und Gott
Es gehört zu den radikalsten Umbrüchen des neuzeitlichen Denkens, dass wir Gott nicht mehr
vorstellen können als ein Seiendes in Raum und Zeit. Freilich haben Bibel und Theologie schon
immer unterstrichen, dass er selbst – der Schöpfer von Raum und Zeit – nicht an die Grenzen
seiner Schöpfung gebunden ist. Und trotzdem war er im Bewusstsein der Glaubenden immer
auch mit messbaren Vorstellungen vom Raum verbunden: „Sitzend zur Rechten Gottes“, „der
Herrscher des Himmels und der himmlischen Heerscharen“. Erst allmählich beginnen wir, auch
emotional Abschied zu nehmen vom dreigestuften Weltbild, nach dem Gott zwar auf dieser
Erde erschienen ist, aber doch im Grunde auf sie herabblickt.
Es erfordert nun ein doppeltes Umdenken, wenn wir erkennen, dass nicht nur Gott unseren
Begriffen von Raum und Zeit entnommen ist, sondern dass diese Begriffe, dass diese
Realitäten nicht nur unserer unmittelbaren Erfahrung entzogen sind, sondern bedingt sind durch
unsere Konstitution als Dasein in Räumlichkeit. Der erste Schock ging von Kant aus,
dahingehend, dass jeder Gegenstand unserer Erfahrung nur erfahrbar wird in Raum und Zeit
als Formen unserer (subjektiven) „Anschauung“. Der kantische Raum als Form der Anschauung
geht immerhin noch aus von einem Raum „an sich“, von einer Wirklichkeit, die auch ohne
unsere Erkenntnis und ohne unseren Erkenntnisvorgang postuliert werden muss. - Mit der
Definition des Raumes bzw. besser der Räumlichkeit als Existential wird der Raum ontologisch
als zum Sein des erkennenden Daseins gehörig definiert. Der Raum „an sich“, als solcher ist
also nicht einmal mehr theoretisch zu postulieren. Kant beschreibt die Relation von Raum und
Dasein in ontischen Begriffen, Heidegger in ontologischen, d. h. der Raum wird zur
Räumlichkeit des Daseins.
Während schon bei Kant gilt, dass der Raum nichts ist, sobald wir die Bedingungen der
Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich zugrunde
liegt, annehmen, während er also eine apriorische Anschauungsform darstellt, aber immer noch
im Bezug auf eine Größe außerhalb des erkennenden Subjekts, wird der Raum bei Heidegger
zu einer Funktion des erkennenden Subjekts selbst. Das Sein des Seienden erschließt sich als
„Im-Raum-sein“ des Seienden - als eine Wesensform, nicht nur eine Erkenntnisform des Dasein
- aber auch als nichts weiter.
Bezogen auf den Raum als Ortsangabe für das Reden von Gott, müsste man auch vom Sein
Gottes reden im Rahmen einer solchen existentialen Ontologie. Der Formulierung „Gottes Sein
ist im Werden“ würde dann die Erkenntnis hinzugefügt werden: „Gottes Sein ist im
Erkanntwerden“ - und das durch sein Wort. Wie aber ist das Verhältnis von Wort und Raum zu
denken?
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Heidegger formuliert in seinem Buch „Unterwegs zur Sprache“ (besonders in: „Aus einem
Gespräch von der Sprache“ zwischen einem Japaner und einem Fragenden, in: „Unterwegs zur
Sprache“ 12. Auflage 2001; S. 90): „Die Sprache ist das Haus des Seins“. In einem späteren
Zusammenhang spricht er vom „Wesensraum“ der Sprache. Sein Gesprächspartner
unterstreicht, dass der Begriff „Wesensraum“ korreliert mit der Wendung „Haus des Seins“, die
nicht nur ein flüchtiges Bild ist, etwa ein „irgendwo zuvor aufgerichtetes Gehäuse, worin das
Sein wie ein transportabler Gegenstand untergebracht ist“ meint. Und Heidegger antwortet: „In
jener Wendung meine ich nicht das metaphysisch vorgestellte Sein des Seienden, sondern das
Wesen des Seins, genauer der Zwiefalt von Sein und Seiendem, diese Zwiefalt jedoch
hinsichtlich ihrer Denkwürdigkeit“. (S. 118)
Entsprechend hat sich Gerhard Ebeling geäußert in seiner Auslegung des Vater-Unser, die er
mit dem Satz beginnt: „Worte sind wie Herbergen“. Hierher gehört auch Bultmanns klassische
Formulierung: Jesus sei ins Kerygma auferstanden.
Unsere Überlegungen führen also auf die Frage zurück, wie der Raum sich verhält zum Wort,
zur Sprache.
Nach Aristoteles sind die Kategorien aus der Struktur des Satzes abzuleiten. Bei Luther ist der
weite Raum der Raum des Trostes, und die Unendlichkeit Gottes ist zugleich gegeben in seiner
Präsenz in den Sakramenten. Diese Präsenz wird durch das Hinzutreten des Wortes
konstituiert, nach dem Satz des Augustin: „accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“.
Auch nach Kant können wir vom Raum, vom ausgedehnten Wesen nur aus dem Standpunkt
eines Menschen reden (kursiv von mir, Knuth). (Kr V B 42). Die menschliche Subjektivität hat
die Eigentümlichkeit, „etwas von ihr Verschiedenes als ein räumliches Dort, als ein ‚Außerhalb‘
ansprechen zu können“ (kursiv von mir, Knuth). (Kaulbach Sp. 90).
Auch für Heidegger erschließt sich die Räumlichkeit des Daseins primär im „Modus des In-derWelt-Seins, und zwar als Ansprechen und Besprechen von Welt (Logos)“. „Das existierende
Dasein räumt sich immer schon einen Spielraum ein ... Das Dasein entdeckt so etwas wie
Gegend“ (Sein und Zeit S. 369). Unmissverständlich wird bei Gadamer der hermeneutische
Horizont des Verstehens im Medium der Sprache erschlossen. „Das Dasein der Welt aber ist
sprachlich verfasst“ (Wahrheit und Methode S. 419). „Die ursprüngliche Menschlichkeit der
Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen In-der-WeltSeins“ (S. 419). Für Eberhard Jüngel bedarf die Nähe der Gottesherrschaft der Sprachform des
Gleichnisses, „um überhaupt so zur Sprache zu kommen, dass der Mensch sich auf sie
einzustellen vermag“ (Paulus und Jesus S. 168 f). Und noch zugespitzter: „Der Ort der Nähe
Gottes ist das Wort. Das Ereignis seiner Nähe ist das Zur-Sprache-kommen Gottes“ (S. 289).
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Karl Heinz Mencke fasst seinen Artikel „Raum“ (im LThK³, 1999; Sp. 854ff) wie folgt zusammen:
„Was die christliche Tradition ‚Kirche‘ und in der Vollendung ‚Reich Gottes‘ oder ‚Himmel‘ nennt,
ist nicht die Beschreibung eines Ortes, sondern die im ‚Dasein für den Anderen‘ glaubend,
hoffend und liebend realisierte Annahme des in Christus gewährten Raumes und der durch ihn
geschenkten Zukunft. Entsprechend kann ‚die Hölle‘ als Raum- und Zeitlosigkeit beschrieben
werden. Auch sie ist kein Ort, sondern der Zustand derer, die dem anderen weder Raum noch
Zeit schenken. Erst wenn der Leib Christi zu dem Raum geworden ist, in dem jedes Glied
jedem anderen Raum gewährt (wenn Christus alles in allem und in allen ist), ist die
‚wirbestimmte Räumlichkeit‘ vollendet.“ (854 f)
Schluss:
Die eingangs gestellte Frage, ob die Einsicht in die Räumlichkeit des Daseins seine Zeitlichkeit
aufhebt, lässt sich eindeutig verneinen. Mag es zuweilen so scheinen, als ob die Räume, in
denen wir existieren, entscheiden über unsere Existenz, so ist es doch vielmehr umgekehrt,
dass sich die Räume, der Raum schlechthin erschließt von der Existenz her. Das Medium
dieser Erschließung ist das Wort. So wie das Wort die Zeit ansagt, spricht es den Raum an, holt
ihn ein, lässt ihn anwesend sein. Himmel und Hölle, ja oben und unten, unendlich und winzig,
breit und lang, hoch und tief, das alles sind Interpretationsmuster, in denen sich die
Räumlichkeit des Menschen ausspricht. Die Sprachspiele der Physik, der Philosophie und der
Theologie sind hoch differenziert und doch sind sie darin vergleichbar, dass es Sprachspiele
sind. Sprachspiele allerdings mit fundamentalen Folgen. Indem die Theologie dem Menschen
seinen Ort zuweist in Zeit und Raum, orientiert sie ihn nicht nur in seinem Handeln, sondern in
seinem Sein. Indem sie das Sein Gottes mit dem Sein des Menschen in Beziehung setzt, lässt
sie den Menschen Anteil haben am Sein Gottes, eröffnet sie ihm das Sein im Raume Gottes.
Dieses Versetztwerden in einen Raum außerhalb seiner selbst, diese Existenz extra se, dieses
„me esse extra me“, was fundamental zu unterscheiden ist vom „extra me“, ist der Ortswechsel
vom Sein zum Tode zum Sein zum Leben. Die Mächte des Todes und die Mächte des Lebens
sind auch Räume des Todes und Räume des Lebens.
„Denn“, sagt Luther, „wo anders hin gelangt der Mensch, der auf Gott hofft, als in sein Nichts?
Wohin aber sollte einer, der in sein Nichts geht, anders hingehen als dahin, woher er kam? Er
kam aber von Gott und seinem Nichts, darum kehrt der zu Gott zurück, der in sein Nichts
zurückkehrt.“ (Operationes in psalmos zu Psalm 5,12; WA 5, S. 168; Zeile 1 – 4)
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Bischof Dr. Knuth: Schlusswort zum Thema auf der Veranstaltung in Hamburg
Die Leitfrage meiner Erörterungen aber ist nicht mehr nur die Frage nach dem Zugewinn durch
ein neues Bewusstsein vom Raum, sondern die viel brisantere Frage, ob die Entdeckung des
Raumes grundsätzlich die Theologie des Wortes und damit auch die Kirche des Wortes in
Frage stellt. Ist der Raum die Botschaft oder verschafft sich die Botschaft ihren Raum?
Ein kleines Fazit:
Es gehört für mich zu den schockierendsten Erfahrungen, als ich nach der Lektüre von Kants
„Kritik der reinen Vernunft“ erkennen musste, dass Raum und Zeit keine objektiven Größen
sind, sondern Bedingungen meiner Erfahrung, „Formen der Anschauung“, wie Kant sagt.
Der Raum ist die Perspektive des erkennenden Subjekts. Diese Perspektive ist geschichtlichem
Wandel unterworfen. Umso entscheidender ist die Frage, wodurch unsere Raumerfahrung
konstituiert wird. Was lässt mich Raum als solchen oder solchen erfahren? Die Antwort, darin ist
man sich in der Postmoderne einig, lautet: Der Raum ist sprachlich verfasst. „Die Sprache ist
das Haus des Seins.“ (Heidegger)
Unendlichkeit, Allgegenwart, ja, auch Ewigkeit sind sprachliche Interpretamente unserer
Erfahrung. Umso lebenswichtiger ist die Frage, welche Sprache unsere Erfahrung leitet. Um auf
den Anfang zurück zu kommen: Kirchen und Kirchengebäude sind Raumperspektiven, denen
ein bestimmtes Gottes- und Menschenbild vorausgeht. Das lässt sich etwa im Vergleich einer
mittelalterlichen Kathedrale mit einer reformierten Predigerkirche sehr klar belegen. Aber auch
die weniger auffälligen Differenzen, etwa im Nachkriegskirchbau in Hamburg, lassen immer
noch genaue Spuren bestimmter theologischer Schulen und Lehrdifferenzen deutlich werden.
Der etwas abstrakte Weg durch einige der Stationen der Philosophie- und Theologiegeschichte
zeigt jedenfalls eines ganz klar: Geistig und materiell leben wir immer in so oder so gestalteten
Räumen und je nach dem, in welchen Räumen wir leben, entscheidet sich unser Leben (frei
nach Elias Zenetti).
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