Fortbildung integra Wels Wels 19.09.2012 Neurologisch bedingte Schluckstörungen und ihre Auswirkungen auf den Pflegeund Betreuungsalltag Holger Grötzbach, M. A. Asklepios Klinik Schaufling Abteilung Sprachtherapie D - 94571 Schaufling Agenda Anatomie und Physiologie des Schluckens der Schluckvorgang „Wenn Flüssigkeit geschluckt wird, geht ein Teil zur Lunge, und von dort wird es in die Herzbeutel gefiltert, wo es das fiebernde Herz befeuchtet und kühlt. Der Rest der Flüssigkeit wird als Wasser ausgeatmet.“ Hippokrates, 460 – 370 v. Chr. Das Schlucken am Schluckakt sind 56 Muskelpaare beteiligt der Mensch schluckt zwischen 580 und 2.000 Mal pro Tag im Wachen und Schlafen außerhalb von Mahlzeiten wird im Wachen ca. ein Mal pro Minute geschluckt dabei wird ca. 0,5 ml Speichel aufgenommen der Kehlkopf hebt sich während des Schluckens 1,5 bis 2 cm Dysphagie: Auswirkungen1 (1) „Vor anderthalb Jahren konnte Heinrich auch nicht mehr essen. Er kam ins Krankenhaus und kriegte diese Magensonde. Als er wieder zu Hause war, stapelten sich hier die Behältnisse mit Flüssignahrung. Genau einen Tag lang habe ich das mitgemacht! Dann habe ich Heinrich eine ordentliche Portion Tee gegeben, und durch die Flüssigkeit wurde er wieder wacher im Kopf.“ 1Quelle: Edda (2004). Er hätte dasselbe für mich getan. In N.-M. Brüdigam (Hrsg.). In guten wie in schlechten Zeiten. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 115 – 126, S. 124. Dysphagie: Auswirkungen1 (2) „Siehe da: Plötzlich konnte er wieder kauen! Und seitdem isst er wieder. Die ganze Flüssignahrung habe ich zurückgegeben. Ich denke, dass ist ein Stück Lebensqualität, wenn ich noch ein bisschen etwas schmecken kann. Statt immer nur diese blöde Flüssignahrung.“ 1Quelle: Edda (2004). Er hätte dasselbe für mich getan. In N.-M. Brüdigam (Hrsg.). In guten wie in schlechten Zeiten. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 115 – 126, S. 124. Nahrungs-Charakteristika Aussehen Geruch Volumen Geschmack Temperatur Konsistenz: flüssig, schmelzbar, breiig, fest Beschaffenheit: krümelig, faserig, cremig, glatt Selbsterfahrung Schlucken Achten Sie bitte auf: Verhalten von Ober- und Unterlippe Wangen Bewegung der Zunge Bewegung des (Unter-)Kiefers Atmung Kehlkopf Schluckphasen 1. orale Vorbereitungsphase 2. orale Phase 3. pharyngeale Phase 4. ösophageale Phase Neuronale Steuerung 1. Großhirnrinde: • Gyrus praecentralis • prämotorischer Kortex • Mandelkern (Amygdala) • Hypothalamus • Mittelhirnhaube • Verbindung zw. Hirnrinde und Hirnnervenkerne 2. Hirnstamm (Pons und Medulla oblongata) • Hirnnerven V, VII, IX, X, XII • obere Cervicalsegmente Lokalisation der Hirnnerven im Hirnstamm Agenda Diagnose der Dysphagie Neurologische Erkrankungen mit Schluckstörungen Störungen des zentralen Nervensystems - Schlaganfall - Morbus Parkinson - Multiple Sklerose - Schädel-Hirn-Trauma Störungen des peripheren Nervensystems - Amyotrophe Lateralsklerose Störungen der Signalüberleitung Nerv - Muskel Erkrankungen der Muskulatur - Myasthenia gravis - Muskeldystrophien Schätzung der Häufigkeiten von Schluckstörungen 16 - 22% der über 55-Jährigen ca. 30–50% der Bewohner von Pflegeheimen ca. 50% der neurologischen Patienten Beispiel: Schlaganfall Häufigste Ursache für neurogene Dysphagien Akutphase: 50 % der Schlaganfallpatienten haben Schluckstörungen. Chronische Phase: 25 % der Schlaganfallpatienten haben Schluckstörungen. Spezifische Symptome bei Schluckstörungen häufiges Verschlucken, Husten, Räuspern Steckenbleiben von Nahrung im Hals Nahrung / Speichel läuft aus dem Mund belegte, raue, heisere Stimme Schmerzen, Angst vor dem Schlucken vorsichtige, sehr langsame Nahrungsaufnahme Vermeiden bestimmter Speisen Essen in Gesellschaft wird vermieden Klinische Anzeichen von Aspiration gurgelndes Atemgeräusch Husten verstärkte Schleimbildung Stimmveränderungen: raue, gurgelnde Stimme Kurzatmigkeit chronisch obstruktive Lungenveränderungen Orientierende Schluckuntersuchung Die orientierende Untersuchung umfasst: Spontanschluck Speichelschluck Wasserschluck und Schlucken von Götterspeise Beurteilung des Stimmklangs nach dem Schlucken willkürliches Husten und Räuspern Die orientierende Untersuchung wird durch die Ergebnisse der flexiblen Nasenendoskopie ergänzt. 50-ml-Wasser-Test Der 50-ml-Wasser-Test: sukzessive Wasser-Schlucke von 5 ml, kombiniert mit der Untersuchung der Sensibilität im Pharynxbereich (beidseits mit Wattestäbchen) Nach der Gabe ca. fünf Minuten auf Aspirationshinweise achten. Aspirationshinweise: Verschlucken oder Erstickungsanfälle, Husten oder Veränderung der Stimmqualität Abbruch: Auftreten von Aspirationszeichen pharyngeale Sensibilität mit einem Watteträger je ein Mal links und rechts an der Pharynxrückwand tupfen falls die Rückwand schwer zugänglich ist, Zunge mit Hilfe eines Spatels herunterdrücken Patient danach fragen, ob die Berührungen wahrgenommen werden und ob Seitenunterschiede bestehen mit dem Watteträger den Würgreflex prüfen Cave: ein fehlender Würgreflex ist kein pathologisches Zeichen! intentionaler Speichelschluck den Patienten auffordern, Speichel im Mund zu sammeln und dann zu schlucken mit Hilfe des Schluckkontrollgriffs Informationen über Zungenbewegungen (orale Phase), Einsetzen des Schluckreflexes (pharyngeale Phase), Ausmaß der Kehlkopfhebung erhalten nach dem Schlucken das Husten prüfen Cave: bei abgeschwächtem oder fehlendem Hustenstoß kann penetriertes oder aspiriertes Material nur schwer oder gar nicht aus den Atemwegen entfernt werden Schluckkontrollgriff Diagnose bei Trachealkanülen vor Schluckversuch auf „nasses Tracheostoma“ achten vor dem Schlucken Trachealkanüle entblocken, ggf. vorher absaugen 1 ml blau angefärbtes Wasser geben auf Austritt des gefärbten Wassers aus dem Stoma achten nach dem Schluck tracheal absaugen das abgesaugte Material auf gefärbtes Material untersuchen Hinweise (1) „Schluckanleitungen“ schriftlich fixieren und am Essplatz in einer Folie hinterlegen. Betreuende Personen über das „Schulterklopfen“ bei Verschlucken informieren! Betreuende Personen für das Eingeben von Essen / Trinken („füttern“) sensibilisieren. In Zweifelsfällen eine Nahrungsbilanz und Temperaturprotokoll führen lassen. Über Hintergründe der Gabe von Koststufen aufklären. Bei Ablehnung von therapeutischen Maßnahmen durch Patienten oder Angehörige den Sachverhalt schriftlich festhalten und unterschreiben lassen. Hinweise (2) Koststufe I - Essen Risiko der rein klinischen DysphagieDiagnostik Nur ca. 42 – 66 % aller Patienten mit einer Dysphagie, die aspirieren, werden in einer klinischen Diagnostik als aspirierende Patienten identifiziert. Symptome, von denen ein erhebliches Aspirationsrisiko ausgeht (z. B. Residuen in Valleculae oder Sinus piriformis) können durch eine rein klinische Beobachtung nicht erkannt werden. stille Aspiration („silent aspiration“): Eindringen von Bolusbestandteilen in die Luftwege unterhalb der Stimmlippen ohne klinische Zeichen (insbesondere kein Hustenstoß): Tritt bei 25 % – 30 % der neurogenen Dysphagien auf. Standard-Diagnostik neurologische Untersuchung logopädische Anamnese- und Befunderhebung HNO/phoniatrische Untersuchung mit flexibler (Nasen-)Endoskopie (meist videodokumentiert) Videofluoroskopie oder Röntgenkinematographie Phoniatrische Diagnostik Nasenendoskopie: Prüfung des Schluckakts mit Hilfe eines transnasal eingeführten Endoskops Ziele: Prüfung des Verhaltens von Zungengrund, Pharynxmuskulatur, Kehlkopf und Stimmlippen Überprüfung der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen (Kopfhaltung, „Leerschlucken“, Schlucktechnik, Modifikation der Bolusmenge, konsistenz, -darbietung) Flexible (Nasen-)Endoskopie (1) Flexible (Nasen-)Endoskopie (2) Quelle: Bartolome, G. & Schröter-Morasch, H. (2006). Schluckstörungen. München: Urban & Fischer. Schluckambulanz Mobile Endoskopie (Nasen-)Endoskop ohne Videoanschluss (Nasen-)Endoskop mit Videoanschluss Lebensmittel Untersuchungssituation Vor- und Nachteile der Endoskopie + bedside-Diagnostik möglich (damit auch bei noch schwer beeinträchtigten Patienten einsetzbar) + beliebig oft wiederholbar (keine Strahlenbelastung) + geringe Kosten + zuverlässiges Instrument zur Diagnose einer stillen Aspiration - Fremdkörper im Nasen- Rachenraum - nicht alle Schluckphasen sind einsehbar Penetration/Aspiration Penetration: Eindringen von Bolusbestandteilen in die Luftwege oberhalb der Stimmlippen Aspiration: Eindringen von Bolusbestandteilen in die Luftwege unterhalb der Stimmlippen „Erste Hilfe“ bei mäßigen Schluckstörungen aufgerichteter Oberkörper während und bis zu 30 Minuten nach der Nahrungsaufnahme vorzugsweise breiige bzw. angedickte Kost keine Milchprodukte kleine Schlucke oder Bissen Essen und Trinken zeitlich trennen nach jedem Schluck (mehrmals) „leerschlucken“ Husten unterstützen (Heimlich-Handgriff), nach dem Husten (erneut) schlucken während des Schluckens nicht sprechen Cave: Suppe, Brühe und Getränke! Agenda Therapie der Dysphagie Dysphagie-Therapie (1) restituierend: ursachenorientierte Wiederherstellung gestörter Funktionen „krankengymnastische Übungen“ für Lippen, Zunge, Wangen und Kehlkopf Mimikübungen Übungen für die Kaumuskulatur Zungenübungen Leitlinie Neurogene Dysphagie „Die Wirksamkeit restituierender Verfahren wurde bisher unzureichend untersucht.“ Dysphagie-Therapie (2) kompensatorisch: Ersatzstrategien, die das Schlucken erleichtern, ohne auf die Ursache einzuwirken Haltungsänderungen Schlucktechniken Leitlinie Neurogene Dysphagie „Kompensatorische Verfahren Haltungsänderungen, Schlucktechniken) sind bei bestimmten Störungsmustern sehr wirksam.“ Dysphagie-Therapie (3) adaptierend: Anpassung der Umwelt durch Maßnahmen zur erleichterten und selbständigen Nahrungsaufnahme diätetische Maßnahmen („Koststufen“) Einsatz industriell hergestellter Produkte (Trinknahrung) Verwendung von Verdickungsmitteln Ess- und Trinkhilfen Plazierung der Nahrung Leitlinie Neurogene Dysphagie „Diätetische Maßnahmen, wie z. B. Andicken von Flüssigkeiten sind, sofern ihr Effekt mittels Videofluoroskopie und/oder Schluckendoskopie kontrolliert wird, ebenfalls sehr effektiv.“ Effektivität von Dysphagie-Therapie „Es existieren (...) einige nicht randomisierte Studien, die zeigen, dass es auch nach abgelaufener Spontanremission (> 6 Monate) zu signifikanten Veränderungen durch die Schlucktherapie kommt bzw. dass sich > 50 % der vorher sondenabhängigen Patienten wieder vollständig oral ernähren können. Auch ein stabiler Langzeiteffekt konnte belegt werden.“1 1Quelle: Leitlinie Neurogene Dysphagie (2004) Agenda Trachealkanülen bei Dysphagie Geblockte Trachealkanüle Geblockte Trachealkanüle mit Aufstau Geblockte Trachealkanülen Vorteile: Sicherung der Atemwege Schutz vor Aspiration Nachteile: Ausschalten des Nasen-Rachen-Raums, damit keine olfaktorischen und gustatorischen Reize mehr keine Phonationsmöglichkeit Fremdkörpergefühl, evtl. Schmerzen, Angst Kanülenverlegung durch Verschleimung Schädigungen von Trachealschleimhaut und Ringknorpel sind durch den Cuff möglich Gefensterte blockbare Kanüle Gefensterte blockbare Kanülen Vorteile: bei intakter Glottisfunktion und ausreichendem subglottischen Druck kann phoniert werden Nachteile: die Fensterung kann den Schutzmechanismus der Blockung wieder aufheben Indikation für gefensterte blockbare Kanülen ist für Dysphagie-Patienten unklar Vocalaid/Suctionaid-Kanülen Aufbau: geblockte Kanüle mit zwei Zugangsschläuchen: (1) ein Schlauch zur Cuff-Regulierung; (2) ein Schlauch zum Absaugen oder zur Zuführung von (Sprech-)Luft oberhalb des Cuffs Vocalaid-Kanüle Suctionaid-Kanüle Vor- und Nachteile der Vocalaidoder Suctionaid-Kanüle Vorteil: leichteres Absaugen von Material oberhalb des Cuffs Nachteil: eine vollständige Entfernung von liegen gebliebenem Material ist nicht garantiert Leitlinie Neurogene Dysphagie „Bei Notwendigkeit eines Tracheostomas mit geblockter Trachealkanüle hat sich eine zusätzliche Absaugvorrichtung oberhalb der Manschette als wirksam gegen Pneumonien erwiesen.“ Schlucken und Tracheostomie Eine Tracheostomie beeinträchtigt das Schlucken, weil die Fixierung der Trachea an der Halshaut zu einer Behinderung der Larynxelevation führt. Dadurch kommt es zu einem unzureichenden Kehlkopfverschluß und zu einer unvollständigen Öffnung des oberen Ösophagus-Sphinkters. Zeitweise Entblockung Eine zeitweise Entblockung ist möglich, wenn kein Sekret (mehr) aus dem Tracheostoma austritt; ein reflektorisches Husten vorhanden ist oder eine gurgelnde Stimmqualität verläßlich wahrgenommen wird und effektives willkürliches Husten möglich ist. Therapeutisches Vorgehen Bei hoher Aspirationsgefahr keine Therapie im entblockten Zustand; Durchführung kausaler und kompensatorischer Therapiemethoden mit geblockter Kanüle; Anleitung zum Speichelschluck, wobei es das Ziel ist, den Speichel wahrzunehmen, ihn auszuzuspucken oder regelmäßig (ca. ein Mal pro Minute) zu schlucken. Dauerhafte Entblockung Eine dauerhafte Entblockung ist möglich, wenn ein Abschlucken von Speichel gelingt; kein Verdacht (mehr) auf eine ausgeprägte Aspiration vorliegt; jedoch noch kein konstantes Abhusten möglich ist; gelegentliches Absaugen noch erforderlich ist. Orale Ernährung bei geblockter Kanüle (1) Keine orale Ernährung, weil die Blockung nicht konstant dicht ist; angestautes Material durch seine Masse Druck auf den Cuff ausübt und er dadurch undicht werden kann; angestautes Material zu Entzündungen führen kann; vom Patienten keine intentionalen Schutzund Reinigungsfunktionen angewendet oder erlernt werden können. Orale Ernährung bei geblockter Kanüle (2) Orale Ernährung, um eine Teilnahme an den Mahlzeiten zu gewährleisten und damit die Lebensqualität zu steigern; motorische, sensorische und sensible Bahnen zu aktivieren; ein „Design of learning situation“ zu schaffen (Konzept des motorischen Lernens). Orale Ernährung und geblockte Kanüle Eine orale Ernährung bei geblockter Kanüle kann indiziert sein, wenn vorangegangene (kausale und kompensatorische) Therapiemethoden keine Erfolge gebracht haben und Vorsichtsmaßnahmen während der oralen Nahrungsaufnahme beachtet werden. Vorsichtsmaßnahmen begleitende Fieberkontrolle radiologische bzw. endoskopische Kontrolle Kontrolle des Cuff-Drucks vor, während und nach der Nahrungsaufnahme Wechsel der Kanüle bei nachlassendem oder unzureichendem Cuff-Druck sorgfältiges Absaugen von liegen gebliebenem Material Schluss (1) Asklepios-Klinik Schaufling Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit Schluss (2) Sanatorium Hausstein/Schaufling um 1930 Bei Interesse an den Folien: e-Mail genügt! [email protected]