Subjektselektion bei Infinitiven

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Tibor Kiss
Subjektselektion bei Infinitiven
1
Anhebung und Kontrolle
Bechs (1955/57) Konzept der Orientierung ist in mehrfacher Hinsicht äußerst
originell. So geht es im Gegensatz zur generativen Literatur vom ‚kontrollierenden’ Verb und nicht von einem ‚kontrollierenden’ Argument des Verbs
aus.1 Somit muss Bech weder erläutern, wieso Kontrolle immer eine lokale
Beziehung zwischen kontrollierendem und kontrolliertem Verb ist, noch erklären, wieso Kontrolle nicht strukturell zu fassen und eher idiosynkratisch
ist. Man vergleiche dies etwa mit den vergeblichen Versuchen einer strukturellen Charakterisierung der Kontrolle in Stechow und Sternefeld (1988: 305320). Allerdings unterscheidet Bech nicht zwischen Kontrolle (Equi) und
Anhebung (Raising) (vgl. Rosenbaum 1967) und weist stattdessen beiden
Verben in (1) den Orientierungskoeffizienten N’:N’’ zu. Dies bedeutet, dass
das Subjekt des Komplementverbs (N’’) orientiert ist am Subjekt des Matrixverbs (N’), d.h. dass beide Subjekte auf dieselbe Entität referieren – eine
Charakterisierung, die allerdings alsbald zu modifizieren sein wird.
(1)
A
B
Ulrich versuchte zu kommen.
Ulrich schien zu kommen.
Im Folgenden werde ich nur Verben mit diesem Orientierungskoeffizienten
betrachten. Ich belasse es zunächst bei den vortheoretischen Charakterisierungen der beiden Phänomene in (2) und (3), vgl. Kiss (1995: 6), die sich wesentlich an der Frage orientieren, ob das Verb in einer semantisch-thematischen Beziehung zu seinem Subjekt steht oder nicht.
1
Die Sicht der generativen Syntax ist wesentlich von der Annahme geprägt, dass die
Beziehung zwischen syntaktisch realisiertem und logischem Subjekt der Beziehung
zwischen einem Antezedens und seiner Spur im Falle der Bewegung angeglichen werden sollte. Allerdings kann diese Sicht nur sehr schlecht erklären, warum das Verhältnis zwischen syntaktischem und logischem Subjekt strikt lokal ist, während eine Vermittlung der Beziehung über die involvierten Verben diese Erklärung sozusagen mitliefert.
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(2)
(3)
2
KONTROLLE (EQUI):
Wird ein infinites Syntagma von einem Verb regiert, das eine semantische Beziehung zu seinem Subjekt besitzt, dann ist das syntaktisch nicht realisierte Subjekt des regierten Verbs obligatorisch koreferent mit dem Subjekt des regierenden Verbs.
ANHEBUNG (RAISING):
Wird ein infinites Syntagma von einem Verb regiert, das keine semantische Beziehung zu seinem Subjekt besitzt, dann wird die syntaktische Form des Subjekts des regierenden Syntagmas durch die
Kriterien bestimmt, die das regierte Verb im finiten Fall an sein
Subjekt stellen würde.
In der Literatur werden zumeist fünf Unterscheidungskriterien vorgeschlagen
(vgl. hierzu Rosenbaum 1967, May 1985, Stechow und Sternefeld 1988, Kiss
1995), die wir im Folgenden mit T1 bis T5 bezeichnen wollen.
• T1 (EINBETTUNG VON IDIOMEN): Im Falle der Anhebung können Subjekte, die Teile von Idiomen bilden, N’ sein. Das Idiom macht dann V’’ aus,
wie in (4) illustriert ist. Das Verb scheinen erlaubt die Einbettung des Idioms, dessen Subjekt entsprechend der Bedingung (3) zum Subjekt des
Verbs scheinen wird.
(4)
•
T2 (EXPLETIVE SUBJEKTE): Im Falle der Anhebung können expletive
Subjekte N’ sein. Wir betrachten hierzu die es-gibt-hier-X-Konstruktion
des Deutschen, dessen Subjekt ein Expletivum, d.h. ein semantisch leeres
Pronomen ist. Diese Konstruktion kann, wie (5b) zeigt, unter scheinen
eingebettet werden, nicht jedoch unter versuchen – vgl. (5c).
(5)
•
A
Der Teufel hat ihn geritten.
B
Der Teufel schien ihn zu reiten
C * Der Teufel versucht ihn zu reiten.
A
Es gibt hier Ratten.
B
Es scheint hier Ratten zu geben.
C * Es versucht hier Ratten zu geben.
T3 (LEERSUBJEKTE): Im Falle der Anhebung können Leersubjekte (qua
Passivierung oder lexikalischer Idiosynkrasie von V’’) N’ sein. Im Deutschen entstehen Leersubjekte durch lexikalische Idiosynkrasie. So besitzt
das transitive psychologische Prädikat grauen kein Subjekt, sondern nur
ein Dativ- und ein Präpositionalkomplement, wie (6) illustriert. Leersubjekt können auch durch Passivierung eines Verbs entstehen, das kein Akkusativobjekt besitzt. Dies gilt für das Verb helfen in (7). Nun kann grauen ebenso wie geholfen zu werden unter das Verb scheinen eingebettet
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werden, wie (6b) und (7b) zeigen, nicht jedoch unter versuchen – vgl.
(6c) und (7c).
(6)
(7)
•
T4 (EINGEBETTETE PASSIVIERUNG): Bei einer eingebetteten Passivierung
von V’’ entsteht bei Kontrolle ein Bedeutungsunterschied, bei Anhebung
hingegen nicht. So sind (8b) und (8c) bedeutungsäquivalent, (8d) und
(8e) hingegen nicht.
(8)
•
A
Ihm graut vor dir.
B
Ihm scheint vor dir zu grauen.
C * Ihn versucht vor dir zu grauen.
A
Hier wird ihnen geholfen.
B
Hier scheint ihnen geholfen zu werden.
C * Hier versucht ihnen geholfen zu werden.
A
B
C
D
E
Ulrich schlägt Claudia.
Ulrich scheint Claudia zu schlagen.
Claudia scheint von Ulrich geschlagen zu werden.
Ulrich versucht Claudia zu schlagen.
Claudia versucht von Ulrich geschlagen zu werden.
T5 (QUANTORENSKOPUS): Schließlich kann ein als N’ realisierter Quantor seinen Skopus unterhalb eines funktionalen Anhebungsverbs V’ finden, weswegen (9b), nicht jedoch (9c), in dem V’ ein Kontrollverb ist,
eine de dicto-Lesart haben kann. In der de dicto-Lesart ist die Existenzpräsupposition des Subjektquantors aufgehoben. Aus (9b) folgt somit in
dieser Lesart nicht, dass Einhörner tatsächlich existieren. Eine entsprechende Lesart ist in (9c) hingegen ausgeschlossen.
(9)
A
B
C
Ein Einhorn verstreut Blumen im Garten. (∃x)
Ein Einhorn scheint Blumen im Garten zu verstreuen. (de re: ∃x >>
SCHEINEN, de dicto: SCHEINEN >> ∃x)
Ein Einhorn versucht Blumen im Garten zu verstreuen. (de re: ∃x
>> VERSUCHEN, *de dicto: VERSUCHEN >> ∃x)
Bis auf T3 haben die genannten Tests bestimmte Schwachpunkte: So besteht
die Möglichkeit, bei T1 statt der tatsächlich idiomatischen Bedeutung eine literale oder metaphorische zu verwenden. Bei T2 dürfen keine Prädikate verwendet werden, deren expletive Subjekte tatsächlich zumindest partiell referentiell gedeutet werden können (vgl. Bolinger 1973). Dies gilt insbesondere
für die expletiven Subjekte von Wetterverben wie regnen, schneien, donnern.
Dies verdeutlichen die Beispiele in (10). Während das Subjekt des Verbs
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regnen offensichtlich das verstandene Subjekt eines infiniten Adjunkts kontrollieren kann, ist dies bei geben (es gibt hier ...) nicht möglich.
(10) A
Es regnete ohne zu donnern.
B * Es gibt hier Ratten ohne Spinnen zu geben.
Das Problem mit T4 und T5 ist natürlich der Appell an die Interpretation, bei
T4 insbesondere auch, dass natürlich informationsstrukturelle Gegebenheiten
interferieren können. Im Folgenden werde ich mich auf die Anwendung von
T2, T3 und T4 beschränken.
2
Die besonderen Eigenschaften der Halbmodalverben
Bei den Halbmodalverben – manchmal auch Modalitätsverben genannt (vgl.
Bußmann 20023: 439) – handelt es sich im Deutschen um eine kleine Klasse,
die die Verben scheinen, versprechen, drohen und pflegen einschließt.
(11) A
B
Mit dieser 1995 notabene auch von anderen Grossunternehmen wie
General Motors oder ITT beschlossenen «Abnabelung» ganzer Konzernbereiche verfolgt AT&T das Ziel, sich im harten Konkurrenzkampf behaupten zu können, den die vom Kongress geplante Deregulierung des Fernmeldewesens bald einmal auszulösen verspricht.
(Neue Zürcher Zeitung, Januar 1996)
Neue Mythen und pfannenfertige Glückskonzepte drohen heute
wichtige gesellschaftspolitische Fragen der Diskussion zu entziehen: Sekten versprechen ewiges Glück, Gentechnologie verspricht
eine ideale Menschenwelt. (Neue Zürcher Zeitung, Januar 1996)
Diese Halbmodalverben weisen bestimmte morphologische, syntaktische und
semantische Besonderheiten auf. Wie die Beispiele in (11) zeigen, bilden
versprechen und drohen ein duales Paar, das eine gemeinsame modale Komponente besitzt, die paraphrasiert werden kann als es ist wahrscheinlich, dass
p. Sie unterscheiden sich in der Bewertung der Proposition p. Während bei
versprechen eine positive Grundbewertung vorgenommen wird, liegt bei
drohen eine negative Einstellung vor. Dies kann anhand der folgenden Beispiele illustriert werden:
(12) A
B
Der Zug mit der Schwiegermutter verspricht in Bälde einzutreffen.
Der Zug mit der Schwiegermutter droht in Bälde einzutreffen.
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Die Bespiele in (12) besitzen eine gemeinsame modale Komponente, nämlich, dass es wahrscheinlich ist, dass der Zug mit der Schwiegermutter bald
eintrifft. Sie unterscheiden sich nur in der Einschätzung dieses Sachverhalts.
Morphologisch ist festzuhalten, dass die Halbmodalverben defektiv sind,
denn es gibt im Gegensatz etwa zu den Modalverben keine infiniten Formen
von ihnen, vgl. (13). Dies mag an der obligatorisch epistemischen (im Gegensatz zu einer deontischen) Interpretation liegen, denn epistemische Modalverben scheinen im Deutschen nie infinit vorzukommen. So gestattet
(13b) sowohl eine deontische als auch eine epistemische Interpretation des
finiten Modalverbs müssen, während das infinite Modalverb müssen in (13a)
nur noch deontisch interpretiert werden kann. Aber auch für diese generellere
Beobachtung gibt es keine wirkliche Erklärung, zumal eine epistemische
Modalität in anderen Sprachen durchaus infinit realisiert werden kann. In jedem Fall zeigen die ungrammatischen Beispiele in (14), dass weder versprechen noch drohen infinit auftreten können und entsprechend gilt dies auch für
scheinen und pflegen.
(13) A
Die Deregulierung des Fernmeldewesens wird den Boom auslösen
müssen.
B
Die Deregulierung des Fernmeldewesens muss den Boom auslösen.
(14) A * Die Deregulierung des Fernmeldewesens wird den Boom auszulösen versprechen.
B * Neue Mythen werden morgen wichtige gesellschaftspolitische Fragen der Diskussion zu entziehen drohen.
Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung liegt die Frage nach der Einordnung der Modalverben in das in (2) und (3) vorgestellte und durch die Tests
T1 bis T5 bestimmte Klassifikationsschema. Handelt es sich also bei den
Halbmodalverben um Anhebungs- oder Kontrollverben? Diese Frage ist insofern von Interesse, als eine Teilgruppe der Halbmodalverben beim sichersten Test für Anhebungsverben, T3, versagt: Die Halbmodalverben verhalten
sich hier wie Kontrollverben.
Im Gegensatz zum Halbmodalverb scheinen, das, wie wir ja schon anhand
von (6b) und (7b) gesehen haben, als paradigmatisches Anhebungsverb bestimmt werden kann, verbietet das halbmodale versprechen im Sinne von
lässt erwarten bzw. ist wahrscheinlich, dass, die Einbettung von Prädikaten
mit Leersubjekten, wie die folgenden Beispiele zeigen:
(15) A * Hier verspricht ihnen geholfen zu werden.
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B * Den Mädchen verspricht vor diesem Scherz zu grauen.
Anders ist dies hingegen bei T2, wie die Beispiele in (16) belegen. Dass diese
Beispiele grammatisch sind, legt den Schluss nahe, dass es sich bei den Halbmodalverben nicht um Kontrollverben handelt, während das Versagen bei T3
darauf schließen lässt, dass es sich nicht um Anhebungsverben handelt.
(16) A
B
C
Es verspricht hier Ratten zu geben.
Es droht hier Ratten zu geben.
Es pflegte hier Ratten zu geben.
Der Test T1 scheint ebenso wie T2 zu zeigen, dass es sich nicht um Kontrollverben handelt.
(17) A ? Der Teufel verspricht ihn zu reiten, wenn wir das machen.
B
Der Teufel pflegte ihn zu reiten, wenn er mehr als drei Schnäpse getrunken hatte.
Auch T4 scheint den Schluss nahe zu legen, dass es sich bei den Halbmodalverben nicht um Kontrollverben handelt, wie (18) zeigt.
(18) A
B
Ulrich verspricht Claudia auf Vordermann zu bringen.
Claudia verspricht von Ulrich auf Vordermann gebracht zu werden.
Ich lasse hierbei T5 außer Acht und komme vorläufig zu der Schlussfolgerung, dass die Halbmodalverben des Typs versprechen nach den Tests
T1, T2 und T4 nicht als Kontrollverben und nach Anwendung des Tests T3
wiederum nicht als Anhebungsverben klassifiziert werden können.
Ich würde es allerdings für verfrüht halten, hieraus den Schluss zu ziehen,
dass das Verhalten der Halbmodalverben enigmatisch ist bzw. sich einer
Klassifikation entzieht. Bereits die informellen Charakterisierungen von
Kontrolle und Anhebung in (2) und (3) setzen eine binäre Opposition voraus:
entweder besteht eine semantische Beziehung zwischen dem Verb und seinem Subjekt oder eine solche Beziehung besteht nicht. Während die folgenden Überlegungen diese prinzipielle Frage weiterhin eindeutig binär beantworten werden, möchte ich im folgenden aufzeigen, dass es nicht allein darum geht zu bestimmen, ob eine solche Beziehung zwischen dem Subjekt und
dem Verb besteht, sondern insbesondere auch darum welche Eigenschaften
das betreffende Verb bei seinem Komplement voraussetzt. Meine Schlussfolgerung wird sein, dass eine Einteilung in genau zwei Klassen nicht ausreichend ist, vielmehr zu unterscheiden ist zwischen Verben, die ein referentielles Subjekt beim Komplement verlangen und solchen, die dies nicht tun.
SUBJEKTSELEKTION BEI INFINITIVEN
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Letzteres bedeutet aber nicht, dass die Verben deswegen überhaupt keine
Forderungen an ihr Komplement richten. Bevor ich diese Überlegung jedoch
näher erläutere und damit zugleich zur theoretischen Deutung der o.g. Unterscheidung komme, möchte ich zunächst einige weitere empirische Gesichtspunkte diskutieren, wobei ich mich auf das Verb versprechen konzentriere.
3
Eigenschaften des Verbs versprechen
Syntaktische Distributionen werden wesentlich durch introspektive Urteile
begründet. Obwohl diese Urteile prinzipiell ebenso hilfreich wie wohlbegründet sein können, ist es dennoch wünschenswert, die Bewertungen, die doch
wesentliche Implikationen für die syntaktische Theoriebildung zeitigen,
durch nicht-introspektive Urteile zu unterstützen, also beispielsweise durch
Korpusbeobachtungen. Dieser Maxime folgend versuche ich im Folgenden
einige Charakteristika des Verbs versprechen aus Korpusdaten zu extrahieren. Die Konzentration auf dieses Halbmodalverb ist zum Teil auch seinen
morphologischen Eigenheiten geschuldet, denn die relativ arme Morphologie
– kein Partizip mit ge-, einfacher Ablaut – gestattet eine relativ einfache Suche mit einer regulären Grammatik. Die Untersuchung der Korpuscharakteristika des Verbs versprechen sollte im Idealfall einige kontroverse Annahmen zur Syntax dieses Verbs bestätigen, so etwa die Frage, ob dieses
Verb in seiner halbmodalen Lesart dem Test T4 genügt. Tatsächlich zeigt es
sich allerdings, dass auch außerordentlich eindeutige Kompetenzdaten in
Korpora oft nicht nachgewiesen werden können und somit nur sehr umfangreiche Stichproben Bestätigungen für Kompetenzdaten liefern. Dies sollte
den Linguisten nicht daran hindern, prinzipiell umfangreichste Stichproben
zu untersuchen. In der vorliegenden Untersuchung werde ich mich allerdings
auf eine relativ kleine Stichprobe beziehen, die dennoch einige interessante
Beobachtungen gestattet. Tabelle 1 fasst die Eigenschaften der Stichprobe
zusammen.
TIBOR KISS
Ausschnitt
8
Gesamt
Arten (Types) im Korpus
194.978
935.000
Vorkommen (Token) im Korpus
2.310.989
28.000.000
Type/Token-Ratio
11,85
29,95
Vorkommen
164
2051
Ratio zum Durchschnitt
13,84
68,49
Tabelle 1: Korpuscharakteristika für das NZZ-1996-Korpus
und die Stichprobe Januar 1996
Die Tabelle 1 verdeutlicht, dass ich einen ca. 10 %igen Ausschnitt aus einem
ca. 28 Millionen Wörter umfassenden Korpus gewählt habe und zwar die
Ausgaben der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom Januar 1996. Dieser Ausschnitt besteht aus ca. 194.000 unterschiedlichen Worttypen, während das
Gesamtkorpus ca. 930.000 Worttypen aufweist. Somit beträgt das Verhältnis
zwischen Typen und Vorkommen im Ausschnitt ca 12, im Gesamtkorpus jedoch knapp 30. Die entspricht einer typischen Eigenschaft von Wordfrequenzdistributionen (vgl. Baayen 2000): Bei ansteigender Anzahl der Vorkommen steigt auch die Anzahl der Typen weiterhin an, anstatt um einen erreichten Mittelwert zu pendeln. Dies liegt im wesentlichen daran, dass die
Verteilung von Wörtern in einem Korpus einer LNRE-Distribution (large
number of rare events) folgt, was wiederum daran liegt, dass Sprache aus einer geringen Anzahl hochfrequenter Worttypen und einer außerordentlich
hohen Anzahl extrem niedrigfrequenter, d.h. ein- oder zweimal vorkommender Worttypen, sog. hapax bzw. dis legomena besteht. In jedem Fall kann das
Verb versprechen zu den eher hochfrequenten Wörtern gezählt werden: Im
Ausschnitt kommt es fast 14-mal häufiger vor als der Durchschnitt, im Gesamtkorpus sogar fast 70-mal so häufig.
Was wir nun aber vor allem beobachten können, ist, dass das Verb versprechen polyvalent ist, d.h. in vielen unterschiedlichen Subkategorisierungsrahmen auftritt. In der Tabelle 2 sind die wesentlichen (und klaren)
Subkategorisierungsrahmen zusammengefasst.
SUBJEKTSELEKTION BEI INFINITIVEN
9
Anzahl Verteilung
mit finitem Komplement
8
4,88%
Kontrollinfinitiv mit zu
26
15,85%
Infinitiv halbmodal
8
4,88%
halbmodal nominal
22
13,41%
reflexiv
24
14,63%
nominales Objekt
39
23,78%
andere Subkategorisierungsrahmen
37
22,56%
Summe
164
100,00%
Tabelle 2: Vorkommen von versprechen
Bei der Betrachtung der Tabelle 2 fällt natürlich zunächst einmal auf, dass infinite Komplemente von versprechen etwa so oft auftreten wie nominale
Komplemente, die in den Beispielen in (19) illustriert sind.1
(19) A
B
Die Regierung in Algier hat allen Untergrundkämpfern, die ihre
Waffen niederlegen und sich den Behörden stellen, eine Amnestie
versprochen.
Forte wird auch seine Savoy-Anteile an seine Aktionäre verteilen das Unternehmen verspricht Dividendensteigerungen von jeweils
mindestens 20% bis einschliesslich 1998/99.
Bei den infiniten Komplementen ist die Verteilung recht eindeutig: Dreimal
so häufig findet sich das kommissive versprechen gegenüber dem halbmodalen versprechen. Allerdings findet sich das halbmodale versprechen
immerhin genau so häufig wie versprechen mit einem finiten Komplement.
Neben dem Beispiel (11a) fanden sich die Beispiele in (20).
(20) A
B
C
1
Cavaco Silva schien nicht jener «Präsident aller Portugiesen» sein
zu können, der Soares meisterhaft zu sein verstand und der Cavacos
Kontrahent Sampaio im Wahlkampf zu sein versprach.
Die Festnahme des Drogenbosses und dessen Abschiebung in die
USA versprechen deshalb neues Licht auf die Affären der Familie
Salinas zu werfen.
Gleichermassen für frischen Wind zu sorgen verspräche aller Voraussicht nach auch Max Friedli.
Die Korpusbelege entstammen der Neuen Zürcher Zeitung, somit findet man in Ihnen
auch dort kein ‚ß’, wo nach der neuen deutschen Rechtschreibung eines zu erwarten
wäre.
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D
E
F
G
10
Regina Giddens (Bette Davis) will mit 75 000 Dollar in ein Geschäftsprojekt ihrer beiden Brüder einsteigen, das einen Millionengewinn abzuwerfen verspricht.
Mit spezifischen Startübungen und Strassentraining eigneten sich
die Fahrer den letzten Schliff für die WM-Prüfung an, die offenbar
noch schneller zu werden verspricht als die Hauptprobe.
Der PDC hätte an einer neuen Verbindung nur dann ein Interesse,
wenn sie der Partei die dritte Präsidentschaft in Folge einzutragen
verspräche.
Diese Bekundung einer härteren Haltung Ottawas überschattete am
Montag den vielfach als Krönung qualifizierten Regierungsantritt
des neuen separatistischen Provinzpremiers von Quebec, Lucien
Bouchard, dessen Charisma der Sezessionsoption seines Parti québécois (PQ) neue Impulse zu geben verspricht.
Wir sehen hier allerdings schon anhand der Daten ein ganz wesentliches Identifikationskriterium für halbmodales versprechen: Ebenso wie schon in
(11a) ist in den Beispielen (20b), (20d), (20e), (20f) und (20g) das Subjekt
unbelebt und erfüllt somit eine Voraussetzung für kontrollierende Subjekte
nicht, nämlich Intention, wenigstens doch Volition (vgl. Sag / Pollard 1991,
Pollard / Sag 1994). Dies widerspricht natürlich auch einer Klassifikation, die
halbmodales versprechen als Kontrollverb einstuft.
Eine weitere interessante Beobachtung, die in deutlichem Kontrast zur
Charakterisierung der Halbmodalverben als Verben mit infinitem Komplement stehen, ist die hohe Anzahl von modalen Verwendungen von versprechen ohne infinites Komplement – immerhin fast dreimal so hoch wie die tatsächlich echten Halbmodalverben! Einige Beispiele finden sich in (21).
(21) A
B
C
D
Arzú verspricht dank der Vormacht seiner Partei – sie dominiert neben dem Parlament auch die Judikative – eine starke und stabile Regierung.
Beide Kandidaten legen Dossiers vor, die ein Turnier in neuen Dimensionen versprechen.
Es war die Bitterkeit der Enttäuschung über die Epoche, die Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit versprach – dafür stand auch
dieses Haus – und im Faschismus und Krieg endete.
Die zweite Studie, von Sarah Broadie, verspricht vom Titel her –
Ethics With Aristotle – ein systematisches Werk über Ethik, das von
Aristoteles nur ausgeht.
SUBJEKTSELEKTION BEI INFINITIVEN
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Auch hier fällt auf, dass die jeweiligen Subjekte nicht belebt sind. Eine angemessene Analyse für die Beispiele in (21) vermag ich zurzeit nicht anzubieten, allerdings sind die Beispiele ja eben nicht infinit und fallen somit
auch nicht unter die Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes.
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die Korpusstichprobe
aufzeigt, dass halbmodale Formen von versprechen, die ja immer finit sein
müssen, immer noch doppelt so häufig auftreten wie ein durchschnittliches
Wort in der Stichprobe (11,85 zu 22). Das halbmodale versprechen zählt somit durchaus zu den häufig vorkommenden Wörtern. In der Stichprobe zeigten sich zwar keine Beispiele, die explizit als Bestätigungen der Tests T1 bis
T5 gewertet werden könnten, wohl aber eine Vielzahl von Bespielen, die den
Schluss nahelegen, dass versprechen kein Kontrollverb sein kann. Wesentlich ist dies darin begründet, dass halbmodales versprechen nicht belebte
Subjekte zulässt.
4
Kontrolle und Anhebung: Theoretische Deutung
Kommen wir nun zur theoretischen Deutung. Zur Analyse infiniter Komplementation finden wir im Rahmen der theoretischen Linguistik, zwei bzw. drei
beherrschende Modelle. Da ist zum einen die auf Rosenbaum (1967) zurückgehende Analyse; insbesondere in ihrer Modifikation durch Chomsky (1981).
Chomsky setzt zur Erfassung der unterschiedlichen Eigenschaften zwei unterschiedliche Leerelemente an: Das Subjekt des infiniten Komplements eines Kontrollverbs ist das leere Pronomen PRO, während das Subjekt des infiniten Komplements eines Anhebungsverbs eine Spur ist, die mit dem syntaktischen Subjekt des Anhebungsverbs koindiziert ist. Insbesondere die Annahme, dass das Subjekt eines Kontrollkomplements PRO sein soll, führte
bereits kurz nach ihrer Einführung zu einer Vielzahl konzeptueller Probleme,
wie man beispielsweise anhand der Diskussion in Stechow und Sternefeld
(1988: 305-320) nachvollziehen kann. Entsprechend ist diese Analyse in
jüngster Zeit durch eine Anzahl von Arbeiten von Hornstein (1999) und
Boeckx und Hornstein (2004) modifiziert worden. Sie schlagen vor, dass es
sich tatsächlich sowohl bei Kontrolle als auch bei Anhebung nur um ein leeres Element handelt, dieses leere Element – bzw. die Kette gebildet aus leerem Element und syntaktisch realisiertem Subjekt – allerdings im Falle der
Anhebung nur eine, im Falle der Kontrolle aber zwei thematische Rollen besitzt. Dies reflektiert, dass das Subjekt eines Kontrollverbs sowohl in einer
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semantischen Beziehung zum Kontrollverb (d.h. V’) als auch zum kontrollierten Verb (d.h. V’’) steht, während das syntaktische Subjekt eines Anhebungsverbs nur eine semantische Beziehung zu V’’ besitzt, nicht jedoch zu
V’.
Der wesentliche strukturelle Unterschied zwischen (22) und (23) besteht
also darin, dass das Matrixsubjekt in (22) das Argument zweier Verben (versuchen und kommen) ist, in (23) aber nur das Argument eines Verbs (kommen).
(22)
Ulrich versucht zu kommen.
S
NP i
Ulrich
VP
V
S
versucht
(23)
NP
VP
ti
zu kommen
Ulrich scheint zu kommen.
S
NP i
Ulrich
VP
V
scheint
S
NP
VP
ti
zu kommen
Diese Analyse erfasst die Tests T1, T2, T4 und T5, allerdings nicht den Test
T3 auf Leersubjekte, weil diese im o.g. Ansatz aus unabhängigen Gründen
nicht existieren sollten. Da eine solche Analyse theorieinterne Fragestellun-
SUBJEKTSELEKTION BEI INFINITIVEN
13
gen berührt, wollen wir diesen Punkt aber nicht vertiefen, sondern annehmen,
dass der Ansatz eine theoretische Interpretation der o.g. Tests gestattet.
Der entgegengesetzte Ansatz, der u.a. in Bresnan (1982), Kiss (1995) und
Pollard und Sag (1994) vertreten wird, geht – somit wissentlich oder unwissentlich auf Bech (1955/57) zurückgehend und diesen erweiternd – davon
aus, dass Kontrolle und Anhebung durch unterschiedliche Selektionen des
Komplementsubjekts charakterisiert werden müssen. Ich werde hier anhand
des Vorschlages in Kiss (1995) erläutern, was dies für die Halbmodalverben
bedeutet.
In Kiss (1995) habe ich vorgeschlagen, Anhebungsverben durch die vollständige Übernahme der Subjektforderung ihres Komplements zu charakterisieren. Die Subjektforderung wird hier als Bestandteil der Valenz durch ein
listenwertiges Merkmal charakterisiert. Eine VP wie geküsst zu werden besitzt entsprechend die folgende Charakterisierung:
(24)
V [SUBJ NP:[1] ]
Das Merkmal SUBJ ist eines der Valenzmerkmale. Es drückt aus, ob ein Prädikat ein Subjekt verlangt oder nicht. Falls das Prädikat ein Subjekt verlangt,
enthält die Werteliste < … > eine Spezifikation des Subjekts, falls kein Subjekt verlangt wird, ist die Werteliste leer. Die Spezifikation in (24) besagt,
dass die VP geküsst zu werden ein nominales referentielles Subjekt fordert.
Dass es sich um eine Nominalphrase handelt, ist unmittelbar durch die Kategorie NP erkennbar, die Referentialität wird im Rahmen dieses Ansatzes
durch [1] repräsentiert. Insgesamt bedeutet die Valenzspezifikation in (24)
also, dass eine verbale Projektion als syntaktisches Argument verlangt wird,
die eine nicht gesättigte Valenzstelle besitzt. Diese Valenzstelle ist das Subjekt und dieses muss nominal und referentiell sein. Dass das Subjekt referentiell sein muss, schließt natürlich expletive (d.h. nicht referierende) Subjekte
aus.
Die entsprechende Spezifikation eines Anhebungsverbs kann durch die
Gleichung in (25) dargestellt werden. Diese Gleichung besagt, dass die Subjektvalenz des Anhebungsverbs vollkommen identisch ist mit der Forderung,
die das Komplement (COMP) des Anhebungsverbs an sein Subjekt stellt.
(25)
SUBJ = COMP|SUBJ
Die Gleichung in (25) besagt also, dass ein Anhebungsverb dasjenige als
Subjekt übernimmt, was sein Komplement anbietet. Wenn das Komplement
TIBOR KISS
14
verlangt, dass sein Subjekt referentiell ist, dann verlangt somit das Anhebungsverb auch nach einem referentiellen Subjekt. Wenn das Komplement
verlangt, dass das Subjekt ein expletives Pronomen oder eine andersweitig
nicht-referierende NP ist (etwa im Falle von subjekteinschließenden Idiomen), dann verlangt auch das Anhebungsverb, dass sein Subjekt ein Expletivum ist. Erläutern wir dies anhand der Repräsentation eines expletiven Subjekts in (26), etwa für die VP Ratten zu geben. Dieses unterscheidet sich von
der Repräsentation in (24) dadurch, dass kein referentieller Index gegeben ist,
denn dieses Subjekt ist ja nicht referentiell.
(26)
V [SUBJ NP ]
Ein Anhebungsverb kann infolge der Gleichung (25) sowohl mit einer Verbalphrase mit der Spezifikation in (24) auch mit einer VP mit der Spezifikation in (26) kombiniert werden. Im ersten Fall besitzt das Anhebungsverb
dann ein referentielles, im letzteren Fall ein expletives Subjekt. Ein solches
Verb kann sogar mit einer VP kombiniert werden, die überhaupt kein Subjekt
besitzt, dargestellt wie in (27). Dann besitzt selbstverständlich auch das Anhebungsverb kein Subjekt.
V SUBJ
(27)

Die Gleichung in (25) leitet somit die Beispiele in (28) einheitlich ab.
(28) A
Ulrich scheint zu schwimmen. (zu schwimmen: V [ SUBJ NP : [1] ] )
B
Es scheint hier Ratten zu geben. (Ratten zu geben: V [ SUBJ NP ] )
C
Hier scheint ihnen geholfen zu werden. (ihnen geholfen zu werden:
V [ SUBJ ] )
Anders ist dies im Falle der Kontrollverben. Diese verlangen einheitlich, dass
ihre Komplemente die Spezifikation in (24) besitzen. Die in Sag und Pollard
(1991) vorgestellte Kontrolltheorie verlangt des Weiteren, dass diese NP
nicht referentiell, sondern in Abhängigkeit vom kontrollierenden Verb auch
<belebt> sein muss. Dies folgt aus der Annahme, dass Kontrollverben semantisch charakterisiert werden können als Verben, die kommissive und ähnliche Relationen etablieren, die jeweils Volition bzw. Intention voraussetzen.
Dies folgt bereits aus der Semantik kommissiver Sprechakte.
Wir können die Forderung von Kontrollverben etwas vereinfachend so
wie in (29) darstellen. Hier wird verlangt, dass der referentielle Index des
Subjekts eines Kontrollverbs übereinstimmen muss mit dem referentiellen
Index des geforderten Subjekts des Komplements des Kontrollverbs. Daraus
SUBJEKTSELEKTION BEI INFINITIVEN
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folgt natürlich unmittelbar, dass das Komplement eines Kontrollverbs eine
entsprechende Valenzstelle besitzen muss.
(29)
SUBJ NP:[1]

 COMP|SUBJ NP:[1] 
Tatsächlich bestehen die Repräsentationen in (25) und (29) aus zwei unterschiedlichen Forderungen: Zum einen aus einer Spezifikation der Eigenschaften der Valenzstelle des Komplementsubjekts, beispielsweise, ob die Stelle
referentiell ist oder nicht, welche Kategorie die Stelle haben muss etc.; zum
anderen aus der Identifikation der kategorialen und referentiellen Spezifikationen der Valenzstelle mit der Valenz des Subjekts von V’. Hierbei muss man
sich klar machen, dass auch eine Spezifikation wie NP nur eine Abkürzung
für ein Bündel von Merkmalen ist, dass eine Kategorie besitzen muss. In Abhängigkeit von den spezifizierten Merkmalen kann dann eine Identifikation
von Teilen der Merkmale gefordert werden. Dies kann, wie anhand von (27)
bereits angesprochen wurde, so weit gehen, dass keinerlei Merkmale gefordert werden und stattdessen übernommen wird, was an Spezifikationen vorhanden ist.
Aus den Repräsentationen (25) und (29) können die Tests T1 bis T5 unmittelbar abgeleitet werden. Idiomatische, expletive und leere Subjekte entsprechen nicht der Spezifikation in (29) und können deswegen nicht als
Komplementsubjekte eines Kontrollverbs mit referentiellem Subjekt erscheinen. Weil ein Anhebungsverb keine thematische Beziehung zu seinem Subjekt besitzt, zählen nur die semantischen Beziehungen, die in V’’, d.h. im
Komplementverb entspringen. Eine Passivierung ist cum gano salis bedeutungserhaltend. Wenn nun nur die semantischen Beziehungen zählen, die das
Komplementverb etabliert und das Komplementverb passiviert wird, dann
folgt, dass die Bedeutung des Gesamtsatzes sich nicht verändert. Dies konnten wir ja entsprechend in (8b, c) beobachten.
T5 folgt schließlich daraus, dass das Subjekt eines Kontrollverbs referentiell ist. Ein Quantor, der eine semantische Beziehung zu seinem Verb etabliert, kann in der Interpretation nicht unterhalb des Verbs abgesenkt werden,
zu dem diese Beziehung besteht. Bei Anhebungsverben hingegen besteht diese semantische Beziehung gerade nicht. Der Quantor steht nur in einer semantischen Beziehung zum Komplementverb und kann entsprechend in diese
Position abgesenkt und dort interpretiert werden.
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Die Analyse der Halbmodalverben
Was machen wir aber nun mit den Halbmodalverben? Der hier beschriebene
Ansatz unterscheidet sich insofern von den Ansätzen von Chomsky (1981)
bis Hornstein (1999), als eine binäre Opposition eben nicht gefordert sind. Es
spricht nichts dagegen, neben den Spezifikationen in (25) und (29) eine weitere Spezifikation anzusetzen, in der schlichtweg gefordert wird, dass das
Subjekt des regierenden Verbs identisch ist mit einer Forderung nach einem
Subjekt des regierten Verbs. Diese Spezifikation unterscheidet sich dadurch
von (25), dass ein Subjekt vorhanden sein muss, sie unterscheidet sich von
(29) darin, dass das Komplementsubjekt nicht referentiell sein muss.
(30)
SUBJ XP
 COMP|SUBJ
XP


Aus der Spezifikation in (30) folgt, dass ein solches Verb sich gemäß T1, T2
und T4 wie ein Anhebungsverb, gemäß T3 aber nicht wie ein Anhebungsverb
verhalten wird.1 Man mag gegen diese Analyse einwenden, dass sie eben gerade das Verhalten der Halbmodalverben richtig zu erfassen gestattet, d.h.
dass es sich um eine ad hoc-Erweiterung handelt. Dagegen ist folgendes auszuführen: Die hier skizzierte Analyse erlaubt prinzipiell die Formulierung unterschiedlicher, zueinander abgeschwächter Forderungen. Wenn wir versuchen, hierzu eine Hierarchie der Forderungen zu etablieren, dann ergibt sich
eine Skala, in der die maximale Forderung sicherlich eine kategorial spezifizierte, referentielle Subjektvalenzstelle ist. Als minimale Forderung ergibt
sich die Spezifikation in (25), d.h. es wird akzeptiert, was auch immer als
Subjektvalenzstelle angeboten wird. Dies schließt den Verzicht auf eine solche Valenzstelle explizit mit ein. Aber das sind nur die Extrempositionen der
Skala. Der Nachweis von Zwischenpositionen, d.h. Valenzforderungen, die
nicht so spezifisch sind wie (24), aber spezifischer als (25) ist ein empirisches Problem und würde nur dann ein konzeptuelles sein, wenn es keinerlei
Belege hierfür gäbe. Nun zähle ich die Halbmodalverben gerade als Instantiierungen einer solchen Zwischenposition. Diese Überlegung wird durch andere Daten unterstützt. So beobachtet Postal (2004) das idiosynkratische
Verhalten der Prädikate be the matter und be wrong with im Englischen.
1
Das Verhalten bezüglich T5 ist unklar, weil Halbmodalverben die Existenz des Matrixsubjekts präsupponieren, was einer engen Lesart des Quantors zuwiderläuft.
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Beide Prädikate verlangen, dass ihr Subjekt kein Pronomen ist, wie die folgenden Beispiele illustrieren:
(31) A
Something is the matter with my transition, but that sort of thing/*it
is not the matter with his.
B * He said that something was wrong with her values, and it was wrong
with them.
Landau (2004) beobachtet, dass diese Prädikate als Komplemente von Anhebungsverben beobachtet werden können, nicht jedoch als Komplemente von
Kontrollverben und führt dies darauf zurück, dass Kontrollverben im Gegensatz zu Anhebungsverben verlangen, dass das Komplementsubjekt nicht nur
eine referentielle NP, sondern tatsächlich eine pronominale NP sein muss. Es
spricht also nichts dagegen anzunehmen, dass ganz unterschiedliche Valenzforderungen an die Subjektvalenz eines infiniten Komplements gestellt werden können.
Es ist mir auf der anderen Seite nicht klar, wie das unterschiedliche Verhalten von scheinen und halbmodalem versprechen im Rahmen der Modelle
von Chomsky und Hornstein abgeleitet werden könnte.
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Passivierung: Empirische Argumente für die Selektion
Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bewegungs- und der Selektionsanalyse betrifft die Frage der Einheitlichkeit der Prozesse: Im Bewegungsansatz folgt die Identifikation aus der Bewegung. Im Selektionsansatz wird
zunächst ausgewählt und dann identifiziert. Somit ergibt sich ein Unterschied
zwischen beiden Ansätzen dann, wenn man Prozesse betrachtet, in denen ein
Subjekt unterdrückt wird, etwa die Passivierung. Der Bewegungsansatz sagt
dann vorher, dass dennoch eine Bewegung stattfinden kann, der Selektionsansatz hingegen nicht. Betrachten wir hierzu die Passivierung im Deutschen.
Bekanntermaßen wird bei der Passivierung im Deutschen nur dann ein
Subjekt realisiert, wenn das betreffende Verb ein nominales Objekt im Akkusativ besaß. Wenn wir nun eine infinite Konstruktion betrachten, in der ein
Matrixverb ohne Akkusativobjekt – z.B. wünschen – ein passiviertes Komplementverb mit Akkusativobjekt – z.B. küssen – einbettet, so wie in (32a),
ergibt sich folgende Vorhersage: Das Subjekt des Matrixverbs wird unterdrückt, d.h., es entsteht eine Impersonalkonstruktion. Das Subjekt des Komplementverbs wird infolge der Infinitheit nicht realisiert, aber durch das
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Matrixverb weiterhin selegiert. In der Bewegungstheorie spricht nun nichts
dagegen, dieselbe Konstruktion so zu analysieren, als wäre sie nun eine Anhebungskonstruktion. Dies bedeutet, dass das syntaktisch nicht realisierte
Subjekt des passivierten Komplements in die Subjektposition des finiten
Matrixverbs bewegt und dort infolge der Finitheit auch syntaktisch realisiert
wird, so wie das ungrammatische Beispiel (32b) wie in (33) abgeleitet wird.
(32) A. Hier wird gewünscht, geküsst zu werden.
B. * Der Mann wird gewünscht, geküsst zu werden.
(33)
* Der Mann wird gewünscht, geküsst zu werden.
S
NP i
Der Mann
VP
V
wird gewünscht
S
NP
VP
ti
geküsst zu werden
Nun ist (32b) ungrammatisch und (33) sollte entsprechend blockiert werden.
Dies ist allerdings, wie die Diskussion in Landau (2003) und Boeckx und
Hornstein (2004) zeigt, tatsächlich innerhalb der Bewegungsanalyse nicht zu
gewährleisten. Was sagt hingegen die Selektionstheorie? Nach dieser muss
das Komplement des Verbs wünschen auch dann eine spezifizierte Valenzstelle für das Subjekt besitzen, wenn wünschen passiviert wird – die Passivierung von V’ ist ja als lokaler Prozess vollkommen unabhängig von der Passivierung von V’’ und betrifft im übrigen nicht das Komplement von wünschen, weil dies eben kein Akkusativobjekt ist. Allerdings wird durch die
Passivierung die Identifikation zwischen der spezifizierten Subjektvalenz des
Komplements und dem Subjekt von gewünscht zu werden schon deswegen
aufgehoben, weil gewünscht zu werden nach Passivierung kein Subjekt mehr
besitzt. Somit ist die Realisation eines Subjekts in (33) ausgeschlossen; die
Ungrammatikalität von (32b) folgt aus der Tilgung der Subjektvalenz von V’
unter Passivierung.
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Zusammenfassung
Ich betrachte die Klasse der Halbmodalverben als Prüfstein für eine syntaktische Analyse der Subjektselektion. Das Verhalten der Halbmodalverben lässt
sich erfassen, wenn man davon ausgeht, dass das Bech’sche Konzept der Orientierung durch Selektionen unterschiedlich spezifischer Eigenschaften des
Komplementsubjekts theoretisch interpretiert werden kann. Ein echtes Anhebungsverb nimmt mit dem vorlieb, was das Komplement als Subjekt anbieten
kann. Ein echtes Kontrollverb verlangt nach einem Subjekt mit referentiellen
Eigenschaften. Die Theorie sagt vorher, dass es Zwischenklassen geben kann
und diese Vorhersage sieht sich in der Syntax der Halbmodalverben wie etwa
versprechen bestätigt.
Literatuverzeichnis
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