190 Forschung & Lehre MUSIK 3|13 Warum bewegt uns Musik? Über die emotionale Wirkung und ihren evolutionären Ursprung | E C K A R T A LT E | xxxxxxxxxxxxxxx sind Schreck-Reaktionen auf plötzliche sehr dissonante und laute Klänge, die über ein fest verdrahtetes neuronales Netzwerk des Hirnstamms vermittelt werden. Mächtige Emotionen können auch über Koppelung von Musik an wichtige Lebensereignisse entstehen. Die seelische Kraft derartiger Assozian allen menschlichen Kulturen weniger Konsens, ob Musik wirklich tionen ist in Filmen und Literatur vielwerden oder wurden musikalische beim Hörer Emotionen auslöst. In der fach beschrieben worden. Schließlich Aktivitäten ausgeübt. Unter den älMusikpsychologie werden die „kognitiwerden Aufbau, Erfüllung und Täutesten kulturellen Artefakten fand man vistische“ und die „emotivistische“ Posischung musikalischer Erwartungen als in den Höhlen des oberen Donautals tion unterschieden. „Kognitivisten“ arwesentlicher Auslöser von Emotionen 35.000 Jahre alte Flöten aus Knochen gumentieren, dass fröhliche oder trauribeim Hören von Musik diskutiert. Vor und Elfenbein. Die grosse Bedeutung ge Musik diese Emotionen nicht im Hökurzem hat David Huron diese Idee in der Musik in der klassischen Antike rer erweckt, sondern nur in dieser Weiseinem Buch „Sweet Anticipation“ ausund auch in späteren Zeitaltern ist unse vom Hörer klassifiziert und bewertet gearbeitet. Danach entsteht eine gewisbestritten. Plato widmete ein ganzes Kawird. Allerdings kann eine solche Bese emotionale Befriedigung, wenn Erpitel seines Werkes „Der Staat“ der Bewartungen erfüllt werden. deutung von Musik für die Charakter»Die emotionale Reaktion in Form Werden die musikalischen bildung. Auch heutzutage wird die emoErwartungen jedoch inteleiner ‘Gänsehaut’ ist mit der tionale Wirkung von Musik häufig als ligent getäuscht, überAktivierung der Belohnungswichtigste Begründung für die Beliebtrascht uns zum Beispiel heit musikalischer Aktivitäten aufgeeine harmonische Wenzentren im Gehirn verbunden.« führt: Immerhin musizieren oder singen dung, eine besondere regelmäßig etwa sieben Millionen DeutKlangfarbe, ein neues Insche. Der Umsatz der Deutschen wertung der Musik Emotionen auslöstrument, eine plötzliche Stille, dann Phonoindustrie lag 2011 trotz der wirtsen. Zum Beispiel könnte die langweiliführt dies nicht zwangsläufig zu negatischaftlichen Flaute und der Raubkopien ge und ungenaue Wiedergabe eines ven Gefühlen, sondern das Ergebnis bei fast 1,7 Milliarden Euro. Was also sonst als „fröhlich“ klassifizierten musikann eine starke emotionale Reaktion treibt die Menschen an, Musik zu makalischen Meisterwerks bei einem Muin Form einer „Gänsehaut“ sein. Diese chen? Warum bewegt uns Musik? sikliebhaber Gefühle von Ärger, Frusist mit der Aktivierung der Belohnungstration und Trauer auslösen, die natürzentren im Gehirn, mit Ausschüttung Erzeugt Musik Emotionen – lich auf seinen Kenntnissen anderer, anvon Dopamin und Endorphin und mit oder erkennen wir sie nur? gemessenerer Interpretationen beruhen. Glücksgefühlen verbunden. Die meisten Menschen stimmen überIm Gegensatz dazu postulieren die Das Phänomen der Gänsehaut beim ein, dass Musik fröhlich oder traurig „Emotivisten“, dass Musik direkt EmoMusikhören haben wir gemeinsam mit klingen kann. Allerdings besteht schon tionen erzeugt. Ein extremes Beispiel dem Musikpsychologen Reinhard Kopiez und dem Neuro- und MusikwissenAUTOR schaftler Oliver Grewe in den letzten Jahren eingehend erforscht. Hier kann Professor Eckart Altenmüller leitet das Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medirekt das Erzeugen von Emotionen dizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er befasst sich durch Musik am Aufstellen der Haare mit der Sensomotorik des Musizierens, mit Musikerkrankheiten und der emotionalen beobachtet und mit psychophysiologiMusikverarbeitung. schen Methoden gemessen werden. Etwa 70 Prozent der Menschen in unserer I N M Ü LLE R 3|13 Forschung & Lehre Kultur kennen das Gefühl des wohligen Schauers. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Ausbil- MUSIK 191 sik eine wichtige Rolle bei der HerstelInteraktion angeführt. Diese Form der lung sozialer Bindungen zu. So ist Tanz emotionalen Kommunikation hat drei in zahlreichen Gesellschaften fester BeHauptfunktionen: die Bindung zwistandteil religiöser schen Elternteil (meist der Mutter) und Feste und gesellschaftKind wird gestärkt, der Spracherwerb »Es gibt zahlreiche Argumente dafür, licher Riten. Tanz be- und die auditive Mustererkennung wird wirkt über eine verunterstützt und der Erregungszustand dass Musik in der Evolution einen stärkte Oxytocin-Ausdes Kindes kann gesteuert werden. Beitrag zum ‘Überleben des schüttung der HypoWeltweit werden Wiegenlieder bei überStärkeren’ leistete.« physe eine stabilere aktiven Kindern beruhigend, bei zu pasGedächtnisbildung siven Kindern aber aktivierend gestalund fördert damit die tet. Alle drei Funktionen verbessern die dung der Gänsehaut sind strukturelle Erinnerung an das Gruppenerlebnis. In kindlichen Überlebenschancen und Brüche in der Musik, neuartige akustiähnlicher Weise wird Musik als Markerwirken daher auch auf die natürliche sche Strukturen, ungewöhnliche Klangsignal von Gruppenidentität bei zahlreiSelektion. qualitäten und insbesondere auch bechen anderen Gelegenheiten eingesetzt. Zusammenfassend bewegt uns Muwegende menschliche Stimmen. EmpMan denke nur an Nationalhymnen, sik, weil sie Teil der genetischen Grundfindsame Persönlichkeiten erleben häuFußballgesänge und an die identitätsausstattung des Menschen ist, um uns figer Gänsehaut als Menschen mit hostiftende Wirkung, die bestimmte Lieder zu bewegen. Musik ist ein in den letzten hen Reizschwellen. Wichtig sind aber von ethnischen Minauch Kontext und Hörsituation: Texte, derheiten in einem »Musik ist Teil der genetischen die uns emotional stark bewegen (z.B. Staatswesen haben. Grundausstattung des Menschen.« Kundry’s Fluch in „Parzival“ von RiBereits bei Kindern chard Wagner), Wissen über besondere scheint gemeinsames Bedingungen der Werkentstehung (das Musizieren die soziale Kohärenz, KoJahrtausenden unendlich verfeinertes, letzte Werk eines Komponisten, z.B. das operativität und Hilfsbereitschaft zu aber im Kern uraltes affektives Kommudritte Klavierkonzert von Bela Bartok), fördern. Auch hier kann leicht der evonikationssystem mit zahlreichen positiund eine besonders emotional empfänglutionär adaptive Wert erkannt werden: ven Auswirkungen für uns Menschen: liche Stimmung können die WahrErst durch die soziale OrganisationsMusik bietet einen sicheren „Spielplatz“ scheinlichkeit einer Gänsehautreaktion form der Gruppe konnten sich frühe für neue Hör-Erfahrungen, fördert die deutlich erhöhen. Hominiden gegenüber konkurrierende Gruppen-Synchronisierung, den GrupPrimaten sowohl bei der Jagd als auch penzusammenhalt, die Mutter-KindMusik bewegt – aber warum? beim Schutz der Gruppenmitglieder Bindung und den Spracherwerb. Musik Offenbar bewegt Musik. Was ist nun der durchsetzen. erhöht das Wohlbefinden und erzeugt evolutionäre Ursprung dieser emotionaNeben sexueller Selektion und sogar manchmal Glücksgefühle. Grünlen Wirkung? Musikliebe und MusikGruppenzusammenhalt wird als dritte de genug, um Musik zu machen, Musik wahrnehmung scheinen genetisch angewichtige evolutionäre Anpassung die zu fördern und einem Abbau der Mulegt zu sein. Diese Annahme wird nicht frühe Eltern-Kind Interaktion mit Wiesikkultur entschieden entgegen zu trenur durch den Nachweis von Musikaligenliedern und rhythmisch-gestischer ten! tätsgenen in Finnland gestützt, sondern Anzeige auch durch eine genetisch bedingte Teilleistungsschwäche, der kongenitalen Amusie. Menschen mit Amusie haben Schwierigkeiten, Tonhöhen und Rhythmen zu unterscheiden und Musik lässt sie emotional kalt. Warum aber haben wir Musikalitätsgene? Es gibt zahlreiche Argumente dafür, daß Musik in der Evolution einen Beitrag zum „Überleben des Stärkeren“ leistete. Bereits Charles Darwin war der Auffassung, dass Musik bei der Werbung um Sexualpartner eine Rolle spielt. Musiker und Musikerinnen zeigen nicht nur Kreativität und Körperbeherrschung, sondern demonstrieren indirekt verborgene Qualitäten: sie verfügen über Ressourcen, um ein Instrument zu kaufen und zu üben, sie sind geschickt (und daher meist gesund) und sie zeigen offen Emotionen und Einfühlungsvermögen! Auf der Gruppenebene kommt Mu-