Phil osophisehe Fragen der Gegenwart • Von Ednar o von Hartmann. • Leipzig Berlin Verlag von Wilhelm Friedrich, K. Hofbuchhandlung. Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 25 so Wurde ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach davor gehutet haben, durch r ii c k s i c h t s l o s e Vertretung meiner Sache mir nach rechts und links, nach oben und unten persònliche Feinde zu machen, und wi.irde statt dessen kingst darnach gestrebt haben, die isolirte, unabhdngige Stellung des Schriftstellers mit der persònlich so viel einflussreicheren, aber auch von allerlei Riicksichten eingeengten akademischen Lehrthatigkeit zu vertauschen oder zu vereinigen. II. Mein Verhaltniss zu Schopenhauer. Wiederholentlich habe ich meine Stellung zu Schopenhauer klargestellt; indess mag der Umstand, dass diese Darlegungen in einer Reihe von Schriften zerstreut sind, dazu beitragen, dass diese Stellung vom Publikum noch vielfach missverstanden wird, und dass z. B. noch jetzt immer neue Bucher erscheinen, in denen meine Philosophie schlechtweg unter „Schopenhauerianismus" oder „Schopenhauer'sche Schule" rubricirt wird. Es diirfte deshalb nicht uberflussig sein, die Unterschiede meiner Philosophie von der Schopenhauer'schen kurz zusammenzufassen. Schopenhauer sagt (vierfache Wurzel, S. 51), dass „man von allen guten Gòttern verlassen sein miisse", urn einem erkenntnisstheoretischen Realismus zu huldigen, und erklart es fiir den Cardinalfehler Kant's, dass er das Ding an sich fiir etwas die Sinnlichkeit Afficirendes, also causal auf uns Wirkendes gehalten habe; statt dessen sucht er selbst dem Ding an sich auf einem ganz andern Wege, von innen her, beizukommen. Ich habe diesen Weg Schopenhauer's als verfehlt nachge- Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 26 Wiesen , *) und den von ihm verworfenen Weg Kant's als den allein zum Ziele fi.ihrenden aufrecht erhalten, dessen weitere Verfolgung eben zu dem von Schopenhauer verurtheilten erkenntnisstheoretischen Realismus fiihrt. Schopenhauer lasst nur die idealistische Seite der Kant'schen Erkenntnisstheorie gelten, ich nur die ihr widersprechende realistische ,Seite derselben; er kennt nur immanente, ich kenne nur transcendente Causalitat (transc. Real. S. 95-104); wir sind also in erkenntnisstheoretischer Hinsicht vóllige Antipoden. Da Schopenhauer mit Recht Zeit und Raum far das alleinige principium individuationis erklart, so fàllt vom Standpunkt seines subjektiven Idealismus alle Vielheit ausschliesslich in den subjektiven Schein der individuellen Auffassung, wahrend das wahrhaft Seiende von der Vielheit unberahrt bleibt. Schopenhauer ist' also abstrakter Monist, wahrend ich konkreter Monist bin. Zwischen dem abstrakt Einen Wesen und der subjektiv-idealen Erscheinungswelt des Bewusstseins steht bei mir die objektiv-reale (erkenntnisstheoretisch-transcendente) Erscheinungswelt der vielen Individuen, far welche in Schopenhauer's abstraktem Monismus gar kein Platz ist; wenn er gleichwohl eine innere Entfaltung des Einen Willens in viele unzeitliche Willensakte , oder intelligible Gattungs- und Individual-Charaktere, oder platonische Ideen lehrt, so thut er es im Widerspruch mit seinem Grundsatz, dass erst durch Raum und Zeit die Vielheit ermbglicht sei. Die Schopenhauer'sche Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter vérwerfe ich ebenso wie die Lehre von der transcendentalen Freiheit des ersteren und den Begriff eines ewigen, d. h. unzeitlichen Aktes; *) Vgl. meine Schrift: „Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus", 2. Auflage, Berlin 1875, S. 46 5o. 4 Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 27 auch leugne ich die Mòglichkeit, sich bei einer Ideenwelt als Inhalt des absoluten Willens irgend etwas zu denken, wenn Zeit und Raum von dem Inhalt der Ideen ausgeschlossen sind, und bestreite, dass ein blinder ideenloser Wille sich aus sich selbst zu einer Ideenwelt entfalten kònne, wenn ihm nicht von vornherein die Idee als gleichberechtigtes Princip zur Seite steht und beide als Funktionen eines und desselben absoluten Subjekts untrennbar vereinigt sind. Dem Schopenhauer'schen Willensmonismus oder Panthelismus stelle ich somit einen Geistesmonismus oder Panpneumatismus entgegen, und gewahre innerhalb des konkreten Monismus dem berechtigten Individualismus einen Spielraum, wie er in Schopenhauer's abstraktem Monismus ohne Widerspruch niemals eingeraumt werden kann. Die Vernunft, das Logische, entsteht nach Schopenhauer erst mit dem Intellekt aus dem Organismus, speciell aus dem Gehirn, ist also eine tertiaxe, und noch dazu accidentielle Erscheinung des an sich vernunftlosen, alogischen Weltweseris bei mir hingegen ist die Vernunft das logische Formalprincip der mit dem Willen untrennbar geeinten Idee und regelt und bestimmt als solches den gesammten Inhalt des Weltprocesses ohne Rest. In metaphysischer Hinsicht stehe ich also in den tivichtigsten Punkten in entschiedener Opposition zu Schopenhauer, und stehe solchen Denkern tiveit welche, wie Eckhart, R51-ime und Schelling, den Willen z war als eines der wichtigsten Principien im Absoluten anerkennen, aber nicht , wie Schopenhauer, als das einzige und absolute Princip aufstellen. Wèm die Zeit ein bloss subjektiver Schein ist, fa r den kann die Geschichte keinen Werth haben, far den muss jeder Glaube an Entwickelung und Fortschritt als Illusion gelten. Schopenhauer's subjektiver Idealismus bedingt auf diese Weise seine grenzenlose Missachtung der Ge- , Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 28 schichte, seine schlechthin unhistorische Weltanschauung; die G-eschichte ist ihm nur der waste, wirre Traum der Menschheit, in welchem die Phantasie sich urn sich selbst im Kreise dreht, eine zweck- and ziellose Scheinbeweg ung, bei welcher selbstverstandlich nichts herauskommen kann. Rettung aus diesem feurigen Kreislauf getraumter Ncithe and Aengste giebt es nur far. den Einzelnen, nicht far das G anze, weil der ewige Wille zum Leben unberuhrt vom Entstehen and Vergehen des Einzelnen seinen Lebenstraum in unendlicher Dauer weitertraumt. Dem gegenuber huldige ich der historischen Weltanschauung in dem Measse , dass mir mein „Historismus" schon mehrfach zum Vorwurf gemacht worden ist, and sehe das Heil nur in der providentiell geleiteten Entwiclthk ng des Gan en, welche der Einzelne durch selbstsachtiges Salviren seiner Person nicht Thrdert sondern schadigt. Mit der blossen Subj ektivita der Raumlichkeit verliert unsere Auffassung der Natur jede Wahrheit; was nach dem Wegfall von Gestalt and Bewegung von der Natur iibrig bleibt singd Willensaakte von einem far uns undefinirbaren Inhalt, an denen also far uns nichts mehr erkennbar bleibt als die aberall wiederkehrende abstrakte Qualitat, Wiale zu sein. Jeder Versuch , inhaltliche Unterschiede anzugeben, warde schon wieder auf raumliche and zeitliche Bestimmungen fahren, also inacjaquat, d. h. unwahr sein. Was in Whrheit untheilbare Einheit ist, der Naturwille, erscheint uns als Vielheit; in diesem subjektiven Schein der Vielheit schimmert aber, weil er doch nur optisch auseinandergezogene Einheit ist, die Einheit als harmaischer Zusammenhang der Vielen and als Einheit der Beziehungen hindurch. Alles passt and klappt zusammen, unabhangig von Ort and Zeit, wo es sich befindet, also auch unabhangig von Fraher oder Spater; das Passen des Spateren zum , Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 29 Fraheren erscheint als Causalitat, das Passen des Fraheren zum Spateren als Teleologie (W. a. W. u. V. I § 28). Danach verstehen wir eigentlich gar nichts von der Natur, and dasjenige , was wir davon zu verstehen glauben, der causale Mechanismus and die Teleologie, ist refiner Missverstand, denn es gehòrt nur unserer subjektiven Auffassung an. Zu dieser Naturphilosophie steht die meinige in diametralem Gegensatz, indem sie die Natur, wie die Wissenschaft sie mehr and mehr erkennen lehrt, als objektiv- reale, raumzeitliche Erscheinung, als eine von jeder bewussten Perception unabhangige Manifestation des Weltwesens aufrecht erhalt and in dem naturgesetzlichen Mechanismus das reale Mittel zur Verwirklichung der Natur-Teleologie erkennt. Bei Schopenhauer findet sich der Intellekt, der Geist, nur per accidens als Parasit am Naturwillen ein bei mir ist die Natur die teleologische Vorstufe and der Sockel des Geistes, der Naturprocess providentielles lilittel fir den Lebensprocess des Geistes, and die natarliche wie die sittliche Weltordnung letzten Endes nur zwei Seiten der absoluten teleologischen Weltordnung. Schopenhauer's asthetischer Idealismus ist, wie ich anderwarts gezeigt habe, in seinem principiellen Theile nur eine popularisirende Wiederholung des Schelling'schen, nur mit dem Unterschied, dass der metaphysische Idealismus aus Schelling's absolutem Subj ekt-Obj ekt sich naturgemass entwickelt, auf dem Boden der Schopenhauer'schen Willensmetaphysik aber eine Ungereimtheit ist. Die einzige principielle Abweichung von Schelling's Idealismus ist Schopenhauer's Lehre, dass die Musik unmittelbare Darstellung des Willens mit Umgehung der Ideen sei, and gerade diese Lehre halte ich fir vòllig verfehlt. Wenn im Uebrigen mein asthetischer Idealismus mit demjenigen Schopenhauer's and Schelling's aberein. . Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 30 stimmte, so wurde doch .der Prioritatsanspruch Schelling's g ewahrt bleiben massen ; in der That aber unterscheidet sick mein asthetischer Idealismus von jenem abstrakten als ein konkreter (ganz analog wie mein metaphysischer Monismus). Der abstrakte Idealismus einer ewig starren, sich selbst gleichen, schlechthin jenseitigen, gespenstichen Ideenwelt, vie er sich bei Schelling und Schopenhauer darstellt, bleibt zwar in metaphysischer Hinsicht auch bei Hegel noch abstrakter, aberweltlicher Idealismus, aber theils ist die Seite der Immanenz hier starker betont, theils gerath die Ideenwelt in ihrer Jenseitigkeit aus der platonischen Starrheit in den Fluss der Bewegung, and in der Hegel'schen Aesthetik ist das Bestreben unverkennbar , die fissig gewordene Idee mehr and mehr als eine rein immanente, nur in der Realitat aktuelle, aufzufassen. Diesem asthetischen Idealismus Hegel's and seiner Schule (Vischer , Rosenkranz , Carriere, Schasler) steht mithin der meinige entschieden naher als demjenigen Schelling's and Schopenhauer's, sowohl in principiellerHinsicht, als auch in Bezug auf die Philosophie der Kunst im Einzelnen. Noch grosser als in der theoretischen sind in der praktischen Philosophic die Differenzen. Wer die Zeit far bloss subjektiv halt and demgemass alle Entwickelung leugnet, der muss es fiir Thorheit halten, die Welt Thrdern oder verbessern zu wollen, ebenso wie derjenige, welcher den Charakter far unabanderlich halt , es far verlorene Mahe erachten muss, sich mit Erziehung Anderer oder gar mit sittlicher Selbstzucht zu plagen. Demgemass geziemt dem Weisen nach Schopenhauer nur eine Resignation, welche ihn selbst and die Welt laufen lasst, wie sie eben sind, and hochstens im geistigen verkehr mit den grossen Denkern and Dichtern aller Zeiten einem verfeinerten Epikureismus huldigt. Mir erscheint ein solches schtin. . - Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 31 geistiges Schmarotzerleben unsittlich, weil jeder Einzelne die Pflicht hat, seine Krafte im Dienste des Ganzen zu bethatigen ; der Quietismus, als die in ein System gebrachte natarliche Tragheit, gilt mir als ein principiell unsittlicher Standpunkt , weil er die grundsatzliche Verleugnung aller positiven Pflichten sanktionirt. Schopenhauer's Ethik ruht auf seinem 1VIonismus, d. h. sie wurzelt in der Anerkennung der Wesenseinheit der Individuen unter einander trotz der Vielheit ihrer Erscheinung. Wer in dem Wesen des Nachsten sein eigenes Wesen erkennt, wird dem Nachsten nicht mehr Unrecht thun, urn sich einen phanomenalen Gewinn zu verschaffen. Die hone Bedeutung dieses monistischen Moralprincips habe ich in meiner „Phanomenologie des sittlichen Bewusstseins" (S. 7 8 2 797) gewUrdigt, aber auch die Unzulanglichkeit desselben in seiner Isolirung nachgewiesen. Bei Schopenhauer kommt dieses Princip iiberhaupt nicht fiber negative Leistungen (Verhinderung des Unrechthuns) hinaus, and schon die Verminderung des Leides des Nachsten , welche doch auch nur eine negative Leistung genannt werden kònnte, gehOrt einer bloss exoterischen Auffassung der Moral an, ebenso wie der Gefahlsreflex dieser Consequenz des monistischen Moralprincips, das Mitleid, dessen Unzulanglichkeit and Darftigkeit ich scharf kritisirt habe (Phan. S. 2i7 2 4o). Aus esoterischem Gesichtspunkt ist namlich nach Schopenhauer die Steigerung der Leiden der fir die Meisten unersetzliche Weg zum Heil, and wenn man auch nicht so weit gehen will , die Steigerung des Leides des Nachsten als ein fair sein Seelenheil erspriessliches and deshalb verdienstliches Thun anzuempfehlen, so muss doch jedenfalls die Verminderung des Leides verboten werden als ein Thun, das ihn von dem Heil Die esoterische Ethik entfernt (Phan. S. 4 1 46). Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 32 Schopenhauer's bezieht sich ausschliesslich auf die Selbsterlòsung des Individuums , lasst also dcm monistischen Moralprincip keinen andern Raum als die Abwehr des Unrechts gegen Andre. Bei mir hingegen wird einerseits das monistische Moralprincip in das religiose Moralprincip (der Wesenseinheit mit Gott) and mit diesem in das Moralprincip der absoluten Teleologie aufgehoben, andrerseits erhalt dasselbe in dem hingebungsvollen Wirken des Einzelnen an den Process des Ganzen erst seine positive ethische Verwerthung, die ihm bei Schopenhauer fehlt. Die esoterische Moral Schopenhauer's ruht nun auf dem metaphysischen Pessimismus in Verbindung mit dem subjektiven Idealismus ; der erstere stelle (bei dem Mangel jeglicher teleologischer Weltordnung) die Abkehr des Willens vom Leben dem Individuum als einzige sittliche Aufgabe , der letztere lasst diese Aufgabe far das Individuum lOsbar scheinen. Zur Abkehr des Willens vom Leben geniigt aber nicht der Quietismus allein, es muss auch die Askese hinzutreten, mindestens in der Form des freiwilligen Verhungerns; durch die Askese soll der Wille wurzelhaft aufgehoben, d. h. der intelligible Charakter and mit ihm die transcendente Wesenheit des Individuums annullirt werden. Mir hingegen gilt die individuelle Flucht vor dem Leben and seinen positiven and ethischen Aufgaben als unsittlich, die Askese also als noch unsittlicher als der Quietismus, ganz abgesehen davon, dass ich sogar auf dem Boden des subjektiven Idealismus den G-lauben far irrthiimlich halten muss , durch Askese etwas Andres als durch den naturlichen Tod des Individuums erreichen zu kònnen , nqmlich das Aufh6ren einer Erscheinung, durch welche das Wesen als solches gar nicht beriihrt wird. In der Religionsphilosophie steht Schopenhauer - Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 33 ganz auf indischem Boden und erkennt das Christenthum gerade nur insoweit an, als es in den mónchischasketischen Erscheinungen seiner katr oJischen Vergangenheit indische Vorbilder wiederholt. Far eine positive Wi:irdigung des Judenthums und des Protestantismus mangelt Schopenhauer jeder Sinn ; das Judenthum ist ihm sozusagen die absolute Religion. Die Religionsphilosophie erschòpft sich ihm in der individuellen Willensverneinung auf dem Wege des Quietismus und der A.skese ; zur Gewinnung eines religiosen Verhdltnisses zwischen dem Menschen und dem absoluten Weltwesen fehlt bei ihm jeder Anlauf. Meine Religionsphilosophie hingegen basirt ganz wie die christliche auf diesem religiosen Verha,ltniss und perhorrescirt dasjenige am Christenthum , was far Schopenhauer das allein sympathische daran ist : die asketische Weltflucht, steht also dem Protestantismus na,her als dem Katholicismus und dem Christenthum na,her als dem Judenthum. Sie strebt eine Synthese zwischen dem christlichen Theismus und dem indischen abstracten Monismus auf der Basis des konkreten Monismus an und steht demgemass denj enigen christlichen Theologen am nachsten, welche den christlichen Theismus pantheistisch zu interpretiren suchen, wie z. B. Meister Eckhart und seine Schule oder der speculative Protestantismus der neuhegel'schen Richtung (Biedermann und Pfleiderer). Auf religionsphilosophisch em Gebiete fehlt es zwischen Schopenhauer und mir an jeder positiven Beri.ihrung; die einzige negative liegt darin, dass wir die beiden einzigen speculativen Philosophen sind, welche offen ausserhalb des christlichen Theismus Stellung nehmen und diesen far eine zu iiberwindende und ideell bereits iiberwundene Position erklaxen. Aber auch bei dieser negativen Ber. iihrung besteht der wichtige Unterschied, dass Schopenhauer den judisch-christlichen Theismus einfach als falsch 3 Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 34 verwirft, wahrend ich ihn als unentbehrliche and allerwichtigste Stufe der religiosen Entwickelung der Menschheit and als aufzuhebendes Moment behandle. Ich komme schliesslich zu dem Pessimismus als zu demjenigen Punkte, welcher am meisten dazu beigetragen, den Standpunkt Schopenhauer's and den meinigen zusammen zu werfen. Hierbei ist der empirische and der metaphysische Pessimismus zu unterscheiden, von denen der erstere auch in vielen anderen Standpunkten z. B. dem christlichen and dem Kantischen zu finden ist, warend der letztere allerdings ausser im Inderthum nur von Schopenhauer, einigen seiner Schuler and mir vertreten wird. . Der empirische Pessimismus ist bei Schopenhauer nicht vom metaphysischen gesondert, sondern wird mit diesem zugleich deductiv aus zwei falschen Voraussetzung en abgeleitet : aus der Blindheit und Vernunftlosigkeit des absoluten Weltwesens und aus der Negativitat der Lust. Nebenbei besteht der empirische Pessimismus bei Schopenhauer nicht aus einer niichternen sachlichen Erwagung der axiologischen Probleme sondern theils aus hypersensitiver Weltschmerzlichkeit, theils aus gramlicher intoleranter Entrustung fiber die Schlechtigkeit der Menschen , ist also nach beiden Richtungen unwissenschaftlich und unphilosophisch. Von diesem gefuhlsma,ssigen Stimmungspessimismus sticht der verstandesmassige empirische Pessimismus Kant's wohlthuend ab, welcher sich zugleich mit einem tele ologischen Optimismus der Entwickelung verbunden darstellt und mit Hilfe dieser seiner Kehrseite den quietistisch asketischen Consequenzen des Schopenhauer'schen Stimmungspessimismus vorbeugt. In alien diesen Punkten stimmt mein empirischer Pessimismus mit demjenigen Kant's uberein, welcher von Schopen- Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) -- 35 hauer bloss corrumpirt worden ist.*) Von mir wird, wie von Kant, der eudamonologische Maassstab nur deshalb an die Welt angelegt, urn zu zeigen , dass er nicht der rechte Maassstab sein kann, weil er einen negativen Werth der Welt ergiebt , dass vielmehr der wahre Maassstab, an dem die Welt bemessen werden muss, der teleologische, d. h. fur uns Menschen der ethische ist. Den ethisch en Werth des empirischen Pessimismus aber suche ich lediglich darin, dass er es dem Menschen praktisch erleichtert, sich zu der teleologisch oder ethisch von ihm geforderten Selbstverlaugnung zu erheben. Von einer solchen ethischen Verwerthung des empirischen Pessimismus im Unterschied von dem metaphysischen findet sich bei Schopenhauer keine Spur; dagegen ist bei ihm der Inhalt der esoterischen Ethik ganz and gar vom metaphysischen Pessimismus bedingt, wahrend bei mir weder der metaphysische noch der empirische Pessimismus den geringsten Einfluss auf den Inhalt der Ethik hat, der ausschliesslich durch die Tele ologie bestimmt wird. Bei Schopenhauer wird der metaphysische Pessimismus aus dem metaphysischen Gundprincip des blin den unverniinftigen Willens deducirt; bei mir wird er aus dem empirischen Pessimismus in Verbindung mit dem metaphysischen Monismus inductiv erschlossen. Dieser Unterschied 1st von gròsster Bedeutung: denn jeden formell richtig abgeleiteten Bestandtheil eines deductiven Systems muss man wohl oder libel mit in den. Kauf nehmen, sobald man das Grundprincip annimmt; aber in einem inductiven System kann Jeder soweit im Aufbau der Pyramide mitgehen, als es ihm passt, and hernach eine andere Spitze nach seinem Belieben darauf . *) Vgl. meine Schiff : „Zur Geschichte und Begriindung des Pessimismus" (Berlin 188 I ) und N o. I und unten N o. V „Gur Pessimismusfrage", Abschnitt 4 : „In `velchem Sinne war Kant ein Pessimist ?" Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 36 setzen. So kann man sehr wohl mein ganzes System, einschliesslich der Vereinigung von empirischem Pessimismus and teleologischem Optimismus, acceptiren and doch seine letzte Spitze, den metaphysischen Pessimismus samint seinen metaphysischen Consequenzen ablehnen, ohne dass dadurch der Unterbau and der mittlere Theil der Pyramide alterirt wird. Ware es mir mehr urn ausseren Erfolg als urn die Wahrheit zu thun gewesen , so hatte ich nur so pfiffig zu sein brauchen, in meinen drei Hauptwerken die verhaltnissmassig wenigen beziiglichen Stellen fortzulassen and einer posthumen Veròffentlichung aufzubehalten; man wUrde die Lacken gar nicht bemerkt haben. Jetzt ist es immer wieder diese metaphysisch - pessimistische Spitze des Systems, mit der man mein ganzes System verurtheilen and verwerfen zu kOnnen glaubt; and doch ware dies nur dann zulassi.g, wenn mein System kein inductives, sondern ein deductives ware. Diese letzte inductive Spitze , welche so ganzlich einflusslos auf den gesammten ìibrigen Inhalt des Systems ist, wird nun auch als Merkmal benutzt, um mein System mit dem Schopenhauer'schen in einen Topf zu werfen; wie dem Schopenhauer'schen subjectiven Phanomenalismus der Glaube an die Móglichkeit einer individuellen Willensverneinung, so entspricht meinem objectiven Phanomenalismus der Glaube an die Mòglichkeit einer universellen Willensverneinung, and dieser Parallelismus des negativen Endziels, dort im Individualleben, hier im Weltprocess, soil hinreichen, beide Systeme in gleicher Weise des „Nihilismus" im metaphysischen Sinne des Worts zu bezichtigen. Dabei wird aber der himmelweite Unterschied iibersehen, dass bei Schopenhauer der metaphysische Pessimismus and die Aufgabe der Willensverneinung der alleinige ethische Gehalt des Individuallebens ist, \wahrend bei mir der • Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR) 37 --metaphysische Pessimismus and das schliessliche Erl6schen des Weltprocesses etwas ist, was uns Menschen in den nachsten Jahrtausenden praktisch noch gar nichts angeht, also sozusagen bloss eine theoretische Doctorfrage darstellt. Bei Schopenhauer hat der Mensch taglich and stiindlich danach zu trachten, wie er den Fehler des absoluten Willens, ihn geschaffen zu haben, wieder gut mache ; bei mir hat der Mensch die positiven teleologischen Aufgaben , zu denen das Absolute ihn in die Welt gesetzt hat, opferwillig zu erfiillen , unbekiimmert darum, wohin die Vorsehung den Weltprocess nach unabsehbarer Zeitferne lenken werde. Mag der Optimist sich an der Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter der Zukunft erfreuen, . der Pessimist sich mit der Hoffnung auf eine endliche Universalerlòsung tròsten : diese nebelhaften Perspectiven auf eine unbestimmte Ferne werden sicherlich bei beiden zu den iibrigen Motiven der Sittlichkeit sehr wenig in's Gewicht fallende Motive hinzufiigen, wahrend bei Schopenhauer die ganze Motivation zur Durchfiihrung der Askese and Mortification aus dem metaphysischen Pessimismus and der Hoffnung auf die unmittelbar bevorstehende Willensverneinung des Individuums geschòpft werden muss. Der Anhanger meines Systems ist in seinem systemgemdssen praktischen Verhalten von dem Optimisten gewanlichen Schlages, wofern derselbe nur Teleologe ist, nicht zu unterscheiden; der Anhanger des Schopenhauer'schen Systems hingegen ist ein Fremdling in der gesammten modernen occidentalischen Cultur and kann sich nur am Ganges heimisch fiihlen. ) Biblioteca Comunale "Giuseppe Melli" - San Pietro Vernotico (BR)