Über Schopenhauers philosophisches System

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Über Schopenhauers philosophisches System, dessen Paradoxien
und die Sonderstellung der Musik
Patrick Frank
© 2010
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
Seite 3
2. Der Wille, das Ding an sich und die Idee
Seite 6
2.1. Schopenhauers Kritik am kantischen Ding an sich
Seite 6
2.2. Das Ding an sich als Wille
Seite 8
2.3. Der Wille
Seite 9
2.4. Die Idee
Seite 10
3. Die Kontemplation
Seite 12
3.1. Die Erkenntnis des Dings an sich durch Selbsterkenntnis
Seite 12
3.2. Die Bedingungen einer erfolgreichen Kontemplation
Seite 13
4. Die Relationen
Seite 15
4.1. Ausgangslage
Seite 15
4.2. Die Relation zwischen dem Willen und den einzelnen Dingen
Seite 16
4.2.1. Konsequenzen und Kritik
Seite 16
4.3. Kritik an der Erkennbarkeit der Idee und der Rolle des Genies
Seite 17
4.4. Zusammenfassung
Seite 18
5. Die Musik
Seite 21
5.1. Die Medien der Künste
Seite 22
5.2. Die Kunst im Dienste fremder Interessen
Seite 24
6. Fazit
Seite 28
7. Literaturverzeichnis
Seite 30
Anhang: Paradoxientafel
Seite 31
2
1. Einführung
Die einfache Ausgangsfrage vorliegender Arbeit war: Warum ist die Musik in
Schopenhauers Philosophie die höchste Kunst? Warum vermag sie als einzige
Kunst bis zum Willen vorzudringen?
Die Begründungen, die Schopenhauer vorlegt überzeugten wenig, so dass eine
Untersuchung dieser Frage angemessen erschien. Es erwies sich jedoch als
schwieriger als zunächst angenommen, eine Antwort zu finden. Erst eine
Betrachtung der wichtigsten Begriffe (das Ding an sich, der Wille als Ding an
sich, die Idee und die Kontemplation) der Schopenhauerschen Philosophie und
deren Relation zu einander verdeutlichte den Zweck jener Begriffe, bzw. die
Aufgabe, die sie in seiner Philosophie einnehmen.
Die Analyse beginnt mit einigen Aspekten der Schopenhauerschen Kantkritik
(Kapitel 2.). Insbesondere wird der Vorwurf Schopenhauers betrachtet, dass Kant
zuviel über das Ding an sich gesagt haben solle. Es wird sich herausstellen, dass
Schopenhauers Konzeption der platonischen Idee nicht zuletzt ihre Aufgabe in der
Vermittlung zwischen dem (unerkennbaren) Willen als Ding an sich und den
(erkennbaren) Objektivationen findet. Diese Aufgabe ist nötig, da dadurch, so
Schopenhauers Hoffnung, Kants Fehler korrigiert wird: Über das Ding an sich
wird nun nichts gesagt, lediglich über die Idee. Diese aber ist und darf erkennbar
sein. Die Idee wird zum ‚Vermittler’ zwischen dem unerkennbaren Willen als
Ding an sich und der erkennbaren Kausalität; der Idee fällt letztlich die Aufgabe
zu, das Metaphysische zu ‚physikalisieren’. Dass die Idee erkannt werden kann ist
darum wichtig, da sie offenbar in enger Verbindung mit dem Ding an sich steht.
Es wird angedeutet, dass über den Umweg der Idee etwas über den Willen als
Ding an sich in Erfahrung gebracht werden kann, wenn auch nicht begrifflich.
Die Idee ist sinngemäss der Ort, wo das Metaphysische ins Physische
transformiert wird. Schopenhauer braucht nun ein Subjekt, welches diese Aufgabe
übernimmt. Hier kommt das Genie ins Spiel: Das Genie erscheint als verlängerter
Arm der Idee, der sie in die sichtbare Welt trägt. Die aussergewöhnliche
Begabung des Genies ermöglicht, die Idee erkennen zu können und sie denjenigen
zugänglichen zu machen, die nicht diese Begabung besitzen. Durch das Genie
3
gelangt die für normale Menschen unzugängliche Idee in die Welt. Das Genie ist
gewissermassen der Bote der Idee.
Interessant ist die Art und Weise, wie das Genie dies vollbringt. Nicht durch seine
Vernunft und Begriffe gelingt es, sondern durch Anschauung und Kontemplation
(Kapitel 3), also durch künstlerische Werke.
In Schopenhauers Philosophie erreicht das künstlerische Genie, die gesamte Kunst
und im Besonderen die Musik denjenigen Rang, welcher vor Schopenhauer der
Vernunft zugesprochen wurde: das Vermögen, die Wahrheit erkennen zu können.
In der Untersuchung der Relation zwischen dem Willen als Ding an sich und der
Idee zeigen sich viele Paradoxien, welche ihren Ursprung im Ding an sich haben.
Die ungelöste Paradoxie des Dings an sich lässt sich in der Idee, der
Kontemplation, dem Genie und seiner ‚objektiven Erkenntnis’ beobachten.
Kapitel 4 untersucht diese Thematik.
Die Paradoxie, welche im kantischen Ding an sich inne wohnt, dass über etwas
gesagt wird, worüber nichts gesagt werden kann, müsste durch eine gelungene
Philosophie aufgelöst sein. Am Schluss des Kapitels 4 wird sich herausstellen,
dass sich die Paradoxie nicht aufgehoben, sondern verschoben hat.
Infolgedessen kann letztlich die Beantwortung der Frage, weshalb die Musik die
höchste Kunst ist, nicht durch Schopenhauers Philosophie beantwortet werden.
Im zweiten Teil der Arbeit wird eine medientheoretische These aufgestellt, die zur
Klärung der aussergewöhnlichen Stellung der Musik in Schopenhauers
Philosophie beitragen soll (Kapitel 5). Die Überlegungen beginnen mit
Schopenhauers Aussage, dass die Musik „von der erscheinenden Welt ganz
unabhängig“1 sei. Diese Behauptung wird medientheoretisch analysiert, indem die
Relationen zwischen den Medien der wichtigsten Künste und den Medien des
Alltags beleuchtet werden. Es wird sich herausstellen, dass Schopenhauers
Intention richtig war: Die Musik kann im Gegensatz zu den anderen Künsten
bereits über ihr Medium ihre Künstlichkeit festigen und die Grenze zwischen
Kunst und Nicht-Kunst (=Alltag) ziehen. Umgekehrt bedeutet dies, dass ihr
Medium nur in der Musik existiert und nicht im Alltag. Dies meinte
1
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 359.
4
Schopenhauer mit der Aussage, dass die Musik „von der erscheinenden Welt ganz
unabhängig“2 ist.
Dadurch ist die Frage jedoch nicht beantwortet, weshalb die Musik, trotz ihres
exklusiven Mediums, höher zu bewerten ist als die anderen Künste. Der zweite
Teil der Analyse verbindet das medientheoretische Ergebnis mit der sozialen
Entwicklung jener Zeit, insbesondere dem Wandel von der stratifizierten zur
funktional differenzierten Gesellschaftsform. Letztere zeichnet sich dadurch aus,
dass die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, wie beispielsweise die Kunst,
autonom werden. Es wird die These aufgestellt, dass die Musik aufgrund ihres
exklusiven Mediums immer schon autonomer war als die anderen Künste. Daher
wurde in jenem Moment, als die gesellschaftlichen Bereiche unter dem Druck der
Autonomisierung standen, jene Kunstform höher bewertet, welche diesbezüglich
fortgeschrittener war. Und dies war, aufgrund ihres Mediums, die Musik.
Es muss allerdings eingeschränkt werden, dass die Entwicklung der Künste im
20.ten Jahrhundert diese exklusive (mediale) Stellung der Musik aufgehoben hat.
Die heutige Situation ist wesentlich komplexer, weshalb die aufgestellte These auf
den Zeitraum der Künste bis Ende des 19.ten Jahrhunderts eingeschränkt werden
muss.
2
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 359.
5
2. Der Wille, das Ding an sich und die Idee
Bevor im Kapitel 4 die Relation zwischen dem Willen als Ding an sich und der
Idee untersucht und deren problematisches Verhältnis thematisiert wird, sollen im
vorliegenden Kapitel die wichtigsten Aspekte des Ding an sich, des Willens und
der Idee dargelegt werden.
Begonnen wird mit einer kurz umrissenen Beschreibung der Schopenhauerschen
Kantkritik. Speziell sein berühmter Einwand, dass Kant zuviel über das Ding an
sich sagt, wird für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sein.
2.1. Schopenhauers Kritik am kantischen Ding an sich
Schopenhauer ehrt Kant in vielen Passagen als grossen Philosophen, der die
Philosophie in eine neue Epoche gehoben habe. Er übernimmt Kants
revolutionäre Unterscheidung zwischen der Welt, wie sie uns mittelst den
Erkenntnisbedingungen
erscheint
und
dem
ausserhalb
jener
Erkenntnisbedingungen stehenden, wahren Dasein der Dinge:
„Er [P.F.: Kant] zeigte, dass die Gesetze, welche im Dasein, d.h. in der Erfahrung
überhaupt, mit unverbrüchlicher Notwendigkeit herrschen, nicht anzuwenden sind, um
das Dasein selbst abzuleiten und zu erklären, dass also die Gültigkeit derselben doch nur
eine relative ist, d.h. erst anhebt, nachdem das Dasein, die Erfahrungswelt überhaupt,
schon gesetzt und vorhanden ist; (...)“3
Dennoch kritisiert er Kant ausführlich in einer 100-seitigen Abhandlung, die
seinem ersten Hauptwerk angehängt ist4.
Nach Ansicht Schopenhauers leitet Kant das Ding an sich falsch ab:
„Er leitete das Ding an sich nicht auf die rechte Art ab, (...) sondern mittelst einer
Inkonsequenz, die er durch häufige und unwiderstehliche Angriffe auf diesen Hauptteil
seiner Lehre büssen musste.“5
3
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 567 ff.
Vgl.: Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie.
5
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 570.
4
6
Verkürzt ausgedrückt, ordnet Kant das Ding an sich indirekt der Kausalität unter.
Es muss aber nach Schopenhauer den Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis gänzlich Verschiedenes sein:
„Kant gründet die Voraussetzung des Dinges an sich, wiewohl unter mancherlei
Wendungen verdeckt, aus einem Schluss nach dem Kausalitätsgesetz, dass nämlich die
empirische Anschauung, richtiger die Empfindung in unsern Sinnesorganen, von der sie
ausgeht, eine äussere Ursache haben müsse.“6
Ein bedeutender Unterschied zwischen Schopenhauers und Kants Philosophie
liegt darin, dass Schopenhauer explizit an der Metaphysik festhält7. Kants
Anliegen ist, die Philosophie von Themen zu befreien, in der keine sichere
Erkenntnis möglich ist. Für ihn fällt die Metaphysik in diesen Bereich. Er lehnt
die Metaphysik nicht grundsätzlich ab, möchte sie jedoch denjenigen Disziplinen
einordnen, in denen sie sinnvoll ist, z.B. der Theologie.
Schopenhauer kritisiert Kants Annahmen, dass Metaphysik nicht möglich8 und
ihre Quelle nicht empirischen Ursprungs sei. Damit lehnt Schopenhauer just jene
kantische Revolution ab, welche für die Geschichte der Philosophie so bedeutsam
werden sollte: Kant’s Trennlinie, was zur Aufgabe der Philosophie gehören muss
und was nicht: die Metaphysik.9
Schopenhauer sagt, „dass die Lösung des Rätsels der Welt aus dem Verständnis
der Welt selbst hervorgehn muss (...).“10 Aus dieser Feststellung wird die zentrale
Bedeutung des Leibes in seiner Philosophie verständlich: Der Leib ist die
unmittelbare Erscheinung des Willens, welcher die metaphysische, nicht
erklärbare aber mittels der Erscheinungen (Objektivationen) beobachtbare
6
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 588.
„Die Probleme der Metaphysik lassen sich nicht lösen, lehrt Kant, und wenn wir sie doch immer wieder
aufwerfen müssen, so ist es das beste, die jeweilige Antwort nicht allzu ernst zu nehmen.“ Safranski, R.:
Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, S. 162.
8
„’Die Quelle der Metaphysik darf durchaus nicht empirisch sein, ihre Grundsätze und Grundbegriffe dürfen nie
aus der Erfahrung, weder innerer noch äusserer, genommen werden’. Zur Begründung dieser KardinalBehauptung wird jedoch gar nichts angeführt als das etymologische Argument aus dem Worte Metaphysik.“
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 577 ff.
9
„(...) und mein Weg liegt in der Mitte zwischen der Allgemeinheitslehre der frühern Dogmatik und der
Verzweiflung der Kantischen Kritik.“ Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 578.
Der später in dieser Arbeit vorgeführte Nachweis, dass sich die Paradoxie des Dings an sich in Schopenhauers
Philosophie nicht aufhebt, sondern verschiebt, kritisiert die oben zitierte Aussage Schopenhauers. Ein Mittelweg
ist Schopenhauers Philosophie daher nicht, sondern reine Metaphysik.
10
Ebd., S. 578.
7
7
Ordnung alles Seins darstellt. Der Wille wird in dieser Konzeption zum
kantischen Ding an sich.
Es lässt sich ein erster Widerspruch feststellen: Einerseits hält Schopenhauer an
der Undurchdringbarkeit des kantischen Dings an sich fest, festigt diese
(scheinbar) durch seine Kritik, andererseits meint er ‚die Lösung der Welt’ –
welches die Durchdringbarkeit des Dings an sich anmutet – finden zu können.
2.2. Das Ding an sich als Wille
Die in der Welt erscheinenden Dinge, alle Materie und ihre Relationen
untereinander gehorchen der Kausalität, welche Schopenhauer in seiner Schrift
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1986:
Herausgeber: Wolfgang Frhr. Von Löhneysen) dargelegt hat. Mithilfe der Gesetze
der Kausalität lassen sich Erklärungen über die Verhältnisse der Erscheinungen
finden; dies ist im Besonderen der Tätigkeitsbereich der Wissenschaften.11 Sucht
man eine Erklärung über die Existenz und den Grund der Kausalität selbst,
versagen die Wissenschaften: An diesem Punkt hört die Physik auf und die
Metaphysik hält Einzug.
„Zwei Dinge nämlich sind schlechthin unerklärlich, d.h. nicht auf das Verhältnis, welches
der Satz vom Grunde selbst in allen seinen vier Gestalten, weil er das Prinzip aller
Erklärung ist, dasjenige, in Beziehung worauf sie allein Bedeutung hat; und zweitens das,
was nicht von ihm erreicht wird, woraus aber eben das Ursprüngliche in allen
Erscheinungen hervorgeht: es ist das Ding an sich, dessen Erkenntnis gar nicht die dem
Satz vom Grunde unterworfene ist.“12
Über das Ding an sich lässt sich – theoretisch zumindest – nichts sagen. Denn
„wir können alles nur in dem erfassen, was es für uns ist.“13 Unsere Erkenntnis ist
begrenzt, dies deckte Kant durch die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis
auf. Wenn also durch unsere Erkenntnisbedingungen das Ding an sich nicht
erkannt werden kann, lässt sich schlussfolgern, dass das Ding an sich etwas sein
11
Vgl. Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 132.
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 133.
13
Ebd., S: 171.
12
8
muss, das diesen Erkenntnisbedingungen völlig fremd ist. Deshalb schreibt
Schopenhauer in Negation über das Ding an sich:
„Umgekehrt wird dasjenige in der Erscheinung, was nicht durch Zeit, Raum und
Kausalität bedingt, noch auf diese zurückzuführen, noch nach diesen zu erklären ist,
gerade das sein, worin sich unmittelbar das Erscheinende, das Ding an sich kundgibt.“14
Schopenhauer kreist um das Paradox, nichts über das Ding an sich sagen zu
dürfen, es dennoch – zunächst bescheiden in Negation – zu tun. In Kapitel 4. wird
dargelegt, inwiefern dieses Paradox Schopenhauers Philosophie bestimmt: Die
Idee scheint ihren tieferen Sinn darin zu haben, das Paradox aufzulösen.
2.3. Der Wille
Die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes ‚Wille’ ist der Ausgangspunkt
seiner universellen, metaphysischen Auslegung: die Enträtselung der Welt solle
bei Vertrautem beginnen und sukzessive in Entfernteres vordringen. Das für jedes
Lebewesen Vertrauteste ist der eigene Leib. In ihm erkennen (oder spüren) wir,
was ausser ihm nicht erkannt werden kann: den Willen. Unser eigene Wille,
welcher in so mannigfaltigen Gestalten spürbar wird; als materieller Wille, dem
Begehren, etwas Bestimmtes zu besitzen, als Leistungswille, dem Wunsch, etwas
Bestimmtes zu können, als Existenzwillen, der Hoffnung, etwas Bestimmtes zu
sein, usw.; fasst Schopenhauer unter einem Begriff zusammen.
Jedoch sind nicht nur die Menschen und alle Lebewesen vom Willen
durchdrungen, alles, von der Schwerkraft bis zum höchst entwickelten Lebewesen
‚Mensch’ ist das Werk des Willens: Der Wille ist die universelle und
unergründliche Kraft, welche alles Sein bewegt. Die Gesetze der Kausalität
erklären, welche Wirkungen beispielsweise die Schwerkraft verursachen; nicht
erklärbar ist, weshalb die Schwerkraft existiert.
Der Wille lässt sich nicht durch Relationen beschreibende Fragen fassen; insofern
führen die Fragen ‚wo?’ ‚wann?’ ‚warum?’ ‚wozu?’ ins Leere. Dem Willen wird
einzig die Frage ‚was?’ gerecht: Das ausserhalb aller Relationen stehende, freie
Dasein.
14
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 183.
9
Der Satz vom Grunde ist das Gesetz der Kausalität, dessen Unfehlbarkeit
ausnahmslos gilt. Konsequenterweise spricht Schopenhauer dem Menschen jede
Freiheit ab: Er untersteht dem Satz vom Grunde im gleichen Masse wie die
physikalischen Gesetze. Die Freiheit des Menschen wird in der Preisschrift über
die Freiheit des Willens (1986: Herausgeber: Wolfgang Frhr. Von Löhneysen)
untersucht; nach Schopenhauer wird der Mensch von seinem erworbenen
Charakter, welcher kaum veränderbar ist und den Motiven, welche dem Satz vom
Grunde unterstellt sind, geführt.
Der Wille ist überall, aber nirgends unmittelbar. Der Unterscheid zwischen dem
Willen und der Idee liegt in „(...) der Vorstellung überhaupt (..)“ welches die Idee
gegenüber dem Willen angenommen hat. Die Idee ist eine für das
Erkenntnisvermögen des Menschen vorbehaltene Möglichkeit, das Ding an sich
(oder den Willen) in Ausnahmefällen mittelbar zu erkennen.
2.4. Die Idee
Die erscheinenden Dinge in der Welt sind nach Platons Theorie der Idee nicht
seiend. Unsere Wahrnehmung und unser Verstand setzen sie in relative
Verhältnisse, vergleichen sie und stellen ihre Veränderung fest. Daher sind sie
nicht wahrhaft seiend, sondern stets im Werden begriffen. Wahrhaft seiend ist
folglich nur dasjenige, welches nicht der Veränderung unterworfen ist. Da alles,
was in Raum und Zeit ist, sich verändert, selbst Steine in der Witterung allmählich
erodieren, ist wahrhaft Seiendes nicht in Raum und Zeit anzutreffen. Demzufolge
ist wahre Erkenntnis keine Erkenntnis des Werdens: „(...) denn nur von dem, was
an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine solche [P.F.:
Erkenntnis] geben (...)“15 Da sich Kausalität nur in Raum und Zeit entfaltet, Ideen
wie oben erwähnt nicht in Raum und Zeit erscheinen, unterstehen die Ideen auch
nicht den Gesetzen der Kausalität.
Ideen sind verschiedene Grade der Objektivationen des Willens, Urheber
derselben: „Ich verstehe also unter Idee jede bestimmte und feste Stufe der
Objektivation des Willens, sofern er Ding an sich und daher der Vielheit fremd ist
15
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 247.
10
(...)“16 In der Idee vereinen sich unzählige, in der erscheinenden Welt eintretende
Einzelfälle: Diese sind verschiedene Objektivationen ein und desselben, können
im Einzelfall verändert auftreten, sind im (verborgenen) Kern jedoch gleich. Die
Kenntnis vieler solcher Einzelfälle garantiert nicht deren Verständnis; einem
Menschen, dem die Erkenntnis der Idee möglich ist, genügt ein Fall um darin die
zugrunde liegende Idee zu erkennen.17
Die Idee ist „ein Erkanntes“18, also notwendig Objekt für ein Subjekt. Sie ist
hingegen nur als etwas vollkommen Allgemeines, d.h. nicht in Formen und Zeiten
Eingegangenes, erkennbar. Sobald das Allgemeine ins Besondere übergeht, tritt es
in die Gesetze des Satzes vom Grunde ein und nimmt verschiedene Grade der
Objektivation an. Erst da entsteht Vielheit und Besonderheit.
Die Idee ist demzufolge noch nicht in die Objektivationen eingetreten, untersteht
daher nicht dem Satz vom Grunde. Sobald die Idee in die verschiedenen Grade
der Objektivation eingetreten ist, untersteht sie dem Satz vom Grunde und ist
sodann relativ. Sie ist aber, im Unterscheid zum Willen, allgemeinstes Objekt-fürein-Subjekt. Im Gegensatz zum Willen ist die Idee für den Menschen erkennbar.
16
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 195.
Vgl. Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 104.
18
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 252.
17
11
3. Die Kontemplation
Die Kontemplation nimmt in Schopenhauers Philosophie eine bedeutende Rolle
ein. In diesem Kapitel soll zunächst geklärt werden, auf welchem theoretischen
Paradigmenwechsel die Kontemplation basiert.
3.1. Die Erkenntnis des Dings an sich durch Selbsterkenntnis
Schopenhauer folgt Kant in der Auffassung, dass wir durch die intellektuelle
Erkenntnis nur die Erscheinung der Dinge betrachten, die Aussenseite, „nie aber
in ihr Inneres dringen und erforschen können, wie sie an sich selbst, d.h. für sich
selbst sein mögen.“19 Dem fügt Schopenhauer an, dass wir selbst ein Ding an sich
sind und dass ‚gleichsam ein unterirdischer Gang’ offen steht, den es durch
Selbsterkenntnis zu erkennen gilt: „Demzufolge müssen wir die Natur verstehn
lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur.“20 Die
Selbsterkenntnis zerfällt jedoch gleich wie die Erkenntnis der Aussenwelt in
Erkennendes und Erkanntes. Bei der Selbsterkenntnis sind der Intellekt das
Erkennende und der eigene Wille das Erkannte. Die Selbsterkenntnis ist nur
insofern unmittelbarer, als da zwei Formen, die der Erkenntnis der Aussenwelt
anhaften, Raum und Kausalität, wegfallen:
„Jedoch ist die innere Erkenntnis von zwei Formen frei, welche der äussern anhängen,
nämlich von der des Raums und von der alle Sinneserscheinungen vermittelnden Form
der Kausalität.“21
Die Erkenntnis des eigenen Seins als Wille kann jedoch, trotz den wegfallenden
Formen des Raums und der Kausalität, nie vollständig gelingen. Nicht zuletzt
liegt die Uneinnehmbarkeit der Festung ‚Wille’ daran, dass der Intellekt (die
Vernunft) dem Willen unterlegen ist. Diese Feststellung ist gleichbedeutend mit
einem Paradigmenwechsel. Bis Schopenhauer galt die Vernunft als Erkenntnis
versprechender als die Anschauung. Er kehrt das Verhältnis um und ist sich über
die Tragweite dessen bewusst:
19
Ebd., S. 252-253.
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 254.
21
Ebd., S. 254-255.
20
12
„(...)dass zunächst in unserm eigenen Bewusstsein der Wille stets als das Primäre und
Fundamentale auftritt und durchaus den Vorrang behauptet vor dem Intellekt, welcher
sich dagegen durchweg als das Sekundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist. Diese
Nachweisung ist umso nötiger, als alle mir vorhergegangenen Philosophen vom ersten bis
zum letzten das eigentliche Wesen oder den Kern des Menschen in das erkennende
Bewusstsein setzen (...)“22
3.2. Die Bedingungen einer erfolgreichen Kontemplation
Für die Kontemplation, welche auf die Erkenntnis der Aussenwelt gerichtet ist,
versucht Schopenhauer die ‚Vorteile’ der Selbsterkenntnis, nämlich das
Wegfallen der zwei Formen Raum und Kausalität, zu übernehmen. Zunächst
erklärt
er
das
Erkennende
(Intellekt)
und
das
Erkannte
(Wille)
als
inkommensurabel. Je besser der Wille erkannt wird, desto weniger Intellekt ist
zugegen. Mit diesem Schritt gelingt es ihm zu behaupten, dass die Erkenntnis des
Willens einher geht mit einer Abschwächung der jeden normalen Erkenntnis
zugrunde liegenden Formen. Diese aussergewöhnliche Erkenntnis bezeichnet er
als die ‚Kontemplation’. Wie gezeigt wurde, geht es in der Kontemplation in
erster Linie darum, den ‚Ballast’ der Erkenntnisbedingungen – der Formen – so
weit als möglich abzuschwächen. Gelingt dies, bleibt nach Schopenhauer die
Erkenntnis nicht beim Erfassen alltäglicher Kausalzusammenhänge stehen,
sondern dringt in das Wesen der Dinge selbst vor. Es werden diejenigen
Wesensmerkmale
erkannt,
welche
den
spezifischen,
stets
wechselnden
Situationen, in denen ein Ding erscheint, zu Grunde liegen. Erkannt wird bei
erfolgreicher Kontemplation jedoch nicht der Wille, sondern die Idee, welche der
objektive Charakter, also Erscheinung ist23. Das Wesen des Willens bleibt
verhüllt.
Auch Schopenhauer ist sich bewusst, dass der Zustand der Kontemplation ein
paradoxer ist: „Zur Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben in unser
Bewusstsein kommt es nur mittelst einer Veränderung in uns, die man auch als
22
Ebd., S. 256-257.
Der Wille als Ding an sich muss unerkannt bleiben. Wie oben beschrieben, kritisierte Schopenhauer Kants
Herleitung des Ding an sich, da er zu viel über etwas sagt, dass unbeschreibbar bleiben muss. Als Metaphysiker
möchte Schopenhauer jedoch nicht bei den Objektivationen stehen bleiben, sondern hat das Bedürfnis, ins
‚Innere der Dinge’ vorzudringen. Er befindet sich in demselben Dilemma wie Kant. Das Dilemma soll nun durch
die Idee aufgelöst werden: Sie ist das ganze Ding an sich unter der Form der Vorstellung.
23
13
einen Akt der Selbstverleugnung betrachten könnte.“24 Die Formen sind die
Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Wie soll es also möglich sein, dass
die potenteste Erkenntnisart die Erkenntnisbedingungen zu ihren Gunsten
abschwächen kann? Die Lösung Schopenhauers: Die ‚beste’ aller Erkenntnisarten
ist nicht intellektuelle Erkenntnis, sondern Anschauung. Schopenhauer war nicht
der einzige, der die Anschauung als Erkenntnisvariante entdeckte; in der
romantischen Philosophie war sie eine beliebte Option: „Eine dritte [P.F.:
Erkenntnis-] Variante stellt die ästhetische dar, die mit Anschauung und
Erinnerung
operiert.“25
Nachdem
die
Vernunft
in
zahlreichen
Philosophiekonzepten – von Descartes bis Fichte – nicht einlösen konnte, was sie
versprach, fällt nun der Anschauung dieselbe Rolle zu: vordringen zur reinen
Wahrheit. Einzig Kant setzte die Grenzen der Erkenntnis klar fest, sei es für die
Vernunft oder für die Anschauung; deshalb auch seine Stellungnahme gegen die
Metaphysik als Thema der Philosophie. Schopenhauer ist aus dieser Perspektive
ein revolutionärer Traditionalist: Traditionalist, da er explizit an der Metaphysik
festhält, revolutionär, da er den Schlüssel der Erkenntnis der Vernunft ab- und der
Anschauung zusprach.
24
25
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 473.
Gloy, K.: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, S. 78.
14
4. Die Relationen
Ausgehend von Schopenhauers Ordnungsschema Wille (Ding an sich) – Idee –
einzelne Dinge ist die Absicht des folgenden Kapitels, die Relationen zwischen
dem Willen (als Ding an sich) und der Idee und der Idee und den einzelnen, in der
Welt erscheinenden Dingen, zu bestimmen. Bald stellte sich heraus, dass
Schopenhauer kaum etwas über die Relation zwischen dem Willen und der Idee
sagt, vielmehr erfährt der Leser etwas über die Relation zwischen dem Willen und
den einzelnen, in der Welt erscheinenden Dingen. Das ‚Überspringen’ der Idee
hat Gründe, welche von Schopenhauer nicht offen gelegt werden. In diesem
Kapitel sollen sie aufgedeckt werden.
4.1. Ausgangslage
Eine Relation zieht einen Vergleich zwischen zwei (oder mehreren) Dingen und
definiert deren Verhältnis untereinander. Bleibt eines der Vergleichsdinge
unbestimmt, kann die Relation nicht definiert werden. Da das Ding an sich per
Definition nicht definierbar ist, lässt sich die Relation zwischen dem Ding an sich
und der Idee nicht bestimmen. Dies mag ein Grund sein, weshalb Schopenhauer
wenig über diese Relation sagt.
4.2. Die Relation zwischen dem Willen und den einzelnen Dingen
Die Idee ist die unmittelbare Objektivation, die in den Satz vom Grunde
eingegangene Idee ist die mittelbare Objektivation des Willens. Die Lebewesen,
welche die einzelnen Dinge erkennen, erkennen sie durch den Filter der
Bedingungen der Erkenntnis – den Kantischen Kategorien. Schopenhauer spricht
von einer ‚Eintrübung’. Die in den einzelnen Dingen eingegangene Idee verliert
an Adäquatheit:
„Die einzelnen Dinge aber sind keine adäquate Objektität des Willens, sondern diese ist
hier schon getrübt durch jene Formen, deren gemeinschaftlicher Ausdruck der Satz vom
15
Grunde ist, welche aber Bedingung der Erkenntnis sind, wie sie dem Individuo als
solchem möglich ist.“26
4.2.1. Konsequenzen und Kritik
Auffallend ist, dass Schopenhauer die Relation zwischen dem Willen und den
einzelnen, in der Welt erscheinenden Dingen thematisiert. Da die Idee zwischen
dem Willen und den einzelnen Dingen steht, müsste über die Relation der Idee
und den einzelnen Dingen die Rede sein. Für Schopenhauer scheint jedoch
qualitativ kein bedeutender Unterschied zwischen dem Willen und der Idee zu
existieren. Die Idee ist ‚nur’ allgemeinstes Objekt für ein Subjekt, ansonsten
offenbar mit dem Willen identisch. Daher kann er in der Beschreibung jener
Relation die Idee übergehen.
„Das einzelne, in Gemässheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine
mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem
und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens, indem
sie keine andere dem Erkennen als solchem eigene Form angenommen hat als die der
Vorstellung überhaupt, d.i. des Objektseins für ein Subjekt.“27
Folgende Passage verrät die Aufgabe der Idee in Schopenhauers Philosophie:
“Daher ist auch sie [PF: die Idee] allein die möglichst adäquate Objektität des Willens
oder Dinges an sich, ist selbst das ganze Ding an sich [P.F.:kursiv], nur unter der Form
der Vorstellung: (...)“28
Die Idee nimmt in Schopenhauers Philosophie die Aufgabe ein, gewissermassen
ein erkennbares Ding an sich zu sein, obwohl das Ding an sich auch oder gerade
für Schopenhauer unerkannt bleiben muss. Wir erinnern uns: genau diesen Punkt
kritisierte er an Kant. Einzig die vage Formulierung, dass die Idee ‚die möglichst
adäquate Objektität des Willens’ ist, deutet auf einen qualitativen Unterschied
zwischen dem Willen und der Idee hin. Auch für Schopenhauer muss es
demzufolge einen solchen Unterschied geben, ansonsten hätte er von einer
26
27
28
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 253.
Ebd., S. 253.
Ebd., S. 253.
16
‚vollkommen „adäquaten Objektität des Willens’ gesprochen. Diese feine Nuance
in der Formulierung ist Hinweis für die ungelöste Paradoxie des Dings an sich:
Hätte Schopenhauer die Paradoxie des Dings an sich bzw. die Relation zwischen
dem Willen als Ding an sich und der Idee eindeutig bestimmt, wäre die vage
Definition (möglichst adäquat) durch eine Eindeutige ersetzt worden. Was heisst
‚möglichst adäquat’? Wieviel Wille ist in der Idee? Schopenhauer übergeht die
qualitative Bestimmung und belässt es bei einer rein formalen Beschreibung: Die
Idee ist das möglichst adäquate Ding an sich als allgemeinstes Objekt für ein
Subjekt. Aufgrund dieser Leerstelle in der Beweisführung wird die Idee faktisch
zum erkennbaren Ding an sich. Zur Verteidigung Schopenhauers sei angemerkt,
dass die Definition der Relation zwischen Ding an sich und der Idee, wie eingangs
vorgeführt, unmöglich ist.
4.3. Kritik an der Erkennbarkeit der Idee und der Rolle des Genies
Vielleicht wusste Schopenhauer von dieser Problematik und schränkte daher die
Erkennbarkeit des Dings an sich ein: Nicht jeder Mensch hat die nötige
Begabung, sie zu erkennen. Es bedarf eines Genies:
„Hingegen setzt das Auffassen der Ideen aus der Wirklichkeit gewissermassen ein
Abstrahieren vom eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse voraus, welches eine
besondere Schwungkraft des Intellekts erfordert. Diese ist im höhern Grade und auf
einige Dauer nur dem Genie eigen (...)“29
Die Paradoxie pflanzt sich nun im Wesen des Genies fort: Es muss seine eigene
Subjektivität verlieren, um ein Genie zu sein. Das Subjekt ‚Mensch’ ist
gleichzeitig das subjektlose ‚Genie’.30
Eine weitere Einschränkung der Erkennbarkeit der Idee führt Schopenhauer ein:
selbst das Genie ist nur zeitweise dazu befähigt. Er ist gewissermassen
29
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 477.
Kulturgeschichtlich liesse sich konstatieren, dass die Schopenhauersche Definition des Genies der
säkularisierte, vom Himmel auf die Erde gefallene, subjektlose Gott ist. Als Gott ist das Genie subjektlos, als
Mensch, welches das Genie auch ist, ein Subjekt. Folgende Passage deutet auf die vage ausgesprochene,
übernatürliche Kraft des Genies:
„Denn ein solcher ausserhalb des Individui in das Objektive fallender Ernst desselben ist etwas der menschlichen
Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Übernatürliches: (...)“ Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und
Vorstellung II, S. 496.
30
17
vorübergehend ein übernatürliches Wesen, ein Gott auf Zeit. Das Genie kann
seinen eigenen Zustand der quasi-göttlichen Erkenntnis nicht selbst steuern, es
überkommt ihn im Rausch des Erschaffens eines Werkes. Aber auch diese
zeitliche Einschränkung löst freilich das Problem nicht auf.
Die offenkundig ungelöste Paradoxie des Genies zeigt sich sehr deutlich in den
Begriffen der Objektivität und Subjektivität. Die reine Erkenntnis ist objektiv, die
gewöhnliche Erkenntnis ist subjektiv. Das Genie erkennt dann genial, wenn es
objektiv erkennt; gleichzeitig zeigt es sich just dort im höchsten Masse als ein
Subjekt, welches unter den Massen der gewöhnlichen Menschen heraussticht und
auch nach Jahrzehnten als Subjekt in Erinnerung bleibt.
4.4. Zusammenfassung
Das, was Schopenhauer über die Relation zwischen dem metaphysischen Willen
(und der Idee) und den einzelnen, in der Welt erscheinenden Dingen sagt, ist
nichts Neues: Kants Philosophie beschreibt diese Relation ausführlich. Seine
Kategorientafel ist die Beschreibung, inwiefern die (menschliche) Erkenntnis den
Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis unterworfen ist und daher niemals
‚rein’ sein kann. Die Schopenhauersche Wortwahl des ‚Verlustes an Adäquatheit’
ist eine zusammenfassende Beschreibung dessen, was Kant mit seinen Formen
intendierte.
Schopenhauers Innovation liegt demzufolge weder in der Verbindung von Platons
Idee mit Kants Philosophie noch in der Beschreibung der Idee als ‚allgemeinstes
Objekt für ein Subjekt’. Letztere hatte die Intention, das Kantische Problem zu
lösen. Wie oben dargelegt, scheitert jedoch dieser Versuch.
Schopenhauers Innovation liegt vielmehr darin, wie er mit der ungelösten
Paradoxie umgeht: Nicht die Vernunft ist fähig, das Ding an sich zu erkennen,
sondern die Kontemplation. Wir kennen den Zustand völliger Versenkung aus
eigener Erfahrung, in der die Zeit und das eigene Ich vergessen ist. Dass der
Zustand der Ich-Vergessenheit (und dem Vergessen der Kausalität) zu reinerer
Erkenntnis führt, muss jedoch kritisch betrachtet werden. Es liessen sich einige
Beispiele anführen, in denen alles um uns herum ‚vergessen’ ist, jedoch
18
keineswegs daraus Erkenntnis entspringt: beispielsweise das Tagträumen, das
gelangweilte Fernseh-Zappen, usw.
Das scheinbar31 paradoxe Wesen der Kontemplation (subjektlose Erkenntnis des
Subjekts) bietet sich an, mit dem paradoxen Wesen des Dings an sich in
Verbindung gebracht zu werden. Die ungelöste Paradoxie ist immer dort
nachweisbar, wo vage Definitionen auftauchen:
1) In der Relation zwischen dem metaphysischen Willen und den physischen, in
der Welt erscheinenden Dingen (‚möglichst adäquat’),
2) In der Beschreibung, was Kontemplation ist („In solcher Kontemplation nun
wird mit einem Schlage das einzelne Ding zur Idee (...)“.32)
3) In der offenen Paradoxie des Genies: das ‚reine Subjekt des Erkennens’33
(welches das Genie ist) und der subjektlose Vorgang des reinen Erkennens.34
Die Paradoxie, wie etwas Metaphysisches erkannt werden kann – ob man es Ding
an sich, Wille oder Idee bezeichnet – löst sich auch bei Schopenhauer nicht
gänzlich auf. Im Genie (und seinem Werk, der Kunst) entfaltet sich diejenige
Paradoxie, welche im metaphysischen Ding an sich ihren Ursprung hat: Das
Genie, ein Subjekt, muss seine Subjektivität verlieren um die Idee erkennen zu
können. Um die Idee (der Wille unter der Form der Vorstellung) erkennen zu
können, muss das Genie den eigenen Willen abschwächen, obwohl der Körper des
Genies immer Ausdruck des Willens ist. Das Genie muss sich zum körper- und
subjektlosen Wesen transformieren, oder: zu einer Art säkularisiertem Quasi-Gott.
31
Scheinbar darum, weil bestritten wird, dass der in Kontemplation Versenkte seine Subjektivität verliert.
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 258. Und die Idee ist, wie oben zitiert, der
‚möglichst adäquate Wille’. Der Wille als Ding an sich dürfte aber nicht erkennbar sein. Die Kontemplation ist
der aussergewöhnliche Vorgang, in welchem die metaphysische Idee erkannt, also physisch wird.
33
Dieser Ausdruck kommt mehrfach in beiden Hauptwerken vor, z.B: Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und
Vorstellung I, S. 329 oder Kapitel 30: Vom reinen Subjekt des Erkennens, Schopenhauier, A.: Die Welt als Wille
und Vorstellung II, S. 473-484.
34
Vgl. Ebd., 266. Schopenhauer beschreibt, was mit der ‚reinen Erkenntnis’ gemeint ist: Es drängt den Willen
ab, so dass das Erkennen nicht mehr im Dienste des Willens steht, sondern frei ist. Schopenhauers
physiologische Erklärung dieses Vorgangs (vgl. ebd., S. 474) setzt den metaphysischen Willen voraus. Da der
Wille als Ding an sich nicht bestimmbar ist, muss die Erklärung, wie eine Wirkung (des Willens) durch
Kontemplation vorübergehend ausgeblendet werden kann, unzulänglich bleiben. Um die physiologische
Erklärung zu beweisen, müsste der Wille als Ding an sich genau definiert werden. Die Relation zwischen der
reinen, objektiven (metaphysischen) Erkenntnis und der subjektiven (physischen) Erkenntnis nach dem Satz vom
Grunde ist somit (logisch!) nicht bestimmbar.
32
19
Die Paradoxie hat sich mithin verschoben, nicht aber aufgelöst; sie liegt jetzt im
Genie und in der Idee als Übergang von der physischen zur metaphysischen
Welt.35
Der Glaube an die Kraft des Genies offenbart einen tief liegenden Optimismus
des Pessimisten Schopenhauers. Pessimist bleibt er letztlich doch, da trotz der
Erkenntniskraft des Genies die Welt sich nicht zum Guten wendet: Die unbändige
Kraft des Willens muss demnach mächtiger sein als die Erkenntniskraft des
Genies.
Wenn Kants ‚Fehler’ nicht gelöst wurde, sondern lediglich verschoben, so muss
Schopenhauers Hinwendung zur Kunst und zum Genie nicht (nur) in der besseren
Philosophie zu suchen sein, sondern als Phänomen des kulturellen Wandels.
35
Vgl. Anhang: Paradoxientafel.
20
5. Die Musik
Alle Künste mit Ausnahme der Musik haben ihren Zweck in der Darstellung der
Ideen. „Sie [P.F.: die Künste] alle objektivieren den Willen also nur mittelbar,
nämlich mittelst der Ideen (...)“36 Nur die Musik vermag tiefer zu dringen. Sie
übergeht die Ideen, da sie „von der erscheinenden Welt ganz unabhängig“37 ist,
weshalb ihr eine gesonderte Rolle zukommt. Sucht man nach einem Grund für die
exklusive Position der Musik, wird man enttäuscht; es scheint, als sei das
abstrakte Medium der Musik, die flüchtigen Töne, welche nicht abbilden, was in
der Natur vorliegt, der wichtigste Grund zu sein, weshalb sie „von der
erscheinenden Welt ganz unabhängig“38 existiert. Da die erscheinende Welt bloss
eine mittelbare Objektivation der Ideen ist, gelingt es den Künsten ausser der
Musik nicht, mehr als eine vollkommene Abbildung der Idee zu sein. Nur der
Musik steht die Idee nicht ‚im Wege’, weshalb sie bis zum Willen selbst
vordringen kann:
„Die Musik ist also keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild der Ideen; sondern
Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die
Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der andern Künste:
denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.“39
Schopenhauers Darlegung der Musik als explizit höchste aller Künste war relativ
neu. Bis anhin war die Musik das enfant terrible unter den Künsten, selten verehrt,
meist skeptisch bis abschätzig beurteilt. Sie wurde lange als Wissenschaft von den
Zahlen in Tönen gesehen und ordnete sich dem Begriff – allgemein: der Vernunft
– unter. Das Wort wurde der Musik vorgezogen, so auch im spezifischen Fall des
Gesangs. Schopenhauer kehrte dieses Verhältnis um – analog der Umkehrung des
Verhältnisses von Vernunft (Rationalität) und Anschauung (Kontemplation):
„Das traditionelle, im 17. und 18. Jahrhundert etablierte Verhältnis zwischen Musik und
Wort hat sich gänzlich umgekehrt: es ist nun nicht mehr die Musik, die die Bedeutung des
36
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 359.
Ebd., S. 359.
38
Ebd., S. 359.
39
Ebd., S. 359.
37
21
Wortes unterstreicht, vielmehr muss sich das Wort sich der Allgemeinheit der Musik
beugen und gefügig machen.“40
Wie begründet Schopenhauer diesen Paradigmenwechsel innerhalb der Künste?
Die Behauptung, dass die Musik bis zum Willen vordringen kann, wird dadurch
erklärt, dass „sie von der erscheinenden Welt ganz unabhängig ist [PF: kursiv]“41
und daher ihre Wirkung mächtiger entfalten kann als die der anderen Künste.
Im Folgenden soll dieses Argument einer medientheoretischen Analyse
unterzogen werden. In dieser Argumentation ist die Differenz zwischen Kunst und
Nicht-Kunst, welche hier ‚Alltag’ benannt wird, ein wichtiges Moment, um das
Schopenhauersche Argument zu überprüfen.
5.1. Die Medien der Künste
Alle Künste drücken sich notwendigerweise mittelst eines spezifischen Mediums
aus, welches auch als das Material einer Kunst bezeichnet werden kann. So ist das
Medium der Literatur und der Poesie die Sprache bzw. die Schrift: Mit der
Sprache, welche schriftlich festgehalten wird,
werden literarische Werke
geschaffen.
Das Medium der Architektur sind Materialien wie Stein, Holz, etc.: Unter
Berücksichtigung der statischen Gesetze entstehen durch die Bearbeitung und
Aufschichtung dieser Materialien architektonische Werke.
Das Medium der bildenden Kunst sind Formen und Farben: durch das Auftragen
von Formen und Farben unter Berücksichtigung der perspektivischen Gesetze
entstehen Werke der bildenden Kunst.
Das Medium der Musik ist der temperierte Ton: Durch das Setzen von
temperierten Tönen
in das System der funktionalen Tonalität entstehen
musikalische Werke.
Untersucht man nun die oben aufgeführten Medien daraufhin, welche Kunst ihr
Medium exklusiv beansprucht und welche Kunst ihr Medium mit dem Alltag teilt,
ergibt sich Folgendes:
40
41
Fubini, E.: Geschichte der Musikästhetik, S. 223.
Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 359.
22
Die Literatur teilt ihr Medium mit der alltäglichen Kommunikation, der Sprache.
Das Medium der Literatur weist somit nicht über den Kunstgehalt eines
literarischen Werkes hin: Gesprochen (bzw. geschrieben) wird sowohl im
literarischen Werk, als auch in der Menukarte des gegenüberliegenden
Restaurants. Gleich verhält es sich in der Architektur: Das Medium der
Architektur ist sowohl alltäglich (z.B. Brennholz), als auch künstlerisch (z.B.
Holz als Baumaterial eines kunstvollen Baus). Auch da klärt das architektonische
Medium nicht über den Kunstgehalt eines Bauwerks auf. Ebenso in der bildenden
Kunst: Farben und Formen existieren selbstverständlich auch im Alltag, weshalb
sich diese Kunst hervorragend dazu eignet, noch vor dem Aufkommen der
Fotografie Szenen und Landschaften, welche aus dem Alltag entnommen sind,
ästhetisch darzustellen. Alle diese Künste teilen ihr Medium also mit dem Alltag.
Infolgedessen kann das Medium dieser Künste nicht über deren künstlerischen
Gehalt entscheiden. In allen diesen Künsten entscheidet nicht das ‚was’, sondern
das ‚wie’ über deren Kunstgehalt42. Ihr Medium steht ihnen nicht exklusiv zur
Verfügung.
Die Musik ist tatsächlich die einzige Kunst, deren Medium ausschliesslich in der
Musik Anwendung findet. Denn das Medium der Musik sind Töne, welche auf
einer temperierten Skala basieren, die sich von den in der Natur vorkommenden
Geräuschen und Tönen erheblich unterscheidet. Die Komplexität natürlicher
Geräusche wird durch die temperierten Tönen stark vermindert: Der Ton erklingt
‚rein’, d.h. dessen Obertonreihe summiert sich nicht, wie in der Natur, durch
tausendfach gleichzeitig ertönender Obertonreihen zum Rauschen oder zum
Geräusch. Hingegen wird in der bildenden Kunst die Komplexität natürlicher
Farbgebungen, beispielsweise einer Waldszene, im Gemälde nachgebildet. Die
Komplexität eines musikalischen Werkes bildet nicht die Komplexität natürlicher
Geräusche nach, sondern entsteht auf Basis eines ganz eigenen, d.h. künstlichen
Systems (der funktionalen Tonalität).
Dies ist auch der Grund, weshalb nur die Musik einen Interpreten benötigt43: Alle
anderen Künste drücken sich über ein Medium aus, welches von den potenziellen
42
In der Literatur beispielsweise: Wie die Sprache im Kunstwerk zusammenspielt, im Gegensatz zum ‚wie’ der
Alltagssprache.
43
Die Schauspielkunst ist aus medialer Perspektive mit der Musik verwandt. Der Schauspieler interpretiert einen
Text, der Musiker interpretiert eine Partitur. Im Gegensatz zum Musikinterpreten, der gleichzeitig der
‚Regisseur’ seiner Interpretation ist (Ausnahme: der Orchestermusiker), wird der Schauspieler von einem
Regisseur angeleitet, wie er zu interpretieren hat. Der Schauspieler hat jedoch eine Referenz im Alltag, nämlich
23
Rezipienten vorausgesetzt, d.h. verstanden werden kann und insofern keinen
spezialisierten Interpreten fordern. Wenn jemand lesen kann ist es einerlei, ob ein
literarisches Werk oder eine Gebrauchsanleitung. Der Rezipient der Literatur und
der anderen Künste (ausser der Musik) ist zugleich Interpret. Das nur in der
Musik(kunst) und nicht im Alltag vorkommende Medium der temperierten Töne
verlangt hingegen einen Interpreten, der sich im Lesen dieses Mediums eingeübt
hat und es denjenigen vorträgt, die darin nicht versiert sind.
Die medientheoretischen Überlegungen bestätigen, dass die Musik eine
gesonderte Stellung innerhalb der Künste einnimmt. Wenn unter der
‚erscheinenden Welt’ der durch unsere Sinne wahrnehmbare ‚Alltag’ verstanden
wird, kann der Aussage Schopenhauers beigepflichtet werden. Sie müsste
folgendermassen präzisiert werden: ‚Das Medium der Musik ist von der
erscheinenden Welt als ‚Alltag’ (im Gegensatz zur ‚Kunst’) ganz unabhängig.’
Dass
Schopenhauer
die
Musik
‚ganz
gesondert’
betrachtet,
ist
aus
medientheoretischer Perspektive richtig. Unklar bleibt aber weiterhin, weshalb
diese Tatsache die Musik über die anderen Künste erhebt.
5.2. Die Kunst im Dienste fremder Interessen44
Das folgende Kapitel setzt die medientheoretischen Überlegungen fort und
verbindet sie mit der gesellschaftlichen Situation jener Zeit. Es wird zuletzt eine
These aufgestellt, welche die Frage zu beantworten versucht, weshalb bei
Schopenhauer die Musik zur höchsten Kunst wurde. Sie argumentiert demzufolge
nicht im Sinne Schopenhauers; da er jedoch keinen überzeugenden Grund für die
vorrangige Stellung der Musik anführt, soll dieser Versuch gewagt werden.
Wie oben gezeigt wurde, ist die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst
(=Alltag) in allen Künsten ausser der Musik aus medialer Perspektive unscharf.
die gesamte Lebenswelt. Die Schauspielkunst ist aus medialer Perspektive ebenso eine Interpretationskunst,
jedoch aus ganz anderen Gründen als die Musik. Letztere benötigt einen Interpreten infolge der fehlenden
medialen Referenz im Alltag. Die Schauspielkunst demgegenüber ist gerade die reinste Kunst der (Alltags)Referenz, ‚benötigt’ keinen Interpreten, sondern ist die Kunst der Interpretation, die Verdoppelung des Alltags
als Kunst.
44
Vgl. Bürger, P.: Theorie der Avantgarde, S. 57 ff. und: „Wir werden nicht fehlgehen in der Vermutung, dass
das, was wir rückblickend als Kunst wahrnehmen und in Museen stellen, in älteren Gesellschaften eher als
Stützfunktion für andere Funktionskreise produziert worden ist und nicht im Hinblick auf eine Eigenfunktion der
Kunst. Das gilt vor allem für religiöse Symbolisierungen, (...)“ Luhmann, N.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 226.
24
Diese mediale Unschärfe impliziert Folgendes: Wenn eine Kunst mit einem
Medium arbeitet, welches ebenso in anderen gesellschaftlichen Bereichen (z.B.
der Religion) das Medium der Kommunikation ist, eignet sie sich bestens dafür,
deren Interessen durch eine künstlerische Form auszudrücken. So sind in vielen
Kirchen künstlerische Darstellungen der Schöpfungsgeschichte an den Wänden
aufgetragen.
Diese mediale Unschärfe ermöglicht ‚fremde’ Verwendungen der Künste. So
musste die bildende Kunst seit dem Mittelalter im Dienste der Kirche Werke
erschaffen und war in der Wahl des Ausdrucks und des Themas stark
eingeschränkt. Die Themen der Kirche konnten durch das allgemein verständliche
Medium der bildenden Kunst (Farben und Formen) vorzüglich verbreitet werden.
Dasselbe lässt sich auch von der (noch nicht autonomen) Literatur sagen, welche
lange Zeit im Dienste kunstfremder Interessen ihre Werke schufen. Möglich war
es, da das Medium der Literatur (Sprache) sowohl in der Kunst, als auch dem
Alltag Anwendung fand. So war gewährleistet, dass die fremden Interessen in der
literarischen Kunst verstanden wurden und somit Verbreitung fanden.
Interessant ist die damalige Situation der Musik: Infolge ihres exklusiven
Mediums war es ungleich schwieriger, sie für fremde Interessen zu vereinnahmen.
Es wurden zwar zahlreiche Versuche unternommen und etliche - notabene von der
Kirche - erlassene Regeln verordnet, welche Tonleiter wann und zu welchem
Zweck eingesetzt werden müsse45; die (musik)fremden Inhalte, die dadurch
mitgeteilt werden sollten, konnten dennoch nur schlecht gelesen werden. Schuld
daran waren freilich nicht schlechte Verordnungen, sondern das nur in der Musik
existierende Medium der temperierten Töne, welches im Alltag keine Anwendung
hatte, also auch nicht gelesen werden konnte. In einer Gesellschaft, in der die
Kunst noch nicht autonom war und in direkter (oder: hierarchischer) Abhängigkeit
anderer Gesellschaftbereiche lag, wie beispielsweise der Religion und der
staatlichen Macht, waren diejenigen Künste nützlich, welche jene fremde
Interessen darstellen konnten; die Musik gehörte, infolge ihres exklusiven
Mediums, nicht dazu. Weil die instrumentale Musik aus oben genannten Gründen
sich schlecht eignete, ihr fremde Informationen (aussermusikalische) mitzuteilen,
wurde der Gesang, bzw. der Text höher bewertet als die Musik. Dies ist ein
45
Vgl. Fubini, E.: Geschichte der Musikästhetik, S. 65 ff.
25
wichtiger Grund, weshalb die Musik unter den Künsten eine schwache Position
einnahm: sie liess sich nur schlecht für fremde Interessen vereinnahmen.
Die Musik ist also innerhalb von rund 200 Jahren (ca. 160046-ca.1800) von einer
zweifelhaften Kunst zur höchsten Kunst aufgestiegen. Die medientheoretische
These vermag eine Antwort über die Musik als ‚niedrige’ Kunst zu geben. Wie
gezeigt wurde, vermag Schopenhauers Aussage, dass die Musik von der
erscheinenden Welt ganz unabhängig sei, keine Antwort auf die Frage geben,
weshalb die Musik zur höchsten Kunst avancierte. Die folgende These, welche
eine befriedigende Antwort sucht, verbindet den medientheoretischen Ansatz mit
der soziologischen Theorie der gesellschaftlichen Evolution im 19. Jahrhundert.
Da die gesellschaftliche Evolution der letzten 300 Jahre ein umfassendes und
komplexes Thema ist und hier nicht behandelt werden soll, werden im Folgenden
die Begriffe ‚stratifizierte47’ und ‚funktional differenzierte Gesellschaft48’
vorausgesetzt.
Der fliessende Wandel von der stratifizierten zur funktional differenzierten
Gesellschaft war anfangs des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Schopenhauer
wuchs in einer grundlegend neuen Gesellschaftsform auf, welche relativ jung war.
In dieser haben sich die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche autonomisiert:
Für die Kunst bedeutete es, dass sie ihre Themenwahl selbst traf und ihre Technik
aus eigener Logik entwickelte. Wie gezeigt wurde, war die Musik infolge ihres
Mediums immer schon ‚autonomer’ als die anderen Künste, denn ihr Medium
liess sich kaum für fremde Zwecke vereinnahmen. Diese ungewollte,
mediumsbedingte Autonomie der Musik wurde jetzt in der neuen, funktional
differenzierten Gesellschaft, die unter dem Druck der Autonomisierung stand,
zum Vorbild für gesellschaftliche Evolution. Aus demselben Grund, weshalb die
Musik in der stratifizierten Gesellschaft diskriminiert war, wurde sie in der
funktional differenzierten Gesellschaft gelobt. Keine andere Kunstform konnte
ihre Autonomie derart deutlich zeigen wie die Musik. In dem Moment, als der
gesellschaftliche Wandel sich zusehends Richtung Autonomisierung der
46
Das Jahr 1600 gilt als der Beginn der funktionalen Tonalität, welche bis zu ihrem Zusammenbruch anfangs des
20.ten Jahrhunderts das Material der Musik war. Insofern liesse sich auch sagen, dass das Medium der Musik die
funktionale Tonalität war, auf Basis temperierter Töne.
47
Vgl.: Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 678 ff.
48
Ebd., S. 743 ff.
26
gesellschaftlichen Bereiche bewegte, wurde ‚Autonomie’ positiv bewertet; die
Musik konnte davon profitieren. Die anderen Künste mussten ihren autonomen
Status erst erarbeiten, ganz im Gegensatz zur Musik; sie war, mediumsbedingt,
bereits autonomer.
Dies ist sicherlich nicht der einzige Grund für die Position der Musik in der
Romantik. Da der Musik die alltägliche Referenz fehlte, sie sich dadurch den
alltäglichen (oder sozialen) Kausalitätsketten entziehen konnte, war sie frei für
(romantische) Interpretationen: die Kunstform des Gefühls, der Anschauung oder
allgemein: die Kunstform, welche versprach, das Gegenteil von Kausalität zu
sein.
27
6. Fazit
Selten legt ein Philosoph offen dar, welche Philosophen ihn beeinflussten. Dass
gleichzeitig eine ausführliche Kritik an den verehrten Philosophen erfolgt, kann
als Glücksfall angesehen werden. Damit wird zumindest die Ausgangslage der
neuen philosophischen Theorie erkennbar. Im Falle Schopenhauers ist bekannt,
dass der von ihm verehrte Philosoph Kant seiner Meinung nach Fehler begangen
habe. Es liegt nahe anzunehmen, dass Schopenhauer mit seiner Philosophie jene
Fehler zu verbessern suchte.
Betrachtet man aus dieser Perspektive Schopenhauers Philosophie, ist nicht nur
der Wille das Zentrum seiner Philosophie, sondern ebenso die Idee. Die Idee
erweist sich funktional als äusserst wichtiger Knotenpunkt zwischen der
metaphysischen und der physischen Seite seiner Philosophie. Durch die Idee
sollte sich das Kantische Problem des ‚zuviel Gesagten’ auflösen. Wie gezeigt
wurde, hat es sich nicht gelöst, sondern in das paradoxe Vermögen des Genies
und das widersprüchliche Wesen der Idee verschoben. Dass sich das Problem
nicht aufgehoben hat, zeigt sich ebenso darin, dass Schopenhauer keine
philosophische Begründung für die Stellung der Musik als höchste Kunst
darzulegen vermochte. Seine Begründung bleibt bei Deskriptivem stehen. Er
übersieht, dass verschiedene Individuen möglicherweise nicht dieselben
Empfindungen beim Hören von Musik wahrnehmen.
Trotz dem Scheitern des philosophischen Systems scheitert Schopenhauer als
Philosoph nicht. Das Anliegen, ein philosophisches System zu entwerfen, welches
alles erklärt, offenbart die konservative Seite Schopenhauers. Die konsequente
Art und Weise, wie er dies tut, erweist sich in vielen Stellen als revolutionär. Dies
sind die Momente, die seine philosophiegeschichtliche Bedeutung rechtfertigen.
Die in dieser Arbeit vorgeführte Kritik ist nur unter der Perspektive der Kausalität
berechtigt. Schopenhauer versucht, metaphysische Annahmen kausal darzustellen.
Dies gelingt ihm, nicht zuletzt durch seine ausdrucksstarke Schreibweise,
scheinbar mühelos. Gerne glaubt man seiner philosophischen Architektur, da man
viele alltägliche Erfahrungen in seiner Philosophie wieder findet. Schopenhauer
war zweifellos ein begnadeter Beobachter seiner Zeit, seiner Mitmenschen und
seiner selbst.
28
Doch letztlich scheitert sein Versuch, Metaphysik kausal zu erklären. Kant hat,
auch nach den Angriffen und Korrekturversuchen Schopenhauers, Recht behalten:
Die Metaphysik ist kein Thema der Philosophie, wenn Philosophie kausal
betrieben werden soll.
29
7. Literaturverzeichnis
Bürger, Peter: Die Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main: 1974.
Fubini, Enrico: Geschichte der Musikästhetik, Stuttgart: Metzler Verlag 1997.
Gloy, Karen: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, München: Komet
Verlag 1996.
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2, Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1998.
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Surkamp
Verlag 1995.
Safranski, Rüdiger: Die wilden Jahre der Philosophie, Reinbeck bei Hamburg:
Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1986.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag 1986.
Schopenhauer, Arthur: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986.
Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Freiheit des Willens, Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag 1986.
30
Anhang
Paradoxientafel
Die Paradoxie, welche im Ding an sich ihren Ursprung hat, lässt sich in Schopenhauers
Philosophie auf mehreren Ebenen wieder finden:
Ding an sich
Idee
(Transformation von Metaphysischem in Physisches)
Kontemplation
(Erkenntnisform, welche die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis abschwächt)
Genie
(Subjektloses Subjekt)
Objektive Erkenntnis
31
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