Einwilligungsunfähigkeit aus ärztlicher Sicht (Dr. med. Klugkist)

Werbung
Hilfe zum Sterben, Recht & Praxis
Aktuelle Entwicklungen
Emden, den 28.11.2012
Einwilligungsfähigkeit aus ärztlicher Sicht
Dr. med. Hinderikus Klugkist
Ltd. Oberarzt
Neurologische Klinik Emden
Stufenschema zur Ermittlung des Patientenwillens
1. Aktuell erklärter Wille des aufgeklärten und einwilligungsfähigen
Patienten (immer vorrangig, wenn vorhanden).
wenn nicht gegeben
2. Vorausverfügter Wille, durch schriftliche Patientenverfügung
erklärt (fortwirkend und verbindlich, sofern auf die Situation anwendbar)
wenn nicht vorhanden
3. Behandlungswünsche / mutmaßlicher Wille
(aus früheren Äußerungen / Wertvorstellungen zu ermitteln, „substituted judgement“
stammt aus dem britschen Landrecht, von der amerikanischen Medizinethik
wiederentdeckt, um Patientenautonomie bei Einwilligungsunfähigen zu respektieren)
wenn nicht möglich
4. Entscheidung zum Wohl des Patienten
(medizinisch indizierte Maßnahme durchführen)
2
Einwilligungsfähigkeit
(oft synonym: Selbstbestimmungsfähigkeit)
Oft unklare Bedeutungen der Begrifflichkeiten:
„bei klarem Verstand“ (?)
„im Vollbesitz der geistigen Kräfte“ (?)
„Geschäftsfähigkeit“ (Rechtsbegriff)
„Urteils- und Entscheidungsfähigkeit“ (?)
„Einwilligungsfähigkeit“ (Rechtsbegriff)
„Selbstbestimmungsfähigkeit“ (medizinethischer
Begriff)
3
Einwilligungsfähigkeit
4
Einwilligungsfähigkeit
Einwilligungsfähigkeit ist ein rechtlicher (§) Begriff, der die Fähigkeit
eines Betroffenen beschreibt, in die Verletzung eines ihm
zuzurechnenden Rechtsguts (z.B. körperliche Unversehrtheit)
einzuwilligen bzw. diese abzulehnen (z.B. ärztliche Behandlung).
Diese Fähigkeit ist Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung
Erst durch die wirksame Einwilligung wird ein nach den Grundsätzen der medizinischen Heilkunst korrekt durchgeführter Eingriff
(z.B. Operation, medikamentöse Therapie) rechtmäßig.
„Einwilligungsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite
(Risiken) der ärztlichen Maßnahme erfassen kann“
(BGH NJW 1972, 335. OHG Hamm 1997)
5
Einwilligungsfähigkeit §
Einwilligungsfähigkeit ist nicht mit Geschäftsfähigkeit gleichzusetzen. Sie kann je nach Art des Eingriffs auch bei Geschäftsunfähigen (z.B. Minderjährigen) gegeben sein. Entscheidend ist die
Fähigkeit, die Komplexität (Natur und Erforderlichkeit des Eingriffs,
Risiken) eines „Eingriffes“ zu erfassen.
Daraus folgt, dass der nicht Einwilligungsfähige die Rechtfertigungswirkung nicht hervorrufen kann. Das bedeutet für den Arzt, er darf
die Behandlung nicht durchführen, auch wenn der Betroffene zugestimmt haben sollte.
Daraus kann sich die Erfordernis des Bestellens eines
Betreuers entsprechend § 1901 BGB ergeben.
6
Einwilligungsfähigkeit / Patientenverfügung
„Auf frühere Willensbekundungen kommt es nur an, wenn …
er einwilligungsunfähig ist. Dann ist die frühere
Willensbekundung ein Mittel, den Willen des
Patienten festzustellen“
(Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission)
Nach § 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB ist eine Patientenverfügung
eine „schriftliche Festlegung des einwilligungsfähigen
Volljährigen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit,
ob er in bestimmte … ärztliche Eingriffe einwilligt oder
untersagt“
Andere Willensbekundungen (z.B. mündliche Erklärungen)
sind keine Patientenverfügung im Sinne des Gesetzes.
7
Patientenverfügung / Realitätscheck
Die Verbreitung von Patientenverfügungen in der Bevölkerung liegt nicht über 20 %.
Offenbar sind Patientenverfügungen nur ein Instrument für bestimmte
Persönlichkeiten in bestimmten gesundheitlichen Situationen.
Deutlich mehr Patienten können sich mit Vorsorgevollmachten anfreunden.
Viele Patientenverfügungen drücken nicht das aus, was die Patienten wirklich wollen,
sind nicht passgenau.
Die Art und Weise wie Verfügungen im Muster vorformuliert sind, und ob darin eher
Einwilligung oder Ablehnung von Behandlung als Normalfall dargestellt wird,
beeinflusst den Inhalt einer persönlichen Patientenverfügung erheblich.
Selbst wenn gute Patientenverfügungen existieren, sind sie oftmals nicht zur
richtigen Zeit am richtigen Ort.
Fagerlin u.a. Hastings Cent Rep 2004;34:30-42
Winter u.a. J. Palliat. Med. 2010;13(5):1-5
Kressel u.a. J. Gen Intern. Med. 2007;22(7):1007-110
8
Einwilligungsfähigkeit/ Patientenverfügung
Bei der Abfassung einer Patientenverfügung, als dem Dokument
des zeitlich nicht begrenzten Patientenwillens, muss/sollte sicher
Einwilligungsfähigkeit in all jene Maßnahmen gegeben sein, für
die eine Willensentscheidung getroffen und dauerhaft festgelegt
wird.
Eine ärztliche Aufklärung ist im Patientenverfügungsgesetz
(gültig ab 01.09.2009) nicht vorgesehen!
(Ein konkurrierender Gesetzentwurf enthielt die Notwendigkeit einer
Vorab-Beratung, sofern der erklärte Patientenwille auch für einen
Behandlungsabbruch bei heilbaren Krankheiten gelten sollte.
Dieser Entwurf hat sich jedoch nicht durchgesetzt)
9
Einwilligungsfähigkeit / Aufklärung
Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, den Patienten (oder dessen
Vertreter, Betreuer) über die Behandlung, Risiken und Alternativen
aufzuklären und dessen Entscheidung herbeizuführen.
(„Arzt und Vertreter haben stets den Willen des Patienten zu achten. Der
aktuelle Wille des einwilligungsfähigen Patienten hat immer Vorrang.“
(Empfehlungen der Bundesärztekammer (BÄK) und Zentralen Ethikkommission (ZE))
Besteht die Gefahr, dass der Patient bei der Maßnahme stirbt,
oder einen schweren lang anhaltenden und erheblichen
Schaden erleidet, ist eine vormundschaftliche Genehmigung
(§ 1904 BGB) einzuholen (heißt konkret?).
10
Aufklärung / Patientenrechtegesetz
§ 630e BGB (Januar 2013)
Aufklärungspflichten des Arztes:
-…“ sämtliche für die Einwilligung wesentliche
Umstände …
(Art, Umfang, Risiken, Notwendigkeit, Dringlichkeit,
Erfolgsaussichten, Alternativen, Unterlassung)“,
-„rechtzeitig, … verständlich“
-„Fachkenntnisse und Erfahrung verfügen, …“
-Nach § 630d Abs. 1 Satz 2 ist derjenige aufzuklären,
dessen Einwilligung erforderlich ist (z.B. Betreuer)
-Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen
Zusammenhang
-(mindestens 10 Jahre Aufbewahrungspflicht)
11
Rechtliche Aspekte der Kommunikation Arzt/Patient
Verhaltensanweisungen:
„… dem Patienten deutlich erläutern und sich vergewissern, dass die
Erläuterung verstanden wurde“
Sicherheitsberatung:
„… erneute Kontaktierung falls Patient Nachuntersuchungstermine versäumt“
Wirtschaftliche Beratung:
„… Eigenanteil, Kostenerstattung, Selbstbehalt u.a. können Beratungspflicht
des Arztes auslösen“
Therapeutische Beratung:
„… ein Mangel in der therapeutischen Beratung (gebotene Maßnahmen,
Risiken, Dringlichkeit, Alternativen) ist ein Behandlungsfehler, der zum Ersatz
des dadurch entstandenen Gesundheitsschadens verpflichtet“
12
Rechtliche Aspekte der Kommunikation Arzt/Patient
Reden allein reicht nicht, der Patient muss die
Botschaft auch verstehen!
Kommunikationsmängel sind gefährlich.
Für Arzt und Patient!
13
Auswirkungen der Aufklärung auf den Patienten
Aufklärung kann sowohl zu vermehrten Ängsten mit entsprechenden
negativen Symptomen (Schlaflosigkeit, Grübeln, vermehrte Medikamentennebenwirkungen u.a.) führen (Simes und Tattersall 1986, Cairns 1985).
Andere Autoren konnten einen derartigen Zusammenhang nicht herstellen.
(Lamb, Green und Heron 1994).
Weder das paternalistische Argument (Risikoaufklärung ist generell abzulehnen), noch
die Gegenposition, dass möglichst viel Information sich positiv auswirken würde, ist
in wissenschaftlichen Studien durchgehend haltbar.
Diese Diskrepanz kann am überzeugendsten dadurch erklärt werden, dass
neben rationalen Aspekten weitere Faktoren (individuelle Vorerfahrungen,
ethische Einstellung, kulturelle Aspekte u.a.) Einfluss auf das Verständnis
von Patientenautonomie und Aufklärungspraxis haben.
14
Akzeptierte ethische Prinzipien
ärztlichen Handelns
Das Prinzip des Wohltuns
Das Prinzip der Schadensvermeidung
Das Prinzip der Patientenautonomie
Das Prinzip der Gerechtigkeit
(Eid des Hippokrates, Genfer Deklaration des Weltärztebundes)
Ethisch verantwortliches Handeln bemüht sich um eine nutzbringende
Therapie mit einem individuell angepassten Therapieziel anzubieten,
welches mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit erreicht
werden kann.
Lateinisches Motto: „salus aegroti suprema lex esto“
Zu deutsch: Das Wohl des Kranken sei oberste Richtschnur
15
Individuelles Therapieziel
Gemeinsamer Entscheidungsprozess (shared decision making)
Arzt:
Fachliche Beurteilung
Potentieller Schaden
Individueller Nutzen
Indikation
Patient:
Individuelle
Wertvorstellungen
(Patientenverfügung)
Gemeinsamer
Entscheidungsfindungsprozess
„shared decision making“
16
Individuelles Therapieziel
Gemeinsamer Entscheidungsprozess/informed consent
Anpassung im Verlauf:
(z.B. Beendigung einer Chemotherapie und
Wechsel auf rein palliative Zielsetzung bei
fortschreitender Karzinomerkrankung)
Voraussetzung: Einwilligung des
entscheidungsfähigen und aufgeklärten Patienten.
Erst dann kann von einem
informed consent ausgegangen werden
___________________________________________
Gesellschaftlicher Grundkonsens:
Gerechtigkeit? Diskriminierung? Unangemessen
viele Ressourcen?
___________________________________________
17
Freier Wille - eine Illusion?
Freier Wille oder Willensfreiheit: Keine allgemein anerkannte Definition
Im weitesten Sinne: die menschliche Fähigkeit, sich unter gegebenen
Bedingungen für oder gegen etwas zu entscheiden.
Philosophische Position:
Bedingte Willensfreiheit:
Der Wille ist frei, wenn die Person ihren Willen nach ihren persönlichen
Motiven gebildet hat und tun kann was sie will (Handlungsfreiheit).
Welcher der konkurrierenden Wünsche sich herausbildet, hängt
von Persönlichkeit und Umwelteinflüssen ab, d.h.: in einer konkret
gegebenen Situation gibt es für die Position nur eine Möglichkeit
sich zu entscheiden.
Aufgrund der Komplexität der Willensbildung ist die Entscheidung
nicht vorhersehbar, aber objektiv steht im Vorhinein fest,
welcher Wille gefasst wird (Determinismus). Da dieser Wille aber den Neigungen
der Person entspricht wird doch von Freiheit und eigenem Willen gesprochen.
„Der Mensch kann tun was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“
(Schopenhauer)
18
Freier Wille - eine Illusion?
Philosophische Position
Unbedingte Willensfreiheit:
Das Wollen ist durch absolut nichts bedingt. Nur dann kann sich
der Mensch in derselben konkreten Situation sowohl für das Eine
als auch das Andere entscheiden. Sobald es eine Verbindung
zwischen den Motiven und dem Willen gibt ist er nicht mehr
unbedingt frei, gleichgültig wie komplex diese Abhängigkeit auch
sein mag. Ein derart wirklich freier Wille wäre aber rein zufällig.
Dafür steht dieser wirklich freie Wille nicht mehr im Einklang
mit den Wünschen und Motiven der Person.
Einige Philosophen (Derk Pereboom u.a.) halten das Konzept des Determinismus
und des Freien Willens für unvereinbar (Inkompatibilismus). Wenn der Determinismus
zutrifft, ist der freie Wille im inkompatibilistischen Sinn lediglich eine Illusion, die
das Gehirn hervorbringt.
(Vertreter des Kompatibilismus: u.a. Thomas Hobbs)
19
Freier Wille - eine Illusion?
Naturwissenschaftliche Positionen
Biologie:
Genetische Studien haben viele spezifische genetische Faktoren identifiziert,
die die Persönlichkeit eines Individuums beeinflussen (z.B. beim
Down-Syndrom) und unterschiedlich starker Penetranz der Faktoren .
Immer handelt es sich um ein Wechselspiel zwischen Natur (genetische
Determination) und Prägung (Bedingungen: Umwelteinflüsse, Sozialisation)
20
Freier Wille - eine Illusion?
Naturwissenschaftliche Positionen
Physik:
Seit der Quantenmechanik ist bekannt, dass es nicht mehr möglich ist, den
Ablauf eines Vorgangs hinsichtlich aller messbarer Größen vorherzusagen,
auch bei Kenntnis aller Variablen. Damit ist das Naturgeschehen nicht
vollständig determiniert, sondern unterliegt partiell dem Zufall.
21
Freier Wille - eine Illusion?
Medizinische Position:
Das Libet-Experiment (1980):
Die unbewusste Gehirnaktivität (Bereitschaftspotential, EEG), die dazu führte,
dass eine Person ihr Handgelenk willkürlich bewegte, setzte
350 ms vor dem Moment ein, in dem sich diese Person bewusst dazu
entschloss (Absicht), bis zur definitiven Motorik vergingen
dann nochmals 200 ms.
22
Freier Wille - eine Illusion?
Medizinische Position:
In Experimenten von Haggard und Eimer aus 1999 konnte bestätigt
werden, dass das Bereitschaftspotential der bewussten Entscheidung
vorausgeht.
In aktuellen PET- und fMRT-Untersuchungen konnte bestätigt werden,
dass die „Entscheidungsbildung“ im Gehirn bereits unbewusst erfolgt
war, bevor sich der Proband dieser Entscheidung bewusst wurde.
23
Freier Wille - eine Illusion?
Medizinische Position:
Nach dem gegenwärtigen Erklärungsmodell der Hirnforschung über die
Steuerung der Willkürmotorik haben die originären Antriebe für unser
Verhalten einen subcorticalen Ursprung– sie entstehen im limbischen
Bewertungs- und Gedächtnissystem. Dieses aktiviert die Basalganglien
und das Kleinhirn, die wiederum die kortikalen Prozesse in Gang setzen.
Dann erst setzt die Empfindung ein, etwas zu wollen. Damit stimmt
überein, dass bei Willkürbewegungen zuerst in den Basalganglien und im
Kleinhirn Aktivität auftritt und erst danach in der Großhirnrinde.
Freier Wille ist eine Illusion und reines Epiphänomen korticaler und subcorticaler
Prozesse (Gerhard Roth, Wolf Singer u.a.).
Kontroverse Auffassungen: Niels Birnbaumer, Benjamin Libet (Veto-Konzept), u.a.
24
Freier Wille - eine Illusion?
Traurigkeit kann Entfernungen größer und Berge höher erscheinen
lassen. Baumeister 2009
Wenn bereits die Wahrnehmung durch emotionale Prozesse geprägt ist, kann dies
für den Willen nicht folgenlos bleiben.
„Das limbische System (eine Funktionseinheit des Gehirns, die der
Verarbeitung von Emotionen und Triebverhalten dient) hat bei
Entscheidungen das erste und das letzte Wort“
G. Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2003
Insbesondere die Amygdala, die phylogenetisch
mit alten Verhaltensmechanismen wie Flucht und
Angst verbunden ist, reguliert das Verhalten sehr
schnell, da von einem adäquaten Verhalten
eventuell das Leben abhängen kann.
25
Freier Wille - eine Illusion?
„When you are about to be eaten, fractions of seconds count, you
need to jump immediately and worry about free will later“
JL Price, Journal of Comparative Neurology 2005;493: 132-139
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral
Bert Brecht/K. Weill: Die Dreigroschenoper
26
Voraussetzungen für die Annahme einer
Selbstbestimmungsfähigkeit
Patient:
1. Informationsverständnis
2. Urteilsvermögen
3. Einsicht in Bestehen einer somatischen oder
psychischen Störung
4. Einsicht einer potentiellen Behandlungsmöglichkeit
5. Fähigkeit eine Entscheidung zu treffen und
zum Ausdruck zu bringen
J. Vollmann: Beiträge zur klinischen Ethik, Kohlhammer 2008
Nervenarzt 2012.83;25-30
27
Informationsverständnis und Urteilsvermögen
Aufklärungsgespräch inhaltlich verstanden?
Patient sollte in der Lage sein,
mit eigenen Worten die gegebene
Information zu wiederholen
(ansonsten wird nur die Gedächtnisleistung,
nicht aber das Verständnis überprüft).
Individueller Beurteilungsprozess:
Bewertung der medizinischen Information
hinsichtlich eigener Präferenzen in Bezug auf
Lebensplanung und Werteorientierung.
Eigenständiges Abwägen der Vor- und Nachteile im
Hinblick auf Konsequenzen und Alternativen
28
Somatische oder psychische Störung
Ein selbstbestimmungfähiger Patient
ist in der Lage, zu erkennen, dass
bei ihm eine somatische oder
psychische Störung vorliegt, es besteht
Krankheits- und Behandlungseinsicht.
Bei der Prüfung dieser Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit geht es darum, dass eine
persönliche Einsicht in die Betroffenheit
von körperlicher oder seelischer Störung
erkennbar sein muss.
29
Erhalt der Ausdrucksfähigkeit
Bei verschiedenen Krankheitssituationen ist die
Möglichkeit des Ausdrucks nicht gegeben, etwa
bei einigen Formen des Schlaganfalles mit
einhergehender Aphasie.
Weitere Erkrankungen und Situationen mit
eingeschränkter Ausdrucksfähigkeit sind u.a.:
Schwere Antriebshemmung bei Depression
Schizophrene Psychose
Bewußtseinsstörung und Komata unterschiedlicher
Ätiologie
(Schädel-Hirn-Traumata, Enzephlitis, Epileptischer Anfall)
Kommunikationshemmnis wg. Unkenntnis der
Landessprache (Migrationshintergrund, Urlauber)
30
Selbstbestimmungsrechte versus Zwangsbehandlung
In einem Urteil vom 23.03.2011 hat das Bundesverfassungsgericht zur
Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen psychisch kranker Menschen
Stellung genommen: („eine medizinisch indizierte Behandlung ist gegen
den natürlichen Willen des Patienten nicht zulässig“)und den § 6 Abs. 1
des rheinland-pfälzischen Maßregelvollzugsgesetz als verfassungswidrig
erklärt.
(Einige Gerichte haben daraufhin bereits Zwangsbehandlungen untersagt!)
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) fordert Gesetzgeber auf, das rechtliche Vakuum, zu lösen, da
Heilbehandlung sogar dringend geboten sein kann, um unmittelbare
Selbst- und Fremdgefährdung abzuwehren. In diesem Sinne liegt dem
Bundestag eine Petition vor:
(Betreuungsrecht-Medikamentöse Akutbehandlung psychisch kranker Menschen
vom 27.08.2012)
31
Natürlicher Wille
Der natürliche Wille ist ein Rechtsbegriff §, der die tatsächlichen
Absichten, Wünsche, Wertungen und Handlungsintentionen eines
Menschen umfasst, auch wenn dieser sich in einem die freie
Willensentscheidung ausschließenden Zustand krankhafter Störung
der Geistestätigkeit befindet, d.h. in der Regel geschäftsuntüchtig
ist und findet vorwiegend im Betreuungsrecht Anwendung.
Der Begriff ist ein terminus technicus des deutschen Rechts
und stammt ursprünglich vom Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel
(im Sinne eines naturgegebenen, niederen Willens,Trieb, Begierde)
Das können z.B. bei schwer Dementen Lautäußerungen oder Bewegungen
wie Kopfschütteln sein.
Ein Betreuer darf nicht gegen den freien Willen eines Volljährigen bestellt werden,
wohl aber gegen seinen natürlichen Willen (falls dies in seinem wohlverstandenen
Interesse liegt).
32
Selbstbestimmungsrechte versus Zwangsbehandlung
Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für
Psychisch Kranke (NDpsychKG vom 16. Juni 1997).
§ 21 Ärztliche Behandlung:
„… Eine untergebrachte Person erhält nach den Regeln der ärztlichen Kunst
gebotene Heilbehandlung. Diese bedarf der Einwilligung der untergebrachten
Person. Ist die untergebrachte Person nicht fähig Grund, Bedeutung und
Tragweite der Behandlung einzusehen … ist die Einwilligung des Personensorgeberechtigten … einzuholen. Ist eine Einwilligung … nicht erteilt, so hat
die untergebrachte Person eine Heilbehandlung zu dulden, wenn diese
notwendig ist, diejenige Krankheit zu heilen oder zu lindern, wegen derer
sie untergebracht ist oder die Gesundheit anderer zu schützen.“
33
Selbstbestimmungsrechte versus Zwangsbehandlung
Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts:
Voraussetzungen, nach denen Zwangsbehandlungen zulässig sein können:
Krankheitsbedingte Unfähigkeit des Patienten, die
1. Schwere seiner Erkrankung und
2. Notwendigkeiten von Behandlungsmöglichkeiten einzusehen,
3. Unfähigkeit gemäß solcher Einsicht zu handeln.
Ferner:
- Behandlung muss erfolgversprechend sein
- Eine weniger eingreifende Behandlung ist nicht möglich
- Vorheriger Versuch, die Zustimmung des Untergebrachten zu erhalten
- Eingriff muss bezüglich der Dauer und Art der Medikation etc.
„eng“ umschrieben sein
- Die Behandlung muss mehr Nutzen als Schaden haben
34
Selbstbestimmungsrechte versus Zwangsbehandlung
Weitere formelle Voraussetzungen des BVG:
Eine vorherige Ankündigung muss ausreichend Zeit für die Einholung von
Rechtsschutz lassen.
Die Anordnung und Überwachung muss durch einen Arzt erfolgen.
Die Zwangsbehandlung muss dokumentiert werden.
Vor der Anordnung muss eine Überprüfung der Zwangsbehandlung durch eine
unabhängige Stelle (z.B. Betreuer, Gericht, Ombudsmann etc.) mit gesicherter
Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung erfolgen.
Dies alles muss mit einer klaren gesetzlichen Grundlage geregelt sein
35
Informed consent (aufgeklärte Zustimmung) / Resumee
Die Mehrzahl der Patienten möchte vom Arzt über die Erkrankung
und die geplante Behandlung aufgeklärt werden, wobei interindividuelle
Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes der Aufklärung bestehen.
Aus ärztlicher Sicht leidet das Aufklärungsgespräch unter
Zeitmangel, Unverständlichkeit und zu wenig Möglichkeiten für den
Kranken, selbst Fragen zu stellen.
Die Patientenzufriedenheit hängt nicht von der Menge der vermittelten
Informationen ab, sondern wird durch die Qualität der Arzt-PatientenBeziehung, die Art und Weise der Informationsvermittlung und durch
die Gefährlichkeit der Erkrankung beeinflusst.
Das Informationsverständnis des Patienten korreliert mit Faktoren wie:
Alter, Bildung, Art und Weise der Informationsvermittlung, KommunikationsQualität.
Jochen Vollmann, 2008
36
Informed consent (aufgeklärte Zustimmung) / Resumee
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume
Schiller, Antritt des neuen Jahrhunderts
Des Menschen Wille, das ist sein Glück
Schiller, Wallensteins Lager
Des Menschen Wille ist sein Himmelsreich
Sprichwort
Lateinisches Motto: „salus aegroti suprema lex esto“
Zu deutsch: Das Wohl des Kranken sei oberste Richtschnur
Heute vielleicht: „voluntas aegroti suprema lex esto“
Der Wille des Kranken sei oberste Richtschnur (?)
37
Herunterladen