Julian Müller ∙ Bestimmbare Unbestimmtheiten Julian Müller Bestimmbare Unbestimmtheiten Skizze einer indeterministischen Soziologie Wilhelm Fink Umschlagabbildung: Jonathan Gitelson Untitled #1 (Marginalia), 2014 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5984-8 INHALT 1. Eine indeterministische Soziologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Verschiebungen des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1 Kybernetische Ordnungen des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Technisch-mediale Vermittlungen des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Materialität des Sinns und der Eigensinn der Dinge . . . . . . . . . . . . 2.4 Performierter Sinn: How to do things without words . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sinn als Oberflächeneffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Weber vs. Dilthey (Oder: Die Geburt der Soziologie aus dem Geiste der Hermeneutikkritik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 37 54 65 81 96 3. Die Autopoiesis der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1 Operative Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ordnungen der Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Unverfügbarkeiten, Unentrinnbarkeiten, Dringlichkeiten . . . . . . . . . . . 3.4 Sind wir je aktiv gewesen? Elemente einer postaktionistischen Theorie des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Unbestimmtheit als Problem und Lösung von Praxis . . . . . . . . . . . . . . 111 120 141 154 167 4. Spuren der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.1 Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, von der Gesellschaft zu sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.2 Austreibung der Gesellschaft aus den Gesellschaftswissenschaften: Die Metapher des Netzwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.3 ‚Gesellschaft‘ als operativer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. EINE INDETERMINISTISCHE SOZIOLOGIE? Eine indeterministische Soziologie ist eine contradictio in adjecto. (Willem A. Bonger) Dass sich die moderne Gesellschaft nicht vor dem Hintergrund von Bestimmtheit, Eindeutigkeit und Stabilität beschreiben lässt, ist nicht nur ein soziologischer Allgemeinplatz, es ist tatsächlich eine Alltagsplausibilität, mit der man nicht nur in soziologischen Texten, sondern auch tagtäglich als Zeitungsleserin oder als Fernsehzuschauer konfrontiert wird. Ob vom Ende der Eindeutigkeit oder vom Ende der großen Erzählungen die Rede war, ob die Gesellschaft als Risikogesellschaft beschrieben oder die Neue Unübersichtlichkeit diagnostiziert wurde, Unbestimmtheit scheint so etwas wie die Grunderfahrung der modernen Gesellschaft zu sein. Die letzte Gewissheit ist, dass die moderne Gesellschaft auf so etwas wie Gewissheiten verzichten muss. Die Soziologie weiß das seit ihren Anfängen, ihre Entstehung selbst ist ja eine Reaktion auf die historisch-empirische Erfahrung von Unbestimmtheit. So waren es für Georg Simmel und Émile Durkheim eben jene historisch neuen „Formen der Unordnung“,1 der „Unsicherheit, Unbestimmtheit, Entwurzelung“,2 die ein neues akademisches Fach auf den Plan gerufen haben. Wenn daher Unbestimmtheit im Zentrum einer soziologischen Arbeit auftaucht, dann ist das auf den ersten Blick nur allzu erwartbar und doch verrät bereits der Titel der Arbeit, dass es keineswegs um eine Soziologie der Unbestimmtheit gehen soll, sondern um den Versuch einer indeterministischen Soziologie. Es soll also keine Krisenbeschreibung der modernen Gesellschaft angefertigt werden, vielmehr soll es um die Frage gehen, wie eine Soziologie aussehen könnte, die im Hinblick auf ihre Untersuchungsgegenstände, vor allem aber im Hinblick auf ihre eigenen Beobachtungen mit Unbestimmtheit rechnet. Nun mutet diese Frage insofern paradox an, als die Rolle der Wissenschaften im Allgemeinen und die Rolle der Soziologie im Besonderen doch in der Regel darin gesehen wird, eine an sich unbestimmte Welt mit wissenschaftlichen Bestimmtheiten auszustatten. Schließlich ist die Soziologie doch in der zweiten Hälfte des 1 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1992: 42. 2 Georg Simmel: „Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe. Sociologische Studie“. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Frankfurt a.M. 1992, 311-372, hier: 364. 8 Eine indeterministische Soziologie? 19. Jahrhundert angetreten, in jene empirisch kaum zu übersehenden Formen von Unordnung zumindest mit soziologischen Mitteln Ordnung zu bringen. Sie wollte Sozialphysik sein und kann bis heute ihre unterschwellige Faszination für einen gewissen Sozialphysikalismus kaum verbergen. So konnte die Gesellschaft mit den Mitteln der Soziologie als sozialer Raum modelliert werden, in dem soziale Kräfte wirken und in dem sich die Bewegungen sozialer Körper von unterschiedlicher sozialer Dichte und unterschiedlichem sozialen Volumen nachzeichnen lassen, es konnten soziale Gesetze formuliert und es konnte auf soziale Tatsachen hingewiesen werden. Von Émile Durkheim hat die Soziologie sogar ihren eigenen Discours de la méthode erhalten, mithilfe dessen noch die letzten Geheimnisse des menschlichen Daseins entzaubert werden konnten: Fortan war der Selbstmord kein ultimativer und individueller Akt mehr, sondern ließ sich als eine Kollektivangelegenheit beschreiben, den es in seiner Regelmäßigkeit zu untersuchen galt. Der Geschmack war auf einmal nicht mehr Ausdruck von Persönlichkeit, sondern verriet in erster Linie etwas über die Position seiner Trägerin innerhalb eines sozialen Koordinatensystems. Selbst das, was wir ‚Liebe‘ nennen, musste auf seine historisch-soziale Bedingtheit hinterfragt werden, und schließlich konnte sogar gezeigt werden, dass im Grunde jede noch so persönliche Entscheidung, von der Wahl der politischen Partei bis hin zur Wahl des Sexualpartners, ganz ähnlichen Mustern gehorcht. Von Unbestimmtheit konnte daher ebenso wenig die Rede sein wie von Bescheidenheit, schließlich blieb kaum noch ein Bereich des Lebens übrig, der nicht auf seine soziale Bedingtheit hätte befragt werden können. Die Soziologie war darin für fast ein ganzes Jahrhundert so erfolgreich, dass sie den Vorwurf des Sozialdeterminismus, der von außen an sie gerichtet wurde, im Grunde als Kompliment aufgefasst hat. Dieser Erfolg hat sich nun zweifelsohne überlebt – und das ist vielleicht gar nicht schlecht. Denn wenn die Soziologie als akademisches Fach auch weiterhin ernst genommen werden und nicht zu einem Relikt des 19. und des 20. Jahrhunderts verkommen will, dann muss sie der Unbestimmtheit gewahr werden, die sie als Fach auszeichnet. Das soll im Übrigen kein Plädoyer für Ungenauigkeit oder Unexaktheit sein. Ganz im Gegenteil. Die Soziologie wird nur dann exakt sein können, wenn sie imstande ist, mit eigenen Unbestimmtheiten zu rechnen und umzugehen. Denn wenn sich die Soziologie von allen anderen Fächern unterscheidet, dann nicht durch ihren Forschungsgegenstand, sondern eher durch das Fehlen eines eindeutigen Forschungsgegenstandes. Streng genommen hat die Soziologie ja gar keinen Gegen-Stand. Sie hat nichts, was ihr entgegensteht, ist sie doch selbst immer Teil dessen, was sie beschreibt. Wenn es daher ein Alleinstellungsmerkmal der Soziologie als akademisches Fach gibt, dann ist es in erster Linie die ihr inhärente Unbestimmtheit. Und diese gilt es, als Stärke zu interpretieren. Dazu ist es allerdings ein weiter Weg. Denn im Moment scheint sich die Soziologie für ihre Unbestimmtheit fast ein wenig zu schämen. Sie versucht sie mit aller Kraft zu invisibilisieren, indem sie entweder gleich auf völlige Beliebigkeit oder umgekehrt auf zu viel Exaktheit setzt. Misplaced concreteness und misplaced blurriness, das sind derzeit die beiden zu beobachtenden Strategien. Entweder verzichtet man gleich ganz auf den Namen ‚Soziologie‘ und nennt sich fortan einfach ‚Kultur- Eine indeterministische Soziologie? 9 wissenschaft‘ oder man ist besessen davon, die Gesellschaft durch immer virtuosere Simulationen und Modellbildungen originalgetreu nachzubilden, ganz so wie die Kartographen in Jorge Luis Borges’ Miniatur Von der Strenge der Wissenschaft. Wie gerne wäre die Soziologie doch noch heute eine strenge und exakte Wissenschaft wie die Physik oder die Mathematik, denen sie seit jeher nacheifert, dass sie dabei völlig übersieht, dass diese Wissenschaften längst schon nicht mehr wirklich exakt genannt werden können. Die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze, die Heisenberg’sche Unschärferelation und die Einstein’sche Relativitätstheorie haben endgültig mit der Vorstellung eines absoluten Raumes, in dem sich jedes Objekt eindeutig bestimmen lässt, gebrochen. Mathematikerinnen und Physiker wissen daher nur zu genau, und womöglich besser als alle anderen, um die Beobachterabhängigkeit jeder Beobachtung und die Unbestimmtheit ihres Gegenstandes. Sie sind gezwungen, mit imaginären Zahlen zu rechnen, Dekohärenz zu akzeptieren und mit Fixpunktproblemen umzugehen, um weiterrechnen zu können. Niemals kämen sie aber auf die Idee, deshalb an ihrem Untersuchungsgegenstand oder gar an ihrer Wissenschaftlichkeit zu zweifeln. So gesehen könnte die Soziologie tatsächlich viel von der Mathematik und der Physik lernen. Aber sie denkt weiterhin eher an Newton und Laplace als an Gödel, Heisenberg und Einstein. Die soziale Welt in einen absoluten Raum zu verwandeln, in dem sich Objekte eindeutig bestimmen lassen, das bleibt weiterhin der große soziologische Traum. Und obwohl es immer wieder Vorschläge einer soziologischen Relativitätstheorie oder eines soziologischen Unbestimmtheitsprinzips gegeben hat,3 die Soziologie wirkt unerschütterlich. Dabei wäre eine derartige Irritation, die das ganze Fach beunruhigt und in Bewegung setzt, durchaus nötig, hat sich die Soziologie vielleicht doch etwas arg bequem eingerichtet mit ihrem Set aus Theorien und Methoden, aus Unterscheidungen, Grundbegriffen und vermeintlich eindeutigen Untersuchungsobjekten. Als Émile Durkheim seine Règles de la méthode sociologique geschrieben hat, da musste er die Devise ausgeben, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu behandeln, weil diese soziologischen Tatbestände nicht einfach da waren. Sie mussten schließlich erst mit den Mitteln der Soziologie sichtbar gemacht werden. Mittlerweile sind die soziologischen Tatbestände aber tatsächlich zu Dingen geworden und bevölkern die Welt. Es ist im Grunde kaum mehr möglich, an der Gesellschaft, am Akteur, an Kontexten, an Sinn oder am Sozialen vorbeizusehen. Übersehen wird dabei, dass es sich bei all diesen Begriffen allerdings keineswegs um Abbilder einer objektiven Wirklichkeit handelt, sondern um soziologische Werkzeuge. Vielleicht ist es daher heute dringender denn je nötig, diese Grundbegriffe wieder in Werkzeuge rückzuverwandeln. Die Arbeit ist in drei lose miteinander verknüpfte Blöcke gegliedert, die auch die Überschriften „Die Unbestimmtheit des Sinns“, „Die Unbestimmtheit des Handelns“ und „Die Unbestimmtheit der Gesellschaft“ tragen könnten. Ich möchte darin nacheinander den Versuch unternehmen, die Begriffe ‚Sinn‘, ‚Handlung‘ und 3 Jüngst etwa Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a.M. 2007. 10 Eine indeterministische Soziologie? ‚Gesellschaft‘ als soziologische Grund begriffe zu verabschieden und stattdessen als soziologische Probleme wiedereinzuführen. Sinn ist so gesehen nicht das Fundament oder der Grund, auf dem wir uns bewegen. Eine Handlung ist nicht einfach ein positives Ereignis, das sich ohne weiteres beobachten ließe. Und Gesellschaft ist kein geschlossener Raum, der alles, was passiert, umschließt und begrenzt. Wenn ich daher von einer indeterministischen Soziologie spreche, dann soll es nicht etwa darum gehen, eine neue Soziologie zu begründen. Eher müsste es darum gehen, die Soziologie zu entgründen4. Die Begriffe ‚Sinn‘, ‚Handlung‘ und ‚Gesellschaft‘ erklären selbst noch nichts, sondern müssen – hier folgt die Arbeit konsequent den Anregungen Bruno Latours – wieder als das zu Erklärende behandelt werden, was im Übrigen nicht heißen soll, vor dem Gegenstand zu kapitulieren, vielmehr will diese Arbeit vor Augen führen, mit welch unbestimmten Gegenständen die Soziologie eigentlich zu tun hat. Eine indeterministische Soziologie ist daher nicht etwa eine Contradictio in Adjecto, eine indeterministische Soziologie zu behaupten und voranzutreiben, ist sogar eine methodische Notwendigkeit. 4 So eine schöne Formulierung von Friedrich Balke. Vgl. Friedrich Balke: Deleuze. Frankfurt a.M. 1998: 25. 2. VERSCHIEBUNGEN DES SINNS Sinn ist, überspitzt formuliert, durch Unbestimmtheit bestimmt. (Niklas Luhmann) Kurz, der Sinn ist stets eine Wirkung, ein Effekt. […] es handelt sich um ein Produkt, das sich auf der Oberfläche ausbreitet und erstreckt, das seiner eigenen Ursache kopräsent, koextensiv ist […]. (Gilles Deleuze) In einem wahren Rundumschlag hat Albrecht Koschorke der Soziologie kürzlich den Vorwurf gemacht, letztlich noch nie eine überzeugende Theorie des Sinns angeboten zu haben. Sinn stelle für die Soziologie seit jeher „kein Problem dar“,5 er werde stets vorausgesetzt und allem Sozialen ganz selbstverständlich unter- und vorgeordnet. Was sich die Soziologie unter dem ‚Sozialen‘ vorstellt, das sei im Grunde eine Art Sinnkontinuum. In diesem soziologischen „Beharren auf der sozialen Omnipräsenz von Sinn“ bzw. der „Marginalisierung seines Fehlens“ macht Koschorke gar Spuren des Theologischen aus.6 Am deutlichsten werde das in Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Klassiker Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Wenn dort von „Sinnwelt“ die Rede ist und diese auch noch als „die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit“ beschrieben wird, wenn „[d]ie ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen […] Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt [sind]“, wenn es gar noch heißt, dass Sinnwelten „wie schützende Dächer […] über dem Einzelleben“ zu begreifen seien,7 dann bilden diese Sätze für Koschorke letztlich den soziologischen Mainstream ab und zeigen deutlich, dass die Soziologie noch immer mit einem Bein in hinterweltlerischer Metaphysik, mit dem anderen Bein in tiefster 5Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012: 152. 6Ebd.: 153. 7Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 2003: 103ff. 12 Verschiebungen des Sinns Hermeneutik gefangen ist. Angesichts der Tatsache, dass im 20. Jahrhundert nicht nur in der Kunst, sondern auch in fast allen Kultur- und Geisteswissenschaften das Vertrauen in Sinn geschwunden sei, sei dieser „unbefangene Umgang der Soziologie mit der Sinnfrage erstaunlich“.8 Denn während Arnold Schönberg mit Tonalität und Harmonik gebrochen, der Dadaismus, Mallarmé oder John Cage die Aleatorik zum künstlerischen Prinzip erhoben haben und die großen Romane des 20. Jahrhunderts doch vor allem die Unmöglichkeit einer kohärenten literarischen Form vorführen wollten, da spricht die Soziologie allen Ernstes noch von so etwas wie einer „sinnhaften Totalität“.9 Sinn dürfe nicht länger als Grund unserer Erfahrung und unseres Handelns und auch nicht als schützendes Dach verstanden werden, sondern müsse gerade in seiner Brüchigkeit, in seinem Fehlen und in seiner Zersetzung in den Blick genommen werden. Dazu sei die Soziologie aber – Koschorke rechnet nicht nur mit Berger/ Luckmann, Max Weber und Niklas Luhmann, sondern mit dem ganzen Fach ab – gar nicht in der Lage. Man sei heute besser beraten, sich statt an soziologische Theorien an Kulturtheorien zu halten, die „Kultur nicht als eine Identität und Sinn stiftende bzw. verbürgende Instanz, sondern als offenen Raum ihrer differentiellen Konfigurationen und Verteilungen begreifen“.10 Ziel solcher kulturwissenschaftlichen Interventionen sei es, „Sinn als einen unter bestimmten Bedingungen erzeugten Effekt und nicht als schlechthinnige Prämisse kultureller Aktivität zu behandeln“.11 Ich kann Albrecht Koschorke an dieser Stelle inhaltlich nur voll und ganz zustimmen. Und ich möchte ihm gleichzeitig auch vehement widersprechen. Zweifellos hat er recht damit, dass Sinn nicht als Bedingung, und das heißt eben auch nicht als Bedingung des Sozialen, gefasst werden darf, sondern als Effekt. Aber gerade darin liegt doch tatsächlich so etwas wie die Geschäftsbedingung der Soziologie. Ohne an dieser Stelle auf Koschorkes Lektüre von Berger und Luckmann eingehen zu wollen, so baut er sich aus meiner Sicht für sein Argument mit der Soziologie einen falschen Gegner auf. Ich möchte gar nicht leugnen, dass Formulierungen wie die von den schützenden Dächern der Sinnwelten befremdlich klingen. Ich denke aber, dass man daraus nicht zu leichtfertig falsche Schlüsse ziehen sollte. Denn wenn die Soziologie – und das stimmt tatsächlich – im Gegensatz zu anderen Disziplinen das Prekärwerden von Sinn weitaus weniger deutlich thematisiert, liegt das womöglich auch daran, dass sie dem Sinnbegriff gar nie so viel Vertrauen geschenkt hat wie andere Disziplinen. Wenn Koschorke als Literaturwissenschaftler das absurde Theater oder die hermetische Lyrik als Beispiele für das Scheitern von Sinn ins Feld führt, dann ist das 8 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. A.a.O. 154. 9Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. A.a.O. 110. 10 Albrecht Koschorke: „Nicht-Sinn und die Konstitution des Sozialen“. In: Kay Junge/Daniel Šuber/Gerold Gerber (Hg.): Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft. Bielefeld 2008, 319-332, hier: 331. 11 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. A.a.O. 155. Verschiebungen des Sinns 13 doch nur allzu erwartbar und beweist vor allem, wie sehr noch die Emphase vermeintlichen Nicht-Sinns insgeheim noch einem starken Begriff von Sinn vertraut und nachhängt. Die Soziologie hatte dagegen stets ein deutlich distanzierteres Verhältnis zum Sinnbegriff. Insofern würde ich auch nicht zustimmen wollen, dass die Soziologie an ihrem „hermeneutischen Vermächtnis“ laboriert.12 Ich würde die Soziologie im Gegenteil als eine posthermeneutische Disziplin avant la lettre bezeichnen wollen. Zwar hat sie mit den Begriffen des Verstehens und des Sinns die beiden geisteswissenschaftlcihen Zentralbegriffe übernommen, diese allerdings sogleich in soziologische Probleme verwandelt. Der soziologische Sinnbegriff konnte daher auch nicht wirklich in eine Krise geraten, weil es Sinn aus soziologischer Sicht gar nicht gibt. Sinn liegt niemals vor, er ist stets unabgeschlossen und unbestimmt, Sinn ist immer nur in operativer Form. Das ist es, was man unter Umständen sogar heute von der Soziologie lernen kann. Nun habe ich allerdings das, was ich in diesem Kapitel eigentlich erst zu zeigen beabsichtige, bereits vorweggenommen. Wir müssen also noch einmal einen Schritt zurück machen, ins Jahr 1870. Wir beginnen mit einer Biographie. Und schon das ist ein erster interessanter Hinweis, denn der protestantische Theologe Wilhelm Dilthey, der als Begründer der wissenschaftlichen Hermeneutik bezeichnet werden darf, startet seine akademische Karriere mit einer Biographie, und zwar mit der Biographie keines Geringeren als Friedrich Schleiermachers. In dieser Biographie kommt bereits – noch bevor Dilthey das Programm einer wissenschaftlichen Hermeneutik ausgearbeitet oder überhaupt den Begriff ‚Hermeneutik‘ benutzt hat – vieles von dem zur Anwendung, was erst später zu einer wissenschaftlichen Methode werden sollte. So ist es besonders auffällig, dass Dilthey in dieser Biographie ausdrücklich nicht zwischen Leben und Werk trennt, weil aus seiner Sicht gar nicht zwischen Leben und Werk getrennt werden kann. Leben und Werk bilden eine Einheit, die nicht nur nicht getrennt betrachtet, sondern überhaupt nur als Einheit verstanden werden darf. Weder lässt sich also das Werk aus dem Lebenslauf erklären, noch ist das Leben bloß so etwas wie eine Fußnote zum Werk. Wenn Dilthey etwa die Hofmeisterjahre Schleiermachers darstellt, dann wird daran vor allem deutlich, dass für Dilthey Leben, Epoche, Geschichte und selbst Natur eine Einheit bilden, die es in ihrer Besonderheit zu betrachten gilt und die doch immer nur als Ganze wirklich verstanden werden kann. Ein oft verspotteter, dennoch unwiderstehlicher Trieb treibt die Menschen, die ganze äußere Welt mit anschaulicher Klarheit zu umfassen, in der die großen Dichter lebten. Der Jüngling, dessen Entwicklung wir nachgehen, war kein Dichter, und die Bilder der äußeren Welt besaßen demgemäß keinen besonderen Glanz in seiner Seele. Aber die innere Welt des Menschen, das wunderbare Reich des Gemüts war vor ihm aufgetan, in anderer Art, aber in gleicher Kraft als je vor einem Dichter. Wir wissen von keiner zweiten genialen wissenschaftlichen Natur, die einen Blick in die Gemütswelt besessen hätte, dem seiner vergleichbar. Und so hat sich auch an die Schicksale seines Lebens von jeher das tiefste Interesse geheftet, das aber ganz auf 12 Albrecht Koschorke: „Nicht-Sinn und die Konstitution des Sozialen“. A.a.O. 320. 14 Verschiebungen des Sinns das Innere der Menschen und Verhältnisse gerichtet ist, die ihm das große, helle Auge für die moralische Welt öffneten. […] Und dies Interesse haftet an keinem Ort seiner Jugendgeschichte mit solchem Recht als an den einsamen Alleen und dem Park des ostpreußischen Schlosses, denen er nun in nicht guten Vorahnungen und in dem schlimmsten halbwinterlichen Wetter, das ihn an der Weichsel sogar in Lebensgefahr brachte, entgegenfuhr.13 An diesem Zitat zeigt sich, wie Dilthey in dieser Biographie verfährt. Er verwebt nicht nur Leben und Werk zu einem Ganzen, sondern auch die Methode Schleiermachers mit seiner eigenen. Denn wenn er hier ausdrücklich auf das Schleiermacher’sche Gemüt abstellt, dann begegnet er Schleiermacher gewissermaßen mit dessen eigenen Methoden. Schließlich läge doch, wie Dilthey wenige Seiten später betont, die Größe Schleiermachers vor allem darin, alles aus den „Bedingungen des menschlichen Gemüts“ heraus erklärt zu haben.14 Nicht nur hat Dilthey mit seinem Leben Schleiermachers die Biographie zu einer legitimen wissenschaftlichen Textsorte aufgewertet, für ihn ist die Rekonstruktion einer fremden oder auch der eigenen Biographie sogar der Paradefall für das, was er später hermeneutisches Verstehen nennt, und somit die vornehmlichste Aufgabe jedes Geisteswissenschaftlers. Ziel des Biographen ist es, die Äußerungen einer Person als Objektivationen eines Inneren zu begreifen. Denn es steht fest, „daß ein Lebenslauf die Beziehung des Äußeren zu einem Inneren, zu der Bedeutung eines Lebens im Stoff bewahrt: die Zeugnisse selbst sprechen diese Beziehung aus“.15 Später wird Dilthey entsprechend das Sichhineinversetzen, das Nachbilden, das Nachleben als die höchsten Formen des Verstehens qualifizieren und in Anlehnung an ein Schleiermacher-Zitat behaupten: „Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“.16 Damit hat Dilthey nicht nur das Programm der Hermeneutik auf den Begriff gebracht, er hat vor allem etwas vollzogen, woran sich das Sinndenken bis heute abzuarbeiten hat: Er hat den Sinn, jenen Zentralbegriff der Geisteswissenschaften, in einer unergründlichen Tiefe versenkt. Denn womit Geisteswissenschaftler fortan zu tun hatten, war nicht die Beschreibung äußerlicher Phänomene, sondern das Verstehen eines inneren Sinns. Das gilt für die Biographien fremder Personen ebenso wie für das eigene Leben, für den Geist einer Epoche, einer philosophischen Abhandlung oder eines Kunstwerks, stets verläuft der „Gang des Verstehens von außen nach innen“, mit dem erklärten Ziel einer „Erfassung des Innern“.17 13Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Erster Band. Gesammelte Schriften XIII/1. Band. Stuttgart/Göttingen 1970: 53. 14 Ebd.: 99; hierzu ausführlich Matthias Jung: Dilthey zur Einführung. Hamburg 1996: 23 ff. 15 Wilhelm Dilthey: „Die Biographie“. In: Ders.: Gesammelte Schriften VII. Band. Stuttgart/ Göttingen 1968, 246-251, hier: 249. 16 Wilhelm Dilthey: „Die Entstehung der Hermeneutik“. In: Ders.: Gesammelte Schriften V. Band. Stuttgart/Göttingen 1968, 317-338, hier: 331. 17 Wilhelm Dilthey: „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“. In: Ders.: Gesammelte Schriften VII. Band. Stuttgart/Göttingen 1968, 76-188, hier: 82. Verschiebungen des Sinns 15 Gegen diese Dilthey’sche Vorstellung einer Innerlichkeit des Sinns regt sich schon seit längerem erheblicher Widerstand, wahrscheinlich ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass viele der großen intellektuellen Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg immer auch um die Frage gekreist sind, wie sich Sinn jenseits einer Vorstellung von Innerlichkeit und Verborgenheit denken lässt. Im Grunde scheint es seit einigen Jahrzehnten daher um nichts anderes zu gehen als die Revision des folgenden Zitats aus Diltheys Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik“, jenem Begründungs- und Grundlagentext der wissenschaftlichen Hermeneutik. Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen. […] Dies Verstehen reicht von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Worten und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe Geist zu uns und bedarf der Auslegung.18 Wo es Dilthey noch darum ging, von den Tönen, den Worten oder den Handlungen aus auf ein Inneres zu schließen, sind verschiedene Autorinnen aus unterschiedlichsten Disziplinen in den letzten Jahren genau den entgegengesetzten Weg gegangen und haben die Steine und den Marmor in ihrer Materialität, die Töne und die Schrift in ihrer Medialität, die Worte in ihrer Performativität und die Gebärden und Handlungen als körperliche Praktiken entdeckt. ‚Sinn‘ wurde aus der Tiefe nach und nach wieder an die Oberfläche geholt. In diesem Bemühen deutet sich unübersehbar ein Übergang zu einem neuen Denken des Sinns an, eine Wende von der Interioritätsfixierung hin zu einer Exteriorisierung des Sinns, wie es Erich Hörl prägnant auf den Begriff gebracht hat.19 Viele der großen philosophischen, kultur- und sozialtheoretischen Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten bei aller Disparatheit doch einen gemeinsamen Fluchtpunkt: den grundlegenden Zweifel an einer letztmöglichen Fixierung von Sinn. Ob man an dekonstruktivistische oder systemtheoretische Zugänge denkt, an poststrukturalistische, praxeologische oder neuerdings an akteur-netzwerk-theoretische, sie alle haben ein neues Denken der Verschiebung und Öffnung, der Temporalisierung, Dynamisierung, Wucherung und Zirkulation von Sinn stark gemacht. Im Folgenden möchte ich versuchen, an einigen dieser Debatten eine Verschiebung des Sinnbegriffs nachzuzeichnen. Beginnen werde ich meine Darstellungen mit Claude E. Shannon, der Mitte des 20. Jahrhunderts im Grunde das exakte Gegenprogramm zur Dilthey’schen Hermeneutik ausgearbeitet hat. Wo es Dilthey um Bedeutungen hinter den Phänomenen ging, hat Shannon eine mathematische Kommunikationstheorie ausgearbeitet, der es ausschließlich um Informationen 18 Wilhelm Dilthey: „Die Entstehung der Hermeneutik“. A.a.O. 318f. 19 Erich Hörl: „Die technologische Sinnverschiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Maschine“. In: Lorenz Engell/Jiří Bystřický/Kateřina Krtilová (Hg.): Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern. Bielefeld 2010, 17-35, hier: 17. 16 Verschiebungen des Sinns und ausdrücklich nicht um Bedeutungen ging. Während Bedeutungen auf ein Innen hinweisen, verweisen Informationen nur noch auf ein Außen. Damit hat Shannon nicht nur wichtige Impulse für das gerade im Entstehen begriffene interdisziplinäre Programm der Kybernetik geliefert, sondern zwei wichtige Autoren maßgeblich beeinflusst: Michel Foucault und Niklas Luhmann (Kapitel 2.1). In einem zweiten Schritt werde ich mich mit dem Einbruch der Medien und der Technik in die epistemische Ordnung auseinandersetzen. Hier sind insbesondere die Arbeiten Harold A. Innis’, Marshall McLuhans und Friedrich Kittlers zu nennen, die nicht einfach nur die Medien bzw. die Technik zu legitimen Gegenständen der Wissenschaft gemacht haben, sondern vielmehr auf die Unhintergehbarkeit des Medientechnologischen hingewiesen haben, also auf die medial-technische Verfasstheit der Wirklichkeit. Medien sind daher niemals nur neutrale Vermittler, sondern transformieren das Vermittelte immer auch. Wo Dilthey noch am Text, am Ton oder am Bild auf ein Inneres schließt, richten Medientheorien fortan den Blick gerade auf den Text, den Ton und das Bild selbst (Kaptitel 2.2). Auch die wissenschaftliche Rehabilitierung der Dinge in ihrer Eigenmächtigkeit hat das Sinndenken vor eine große Herausforderung gestellt. Vor allem die Arbeiten Bruno Latours haben in den letzten Jahren deutlich machen können, wie schwer es geworden ist, an der strikten Trennung einer sinnvollen Welt des Geistes von einer sinnlosen Welt der Dinge festzuhalten. Bremsschwellen, Sicherheitsgurte oder Türschlösser dürfen nicht nur nicht länger wissenschaftlich ausgeblendet, sondern müssen sogar als eigenmächtige Aktanten verstanden werden, die es in ihrer Eigensinnigkeit ernst zu nehmen gilt. Nicht nur geht damit der Bruch mit der Privilegierung menschlicher Akteurschaft einher, auch die Fähigkeit des Sinnverstehens darf dann nicht länger nur menschlichen Akteuren unterstellt werden (Kapitel 2.3). Ähnlich wie die Dinge mussten auch die Körper erst mühsam wissenschaftlich wiederentdeckt werden. Obwohl es doch schwer ist, an der Materialität der Dinge und an der Leiblichkeit der Körper vorbeizusehen, sind die Körper ebenso wie die Dinge doch für lange Zeit aus dem Blickfeld der Wissenschaft verschwunden. Interessanterweise war es eine sprachphilosophische Abhandlung, die den entscheidenden Impuls für die Wiederentdeckung der Körper geliefert hat. John L. Austins How to do things with Words hätte im Rückblick eher den Titel How to do things without Words verdient, schließlich hatte er nicht nur zeigen können, dass jedes Sprechen gleichzeitig auch ein Handeln ist, er hat mit dem Begriff der Performanz das entscheidende Stichwort geliefert, um den Vollzugssinn von Sprechakten und nicht bloß die durch Sprache übermittelten Bedeutungen in den Blick nehmen zu können. Vor allem außerhalb der Sprachphilosophie hat der Performanzbegriff dann seine Wirkung entfalten können, wenn etwa körperliche Praktiken, rituelle Handlungen oder bildliche Darstellungen als Sinnvollzüge beschrieben werden (Kapitel 2.4). All diese kybernetisch-mathematischen, medien-, sprechakt- oder akteur-netzwerk-theoretischen Interventionen verbindet aus meiner Sicht, Sinn als eine unbestimmte und letztlich auch unbestimmbare Größe zu konzipieren. Sinn ist nicht Kybernetische Ordnungen des Sinns 17 länger der Grund, auf dem wir uns bewegen, und schließt sich daher auch nicht länger „aus der Tiefe der Selbstbesinnung“ auf ,20 sondern muss als Oberflächeneffekt, also in seiner Produziertheit und seiner Streuung, betrachtet werden. Daran deutet sich nicht nur eine Krise der Hermeneutik an, daran lässt sich ohne Übertreibung die Ankündigung einer nach- oder nichthermeneutischen Theorie des Sinns festmachen. Ich werde zunächst darlegen, was darunter zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich dadurch für die Soziologie ergeben (Kapitel 2.5), um davon ausgehend zeigen zu können, dass die Soziologie, zumal die verstehende Soziologie Max Webers, aus meiner Sicht gerade nicht in einer hermeneutischen Tradition steht und auch nicht mit einem hermeneutischen Sinnbegriff hantiert, sondern umgekehrt einem geradezu hermeneutikkritischen Impuls erwachsen ist (Kapitel 2.6). 2.1. Kybernetische Ordnungen des Sinns Der letzte großangelegte philosophische Versuch einer abschließenden Bestimmung des Sinns ist wahrscheinlich Edmund Husserls transzendentale Phänomenologie. Eine Problemgeschichte des Unbestimmtwerdens von Sinn kommt daher kaum umhin, mit Husserls berühmtem Prager Vortrag von 1934 und der daraus hervorgegangenen Krisis-Schrift zu beginnen. Nicht nur, weil darin in aller Schärfe eine sich ankündigende Neuordnung des Sinns beschrieben wird, sondern auch, weil Husserl darauf mit den klassischen Mitteln einer im Untergehen begriffenen oder sogar schon untergegangenen Philosophie reagiert.21 Wie Hans Blumenberg betont hat, erwachsen philosophische Fragen in der Neuzeit, wenn überhaupt, nur „aus dem Unbehagen, aus Lockes ‚uneasiness‘, nicht mehr aus dem Erstaunen“.22 Das wohl eindrucksvollste Dokument philosophischen Unbehagens im 20. Jahrhundert ist die Krisis-Schrift Edmund Husserls. Im Tonfall der Anklage trotzt der sonst so gefasste und distanzierte Husserl „allen antiintellektualistischen Depressionen des Zeitgeistes“ und versucht, durch technologische und politische Entwicklungen alarmiert, eine „originale Philosophie, d.i. Philosophie von selbstdenkenden Philosophen“ zu retten.23 Gegen den Verlust der Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaft sei einzig die Philosophie in der Lage, tatsächlich etwas auszurichten und womöglich entgegenzuwirken, nicht aber die 20 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. A.a.O. 142. 21Hier folge ich den Anregungen von Dirk Rustemeyer und Erich Hörl, die ausgehend von der Husserl’schen Krisis-Schrift Transformationen der Bestimmung von Sinn nachgezeichnet haben; vgl. Dirk Rustemeyer: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral. Hamburg 2001; Erich Hörl: „Die technologische Sinnverschiebung.“ A.a.O. 22 Hans Blumenberg: „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, 7-54, hier: 8. 23Edmund Husserl: „Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie“. In: Ders.: Aufsätze und Vorträge (1922-1937). Husserliana Band XXVII. Dordrecht/Boston/London 1989, 184-221, hier: 221. 18 Verschiebungen des Sinns exakt-mathematischen Wissenschaften, seien diese doch vielmehr selbst die Agenten und Motoren dieses Verlustes. Damit knüpft Husserl an Gedanken an, die er bereits in den Ideen geäußert hatte: „Die Fortschritte der Wissenschaft haben uns an Schätzen der Einsicht nicht bereichert. Die Welt ist durch sie nicht im mindesten verständlicher, sie ist für uns nur nützlicher geworden. […] Es gilt, dem unerträglich gewordenen Notstand der Vernunft ein Ende zu machen, die inmitten aller Reichtümer theoretischen Besitzes ihr eigentliches Ziel, das Weltverständnis, die Einsicht in die Wahrheit, immer ferner rücken sieht“.24 Die Krise der neuzeitlichen Wissenschaften ist für Husserl daher nicht weniger als eine „zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäischen Menschentums selbst“.25 Nachzeichnen lässt sich diese Krisengeschichte vor allem an der Geschichte der Mathematik, denn an der immer stärkeren Mathematisierung der Natur zeigt sich für den Mathematiker Husserl vor allem eines: eine gefährliche Sinnverschiebung. Während die euklidische Geometrie noch darauf abzielte, eine sinnlich-physikalische Welt mit den Mitteln der Mathematik messbar zu machen, kommt es schon bald durch die Arithmetisierung der Geometrie zu einem fatalen Einschnitt. Wo die ‚ursprüngliche‘ Geometrie noch mit Zeichen rechnete, um von einer konkreten Realität abstrahieren zu können, wird die algebraische Arithmetik schließlich „zu einer bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlich-einsichtigen Denken zu gewinnen ist. […] Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt […], ist hier ausgeschaltet“.26 An die Stelle ursprünglichen Denkens tritt also ein bloß noch technisches Verfahren. Nun muss allerdings betont werden, dass sich Husserl hiermit keineswegs gegen den Anspruch der Mathematik auf Exaktheit und auch nicht gegen ihre Fähigkeit zur Abstraktion wendet – ganz im Gegenteil. Auch die Philosophie, und das betrifft natürlich vor allem Husserls Phänomenologie selbst, kommt nicht ohne Abstraktionen aus. Schon durch die Gründung der Philosophie und die damit einhergehende Trennung von doxa und episteme ist es daher zu einer „Sinnverwandlung“ durch Abstraktion gekommen.27 Husserl kritisiert also nicht das Abstrahieren an sich, sondern die daraus hervorgehende Un-Unmittelbarkeit des Denkens. „An sich ist der Fortgang von sachhaltiger Mathematik zu ihrer formalen Logifizierung, und ist die Verselbständigung der erweiterten formalen Logik als reiner Analysis oder Mannigfaltigkeitslehre etwas durchaus Rechtmäßiges, ja Notwendiges: desgleichen die Technisierung mit dem sich zeitweise ganz Verlieren in 24 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch. Husserliana Band III. Den Haag 1950: 96. 25 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Band VI. Den Haag 1954: 10. 26 Ebd.: 46. 27 Edmund Husserl: „Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie“. A.a.O. 194. Kybernetische Ordnungen des Sinns 19 ein bloß technisches Denken. Das alles aber kann und muß vollbewußt verstandene und geübte Methode sein. Das ist es aber nur, wenn dafür Sorge getragen ist, dass hierbei gefährliche Sinnverschiebungen vermieden bleiben, und zwar dadurch, daß die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt“.28 Wenn Ägypter, Assyrer oder Babylonier etwa, um Land zu vermessen, Pflöcke in den Schlamm schlagen und Seile knoten, dann haben wir es Husserl zufolge noch mit sinnvollem Denken zu tun, weil diese Messtechnik unmittelbar aus praktischer Erfahrung und praktischer Betätigung hervorgegangen ist. Diese Messtechnik wahrt also noch den Kontakt zu ihrem Ursprung. Zu einer „Sinnverwandlung und Sinnüberdeckung“ kommt es aber, sobald diese ursprüngliche Geometrie durch ein Rechnen mit Formeln und Symbolen, mit Idealisierungen und Abstraktionen von Abstraktionen ersetzt wird.29 Die Mathematik wird zwar auf einmal hübsch und verkleidet, verliert dadurch aber unweigerlich an Bodenhaftung: „die Ideenverkleidung macht es, daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der ‚Theorien‘ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde“.30 Was Husserl in dem Zitat weiter oben ‚Technisierung‘ nennt, meint daher nichts anderes als die Methodisierung des Denkens bei gleichzeitiger Invisibilisierung der Methode. In dieser Tendenz zur Technisierung liegt für Husserl daher die größte Gefahr, denn damit verliert das Denken seine „Bodenständigkeit“.31 Sinnentleert ist das technische Denken folglich deshalb, weil es den Bezug zu einem Ursprung, aus dem es hervorgegangen ist, verloren hat. Gleiches gilt für die Technik überhaupt. Nicht die Technik per se ist für Husserl daher gefährlich, sondern das Übersehen der Technik, d.h. das Verkennen, dass wir in einer technisch vermittelten Welt leben. Die Technik verführt dazu, alles zu verstehen zu glauben und doch gar nicht mehr verstehen zu können. Darum kann Wissenschaft „wirklich und ursprünglich sinnhaft nur sein bzw. bleiben, wenn der Wissenschaftler in sich die Fähigkeit ausgebildet hat, nach dem Ursprungssinn aller seiner Sinngebilde und Methoden zurückzufragen: nach dem historischen Urstiftungssinn, vornehmlich nach dem Sinn aller darin unbesehen übernommenen und desgleichen aller späteren Sinneserbschaften“.32 Das Bild von den Ägyptern, die am Beginn der Mathematik Pflöcke in den Boden schlagen, ist auch deshalb so faszinierend, weil Husserl im Grunde genommen genau dasselbe beabsichtigt. Die Krisis-Schrift ist ja nichts anderes als der Versuch, wieder philosophische Pflöcke in den Boden zu schlagen. Und es ist der Begriff der Lebenswelt, mithilfe dessen jener Boden bezeichnet werden soll. Die Soziologie hat in ihrer Auseinandersetzung mit der Krisis-Schrift im Grunde aus 28 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften. A.a.O. 46f. 29 Ebd.: 48. 30 Ebd.: 52. 31 Ebd.: 13. 32 Ebd.: 57. 20 Verschiebungen des Sinns schließlich dieses Konzept der Lebenswelt rezipiert. Herausgekommen ist dabei „eine Art Trivialanthropologie“, wie Niklas Luhmann einmal böse, aber treffend bemerkt hat, die die Lebenswelt als tatsächlichen Boden, auf dem wir uns selbstverständlich und immer schon bewegen, begreift.33 Der Husserl’sche Text gibt Derartiges aber gar nicht her: Zwar wird die Lebenswelt als „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“ beschrieben,34 aber sie ist für Husserl streng genommen gar kein Gegenstand. Die Lebenswelt ist vielmehr das Ziel einer Rückfrage und einer kritischen Rückbesinnung.35 Es gibt sie also nicht. Das wird schon daran deutlich, dass Husserl die Lebenswelt sowohl als Boden als auch als Horizont und darüber hinaus noch als das Ziel der philosophischen Rückfrage beschreibt.36 Und genau diese Paradoxie macht die Krisis-Schrift zu einem so interessanten Dokument. Es geht darin nicht um die Beschreibung einer Lebenswelt, es geht um die verzweifelte Suche nach einem Ursprung. Wo Sinn von Diltheys Hermeneutik in das tiefste Innere verlagert wird, setzt ihn die Phänomenologie Husserls an einen niemals zu erreichenden Anfang. Zwar ist die Spätphilosophie Husserls darauf ausgerichtet, philosophisch wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen, doch zeigt sich an ihr noch viel deutlicher die, wie Bernhard Waldenfels es genannt hat, Abgründigkeit des Sinnes. Man muss den Husserl’schen Text von all seinem Pathos befreien, um zu erkennen, dass Husserl vielleicht schärfer als jeder andere Philosoph seiner Zeit, eine technologische Sinnverschiebung37 beobachtet hat, die er durch die Revitalisierung eines ursprünglichen Sinnes zu verdecken versucht hat. 33Niklas Luhmann: „Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen“. In: Gerhard Preyer/Georg Peter/Alexander Ulfig (Hg.): Protosoziologie im Kontext. „Lebenswelt“ und „System“ in Philosophie und Soziologie. Würzburg 1996, 268-289, hier: 268. 34 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften. A.a.O. 183. Diese Selbstverständlichkeit der Lebenswelt wird in der Regel positiv ausgelegt. Zurecht hat aber Hans Blumenberg betont, dass ‚Selbstverständlichkeit‘ für Husserl alles andere als ein positiver Begriff ist; vgl. Hans Blumenberg: „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. A.a.O. 23. Für Blumenberg ist die späte Wende Husserls hin zur Lebenswelt daher nichts anderes als „eine aus der immanenten Entwicklung der Phänomenologie selbst hervorgewachsene Dringlichkeit“; vgl. ebd.: 47. Blumenberg weist darauf hin, dass die Phänomenologie Husserls selbst nichts anderes sei als eine Theorie der „Entselbstverständlichung“; vgl. ebd.: 48; der Begriff der Lebenswelt ist seiner Ansicht nach daher so etwas wie der aus einem schlechten Gewissen heraus erwachsene, verzweifelte Versuch, eine Ursprünglichkeit wiederherzustellen, die auch durch die Husserl’sche Philosophie selbst verlorengegangen ist. 35 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften. A.a.O. 16. 36 Die Lebenswelt wird von Husserl sowohl als das Woher als auch als das Woraufhin von Sinnbildung beschrieben. Ausführlich hierzu Bernhard Waldenfels: „In ihrer stetigen Vorgegebenheit bildet sie [die Lebenswelt; JM] dabei die Grundstufe aller höheren Sinnbildungen; in ihrer universalen Strukturiertheit bleibt sie invariabel in bezug auf alle auftretenden Relativitäten. Sie ist somit Erstgegebenes und Letztregelndes zugleich“. Bernhard Waldenfels: „Die Abgründigkeit des Sinnes. Kritik an Husserls Idee der Grundlegung“. In: Elisabeth Ströker (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie. Frankfurt a.M. 1979, 124-142, hier: 126. 37 Vgl. Erich Hörl: „Die technologische Sinnverschiebung.“ A.a.O. Kybernetische Ordnungen des Sinns 21 Als Husserl 1934 das Prager Publikum vor einer Mathematisierung und Technisierung der modernen Welt warnte, da war er sich der Dimensionen und der Geschwindigkeit dieser Entwicklung womöglich gar nicht wirklich bewusst. Husserl endet seinen Vortrag mit dem Hinweis darauf, hier und heute als Selbstdenker gesprochen zu haben; als Vertreter derjenigen Wissenschaft, der es nicht nur um die Berechenbarmachung und Indienstnahme der Objektwelt geht, sondern gerade darum, das Verhältnis von Subjekt und Objekt zu denken: „Die Wissenschaft vom Geiste hat ungleich der objektiven Naturwissenschaft das forschende Subjekt nicht außerhalb, sondern innerhalb seines Themas.“38 In dieser Schlussbemerkung kommen letztlich noch einmal all jene Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten eines Philosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Denn dass es schon bald andere Wissenschaften sein würden, die die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt in einer nie dagewesenen Radikalität stellen und das Selbstdenken gleich noch selbstrechnenden Maschinen überlassen werden, hat Husserl sicherlich nicht einmal zu ahnen gewagt. Doch nur fünf Jahre nach seinem Prager Vortrag wird der amerikanische Mathematiker Claude E. Shannon damit beginnen, das philosophische Konzept des Sinns einfach in ein mathematisches Konzept von Information zu übersetzen, womit dann endgültig die Mathematisierung auch in das Gebiet des Geistes eingedrungen ist. Bereits Anfang 1939 äußert Shannon in einem Brief an Vannevar Bush zum ersten Mal die Absicht, eine Kommunikationstheorie auszuarbeiten, die auf rein mathematischen Grundlagen beruht: „Off and on I have been working on analysis of some of the fundamental properties of general systems for the transmission of intelligence, including telephony, radio, television, telegraphy etc. Practically all systems of communication, may be thrown into the general form: f 1(t) ➝ [T] ➝ F (t) ➝ [R] ➝ f 2(t)“.39 In diesem frühen Dokument formalisiert Shannon Nachrichten noch recht konventionell als Funktionen der Zeit, in denen ein transmittiertes Element T an einem Empfangsort R ankommt, wobei f 2(t) maximale Ähnlichkeit mit f 1(t) aufweisen sollte. „In an ideal system it would be an exact replica.“40 Leider wird mit dem Namen Shannon noch immer die Vorstellung von Kommunikation als bloßer Übertragung von Nachrichten von einem Ort zu einem anderen assoziiert. Bis heute gilt er als Gewährsmann für ein einfaches Sender-Empfänger-Modell. Allerdings sind zwischen diesem Brief und der endgültigen Fassung der Mathematical Theory of Communication einige Jahre vergangen, in denen sich Shannon nicht unmittelbar mit der Ausarbeitung seiner Kommunikationstheorie beschäftigen konnte. Mit dem Kriegseintritt der USA wurden sämtliche Mathematiker des Landes für militärische Zwecke rekrutiert. Shannons Aufgabe galt zunächst der 38 Edmund Husserl: „Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie“. A.a.O. 215. 39Shannon zitiert nach Friedrich-Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik. Eine Fallstudie zur Theoriebildung in der Technik in Industrie- und Kriegsforschung. Berlin 1979: 353. 40Ebd. 22 Verschiebungen des Sinns analytischen Ballistik, v.a. der mathematisch-statistischen Vorhersage in der Flugabwehr, ab 1943 dann in erster Linie der Kryptographie, also der Verschlüsselung von Nachrichten. Er arbeitete daran, Rauschen in Nachrichten einzubauen, um diese abhörsicher zu machen. Dieser biographische Hinweis ist insofern wichtig, als daraus hervorgeht, dass die vielleicht berühmteste Theorie der Information eigentlich als Theorie der Desinformation begonnen hat. Daher geht auch Shannons Mathematical Theory of Cryptography, die 1945 erschienen ist, seiner Mathematical Theory of Communication von 1948 voraus.41 Inhaltlich unterscheiden sich beide Texte kaum, im Grunde handelt es sich um die zwei Seiten einer Medaille: „I worked on both at the same time. I worked on one and got an idea for the other“, so Shannon im Rückblick.42 Shannon wagt also einen Kurzschluss kryptoanalytischer und nachrichtentechnischer Erkenntnisse. Er hatte zeigen können, dass sich aus kryptoanalytischer Sicht diejenigen Systeme als die sichersten herausstellten, bei denen eine Unabhängigkeit, d.h. Gleichwahrscheinlichkeit der verschlüsselten Symbole gewährleistet war, bei denen also mit anderen Worten die Redundanz gering war. Dieser Gedanke sollte dann auch so etwas wie das Fundament seiner Kommunikationstheorie werden, die er später zusammen mit Warren Weaver ausgearbeitet hat. Der Schritt von der Kryptoanalyse zur Nachrichtentheorie war nur ein kleiner, denn was für die Verschlüsselung von Nachrichten gilt, muss umgekehrt auch für den Transport von Nachricht gelten: „From the point of view of the cryptoanalyst, a secrecy system is almost identical with a noisy communication system“.43 Somit kann Shannon behaupten, dass ein System mit hoher Redundanz auch ein System mit wenig Information ist. Auf dieser Grundlage konnte Shannon etwa zeigen, dass die Redundanz im Englischen bei etwa 40% liegt, dass also nur 60% der benutzten Buchstaben tatsächlich frei gewählt sind.44 Dass beispielsweise ein Wort im Englischen mit einem t beginnt, ist ein Ereignis, das nicht vorherzusehen ist. Dass aber darauf ein h folgt und nicht selten auch noch ein e, kann mit jeweils höheren Wahrscheinlichkeiten vorhergesehen werden. Oder ein anderes Beispiel: In der Regel folgt auf ein q der Buchstabe u. Das q liefert aus rein technischer Sicht sehr viel, das nachfolgende u dagegen so gut wie keinen Informationswert. Wie man an diesen Beispielen sehen kann, betrachtet Shannon die Sprache nicht als System von Bedeutungen, sondern als System von Wahrscheinlichkeiten. Eine gute Kommunikationstheorie hat aus seiner Sicht daher auch genau so zu verfahren „wie eine gute und diskrete Postangestellte, die Ihre Telegramme annimmt. 41 Für einen detaillierten Überblick über die Entstehungsgeschichte der Shannon’schen Informationstheorie siehe Axel Roch: Claude E. Shannon: Spielzeug, Leben und die geheime Geschichte seiner Theorie der Information. Berlin 2010. 42Friedrich-Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik. A.a.O. 296. 43 Claude E. Shannon: „Communication Theory of Secrecy Systems“. In: Bell System Technical Journal 28. Jg., 3 (1949), 656-715, hier: 685. 44 Claude E. Shannon: „The Redundancy of English“. In: Claus Pias (Hg.): Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Zürich/Berlin 2003, 248-272. Kybernetische Ordnungen des Sinns 23 Sie achtet nicht auf die Bedeutung, ob sie nun traurig oder fröhlich oder unangenehm ist. Aber sie muß bereit sein, sich um alles zu kümmern, was auf ihren Schreibtisch kommt“.45 Statt von Bedeutung ist daher konsequent von Information die Rede, und diese liegt gerade nicht in dem, was gesagt wird, sondern in dem, „was gesagt werden könnte“.46 Die Information ist daher niemals endgültig durch sich selbst bestimmt, vielmehr haftet ihr immer ein inhärenter Rest an Unbestimmtheit an: „Die Vorstellung von der Information, wie sie in dieser Theorie entwickelt wird, erscheint anfänglich enttäuschend und seltsam – enttäuschend, weil sie nichts mit Bedeutung zu tun hat, seltsam, weil sie sich nicht auf eine einzelne Nachricht bezieht, sondern eher auf die statistischen Eigenschaften einer Gesamtheit von Nachrichten, und seltsam auch, weil in den statistischen Ausdrücken die beiden Worte Information und Unsicherheit die gleiche Bedeutung haben.“47 Die Pointe dieses Zitats liegt darin, dass die Information dort am höchsten ist, wo auch die meiste Unsicherheit herrscht. Ereignisse, die immer eintreten, und Ereignisse, die nie eintreten, haben folglich keinerlei Informationswert. Aus diesem Grunde überführt Shannon einfach Erkenntnisse aus der Thermodynamik in seine Kommunikationstheorie. Er übernimmt die Boltzmann’sche Formel für Entropie, um Information zu definieren, und spricht bewusst von thermischem Rauschen (noise) und nicht von statistischem Zufall (randomness) von Ereignissen.48 Entscheidend ist an dieser Stelle nur, dass wir es auf einmal mit einem Informationsbegriff zu tun haben, der im Grunde keinerlei Informationen mehr über die Welt liefert. Das ist die radikale Konsequenz dieser Theorie: Der Informationsbegriff Shannons interessiert sich nicht für Referentialität, sondern ausschließlich für Ordnung. Nachrichten haben keine Referenz nach außen, sondern zeigen nur an, dass sie „aus einem Vorrat von möglichen Nachrichten ausgewählt worden sind“.49 Das heißt also, dass sich Informationen nicht auf Dinge selbst beziehen, sondern eher auf eine Ordnung der Dinge. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, dass sich an Shannons Informationstheorie der Übergang zu einem radikal postsignifikativen Denken des Sinns markieren lässt,50 liegt die Provokation dieser Informationstheorie doch darin, dezidiert alle semantischen Aspekte der Kommunikation auszublenden und stattdessen einen Informationsbegriff auszuarbeiten, der gerade nicht mit Bedeutung verwechselt werden darf. Kommunikation ist eben nicht der Transport von fixen Bedeutungen, sondern der operative Aufbau von Ordnung. Es 45 Claude E. Shannon/Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München/Wien 1976: 38. 46 Ebd.: 18. 47 Ebd.: 38. 48 Vgl. Axel Roch: Claude E. Shannon. A.a.O. 114. 49 Claude E. Shannon/Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. A.a.O. 41. 50Vgl. Erich Hörl: „Die technologische Bedingung. Zur Einführung“. In: Ders. (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Berlin 2011, 7-53, hier: 9. 24 VERSCHIEBUNGEN DES SINNS Abb. 1: Schema eines allgemeinen Kommunikationssystems nach Shannon geht daher im Zusammenhang mit diesem Informationsbegriff auch nicht um Verstehen oder Interpretation, sondern ganz schlicht um Kombinatorik. Claude E. Shannon, der seine Theorie der Information keineswegs nur auf Sprache reduziert wissen, sondern diese auch auf Musik, Bilder, Gesten, Bewegungen oder menschliches Verhalten anwenden wollte, war sich der Tragweite seiner Kommunikationstheorie durchaus bewusst. Auf die Frage, welches Projekt er im Anschluss an diese Kommunikationstheorie verfolgen möchte, antwortete er ebenso selbstbewusst wie lakonisch: „Nothing, I’ve done everything I’ve got to do“.51 Das war zum einen natürlich maßlos übertrieben, zum anderen aber auch falsch. Denn es blieb bekanntlich anderen Autoren wie etwa Norbert Wiener vorbehalten, diese mathematische Kommunikationstheorie Shannons, die sich letztendlich nur für die lineare Transmission einer Nachricht von einem Sender zu einem Empfänger interessiert hat (siehe Abb. 1), zu einer kybernetischen Kommunikationstheorie auszuarbeiten, die sich nicht nur für die Linearität, sondern in erster Linie für die Zirkularität von Kommunikation, also für Rückkopplungs-, Kontroll- und Steuerungsprozesse interessiert.52 Sender und Empfänger werden hier nicht als Endpunkte einer Kommunikation betrachtet, vielmehr wird das Shannon’sche Modell des Kommunikationssystems zurückgebogen und noch einmal in sich geschlossen. Es nimmt dann nicht wie in dieser Abbildung eine lineare, sondern eine zirkuläre Form an, die Rekursivität vorsieht und diese auch beschreibbar macht. Der Sender ist somit nicht in einem kausalen Sinne Auslöser der Kommunikation, sondern umgekehrt: Er kann überhaupt nur kommunizieren, weil er bereits in einen Kommunikationszusammenhang eingelassen ist. Das ist womöglich die größte 51 Zitiert nach Friedrich-Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik. A.a.O. 349. 52 Norbert Wiener: Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine. Cambridge 1961. Kybernetische Ordnungen des Sinns 25 Leistung der Kybernetik: Kommunikation nicht als substantiellen Begriff, sondern als ein operatives Konzept verstanden zu haben.53 Kommunikation im Sinne der Kybernetik ist dann nicht mehr nur ein einfacher Transport von Informationen, sondern ein unabschließbarer, rekursiver Prozess der Neuanordnung von Informationen. Welche gravierenden Konsequenzen dieses rekursive Denken für die Philosophie nach sich zieht, hat im Übrigen niemand derart klar gesehen und deutlich beschrieben wie Martin Heidegger. In seinem Athener Vortrag „Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens“ aus dem Jahr 1967 heißt es: Der kybernetische Weltentwurf unterstellt vorgreifend, daß der Grundzug aller berechenbaren Weltvorgänge die Steuerung sei. Die Steuerung eines Vorgangs durch einen anderen wird vermittelt durch die Übermittelung einer Nachricht, durch die Information. Insofern der gesteuerte Vorgang seinerseits auf den ihn steuernden sich zurückmeldet und ihn so informiert, hat die Steuerung den Charakter der Rückkopplung der Informationen. Die hin- und herlaufende Regelung der Vorgänge in ihrer Wechselbeziehung vollzieht sich demnach in einer Kreisbewegung. Darum gilt als der Grundzug der kybernetisch entworfenen Welt der Regelkreis. Auf ihm beruht die Möglichkeit der Selbstregelung, die Automation eines Bewegungssystems. In der kybernetisch vorgestellten Welt verschwindet der Unterschied zwischen den automatischen Maschinen und den Lebewesen. Er wird neutralisiert auf den unterschiedslosen Vorgang der Information. […] In diese Einförmigkeit der kybernetischen Welt wird auch der Mensch eingewiesen. Er sogar auf eine ausgezeichnete Weise. Denn im Gesichtskreis des kybernetischen Vorstellens hat der Mensch seinen Ort im weitesten Regelkreis. Gemäß der neuzeitlichen Vorstellung vom Menschen ist er nämlich das Subjekt, das sich auf die Welt als den Bezirk der Objekte bezieht, indem er sie bearbeitet. Die so entstehende jeweilige Veränderung der Welt meldet sich zurück auf den Menschen. Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist, kybernetisch vorgestellt, die Wechselbeziehung von Information, die Rückkopplung im ausgezeichneten Regelkreis, der sich durch den Titel „Mensch und Welt“ umschreiben lässt.54 Für Heidegger war es ausgemacht, dass die Philosophie der Aufgabe, diese Rückkopplungen zu fassen, längst nicht mehr gewachsen ist. Er sieht das Fach am Ende und setzt im berühmten SPIEGEL-Interview gleich die Kybernetik an ihre Stelle.55 Allein sie sei imstande, eine Wirklichkeit zu beschreiben, der mithilfe einer philosophischen Kategorienlehre nicht mehr beizukommen ist. An die Stelle der Kate 53 Erhard Schüttpelz: „‚Get the message through‘. Von der Kanaltheorie der Kommunikation zur Botschaft des Mediums: Ein Telegramm aus der nordamerikanischen Nachkriegszeit“. In: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Wiesbaden 2002, 51-76, hier: 55f. 54 Martin Heidegger: „Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens“. In: Petra Jaeger/Rudolf Lüthe (Hg.): Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart. Würzburg 1983, 11-23, hier: 16; zitiert nach Erich Hörl: „Die offene Maschine. Heidegger, Günther und Simondon über die technologische Bedingung“. In: MLN German Issue 123. Jg., 3 (2008), 632-655, hier: 646. 55 Vgl. Martin Heidegger: „Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. Oktober 1966)“. In: Ders.: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976. Gesamtausgabe Band 16. Frankfurt a.M. 2000, 652-683, hier: 674.