Frankfurter Positionen 2013 Festival für neue Werke P ro g r a m m 18.01.— 10.02.2013 Programm Frankfurter Positionen 2013 Festival für neue Werke 1 2 Das Netzwerk der Frankfurter Positionen 2013 Alte Oper Frankfurt Deutsches Theater Berlin Ensemble Modern Frankfurt LAB Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt Hochschule für Gestaltung Offenbach ID_Frankfurt Institut für Sozialforschung Künstlerhaus Mousonturm MMK Museum für Moderne Kunst Nationaltheater Mannheim Schauspiel Frankfurt S. Fischer Verlag Städelschule / Portikus Suhrkamp Verlag Theatrum Mundi / Global Street Verlag der Autoren Weltkulturen Museum Medienpartner hr2-kultur 3 Inhaltsverzeichnis 8 14 15 21 26 30 34 40 46 51 4 Grußwort Rückblick Die Mitglieder der Jurys Der Programmbeirat à jour – Vortragsreihe zu den Frankfurter Positionen 2013 An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne (von Wilhelm Burmester) Moderne – Die konstitutive Idee der individuellen Freiheit (von Axel Honneth) Fünf Thesen zur Vielfalt der Moderne (von Kenichi Mishima) Ästhetische Modernologie (von Juliane Rebentisch) Konzert Ensemble Modern remixed! Erik Bünger / Vito Žuraj / Marcus A. Wesselmann PUNKT (Jan Bang / Erik Honoré / Sidsel Endresen) Woher? Wohin? – Mythen, Nation, Identitäten I Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Paweł Hendrich / Nina Šenk / Judit Varga / Kristaps Pētersons Ensemble Modern 56 61 63 70 73 Woher? Wohin? – Mythen, Nation, Identitäten II Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Matej Bonin / František Chaloupka / Andris Dzenītis / Jānis Petraškevičs Ensemble Modern Ausstellung unidisplay Carsten Nicolai uni(psycho)acoustic Carsten Nicolai + Studierende der Städelschule Performance Currencies and Collectives – eine performative Konferenz Mike Bouchet / Richard Siegal / P.A.M. / Hubert Machnik / Kuratorin: Christine Peters aleph-1 Carsten Nicolai mit Rainer Römer Symposium An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne Panel 1: Streit um die Moderne I: Normativer Gehalt und soziale Dynamik Panel 2: Streit um die Moderne II: Eine Moderne – viele Modernen Panel 3: Entgrenzung der Künste I: Auflösung der Genres und der Kunst? 5 Panel 4: Entgrenzung der Künste II: Avantgarde und (post)nationale Konstellation 76 Theater „Theatre“ von Superamas 80 Kimberlit. Ein Bestiarium von Kevin Rittberger 83 Fluchtpunkt Berlin von Tobias Rausch 86 Nebenschauplätze Nr. 1: Das 20. Jahrhundert Eine Sammlung flüchtiger Erscheinungen von Hofmann&Lindholm 89 WUNDERLAND Gesine Danckwart 95 99 104 6 Bildanhang Künstler Service Eintrittskarten, Veranstaltungsorte, Festivalcafé und Theaterbar, Kontakt, Fotonachweise, Impressum Die BHF-BANK-Stiftung 7 Grußwort Am 18. Januar 2013 eröffnen wir die sechsten Frankfurter Positionen, ein Experimentierfeld für die zeit­ genössischen Künste. Als wir unsere Initiative im Jahr 2001 starteten, waren diese ersten Frankfurter Positionen auch für unsere noch junge BHF-BANK-Stiftung ein Experimentierfeld. Ganz im Sinne der Aufforderung unseres damaligen Kuratoriumsmitglieds Prof. Kasper König, wonach wir einfach loslassen sollten, nämlich einen Freiraum für die Künste schaffen, in dem das Ergebnis unserem Einfluss entzogen wäre. Dieses Konzept hat uns nicht nur einmal vor Herausforderungen gestellt. Doch wir sind ihm treu geblieben und nach nunmehr zwölf Jahren können wir sagen, dass auf diesem Experimentierfeld viele großartige künstlerische Positionen entstanden sind. Das Konzept Loslassen bedeutet: Unabhängige Jurys vergeben an Komponisten, an Theaterautoren und bildende Künstler Aufträge für neue Werke mit dem Wunsch, deren Position zu dem sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel zu erfahren. 2001 wurden die Ergebnisse im TAT, welches zu dieser Zeit im Bockenheimer Depot beheimatet war, und im öffentlichen Raum vorgestellt. Zu den beteiligten 8 Künstlern zählten zum Beispiel Tobias Rehberger, Gesine Danckwart und Roland Schimmelpfennig, die heute längst keine Unbekannten mehr sind. Gesine Danckwart, dies ist ein Novum, wird Ihnen bei den Frankfurter Positionen 2013 wieder begegnen. Ebenso wie das Logo, welches Studierende der HfG in Offenbach entworfen haben: F20 P01, als Sinnbild für die Positionsbestimmung in einer immer komplexer werdenden Lebenswelt. Im Übrigen sind die Frankfurter Positionen immer weiter gewachsen. Inzwischen sind sie ein viel und über die Region hinaus beachtetes Festival für neue Werke mit einem jeweiligen Leitthema geworden. Die Durchführung dieses Festivals ist der Stiftung nur möglich, weil die Frankfurter Positionen von einem Netzwerk von engagierten Kulturinstitutionen getragen werden. Diese Kooperationsbereitschaft der Kultur­ institutionen war 2001 noch keine Selbstverständlichkeit. Bei den Frankfurter Positionen 2013 kooperieren wir nun mit 18 Partnern, darunter etablierte Museen, Theater, Hochschulen und wissenschaftliche Institute, aber auch Ensembles der freien Szene. Unser besonderer Dank gilt daher unseren Kooperationspartnern, mit deren Anregungen und Beiträgen eine gemeinsame Plattform für die Frankfurter Positionen geschaffen wird. Wie bereits im Jahr 2011 ist das Frankfurt LAB, das Labor der Moderne, zentraler Festivalort der F20 P13. Zu Gast sind wir diesmal auch in der Alten Oper, im MMK Museum für Moderne Kunst, im Portikus und im Künstlerhaus Mousonturm. Hervorheben möchten 9 wir auch die Fachjurys, die erneut mit viel Erfahrung und großer Kenntnis der Szenen Künstler, die mit den Mitteln ihrer Sparte eine Position zu dem Leitthema formulieren sollen, vorgeschlagen, diskutiert und schließlich ausgewählt haben. Die Frankfurter Positionen veranstalten wir in einem etwa zweijährigen Turnus. Sobald ein Festival abgeschlossen ist, beginnen die Vorbereitungen für die nächsten Frankfurter Positionen. Bereits diese Phase erweist sich für uns als spannend und fruchtbar. In einem offenen Dialog mit dem Institut für Sozialforschung kristallisiert sich das Leitthema der Frankfurter Positionen heraus. Dieses Leitthema wird mit den Mitgliedern des Kuratoriums der Stiftung erörtert und ist schließlich die Grundlage für die Jurysitzungen und für den Programmbeirat des Instituts für Sozialforschung, der begleitend zu den künstlerischen Arbeiten die Vortragsreihe à jour konzipiert, in der mit theoretischen Statements die Thematik analysiert wird. Bei den Frankfurter Positionen 2013 kreisen alle Arbeiten um das Leitthema An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne. Dieses Leitthema hat Wilhelm Burmester, bis 2012 Geschäftsführer der BHF-BANK-Stiftung, angestoßen. Sein Ansatz ist als Impulsstatement in diesem Programmheft wiedergegeben. Mit diesem Leitthema wollen wir nicht in erster Linie befragen, ob die Moderne oder die Postmoderne zumindest in den Künsten als abgeschlossen zu gelten haben. Wir wollen 10 vielmehr den Ausblick riskieren, wie die Zukunft unserer modernen Gesellschaft aussehen wird. Sind wir mit unseren Gestaltungskonzepten an einer Grenze angelangt? Oder zeichnet sich ein Impuls zum Auf- oder Umbruch ab, der dem zu verzeichnenden politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Wandel gerecht werden kann? Wir wünschen uns für die Frankfurter Positionen 2013, dass sich die Besucherinnen und Besucher auf dieses Experimentierfeld der zeitgenössischen Künste und die theoretischen Diskurse einlassen. Wir hoffen, dass das Programm zu einem regen Dialog zwischen Publikum und Kreativen führt und uns bedenkenswerte Erkenntnisse zu unserer Lebenswelt aufzeigt. Dietmar Schmid, Vorsitzender des Vorstands der BHF-BANK-Stiftung Louis Graf Zech, Vorsitzender des Kuratoriums der BHF-BANK-Stiftung 11 12 13 Rückblick Frankfurter Positionen 2001 Frankfurter Positionen 2003 mit dem Leitthema Warum nicht würfeln? – Gestaltungsmöglichkeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts Frankfurter Positionen 2006 mit dem Leitthema Gut ist was gefällt – Versuche über die zeitgenössische Urteilskraft Frankfurter Positionen 2008 mit dem Leitthema Leben erfinden – Über die Optimierung von Mensch und Natur Frankfurter Positionen 2011 mit dem Leitthema Gemeinsam im Niemandsland 14 Die Mitglieder der Jurys der Frankfurter Positionen 2013 • Uwe B. Carstensen war Dramaturg und Regisseur an verschiedenen Bühnen, u.a. am Bayerischen Staatsschauspiel in München und am Thalia Theater Hamburg. Er arbeitete mit Ingmar Bergmann, Werner Schroeter, Klaus-Michael Grüber und Walter Bockmayer. Seit 1989 ist er Leiter des Theater & Medien Verlages bei S. Fischer in Frankfurt. (Jury Theater) • Clémentine Deliss, geb. in London, lei- tet seit April 2010 das Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main. Die Kuratorin, Publizistin, Dozentin und Forscherin studierte Ethnologie und Gegenwartskunst in Wien, Paris und London und leitete zahlreiche Festivals, internationale Ausstellungen und Forschungsprojekte zur Interpretation und Vermittlung von Kunst und Ethnologie. Von 2003 bis 2010 verantwortete sie das Forschungsprojekt Future Academy in Edinburgh. (Jury Carte Blanche) 15 • Roland Diry, geb. 1955, studierte Kla- rinette in Frankfurt am Main und Hannover und legte bei Hans Deinzer sein Konzertexamen ab. Er war Dozent der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und hat Lehraufträge an Dr. Hoch‘s Konservatorium und an der Hochschule für Musik in Frankfurt. Seit 1982 ist er Mitglied des Ensemble Modern und hat über viele Jahre geschäftsführende und inhaltliche Aufgaben übernommen. 2003 wurde er Geschäftsführer des Ensemble Modern und Vorsitzender der Internationalen Ensemble Modern Akademie. (Jury Musik) • Susanne Gaensheimer, geb. 1967, ist Kunsthistorikerin und wurde nach ihrem Studium in München, Hamburg und am Independent Study Program des Whitney Museum of American Art, New York,­ an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. 2002 bis 2008 war sie Leiterin der Sammlung für Internationale Gegenwartskunst an der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München. 1999 bis 2001 leitete sie den Westfälischen Kunstverein, Münster. Seit 2009 ist Gaensheimer Direktorin des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. 2011 war sie Kuratorin des Deutschen Pavillons der 54. Biennale Venedig, bei der sie für die Präsentation von Werken von Christoph Schlingensief mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. 2012 wurde sie für die 55. 16 Biennale Venedig 2013 zum zweiten Mal zur Kuratorin des Deutschen Pavillons ernannt. (Jury Kunst) • Heiner Goebbels, geb. 1952, studierte Soziologie und Musik und komponiert Musiktheaterstücke, szenische Konzerte, Hörstücke und Kompositionen für Ensemble und großes Orchester. Er arbeitet mit den wichtigsten Ensembles und Orchestern (Ensemble Modern, London Sinfonietta, Orchestra in the Age of Enlightenment, Berliner Philharmoniker) und Dirigenten zusammen (Lothar Zagrosek, Sir Simon Rattle, Peter Rundel, Peter Eötvös u. v. a.). Seine Musiktheaterstücke werden weltweit gefeiert. Er ist Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen und Präsident der Hessischen Theaterakademie. 2012 erhielt er den Theaterpreis International Ibsen Award. 2012 bis 2014 leitet er die Ruhrtriennale. (Jury Musik) • Nikolaus Hirsch ist Direktor der Stä- delschule und des Portikus in Frankfurt. Sein architektonisches Werk umfasst die preisgekrönte Synagoge in Dresden, European Kunsthalle, unitednationsplaza, Cybermohalla Hub in Delhi. Hirsch kuratierte u. a. ErsatzStadt an der Volksbühne in Berlin, Cultural Agencies in Istanbul und wurde zum Direktor des Folly-Projekts 2013 für die Gwangju Biennale ernannt. (Jury Kunst, Jury Carte Blanche) 17 • Ulrich Khuon, geb. 1951, studierte Jura, Germanistik und Theologie, arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und ab 1980 als Chefdramaturg und ab 1988 als Intendant am Stadttheater Konstanz. 1993 wechselte er an das Niedersächsische Staatsschauspiel Hannover und wurde 1997 zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. Mit Beginn der Spielzeit 2000 / 2001 wechselte er als Intendant an das Thalia Theater Hamburg. Während seiner Intendanz wurde das Thalia Theater zweimal Theater des Jahres. Seit September 2009 ist Ulrich Khuon Intendant des Deutschen Theaters Berlin. (Jury Theater) • Burghard C. Kosminski, geb. 1961, studierte Regie und Schauspiel in New York. Er war leitender Regisseur und Mitglied der künstlerischen Leitung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit 2006 ist er Schauspieldirektor und künstlerischer Leiter der Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim. Für die Uraufführung von Das Fest von Thomas Vinterberg erhielt er 2001 den Preis für die Beste Regie beim NRW-Theatertreffen. 2014 übernimmt er gemeinsam mit Matthias Lilienthal die Festivalintendanz von Theater der Welt. (Jury Theater) • Manfred Ortmann, geb. 1950, studierte Philosophie, Soziologie und G ­ ermanistik in Frankfurt Main. Er war als Schauspieldramaturg an verschiedenen Theatern in 18 Deutschland tätig. Seit 1981 ist er Lektor im Suhrkamp Verlag, Theater & Medien. Er hat hier u.a. maßgeblich den Bereich Hörspiel aufgebaut und setzt sich für die Pflege dieses Genres im Rundfunk ein. (Jury Theater) • Tobias Rehberger, geb. 1966 in Esslin- gen, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main, wo er von 1987 bis 1992 an der Städelschule studierte. Seit 2001 ist er Professor für Bildhauerei an derselben Hochschule. Seit seiner ersten Einzelausstellung im Jahr 1992 hatte er zahlreiche Galerieund Museumsausstellungen in der ganzen Welt. 2009 erhielt er den Goldenen Löwen auf der Kunstbiennale von Venedig. (Jury Kunst) • Thomas Rietschel, geb. 1955, hat seine wissenschaftliche Ausbildung nach dem Studium der Kunstgeschichte, Germanis­ tik und empirischen Kulturwissenschaften in Tübingen und Wien mit dem praktischen Musikstudium der Violine ergänzt. Darüber hinaus hat er vielfältige Erfahrungen im Kulturmanagement gesammelt, u. a. als Geschäftsführer des Kammerorchesters Schloss Werneck (Bayerisches Kammerorchester), als Generalsekretär der JeunessesMusicales Deutschland sowie als Generalsekretär des Deutschen Musikrates. Seit Mai 2004 leitet Thomas 19 Rietschel als Präsident die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. (Jury Carte Blanche) • Sibylle Baschung, geb. 1972 in Gren- chen (Schweiz), studierte Germanistik und Geschichte in Basel. Sie war Dramaturgin am Theater Neumarkt in Zürich und kam 2001 ans Schauspiel Frankfurt. Sie arbeitete mit Michael Thalheimer, René Pollesch, Armin Petras, Antù Romero Nunes, Christopher Rüping, Christoph Mehler, Florian Fiedler, Jan Neumann, Matthias von Hartz u. v. a. Von 2010 bis 2012 leitete sie das Schauspiel STUDIO. Seit 2012 ist sie Chefdramaturgin. Zudem lehrt sie Aufführungsanalyse an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. (Jury Theater) • Marion Victor, geb. 1949 in Reutling­en, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Malerei an der Universität Stuttgart und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. 1975 bis 1981 war sie Dramaturgin in Ulm, Freiburg und Zürich. 1986 wurde sie mit einer Dissertation über Jean Genet promoviert. 1985 wurde sie Lektorin beim Verlag der Autoren, dessen Geschäftsführerin sie von 1989 bis 2010 war. (Jury Theater) 20 Der Programmbeirat à jour – Vortragsreihe zu den Frankfurter Positionen 2013 • Sidonia Blättler ist Wissenschaftli- che Referentin des Instituts für Sozialforschung (IfS) und Mitherausgeberin von WestEnd. Neue Zeitschrift für So­ zialforschung. Ihre Forschungsgebiete: ­Politische Philosophie, Politische Ideengeschichte und Gender Studies. Aus den Veröffentlichungen: Judith Shklar. Aufklärung ohne Glücksver­ sprech­en. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 7. 2 (2010), S. 142–154. • Axel Honneth ist Professor für Sozial- philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, Professor of the Humanities an der Columbia University in New York und Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS). Aus den Veröffentlichungen: 21 Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 [1992]; Pathologien der Vernunft. Geschichte und Ge­ genwart der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007; Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2011. • Sighard Neckel ist Professor für So- ziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Ungleichheit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im Kollegium des Instituts für Sozialforschung (IfS). Zentrale Forschungsfelder: Symbolische Ordnungen sozialer Ungleichheit, Soziologie des Ökonomischen, Kultursoziologie der Marktgesellschaft, Emotionssoziologie. Aus den Veröffentlichungen: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt (mit Ch. Magnin und C. Honegger). Berlin: Suhrkamp 2010; Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt und New York: Campus 2010. • Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, assoziiertes Mitglied des Instituts für Sozialforschung (IfS) und Mitherausgeberin von WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Ethik, politische Philosophie. Aus den Veröffentlichungen: 22 Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003; Kreation und Depression. Freiheit im gegenwär­ tigen Kapitalismus (hg. mit Ch. Menke). Berlin: Kadmos 2010; Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demo­ kratischer Existenz. Berlin: Suhrkamp 2012. 23 24 25 An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne Von Wilhelm Burmester In modernen Zeiten sind Grenzen offenbar dazu da, um überwunden zu werden. Gegenüber früheren langen Jahrhunderten der relativen Stagnation entwickelt sich seit rund 200 Jahren die Real- und Ideengeschichte westlicher Zivilisation in einem Treibhausklima beschleunigter Dynamik – dies voller Brüche, katastrophaler Irrtümer und Rückfälle, aber auch erheblicher institutioneller wie lebensweltlicher Fortschritte, also in der Bewertung der Folgen höchst ambivalent und mit ungewissem Ausgang. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnend, diese Ambivalenzen bei einigen aktuellen Ausprägungen spezifisch moderner Grenzverschiebungen näher zu beleuchten. Hat uns der beschleunigte Wandel womöglich an eine Systemgrenze geführt, die die Moderne selbst infrage stellt? Grenzöffnungen in Ökonomie... Einer der wirksamsten Stachel der Grenzüberwindung ist die moderne Ökonomie: Die zweckrationale Steuerung der Produktion nach rentabilitätsorientierten 26 Zielgrößen wirkt (auch ohne dies explizit anzustreben) als unbremsbare Auflösung aller traditionellen Wege des Wirtschaftens, aller Sitten und Gebräuche, die dem ökonomischen Kalkül zuwiderlaufen. Dies hat lange Zeit wohlstandssteigernd und befreiend gewirkt; was aber, wenn die Gebiete bornierter Lebensführung längst erobert sind und das nackte, von moralischen Erwägungen immer weniger getrübte Rentabilitätskalkül nur noch um sich selber kreist und hierbei mehr und mehr Lebensbereiche erfasst? ... und Gesellschaft Nicht unabhängig von der ökonomischen Entwicklung ist die Sozialgeschichte der Moderne durch vielfältige emanzipatorische Fortschritte benachteiligter Bevölkerungsgruppen geprägt. Alte Grenzen der Diskriminierung sind (formal) gefallen: grundlegende Arbeitnehmer- und Frauenrechte sowie die Aufhebung rechtlicher Benachteiligung kultureller oder sexueller Minderheiten eröffnen erweiterte Freiheitsspielräume. Was ist aber, wenn die faktischen Chancen anhaltend oder gar zunehmend ungleich verteilt sind und neue Funktio­ nalisierungen die Räume erzielter Freiheiten und individualisierter Lebensführung für eine umfassende ökonomische Inanspruchnahme nutzen? Entgrenzte Staatenwelt? Die Phase des hypertrophen Nationalstaats in der Moderne ist (zumindest in Westeuropa) in einem schmerzhaften Prozess durch postheroische Staatsgebilde mit 27 (zumeist) offenen Grenzen abgelöst worden. EU-Staaten haben sich zudem vorgenommen, staatliche Souveränität partiell auf supra-staatliche Agenturen zu übertragen. Umso rigider ist jedoch das Grenzregime an den Außengrenzen. Zudem ist nationalstaatliches Kollektivbewusstsein – insbesondere dessen Grauzone immer neuer Ressentiments bis hin zu aggressiven Varianten der Ausländerfeindlichkeit – nicht wirklich zivil transformiert. Inwieweit tragen derzeit staatliche Interessenkonflikte und neue Konkurrenzkämpfe zur Trennung zwischen denen und uns bei und manifestieren so einen fortgesetzten Prozess von Inklusion und Exklusion? Diesseits ohne Jenseits Ideengeschichtlich erscheint es sinnvoll, in Erinnerung zu rufen, dass zur Geburtsgeschichte der europäischen Moderne die Säkularisierung gehört: Die Vorstellung eines Diesseits ohne ein Jenseits war die erste – und vielleicht wichtigste – Grenzauflösung. In ihrer Folge kam es zu vollkommen erneuerten Entwürfen etwa über die Stellung des Subjekts, über Vernunftpotentiale und das menschliche Erkenntnisvermögen. Die wahre Welt als metaphysische Gegen- / Hinterwelt scheint ebenso schwer begründbar zu sein wie der göttliche Himmel. Der damit verbundene Freiheitsgewinn für das sich selbst entwerfende Individuum und für gemeinsame Handlungsspielräume ist allerdings mit erheblichen Gewiss­ heits- und Orientierungs-Verlusten verbunden. Können moderne Menschen die erzielten Freiheiten faktisch in einer selbstbestimmten Lebensführung umsetzen oder 28 unterliegen sie neuen (medialen) Abhängigkeiten? Ist die säkulare Moderne normativ ermüdet? Künste zwischen Vereinnahmung und Differenz Und schließlich die Künste: Ihre elementare Rolle im permanenten Prozess moderner Grenzaufhebung ist kaum zu überschätzen. Sie lieferten und liefern nicht nur die Folie dauernder Infragestellung, Durchbrechung des Horizonts des Erwartbaren und Aufhebung von zuvor als elementar gehaltenen Regeln. Sie zeigen eben auch die Kraft neuer Synthese, einer Formfindung, bei der – im geglückten Fall – Disparates unerwartet zusammenpasst. Gerade weil sie nicht am Begriff arbeiten, liefern die Künste damit dem rationalen intersubjektiven Diskurs wichtige Grundierungen. Dieser spielerische Prozess ist freilich fragil. So ist die mögliche Subversivität von Kunstwerken nur solange wirksam, wie sie nicht von Medien und anderen Kräften der Kulturindus­ trie vereinnahmt werden. Will und kann die Kunst auch zukünftig ihre Differenz behaupten? Zu all diesen Fragen sind Antworten nicht leicht zu finden. Die Frankfurter Positionen 2013 könnten – zum sechsten Mal – die Gelegenheit bieten, in zahlreichen Uraufführungen und Vorträgen den nach wie vor vorhandenen Möglichkeiten, aber auch den Grenzen der Moderne auf den Grund zu kommen. Wilhelm Burmester ist Mitglied des Vorstands der BHF-BANK-Stiftung 29 Moderne – Die konstitutive Idee der individuellen Freiheit Von Axel Honneth Unter all den ethischen Werten, die in der modernen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt sind und seither um Vormachtstellung konkurrieren, war nur ein einziger dazu angetan, deren institutionelle Ordnung auch tatsächlich nachhaltig zu prägen: die Freiheit im Sinne der Autonomie des Einzelnen. Alle anderen Vorstellungen des Guten, angefangen mit dem Deismus der natürlichen Ordnung bis hin zum romantischen Expressivismus, haben zwar seit mehr als zweihundert Jahren die Erfahrungen des Selbst und seiner Beziehungen um stets neue Akzente bereichert; aber wo sie sozial wirkmächtig werden sollten, wo sie den engen Kreis von ästhetischen oder philosophischen Avantgarden verlassen und den Imaginationsraum der Lebenswelt beflügeln konnten, gerieten sie schnell in das Fahrwasser des Autonomiegedankens, dem sie am Ende nur weitere Tiefenschichten verliehen. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist es beinahe unmöglich, einen dieser Werte 30 der Moderne zu artikulieren, ohne ihn nicht sogleich als Facette der konstitutiven Idee der individuellen Autonomie zu verstehen; ob es sich um die Beschwörung der natürlichen Ordnung handelt oder um die Idealisierung der inneren Stimme, um den Wert der Gemeinschaft oder den Lobpreis der Authentizität, stets wird es nur noch um zusätzliche Bedeutungskomponenten dessen gehen, was es heißt, von der individuellen Selbstbestimmung zu sprechen. Wie durch magische Anziehung sind alle ethischen Ideale der Moderne in den Bannkreis der einen Vorstellung der Freiheit geraten, vertiefen sie bisweilen, verleihen ihr neue Akzente, aber setzen ihr nicht mehr eine selbstständige Alternative entgegen. Allerdings ist dieser eine Wert der individuellen Freiheit in seiner Bedeutung von Anfang an auch umstritten gewesen; es bildeten sich im Prozess der frühen Moderne verschiedene Vorstellungen von dem heraus, was es heißen soll, als Individuum wie alle anderen frei zu sein. So trat neben die Idee, dass der Einzelne in dem Maße frei ist, wie ihm bei der Realisierung seiner individuellen Lebensziele keine Hindernisse im Weg stehen, schon bald die von Rousseau und Kant geprägte Auffassung, individuelle Freiheit bestehe zunächst und vor allem in der Selbstbestimmung, das heißt in der Orientierung an Gründen und Prinzipien, die man selbst für richtig hält. Diesen beiden machtvollen Freiheitsideen trat schließlich noch der von Hegel und der Romantik beeinflusste Gedanke zur Seite, dass wir nur dort wirklich frei sind, wo wir in Interaktionen Ergänzungen 31 32 durch andere finden. Alle drei Vorstellungen individueller Freiheit – die der bloß negativen Freiheit, die der Selbstbestimmung und die der intersubjektiven oder sozialen Freiheit – sind nun freilich nicht bloß reine Gedankengebilde geblieben, sondern haben sich in spezifischen Institutionen der modernen Gesellschaft niedergeschlagen; so ist die Idee der negativen Freiheit im egalitären Grundprinzip des modernen Rechts verkörpert worden, die Idee der Selbstbe­stimmung in der ­kulturellen Sphäre der Moral und die Idee der intersubjektiven Freiheit in den Handlungssphären der persönlichen Beziehungen und der demokratischen Öffentlichkeit. Der Prozess der Moderne aber besteht ganz fraglos in der Dynamik ununterbrochener Konflikte und Auseinandersetzungen darüber, wo und wie zwischen diesen verschiedenen Sphären der Freiheit angemessen die Grenzen zu ziehen sind. Axel Honneth ist Direktor des Instituts für Sozialforschung, Professor für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main und Columbia University, New York. 33 Fünf Thesen zur Vielfalt der Moderne Von Kenichi Mishima 1. Vertreterinnen und Vertreter der multiple modernities messen den historischen Voraussetzungen große Bedeutung bei. Durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass für die Herausbildung einzelner Modernisierungsergebnisse die jeweiligen historischen Bedingungen entscheidend sind. Eine eigenartige Dialektik, ein schwer zu analysierendes Zusammenspiel von westlicher Modernisierung und endogenen, doch keineswegs mono­lithischen lokalen Traditionen hat ganz unterschiedliche Landschaften der Moderne hervorgebracht– eine Vielfalt von Lebensstilen, politischer Kultur, institutionellen Regelungen und Formen staatlichen Handelns. […] 2. Die Rede von multiple modernities impliziert eine sys­ tematische These: Ein und dasselbe normative Prinzip realisiert sich in unterschiedlichen Formen, die diesem Prinzip nicht zuwiderlaufen. Institutionelle Umsetz­ ungen eines Prinzips können an der Spree oder Seine oder Themse sehr verschieden verlaufen, ohne dieses Prinzip zu verraten und in einen Relativismus zu 34 führen. Zum Beispiel: Schon innerhalb des europäischamerikanischen Raumes zeigt das abstrakte Prinzip der Trennung von Politik und Religion ein breites Spektrum an Variationen. […] Die Einführung eines Religionsunterrichts für muslimische Kinder wäre ohne die landeskirchliche Vergangenheit in Deutschland nicht denkbar. In Frankreich würden in den einschlägigen Ministerien schon beim Gedanken an ein solches Konzept die Köpfe rollen. […] 3. Die Pluralität der Moderne, die man selbst in West­ europa findet, liegt nicht allein an den vielfältigen Realisierungsmöglichkeiten normativer Prinzipien, sondern ebenso an der internen Logik der Moderne selbst. Denn die Moderne zeichnet sich durch innere Widersprüche, Spannungen und Spaltungen aus. […] Wie Shmuel N. Eisenstadt, der das Konzept der multiple modernities in die Diskussion eingeführt hat, in seinen Studien zeigte, ist jede moderne Gesellschaft, ob im Westen oder Osten, im Norden oder Süden, zutiefst geprägt von Kämpfen um Anerkennung, Güterverteilung und Partizipationschancen, von Emotionen und Affekten, die unkontrolliert explodieren können. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen Konfessionen und zwischen Klassen, zwischen vorwärtstreibenden und bewahrenden Kräften, zwischen Staat und Zivilgesellschaft etc. […] Im Zuge der Expansion der westlichen Moderne in Form von Imperialismus und Kolonialismus übertrugen sich all diese Widersprüche in komplexer Weise 35 auf andere Teile der Welt, wobei neue Konfliktlinien entstanden zwischen weltgeschichtlichen Zentren und kolonialisierter Peripherie. […] 4. Das Konzept der multiple modernities führt die Einsicht mit sich, dass das normative Potential der Moderne nirgendwo erschöpfend realisiert worden ist und wohl auch nie realisiert sein wird. […] Abhängig von Ort und Zeit wurde der Katalog der Werte und Normen immer wieder umgeschrieben, nur in Teilen beachtet und höchst ungenügend verwirklicht. […] Zwischen Hegels Staatsvorstellung und der Staatsauffassung der Gründerväter der USA liegt nicht nur ein atlantischer Ozean, zwischen den beiden Polen liegen Welten. Beide aber sind Fokussierungen auf jeweils bestimmte Aspekte der Moderne. Die Geschichte der Modernisierung Japans ist ein repräsentatives Beispiel dafür, wie Eliten nichtwestlicher Länder das Spektrum der Moderne oft einseitig aufgenommen und dadurch soziale Spannungen, die bereits in Europa existierten, potenziert haben. […] Multiple modernities sind selective modernities. 5. Was die Landschaften der Moderne noch unübersichtlicher macht, ist der Umstand, dass die verschiedenen Pfade der Modernisierung ineinander verwoben und miteinander verschlungen sind. Shalini Randeria hat dafür die einschlägige Formel der entangled modernities geprägt. So haben Deutschland und Frankreich, 36 die sich im späten 19. Jahrhundert bis zu den Zähnen bewaffnet gegenüberstanden, ihre Konzepte der Arbeiterversicherung, Krankenkasse und Rentensysteme gegenseitig nachgeahmt. […] Auch Kolonialherren haben voneinander gelernt. So hat die japanische Kolonialregierung in Seoul Wissenschaftler nach Preußisch-Polen geschickt, um die preußische Sprachpolitik im polnischen Teil von Preußen zu studieren. […] Die Moderne gibt es nur im Plural, als multiple, selec­ tive und entangled modernities. (Auszug aus: Eine Moderne – viele Modernen. Zwischen normativem Leitbild, Verbrechen und Widerstand. Vortrag im Rahmen von à jour – Frankfurter Positionen am 29. August 2012. Der vollständige Beitrag erscheint in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung.) Kenichi Mishima lehrt Sozialphilosophie und zeitgenössische Philosophie an der Wirtschaftsuniversität in Tokio. 37 38 39 Ästhetische Modernologie Von Juliane Rebentisch Absolut modern zu sein ist heute offenbar nicht mehr zeitgemäß. Das zeigt sich nicht zuletzt im Blick auf die Kunst. Wie soll man aber die Absetzung der Gegenwartskunst von der modernen Kunst verstehen? Die Kulturkritik mutmaßt, dass sich der Begriff der Gegenwartskunst in dem Maße gegen den der modernen Kunst durchgesetzt hat, wie sich die moderne Perspektive auf Fortschritt und Entwicklung, ja überhaupt auf historische Veränderung verloren hat – und zwar zugunsten einer Scheindynamik, die der Fortsetzung und Bestätigung des Immergleichen dient. Die Gegenwart der Gegenwartskunst ist dieser düsteren Diagnose zufolge nichts als der Albtraum eines ewigen Jetzt, eine flache Gegenwart ohne historische Tiefe, die sich aufs Beste mit einer umfassenden Durchökonomisierung der Lebenswelt verträgt, als deren Konsequenz es nur noch Neues zu konsumieren, nicht aber zu leben gibt. In dieser Lesart scheint die Kunst in einer Zeit nach dem Ende der Geschichte angekommen zu sein: An die Stelle einer über den Stil vermittelten Vergegenwärtigung der historischen Zeit sei eine eklektische Nivellierung historischer Differenzen getreten und an die Stelle sichtbarer Brüche eine falsche Totalität. 40 Tatsächlich scheinen sich die Werke der Gegenwartskunst nicht nur dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich – als intermediale – nicht mehr eindeutig vor dem Hintergrund einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen lassen; sie sind – als offene – noch nicht einmal mehr als ein objektiv Bestimmtes gegeben, weil sie die Grenze zur nicht-ästhetischen Lebenswelt dezidiert unbestimmt lassen. Heißt dies aber, dass sich im Blick auf den Stand der Gegenwartskunst gar keine historische Entwicklung mehr entziffern lässt? Was, wenn in dem Abschied von einsinnigen Fortschrittslogiken selbst ein Fortschritt läge? Dass sich die Kunst (spätestens) seit den sechziger Jahren nicht mehr in die Entwicklungsgeschichten der traditionellen Kunstgattungen einordnen lässt, ja, dass die entgrenzten Werke überhaupt nicht mehr als ein objektiv Be­ stimmtes gegeben sind, sondern aufgrund ihrer offenen Form vielmehr nachdrücklich auf ihr Konstituiertwerden in einander widerstreitenden Interpretationen verweisen, wäre dann nicht Symptom einer generellen Geschichtsvergessenheit, sondern Ausdruck eines komplexeren Verständnisses der Geschichtlichkeit von Kunst. So zeigt schon ein oberflächlicher Blick auf die Rezeptionsgeschichten beliebiger Werke, dass deren geschichtliches Leben nicht in der Rolle aufgeht, die ihnen von einer Fortschrittsgeschichte zugewiesen werden mag. Historisch wandelbare Erfahrungen erschließen 41 42 die Werke auch in ihrem Innovationspotential immer wieder neu, und umgekehrt lässt das Ausbleiben solcher Erschließungen die Werke in Bedeutungslosigkeit versinken. Das hat auch Konsequenzen für die Kanon-Diskussion. Statt der vermeintlich transhistorischen Gültigkeit großer Werke rückt nun der Umstand in den Blick, dass sich solche Größe selbst historisch bildet: in der und durch die Geschichte ihrer Neu- und Wiedererschließungen in jeweils zeitgenössischen Kontexten. Das bedeutet auch, dass der Kanon prinzipiell in jedem Moment zur Disposition steht. Die vielen Wiederentdeckungen von vergessenen Künstlern und Künstlerinnen oder Kunstwerken der klassischen Moderne durch Protagonisten der zeitgenössischen Kunst sind ebenso in diesem Zusammenhang zu sehen wie die kritische Reflexion des universalistischen Anspruches der westlichen Moderne im Zeichen alternativer Modernen. Solche Auseinandersetzungen zielen aber nicht nur auf inhaltliche Korrekturen im Verständnis der Moderne, sondern setzen zugleich auch das Projekt der modernen Historiografie kritisch fort. Obwohl die Moderne im Rahmen modernistischer Theoriebildung zuweilen erscheint, als gäbe es für sie nur eine einzige zeitliche Richtung – die nach vorne –, ist sie faktisch doch mindestens ebenso durch bahnbrechende Neuaneignungen der Tradition geprägt. Das Recht, das die Moderne dem Neuen gegenüber der Tradition eingeräumt hat, wäre unzureichend verstanden, ignorierte man die Erneuerung 43 des Traditionsverständnisses, die mit ihm einhergeht. Das Zusammenspiel von Geschichtsbewusstsein und Zukunftsorientierung bestimmt auch noch die zeitgenössischen Neuerschließungen der Moderne selbst. Der kritische Blick auf die Geschichte der Moderne soll ein anderes, ein besseres Verständnis unserer Gegenwart ermöglichen, um sie dadurch für die Zukunft zu öffnen. Die Gegenwart der Gegenwartskunst erscheint dann als die Gegenwart einer sich selbst transformierenden, einer deshalb als wesentlich unvollendet zu denkenden Moderne. Ihr Projekt ist das einer kritischen Modernologie. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach. 44 45 Konzert 18.01., 19.01.13 20 Uhr Ensemble Modern remixed! Erik Bünger, Vito Žuraj, Marcus Antonius Wesselmann PUNKT Jan Bang / Erik Honoré / Sidsel Endresen Frankfurt LAB 46 Konzert Ensemble Modern remixed! Frankfurt LAB 18.01., 19.01.13 20 Uhr Erik Bünger: The Empire Never Ended Vito Žuraj: Restrung Marcus Antonius Wesselmann: To You Beloved Comrade… Uraufführungen Pause PUNKT (Jan Bang / Erik ­H onoré / Sidsel Endresen): LIVE-REMIX der drei Uraufführungen Ensemble Modern remixed! kombiniert die traditionelle Konzertaufführung mit der Idee des Live-Remixes. Das Konzert-Ereignis wird durch Remix und offene Improvisation zum Prozessualen hin geöffnet. Drei Uraufführungen von Erik Bünger, Marcus Antonius Wesselmann und Vito Žuraj mit dem Ensemble Modern unter Leitung von Yordan Kamdzhalov liefern das Ausgangsmaterial für einen kreativen Prozess, der in Echtzeit stattfindet: Die Werke werden aufgezeichnet, bearbeitet und anschließend in einem Live-Remix von Jan Bang und Erik Honoré, den Begründern des norwegischen RemixFestivals PUNKT, und der Sängerin Sidsel Endresen gespiegelt, weiterentwickelt. Das Material wird geteilt, gestaucht, gedehnt, geschichtet, verzerrt und seziert, das gerade Gehörte gleichzeitig re- und dekonstruiert. Erik Bünger Erik Bünger, der schwedische Maler, Komponist und Autor, lebt in Berlin. Seine Arbeiten entwickeln sich rund um die menschliche Stimme, untersuchen, wie eine nähere Erforschung der Stimme unser gewohntes Verständnis von Kategorien wie Identität, Freiheit, Zeit, Raum und Tod erschüttern kann. In seinen Performances, Videos, Installationen und Kompositionen untersucht er das Singen und Sprechen von Menschen. Aber nicht insofern diese Träger semantischer Bedeutungen sind, sondern indem er sich auf das konzentriert, was die signifizierende Operation, das Bezeichnen übrig lässt. Es geht ihm um die Situationen, in denen die Sprache den ihr zugeschriebenen Raum verlässt und ein eigenes Leben führt. The Empire Never Ended, Erik Büngers Beitrag zu den Frankfurter Positionen 2013, ist eine Transkription, die von Anfang bis Ende erfasst, was ein Mann, der in Zungen sprach, von sich gegeben hat. In Zungen reden, auch Glossolalie genannt, bedeutet, dass erkennbar gesprochen wird, also nicht ­gesungen oder geschrien, sondern dass ein strukturierter Redefluss klanglich absichtsvoll gestaltet wird – aber in keiner bekannten Sprache. In Zungen reden meint auch ­Außersichsein und Ekstase. Es ist eine mys­ tisch umwölkte kulturelle Praxis, die in Absichtslosigkeit geschieht. Das Material dazu liefert eine Tonaufzeichnung aus dem Jahr 1948.* Man kann davon ausgehen, dass sich dieser Mann in Trance befand, jedenfalls gehört das, was er vokalisiert, zu keiner bekannten menschlichen Sprache. Wir wissen nichts über die Muttersprache des Sprechenden, auch nicht, welchem Glauben er anhing. Das Stück bewegt sich in jenem Grenzgebiet, in dem totale Kontrolle und totaler Kontrollverlust zusammenfallen. Um dies Stück aufzuführen, brauchen die Musiker all ihr Können und alle Konzentration. Gleichzeitig aber müssen sie diese * Das Original dieser Stimmenaufzeichnung findet sich auf der CD Okkulte Stimmen, Mediale Musik – Recordings of unseen Intelligences (Supposé Berlin). 47 Fähigkeiten einer Macht übergeben, die sich jeder menschlichen Kontrolle entzieht. Einer Macht, über die wir nichts wissen. Vito Žuraj „Als Kind versuchte ich, nach Gehör die Musik am Klavier nachzuspielen, die ich im Radio hörte. Dies war meine erste Begegnung mit Musik. Als nächstes Instrument empfahl mir mein Vater, Violoncello zu ­lernen. Meine Spielfreude an diesem Instrument war begrenzt und dementsprechend wacklig war meine Intonation, woher ich vielleicht meinen Enthusiasmus für mikrotonale Musikstrukturen nahm. Nach dem Kompositionsstudium an der Musikakademie Ljubljana und einem Aufbaustudium an der Hochschule für Musik Dresden absolvierte ich schließlich an der Hochschule für Musik Karlsruhe das Solistenexamen Komposition bei Prof. Rihm und einen Master of Arts in Musikinformatik. Dann ein Studium an der Internationalen Ensemble Modern Akademie und die Teilnahme an der Akade­ mie Musiktheater heute der Deutschen Bank Stiftung. Ich brauchte jetzt noch 268 Zeichen, um alle meinen Preise und Stipendien zu nennen, weitere 203 für die Angabe der wichtigsten Festivaluraufführungen, 251 für die Namen der wichtigsten Klangkörper, die meine Musik gespielt haben und 153 für die Details über meine Teilnahmen an den Meisterkursen. Aber wertes Publikum, wie anders würden Sie meine Musik hören und bewerten, je nachdem, ob hier ein glänzender Biografietext steht oder ich einfach schreibe, dass ich aus Rače komme, einem kleinen ostslowenischen Dorf, mein Vater Imker ist, ich gern Tennis spiele? Für ­diejenigen, die lieber nervenzerreißende Texte lesen, beschreibe ich noch kurz, wie heutzutage meine Musik entsteht: Mich beschäftigt die Ausarbeitung von vielschichtigen ­Klanggebilden, die aufgrund meines Strebens nach übersichtlicher Organisation 48 von Musikstrukturen genauen mathematischen Definitionen unterliegen. Da diese in ihrer Vielfalt und Menge auf manuelle Weise nur bedingt zu kontrollieren sind, ist der Einsatz von Computeralgorithmen als eine in erster Linie nicht großformal ­agierende Assistenz, jedoch individuell die Grammatik der Musiksprache definierend, in ihrer rechnerischen Zuverlässigkeit für die Prüfung von vertrackten Zahlenvorgängen besser geeignet. Bon appétit!“ „Die Komposition Restrung für Ensemble, die bei den Frankfurter Positionen 2013 ­uraufgeführt wird, stellt sich dem Problem der übersichtlichen Strukturierung solcher Klanggebilde mittels Computer. Dabei ­entsteht keine große Form. Algorithmen definieren die Details der Musiksprache und halten in vielfachen Prozessen der Überlagerung eine Ordnung aufrecht, die unbeirrbar ist. Der künstlerische Inhalt entsteht so vielleicht nicht durch Individualität, sondern erst im Resümee vielfacher Individualitäten – in einem Effekt, der auch in der sogenannten Schwarmintelligenz wirksam wird, die das Unberechenbare aus der Kombination klarer Strukturen und Handlungsweisen entstehen lässt.“ (Hans-Jürgen Linke) Marcus Antonius Wesselmann Der Song Beloved Comrade aus dem Jahr 1936 von Lewis Allan (Text) und Fred Katz (Musik) ist all jenen gewidmet, die ihr Leben im Spanischen Bürgerkrieg im Kampf gegen den Faschismus verloren haben. Beloved Comrade To you beloved comrade, we make this solemn vow The fight will go on, the fight will still go on. Like you, beloved comrade, we pledge our bodies now The fight will go on, the fight will still go on. Rest here in the earth, your work is done, You’ll find new birth when we have won, when we have won. Sleep well, beloved comrade, the fight will just begin. The fight will go on ‘til we win, until we win. Rest here in the earth, your work is done, You’ll find new birth when we have won, when we have won. Sleep well... Geboren 1965 in Gelsenkirchen, aufgewachsen in Bochum, studierte Marcus Antonius Wesselmann von 1985 bis 1992 Komposition an der Folkwang-Hochschule Essen. Bisherige Arbeiten umfassen Opern, Musiken zu Film, Theater und Tanz, Solowerke, Werke für kleine bis größere Ensembles sowie ­Orchester. 2007 gründete er minimal productions und produziert Ton- und Bildmedien m ­ it Neuer Musik. Seit 2003 arbeitet er mit dem Ensemble Modern (Franck Ollu) und Solisten wie Moritz Eggert, Uwe Dierksen, Garth Knox, Teodoro Anzellotti oder Michael M. Kasper. 2011 startete er www. modernmusix.com, eine Downloadplattform für Neue Musik. Das kompositorische Schaffen Wesselmanns zeichnet sich durch ein hohes Maß struktureller Vorordnungen und eine äußerst komplexe Organisation des musikalischen Materials aus. Grundlegend ist dabei vor allem die Idee, sowohl großformale P ­ rozesse als auch die kompositorische ­Integration einzelner musikalischer Para­ meter (wie Tonhöhen, Tondauern, Dynamik­) sowie die Gestaltung von harmonischen Konstellationen, Ereignisdichten, Instrumentierungen und zuweilen auchSpieltechniken über vorab definierte Zahlenformeln oder Binärcodes, die permutiert oder kombinatorisch weiterentwickelt werden, zu steuern. Hinsichtlich dieser konstruktivistischen Grundlegung und der damit einhergehenden Ablehnung einer sich dem Hörer unmittelbar aufdrängenden Emotionalität steht Wesselmanns Komponieren den Verfahrensweisen des Serialismus nahe, zugleich grenzt es sich in anderen Aspekten aber umso deutlicher von diesem ab. Am deutlichsten zeigt sich das in dem Umstand, dass Wesselmann seine formalen Prozesse über repetitive, ­jeweils geringfügig variierte Grundmodelle (er spricht von Pattern) verwirklicht, die im Höreindruck vexierbildähnliche, quasi objekthafte Zustände hervorrufen. Auch wenn dies an die Minimal Music bzw. die repetitive Musik denken lässt, intendiert Wesselmann im Unterschied zu dieser prinzipiell nicht-lineare Prozesse, die an ihren Kulminationspunkten in unvorhersehbare strukturelle Muster umschlagen. Diese Spannung zwischen strenger Konstruktion und Ordnung einerseits und der Suggestion chaotischdesorganisierter Strukturen andererseits ist eines der zentralen ästhetischen M ­ otive in Wesselmanns Schaffen. Die Komposition To You Beloved Comrade… ist ein Stück für 19 Instrumentalisten und bedient sich einer algorithmischen Kom­positionsweise. PUNKT „Den drei Uraufführungen im ersten Teil des Abends folgt ein Live-Remix von Jan Bang und Erik Honoré, den Begründern des Festivals PUNKT, das seit über einem Jahrzehnt in Kristiansand in Südnorwegen stattfindet und ein eigenwilliges Konzept verfolgt: Sein Programm besteht aus Grenzgängen zwischen Klanginstallationen und Konzerten sowie aus Musik, die man einem erweiterten Begriff des zeitgenössischen Jazz zurechnen kann. Zentral ist dabei die Idee des LiveRemixes: Während des Konzerts wird Material gesampelt: Melismen, rhythmische Figurationen, Klangereignisse, Stimmungen, Verläufe. Eine gute halbe Stunde nach dem Konzert findet ein Live-Remix statt, in d­ em 49 das gesampelte Material in Echtzeit elek­ tronisch de- und rekonstruiert, verräumlicht, gedehnt, ­komprimiert, analysiert, neu zu­­ sammengesetzt wird. In aller Regel ent­ stehen dabei völlig eigenständige Konzert­ ereignisse, die zwischen sich und ihren ­Ausgangspunkten eine maximale Entfernung herstellen. Der Live-Remix ist also weder Derivat noch eigenständiges Produkt, sondern beides. Oder keines von beiden. Ein Klangereignis, das sich und seinem Publikum seine Bezüge bewusst hält, während es sich aus ihnen löst. Den Live-Remix unternehmen die beiden improvisationserfahrenen und charismatischen Laptop-Live-Musiker Erik Honoré und Jan Bang gemeinsam mit der norwegischen Sängerin Sidsel Endresen, die ebenfalls zum kreativen Kern des PUNKT-Festivals gehört. Man wird das Ensemble Modern als Materialvorrat erleben und vielleicht schnell vergessen, dass es das Ensemble Modern war, das da gespielt hat und gespielt wird. Man wird einen Klangraum erleben, den es vorher nicht gab und der dennoch auf ­keinen doppelten Boden hinweist. Ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis auf der Basis konservierter Materialien.“ (Hans-Jürgen-Linke) 50 Konzert 22.01.13 20 Uhr Woher? Wohin? — Mythen, Nation, Identitäten I Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Alte Oper, Mozart Saal 51 52 Konzert Woher? Wohin? — Mythen, Nation, Identitäten I Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Alte Oper, Mozart Saal 22.01.13 20 Uhr Paweł Hendrich: Sedimetron — für Ensemble (2012) Nina Šenk: Twenty in five (2012) Judit Varga: Entitas (2012) Kristaps Pētersons: Money — für Ensemble mit Dirigent (2012) Ensemble Modern Frankfurter Erstaufführungen Anu Tali, Leitung Kultur und nationale Identität: zwei Themenfelder, die eng miteinander verbunden sind. Unumstritten ist die Sprache ein identitätsstiftendes Merkmal einer Nation, doch leistet auch die Kunst und insbesondere die Musik einen Beitrag zur Identitätsfindung einer Nation? Im Rahmen des Projekts Wo­ her? Wohin? – Mythen, Nation, Identitäten, das vom Goethe-Institut (Mittelosteuropa) initiiert wurde, spüren junge Komponisten aus Mittelosteuropa ihren kulturellen Wurzeln nach und befragen mit musikalischen Mitteln historische und aktuelle Mythen der jeweiligen Nationalstaaten. Das Ensemble Modern präsentiert die acht Gewinnerkompositionen des Projekts in zwei Konzerten mit jeweils vier Werken. Woher? Wohin? – Mythen, Nation, Identitäten ist ein Projekt des Goethe-Instituts (Mittelosteuropa) gemeinsam mit dem Ensemble Modern und der BHF–BANK–Stiftung. Paweł Hendrich Paweł Hendrich wurde 1979 in Breslau geboren. Neben seinem Abschluss an der Wirtschaftsuniversität Breslau studierte er außerdem Komposition an der dortigen KarolLipiński-Musikakademie bei Grażyna Pstrokońska-Nawratil. 2005 bis 2006 führten ihn seine Studien auch zu York Höller an die Kölner Musikhochschule. Hendrich erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, unter anderem war er 2007 bis 2010 Teilnehmer am Förderungsprogramm des Europäischen Musikzentrums Krzysztof Penderecki. Seine Kompositionen standen immer wieder bei Musikfesten auf dem Programm, etwa beim Warschauer Herbst und bei den Audio Art Festivals in Krakau und Warschau. Schon seit vielen Jahren führt er elektroakustische Musik live auf. Den Gedanken zu seinem Werk beschreibt er mit folgenden Worten: „Der Name des Stücks ist abgeleitet vom lateinischen Wort sedimentum (Sediment) und dem griechischen Wort metron (Maß). Der Titel bezieht sich auf Sedimentierungsprozesse, auf die Ablagerung von Partikeln, die von Flüssigkeiten mitgeschwemmt werden und irgendwann absinken. Die Sedimentologie erforscht Querschnitte von Sedimentgesteinen, um den Wandel der Gesteinsstrukturen zu erfassen. Auf diese Weise erhält man Hinweise zur Interpretation der Erdgeschichte. Ähnlich, wie sich Sedimente ablagern und zu Gestein verfestigen, so lagern sich Mythen und Legenden in der Gesellschaft ab, werden dann überlagert von neuen Schichten anderer Mythen und Legenden. Das Aufdecken unseres kulturellen Erbes gleicht der Untersuchung von Sedimentgestein – beide sind sie vielschichtig und reichen weit in die Geschichte zurück. Indem wir das Erbe aufdecken, schaffen wir unsere Identität. Das Stück Sedimetron wurde mit einer Überlagerungstechnik komponiert. Wie bei den Schichten eines 53 Sedimentgesteins verändert sich in diesem Stück allmählich die Organisation von Tonhöhe und Rhythmus, zugleich werden Intonation und Klangfarbe der Instrumente moduliert.“ tare, Auszüge aus bereits erschienenen Werken. Jedes des Bilder steht für einen anderen Blickpunkt: Der Anfang, Erster Eindruck, Fakten und Kritik, Pessimis­tisches zur aktuellen Situation und Zukunftsaussichten.“ Nina Šenk Judit Varga Die 1982 in Slowenien geborene Nina Šenk beendete 2005 ihr Kompositionsstudium an der Musikakademie von Ljubljana (bei Pavel Mihelčič). Von 2005 bis 2007 absolvierte sie ein Postgraduierten-Studium bei Lothar Voigtländer an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden sowie von 2007 bis 2008 bei Matthias Pintscher an der Hochschule für Musik und Theater in München. Ihr Violinkonzert Nr. 1 wurde beim Young Euro Classic Festival 2004 aufgeführt und mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Bei den Weimarer Frühlingstagen 2008 gewann ihr Stück Movimento fluido den Kammermusikwettbewerb. In den Saisons 2008 / 2009 und 2009 / 2010 war sie als Composer in Residence zu Gast am Staatstheater Cottbus. Für dieses Haus schrieb sie ihr zweites Violinkonzert sowie das Orchesterstück Echo II und Schnitt für Saxophon und Ensemble. Für das Neue Musik-Netzwerk European Instrumental Laboratory entstand das Stück ...glitzert, flim­ mert, vergeht... für Sopran und großes Ensemble; es wurde 2010 von den Ensembles Slowind, Aleph und Altera veritas in Slowenien, Frankreich und Lettland aufgeführt. Nina Šenk lebt als freischaffende Komponistin in Deutschland und Slowenien. ­Ihr Stück Twenty in five (Zwanzig in fünf) bezieht sich auf zwanzig Jahre slowenischer Unabhängigkeit (bis 2011, den Projektbeginn) in fünf Bildern: „Ich habe slowenische Schriftsteller und Dichter um ­Stellungnahmen zur aktuellen Situation in Slowenien gebeten, mit Blick auf Gesellschaft, Kultur, Politik… Und ich bekam 26 unterschiedliche Texte: Gedichte, Kommen- 54 Die Ungarin Judit Varga wurde 1979 in Györ geboren und studierte von 1998 bis 2004 Klavier und Komposition an der Franz Liszt Musikakademie in Budapest. 2004 ging sie nach Wien, um an der Universität für Musik und Darstellende Kunst neben Klavier und Komposition auch die Fächer Medienkomposition und Angewandte Musik zu belegen. Weiterhin besuchte sie Meisterkurse und Kompositionsseminare, u. a. regelmäßig das internationale Bartòk Seminar (György Kurtàg, Marco Stroppa), 2001 Achantes in Avignon (Peter Eötvös, PierreLaurent Aimard) und 2002 bis 2005 die VIP Academy in Wien. Sie schreibt: „Wir fragen uns oft: Wer sind wir? Hat jedes Individuum bereits bei der Geburt gewisse festgesetzte, ureigene Charakterzüge? Wer sich mit Menschen, Tieren, Gegenständen, also mit der Natur, seiner Umwelt konfrontiert und auseinandersetzt, gibt bis zu einem gewissen Grad seine ureigensten Grundzüge Stück für Stück auf bzw. ergänzt diese mit neu erlernten Eigenschaften. Im Zuge dieses Prozesses wird der Charakter bunter, vielseitiger. Daher würde ich diesen Vorgang keinesfalls als Verlust, viel eher als Gewinn betrachten. In meinem Stück Entinas möchte ich solche und ähnliche Prozesse in einem musikalischen Umfeld darstellen. Wir können sehr viel dafür tun, um uns an für uns wichtige Dinge anzugleichen. Trotzdem, nachdem wir alles getan haben, um unsere Grundzüge zu ändern, bleibt jedoch immer ein gewisser Grundkern, eine Handvoll ganz individueller Eigenschaften übrig. Eigenschaften, die uns vom Anderen unterscheiden. Vielleicht sieht man in diesem Moment am ehesten, was eigentlich unseren Grundcharakter ausmacht: die Differenz.“ Kristaps Pētersons Der 1982 in Valmiera (Lettland) geborene Kristaps Pētersons studierte bis 2005 an der Lettischen Musikakademie in Riga Kontrabass (bei Sergejs Brīnums) und Komposition (bei Romualds Kalsons). Seit 2005 ist er Mitglied des Lettischen Symphonieorches­ ters. 2007 wurde ihm der Masters Degree in Komposition verliehen. Weitere Master-Titel erwarb er an den Musikakademien in Oslo und Enschede. Für seine Komposition Glenfiddich erhielt er 2008 die Auszeichnung Forest orderly des Musikmagazins Mūzikas Saule. Bei dem renommierten Wettbewerb International Rostrum for Composers gewann er 2010 in der Kategorie der UnterDreißigjährigen mit dem Stück Twilight Chants. Über Money (Geld) – für Ensemble mit Dirigent (2012) sagt er: „In den letzten Jahren habe ich mich mit Mythen beschäftigt. Dabei galt mein Interesse nicht nur solchen Mythen, die tief in alten Zeiten wurzeln, sondern auch solchen aus unserer Zeit. Meist ist es sehr faszinierend herauszufinden, welche Teile dieser Mythen wahr sind und welche falsch. Das Verrückte ist, dass viele Menschen Mythen als absolute Wahrheit begreifen, ich halte das für gefährlich. Ich glaube vielmehr, dass man, um etwas aufzubauen (eine glückliche Zukunft etwa), eine solide Basis braucht.“ 55 Konzert 02.02.13 20 Uhr Woher? Wohin? — Mythen, Nation, Identitäten II Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Alte Oper, Mozart Saal 56 Konzert Woher? Wohin? — Mythen, Nation, Identitäten II Neue Kompositionen aus Mittelosteuropa Alte Oper, Mozart Saal 02.02.13 20 Uhr Matej Bonin: Kaleidoscope — ­f ür Ensemble (2012) František Chaloupka: Mašín Gun — The Seven ­R ituals for purging the Czech Lands from the Spirit of Communism (2012) Andris Dzenītis: Latvian Cookbook — für ­E nsemble (2012) Jānis Petraškevičs: Darkroom — Ein Phantasiestück für Ensemble (2012) Ensemble Modern Frankfurter Erstaufführungen Anu Tali, Leitung Kultur und nationale Identität: zwei Themenfelder, die eng miteinander verbunden sind. Unumstritten ist die Sprache ein identitätsstiftendes Merkmal einer Nation, doch leistet auch die Kunst und insbesondere die Musik einen Beitrag zur Identitätsfindung einer Nation? Im Rahmen des Projekts Wo­ her? Wohin? – Mythen, Nation, Identitäten, das vom Goethe-Institut (Mittelosteuropa) initiiert wurde, spüren junge Komponisten aus Mittelosteuropa ihren kulturellen Wurzeln nach und befragen mit musikalischen Mitteln historische und aktuelle Mythen der jeweiligen Nationalstaaten. Das Ensemble Modern präsentiert die acht Gewinnerkompositionen des Projekts in zwei Konzerten mit jeweils vier Werken. Woher? Wohin? – Mythen, Nation, Identitä­ ten ist ein Projekt des Goethe-Instituts (Mittelosteuropa) gemeinsam mit dem Ensemble Modern und der BHF-BANK-Stiftung. Matej Bonin Matej Bonin wurde 1986 in Koper, einer Hafenstadt an der slowenischen Adriaküste, geboren. Sein Kompositionsstudium schloss er 2011 an der Musikakademie Ljubljana bei Uroš Rojko ab. Im Oktober 2007 wurde sein Werk für Holzbläserquintett Daleč od blizu (Far from Close) – eine Auftragskomposition des Slowind Quintetts – bei dem Festival für zeitgenössische Musik Slowind in Ljubljana uraufgeführt; es folgten weitere Aufführungen in Italien (Mailand, Monza) und Frankreich (Paris). Bei der Internationalen Biennale für zeitgenössische Musik in Koper präsentierte er seine Musik in einem Vortragsabend. Für das Salzburger Tanzfestival Move Against It. Meet Again komponierte er 2010 die Musik zu dem zeitgenössischen Tanzstück Islands in the fog. Im gleichen Jahr wurde sein Werk One Man Band (2010) in Ljubljana durch den slowenischen Akkordeonisten Luka Juhart aufgeführt, 2011 auch in Österreich (Klagenfurt). Für sein kompositorisches Schaffen erhielt er 2008 den Prešeren Preis der Universität von Ljubljana. Über den Hintergrund seines Stückes erzählt er: „Als ich damit begonnen habe, über Mythen und nationale Identitäten verschiedener Länder nachzudenken, und was mich betrifft, insbesondere über Mythen und Identitäten Sloweniens, wurde mir plötzlich klar, dass der eigentliche Topos meines Stückes gar nicht die Mythen selbst sein werden, sondern eher eine Art Erkundung darüber, ob sie mich überhaupt interessieren und auf welche Weise; vor allem aber Erkundung der Frage: Warum bin ich, ein junger Mensch, ihnen gegenüber so skeptisch? Es zirkulieren derzeit zu viele unterschiedliche Mythen und Ideen in der slowenischen 57 Öffentlichkeit. Normalerweise werden diese Mythen von unterschiedlichen politischen Positionen aus ins Spiel gebracht, die auf diese Weise den Kontakt mit möglichen Wählern suchen. Es ist schwer für eine Einzelne, einen Einzelnen, sich als Teil der Nation zu begreifen, wenn es zugleich so viele Mythen und Ideen gibt, die sich zudem fortwährend widersprechen. Meine Beschäftigung mit widersprüchlichen Mythen, insbesondere mit solchen, die aus politischen Interessen für die Massen produziert werden, lassen mich zweifeln, ob sie wirklich zum Selbstfindungsprozess eines Individuums beitragen.“ František Chaloupka Der 1981 in der Tschechischen Republik geborene František Chaloupka studierte ­zunächst Komposition am JanáčekKonservatorium in Ostrava und trat 2004 in die Kompositionsklasse von Martin Smolka an der Janáček Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brno ein. Seit seinem Abschluss 2009 promoviert er an der Akademie, seit 2011 auch als Stipendiat der ­Stiftung Tschechischer Musikfonds. Weitere Stipendien erhielt er für die Ostrava Tage für Neue Musik, bei denen 2005 sein Werk Music for Five (2004) und 2007 seine Komposition An Ancient Calligraphy (2007) für großes Orchester, zwei Harfen, zwei Vibraphone und Harmonium aufgeführt wurden; bei beiden Werken erfolgte eine CD-Einspielung. Weitere Kompositionen kamen unter anderem durch die Janáček Philharmonie Ostrava, die Mährische Philharmonie Olomouc und das Ensemble Prague Modern zur Aufführung. Im April 2011 gründete Chaloupka das Dunami Ensemble – eine Gruppe von jungen tschechischen Musikern aus der experimentellen und zeitgenössischen Musikszene. Seine Idee hinter seinem Werk bezieht sich auf den Lebensweg der Mašín-Brüder: 58 „Die Geschichte der Brüder Mašín versetzt die Tschechen seit über sechzig Jahren in Aufregung. Die beiden jungen B ­ rüder, Söhne des Armeeoffiziers Josef Mašín (der als Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten postum zum General befördert und doch Opfer des Stalinismus wurde) kämpften nach dem Tod des Vaters im Untergrund gegen das kommunistische Regime. Es kam 1948 an die Macht, und die Jungen erlebten mit, wie auch Freunde der Familie spurlos verschwanden oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt wurden. Bei ihren Überfällen und später während ihrer Flucht aus der CSSR (nach Westberlin, 1953) töteten die Brüder Mašin zahlreiche Menschen, von d­ enen nicht alle im Dienst des kommunistischen Regimes standen. Und über diesen Punkt sind die Menschen seit Jahrzehnten tief gespalten. Die einen, (wie die Mašins meinen) noch immer beeinflusst von der kommunistischen Propaganda der Vergangenheit, halten die Brüder und ihre Gruppe für Mörder und weigern sich, sie als Helden anzuerkennen; die anderen (nur 15 Prozent der heutigen Bevölkerung) erkennen, was jene taten, als mutigen Kampf zur Befreiung unseres Landes an. Nach ihrer Flucht lebten die Brüder Mašín im Ausland und wollten (auch nach 1990) nicht in ihre Heimat zurückkehren, denn die tschechischen Politiker, so sagten sie, hätten sich nicht wirklich von ihrer kommunis­ tischen Vergangenheit gelöst. Der Titel ist ein Wortspiel: der tschechische Name Mašín wird ausgesprochen wie das englische Wort machine (also Maschinengewehr).“ Andris Dzenītis Der 1978 in Riga (Lettland) geborene Komponist Andris Dzenītis erhielt mit gerade 16 Jahren für seine Sonate für Violine und ­Klavier Pamestie (Deserted, 1994) den Kammermusikpreis des Lettischen Komponistenverbandes. Als Herder-Stipendiat studierte er 1996 bis 1997 Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bei Kurt Schwertsik. Seine Studien setzte er an der Lettischen Musikakademie bei Pēteris Plakidis (1997 bis 1999) und an der Musik- und Theaterakademie Litauens bei Osvaldas Balakauskas (1999 bis 2003) fort. Für seine Werke, die vielfach aufgeführt und auf CD eingespielt wurden, erhielt er zahlreiche Preise, etwa 2007 den in Lettland hoch angesehenen Großen Musikpreis für Fides.Spes.Caritas (2006). Dzenītis ist vielseitig tätig: N ­ eben seiner Beschäftigung als Musikjournalist, Musikorganisator und Kompositionslehrer ist er Mitbegründer des Woodpecker Projects, einer Gruppe für elektronische Musik. Seit 2004 ist Dzenītis außerdem Vorstandsmitglied des Lettischen Komponistenverbandes. Er schreibt über seine Komposition Latvian Cookbook (Lettisches Kochbuch) – für Ensemble: „Überall auf der Welt haben Völker ihre eigenen lokalen Traditionen – das beginnt mit uralten Stammesritualen, setzt sich mit Traditionen fort, die den jeweiligen historischen Gegebenheiten entsprangen, endet schließlich bei einer Vielzahl unterschiedlicher Arten des Genießens. Eine dieser lustvollen, besonderen und immer wieder faszinierenden Traditionen ist die Kochkunst. Die jeweilige Landesküche ist einer der realsten und stärksten Aspekte nationaler Identität. Das gilt vor allem für die beliebten Nationalgerichte großer Nationen. Was aber ist mit kleinen Völkern, ihren Kulturen und Traditionen? Da gibt es a­ ußerhalb des ­jeweiligen Landes meist nur Legenden oder gar keine Informationen. Was wissen wir über die weißrussische, die litauische, die estländische oder die lettische Kunst, ein Essen zuzubereiten? Daher basiert meine Komposition mit ihren neun Stücken auf lettischen Originalrezepten aus alten Zeiten, die von den Großmüttern an ihre Enkel ­weitergegeben wurden, und von diesen wieder weiter. Möglicherweise ist das Essen, das ich mit musikalischen Klängen beschreiben will, nicht für alle Menschen rund um den Globus das schmackhafteste (auch das lässt sich in meiner musikalischen Sprache erfahren), aber es ist die wahre l­ettische ­Küche: von Land bis Stadt. Es gibt eine Legende, nach der bei einem wirklichen Festessen neun unterschiedliche Gerichte auf den Tisch kommen sollten: Das gewähre Reichtum und Gesundheit auch im nächsten Jahr. Darum besteht mein Stück aus neun Teilen. Die Beschreibungen für jedes dieser Teile stammen vom berühmten lettischen Koch und Feinschmecker Mārtiņš Rītiņš.“ Jānis Petraškevičs Jānis Petraškevičs wurde 1978 in Riga ­(Lettland) geboren. Er erhielt Unterricht in Violine und Komposition an der Emīls Dārziņš Musikschule, bevor er von 1996 bis 2003 an der Lettischen Musikakademie Komposition bei Pēteris Plakidis studierte. In den Jahren 1998 bis 1999 ermöglichte ihm ein Stipendium das Studium bei SvenDavid Sandström am Königlichen Musikcollege in Stockholm und 2004 bis 2007 absolvierte er ein Postgraduierten-Studium bei Ole Lützow-Holm an der Academy of Music and Drama in Göteborg. Jānis Petraškevičs besuchte Kompositionskurse in Schwaz / Tirol (1996), Darmstadt (1998), Royaumont (2000), er war zu Gast bei der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart (2003) und bei EarLab in Stresa (2008). 2001 erhielt er einen Kompositionsauftrag für das Ensemble Intercontemporain (trop proche / trop loin). Sein Opus 2 et la nuit illumina la nuit gewann 2003 den Kompositionswettbewerb der Association of Baltic Academies of Music. Seine Werke wurden 2008 bei der Biennale von Venedig und beim ISCM-Festival in Vilnius aufgeführt. Namhafte Ensembles nahmen seine Werke in ihr Repertoire auf, u. a. Ensemble Ictus, 59 Ensemble Intercontemporain, Ensemble SurPlus, Ensemble Modern. Seine Komposition Darkroom – Ein Phantasiestück beschreibt er so: „Ich habe versucht, eine Musik zu komponieren, die, wenn man so will, selbstbewusst ist, selbstreflexiv. Die Klin­ gende ­Persönlichkeit hat einen dualen Charakter – spielt also indirekt auf Robert Schumann an, den Komponisten introvertierter Musik par excellence, dessen Traumselbst (Eusebius) nach einem optimalen Blickpunkt sucht, so weit abgerückt von sich selbst sollte er sein, dass er seine eigenen Gefühle, Stimmungen, Schattierungen erkennen kann – nämlich sein leidenschaftliches Selbst (Florestan). ‚Welcher Sinn liegt darin’, fragt sich Eusebius, wenn er sich gelegentlich in jenem ruhigen, stillen Gefilde niederlässt, von dem aus er stoisch unbewegt seine eigenen sowohl konstruktiven wie destruktiven Kräfte in den Blick nehmen kann – ihr Anschwellen und ihren Sturm… Assoziativ habe ich die Bedingungen für eine solche introspektive Betrachtung mit dem Bild einer Dunkelkammer verknüpft – einen Raum, der sich völlig verdunkeln lässt, um darin lichtempfindliches Material zu entwickeln.“ 60 Ausstellung 26.01. bis 05.05.13 25.01.13, Eröffnung 18 Uhr Carsten Nicolai unidisplay Carsten Nicolai + Studierende der Städelschule uni(psycho) acoustic MMK Museum für Moderne Kunst 61 Ausstellung Carsten Nicolai unidisplay Carsten Nicolai + Studierende der Städelschule uni(psycho)acoustic MMK Museum für Moderne Kunst 26.01. bis 05.05.13 25.01.13, Eröffnung 18 Uhr unidisplay besteht aus einer Sammlung ­grafischer Module. Diese präsentieren unterschiedliche optische Muster und Formen, die verschiedene Aspekte der menschlichen Wahrnehmung berühren. uni(psycho)acoustic – eine Sound-­Kammer – ergänzt die Installation unidisplay auf auditiver Ebene. Kongruent zu den visuellen Strukturen bei unidisplay werden (psycho-) akustische Phänomene vorgestellt, die ebenfalls die Wirkungsweise menschlicher Wahrnehmung untersuchen. Die Arbeit wird im Rahmen von Carsten Nicolais Gastprofessur mit Studierenden der Städelschule entwickelt. Carsten Nicolai Carsten Nicolai ist Bildender Künstler, Komponist und Musiker und wurde 1965 in Karl-Marx-Stadt geboren. Er lebt und arbeitet in Berlin und Chemnitz. Bekannt geworden ist er vor allem als Bildender Künstler der Objekt- und Installationskunst, wobei er hauptsächlich von wissenschaftlichen Referenzsystemen inspiriert wird. Mit seinem ganzheitlichen Ansatz, der sich unter anderem mit mathematischen und kybernetischen Mustern wie Grids und Codes, Fehler- und Zufallsstrukturen sowie dem Phänomen der Selbstorganisation auseinandersetzt, sucht er die Grenzsetzungen zwischen den verschiedenen künstlerischen Genres zu überwinden. 62 Nicolai erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. Villa Massimo, Rom (2007), Zurich Prize, Basel (2007), Villa Aurora, Los Angeles (2003), Goldene Nica, Ars Electronica, Linz (2000), F6-Philip Morris Graphik-Preis, Dresden (2000). Seine Arbeiten wurden in vielen nationalen und internationalen Ausstellungen renommierter Galerien und Museen präsentiert und fanden Aufnahme in bedeutende private und öffentliche Sammlungen. Mit unidisplay (mono-version) präsentiert Nicolai ein erweiterbares Archiv grafischer Module, welche unterschiedliche optische Muster und Formen präsentieren, die verschiedene Aspekte menschlicher Wahrnehmung berühren. (Siehe auch Seite 72) Performance 26.01.13 Start 15 Uhr Party 22 Uhr Currencies and Collectives eine siebenstündige performative Konferenz Frankfurt LAB 63 64 Performance Currencies and Collectives – eine siebenstündige performative Konferenz in englischer Sprache Choreografie: Richard Siegal, Rauminstallation: Mike Bouchet, Kostüme: P.A.M., Musik: Hubert Machnik, Kuratorin: Christine Peters Frankfurt LAB 26.01.13 Start 15 Uhr ab 22 Uhr Party (an den Plattentellern: Misha Hollenbach und P.A.M.) Mit: Teddy Cruz (Architekt, San Diego), Clémentine Deliss (Direktorin Weltkulturen Museum Frankfurt am Main), Stephen Duncombe (Soziologe, New York), Keller ­Easterling (Architektin, New York), Patricia Falguières (Kunsthistorikerin, Paris), Nikolaus Hirsch (Rektor Städelschule, Frankfurt am Main), Maria Lind (Kuratorin, Stockholm), Thomas Meinecke (Autor und Musiker, München), Markus Miessen (Architekt, Berlin), CassettePlaya (Art Director, London), Peter Osborne (Philosoph, London), Mark von Schlegell (Autor, Köln), Richard Sennett (Soziologe, London und New York), u. v. a. Ein Projekt von Weltkulturen Museum, Staatliche Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt LAB, Theatrum Mundi/Global Street, in Kooperation mit ID_Frankfurt, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) und Hochschule für Gestaltung (HfG), Offenbach. Während der Frankfurter Positionen 2013 wird ein kultureller Handelsplatz als performative Konferenz entworfen. Currencies and Collectives stellt die Frage, wo und wie neue Verabredungen und Währungen entstehen können, die über den ungeordneten individuellen Handel mit Waren und Ideen hinaus eine Form von Prototyp bilden, der die Kontinuität und Gemeinsamkeit der beteiligten Akteure fördert. Diese Fragestellung wurde als Beitrag zu dem von den Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen initiierten interdisziplinären Langzeitforum ­Theatrum Mundi / Global Street (www.theatrum-mundi.org) entwickelt, das gemeinsam mit Partnern in London, New York und Frankfurt am Main städtische Lebenswirklichkeiten aus soziopolitischer, kultureller und künstlerischer Perspektive untersucht. Die von dem Bildenden Künstler Mike Bouchet für Currencies and Collec­ tives entworfene multimediale Installation wird zu einem Marktplatz der Ideen und zu einem erweiterten Parlament, das Künstler, Wissenschaftler, Designer, Autoren und Architekten zusammenführt, um eine Diskussion über die Bedeutung von Urbanität, von kulturellen Zentren und die Rolle des Bürgers in der Stadt anzustoßen. Eine soziale Choreografie für etwa 30 Performer, inszeniert von dem Choreografen Richard Siegal, leitet die Besucher durch die performative Konferenz. Richard Siegal Der 1968 in North Carolina geborene und in Paris lebende Tänzer und Choreograf Richard Siegal war von 1994 bis 2004 ­Solist der Forsythe Company. 2005 gründete er The Bakery, ein Zusammenschluss von Tänzern, Kuratoren, Bildenden Künstlern, Software-Programmierern, Architekten, Komponisten und Videokünstlern, mit d­ enen er seither interaktive Installationen, Bühnenarbeiten und intermediale 65 Performances realisiert. Zugleich entwi­ ckelte er seine choreografische Methode If / Then, ein spiel-basiertes syntaktisches Notationssystem, das die Tänzer nach bestimmten Regeln vor eine Vielfalt an Wahloptionen stellt. Nach diesem Prinzip forderte er mit seinen beiden letzten Gruppenstücken ©oPirates (2010) und Civic Mimic (2011) auch das Publikum auf, den entstehenden Raum an Handlungsmöglichkeiten zu teilen. Indem er die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren aufhob, entstand ein gestischer Übergangsraum, in dem Zuschauermenge, Bewegungsmaterial und Geste ineinandergreifen, mit unvorhersehbaren Wechselwirkungen, die sich aus der Verschränkung dieser Sys­teme ergeben. Siegal war Artist in Residence am ZKM in Karlsruhe und am Baryshnikov Arts Center New York. Zurzeit ist er Choreographer in Residence an der Muffathalle in München. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Tätigkeit, u. a. den New York Dance and Performance Bessie Award, den Deutschen Theaterpreis Der Faust, den Mouson Award sowie den S.A.C.D. und den Beaumarchais-Preis. Außerdem ist er MacDowell Fellow und Ehrenmitglied des Benoit de la Danse am Bolschoi­ ballett. Als Mitglied des American Dance Festivals kuratierte er das jährliche Forsythe Festival. Mit Currencies and Collectives möchte Siegal Fragen von Autor- bzw. Zuschauerschaft thematisieren, indem er die Verhaltens- und Bewegungsmuster der Besucher und ihre Navigation im Raum ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt. Mike Bouchet Der 1970 in Kalifornien geborene und in Frankfurt am Main lebende Mike Bouchet untersucht gesellschaftliche Phänomene und Prozesse unserer Zeit und bedient sich dazu unterschiedlichster Medien wie 66 Skulptur, Installation, Performance, Malerei und Film. Einen Schwerpunkt bilden Fragen der Urbanität und des Konsums sowie die komplexen Beziehungen zwischen Kunst und Unterhaltung. Bouchet hat Konzepte von Autorschaft und Aura neu definiert und dabei einen unverwechselbaren Stil entwickelt. Seine vielleicht auf den ers­ ten Blick nur als ironische Aneignungen anmutenden Arbeiten registrieren die dominierenden Themen unserer Zeit: die Vorherrschaft von Unterhaltung, Sex und Konsum und die Obsession mit Celebrities. Die Frage, die Bouchet dabei in allen Varianten beschäftigt, ist eine politische: die des Wertes, der einem Gegenstand, einer künstlerischen Arbeit und dem Künstler selbst beigemessen wird. Eine Frage, die im Spiel mit dem, was warenförmig ist oder zumindest sein kann, aufgeworfen wird. Auf der Biennale in Venedig 2009 zeigte der Künstler die Arbeit Watershed, ein im Hafenbecken des Arsenale schwimmendes Einfamilienhaus. Das für US-amerikanische Vorstädte typische Eigenheim symbolisiert für Bouchet den Traum von Eigenständigkeit und Individualität – eine Art kommerzielle Illusion. Im Anschluss an die Biennale wurde das Fertighaus transportfähig zerlegt und auf circa 30 gleich große Paletten verteilt. Zerstört und transformiert entstand daraus eine neue Skulpturengruppe mit dem Titel Sir Walter Scott, die er 2010 erstmalig in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt zeigte. Für Currencies and Collectives verwandelt Bouchet das Frankfurt LAB in eine multimediale Fernsehlandschaft. Sortiert nach verschiedenen Themenstudios – von Talkshow über Newsroom bis Küchenstudio – spiegelt er einen Fernsehalltag wider, in dem die Grenzen zwischen Nachrichten und Unterhaltungswert fließend geworden sind. Christine Peters Nach dem Studium der Anglistik, Romanis­ tik, Theater-, Film- und Medienwissenschaft war Christine Peters Projektleiterin und Künstlerische Leiterin am Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main. Sie legte ihren Schwerpunkt auf die interdisziplinäre Produktion von Theorie und Praxis in der Gegenwartskunst. Sie verantwortete den Jahresspielplan und initiierte institutionsübergreifende städtische und internationale Kooperationsprojekte. Sie war Mitbegründerin der Internationalen Sommerakademie, die sie von 1997 bis 2002 leitete. Seit 2004 ist sie freie Kuratorin, so für Theater der Welt in Stuttgart 2005, wo sie u. a. den ersten 24 Stunden Interview Marathon von Hans Ulrich Obrist kuratierte. 2006 co-kuratierte sie die prozessuale Gruppenausstellung Protections am Kunsthaus Graz. Sie konzipierte und moderierte für Tanzplan Deutschland von 2008 bis 2010 die Forschungsreihe Tanz / Kuratieren zwischen Theorie und Praxis mit Künstlern und Kuratoren aus Bildender und Darstellender Kunst. 2010 kuratierte sie eine Vortrags-, Essay- und Performance-Reihe für Theater der Welt in Essen und Mülheim und cokuratierte die Gruppenausstellung Play Ad­ mont im Museum für Gegenwartskunst Admont (A). 2011 war sie Künstlerische Leiterin des temporären Kunstraums Globe in den Deutsche Bank-Türmen und co-kuratierte das interdisziplinäre Symposium ­Beyond Curating bei PACT Zollverein in Essen. Sie ist derzeit Co-Kuratorin der Gruppenausstellung Acts of Voicing. Über die Poetiken und Politiken der Stimme am Württembergischen Kunstverein Stuttgart, mit Stationen im Total Museum, Seoul und Para / Site, Hong Kong, 2013. Christine Peters unterrichtet Kuratieren im interdiszipli­ nären Kontext an verschiedenen deutschen Universitäten und Hochschulen und lebt in Frankfurt am Main. 67 68 69 Performance 27.01.13 12 Uhr aleph-1 von Carsten Nicolai mit Rainer Römer 70 Portikus 71 ­P erformance aleph-1 von Carsten Nicolai mit Rainer Römer Uraufführung Portikus und Ensemble Modern Portikus 27.01.13 12 Uhr Aleph-1 ist eine Performance von Carsten Nicolai mit Rainer Römer vom Ensemble Modern. Die spezifische Kombination aus elektronischen und akustischen Klängen wird im Portikus erstmals aufgeführt. Inspiriert von moderner klassischer und afrikanischer Musik verbindet Aleph-1 melodische und rhythmische Elemente zu einer hypnotisierenden Mischung. Die Stücke sind im Prinzip unendlich, ohne Anfang und Ende. Sie schaffen Atmosphäre, kein Ereignis. Der Begriff Aleph-1 wurde 1884 von Georg Cantor in die Mathematik eingeführt. Seitdem steht der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, mit einer Zahl kombiniert, für die Kardinalität (oder Mächtigkeit) unendlicher Mengen. Die Aleph-Zahlen unterscheiden sich von der Unendlichkeit (∞) in Algebra und Infinitesimalrechnung. Alephs messen die Größe von Mengen; Unendlichkeit wird in der Regel als extreme Grenze der realen Zahlenreihe oder extremaler Punkt der erweiterten realen Zahlenreihe definiert. Alephs können unterschiedlich groß sein, aber ∞ bleibt ∞. Carsten Nicolai Als Musiker ist Nicolai einer der bekanntes­ ten Vertreter der zeitgenössischen elektronischen Musik. Er hat vielfach in Kollaborationen z. B. mit Scanner, Thomas Knak, Mika Vainio, Michael Nyman, Ryoji Ikeda oder Ryūichi Sakamoto gearbeitet und ist Teil des 72 Projektes ­signal (mit Olaf Bender und Frank Bretschneider). Unter dem Pseu­donym Alva Noto arbeitete er mit Blixa B ­ argeld (Einstürzende Neubauten). Bei dieser Zusammenarbeit entstanden die EP Ret Marut Handshake und das Album ­Mimikry. Im Oktober 2010 präsentierte Nicolai anlässlich der Ausstellung Not in Fashion. Mode und Fotografie der 90er Jahre im MMK Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main seine Licht-und ­Tonkunst zusammen mit Modeschöpfungen des Dresdners Kostas Murkudis. Bei der Ruhrtriennale 2012 arbeitet er zusammen mit Ryūichi Sakamoto und dem Ensemble Modern. (Siehe auch Seite 62) Rainer Römer Der Schlagzeuger Rainer Römer wurde 1956 in Würzburg geboren. Vor seinem Studium an der Hochschule für Musik in Würzburg in den Jahren 1974 bis 1980 spielte er bereits in verschiedenen Jazz- und Rockbands. Zusammen mit dem Würzburger Percussions-Quartett wurde Römer Preisträger der Bundesauswahl Konzert Junger Künstler 1980 / 1981. Mit demselben Quartett wurde er 1984 Preisträger des Gaudeamus Concour in Rotterdam. Seit 1985 ist er Mitglied des Ensemble Modern Frankfurt. Produktionen für das Radio, u.a. seven seconds (HR 2001). Mit der Arbeit Staubmarsch (2002, gemeinsam mit Ottmar Hörl und Dietmar Wiesner) erhielt er den Intermedium-Award des Bayerischen Rundfunks 2002. 2004 wurde er zum Professor an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main berufen. Sein Hörspiel Oberman (HR / 2006) wurde Hörspiel des Monats. 2010 erschien seine Porträt-CD Nemeton bei Ensemble Modern Medien. Symposium 01.02., 02.02.13 An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne Frankfurt LAB & Alte Oper 73 Symposium An der Grenze? Über die Zukunft der Moderne Konzeption und Organisation: Institut für Sozial­ forschung (IfS), Frankfurt am Main Die Titelfrage An der Grenze? signalisiert kein neuerliches post- oder spätmodernes Ende der Moderne. Sobald wir uns über unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen, den Wandel in Kultur, Politik und Kunst verständigen, sehen wir uns nach wie vor mit dem Begriff der Moderne, ihren Prinzipien und Versprechungen konfrontiert. Auch wenn neuere Forschungen die Vorstellung von einer einheitlichen Moderne nach nordatlantischem Muster zu Recht zurückweisen und stattdessen ihre Vielfalt betonen, stellt sich unausweichlich die Frage, was denn den normativen Kern und damit die Gemeinsamkeiten der vielgestaltigen modernen Gesellschaften ausmacht. Hinter dem Titel verbirgt sich also eine andere These. Nicht auf deren Ende spielt er an, sondern auf ein bestimmendes Merkmal der Moderne: auf Prozesse der Entgrenzung und Begrenzung. Die Moderne lässt sich verstehen als ein stetiger Prozess der Entgrenzung und dynamischen Selbstüberschreitung: Alles, was ist, soll sich im Namen von Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und Kreativität zu einem Mehr und Besseren hin bewegen. Doch gingen und gehen mit diesem Prozess immer auch negative Entwicklungen einher: eine entfesselte Ökonomie, die alles in ihren Sog zu ziehen droht; eine atemlose Steigerungslogik, die riskiert, ins Leere zu laufen; ­verschärfter Wettbewerb und permanenter Überbietungszwang, die verbindliche 74 Gemeinsamkeiten auflösen und die Subjekte überfordern. Angesichts solcher Zeitdiagnosen stellt sich heute verschärft die Frage, was Fortschritt noch bedeuten kann. Diesen Themen sind die beiden Foren Streit um die Moderne gewidmet. Bei den Panels zur Entgrenzung der Künste stehen ästhetische Erfahrungen im Mittelpunkt. Um die zunehmende Vernetzung der Künste untereinander und die Auflösung der Genres wird es dabei ebenso gehen wie um die Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst sowie um die Frage, wie sich die fortschreitende Globalisierung auf die Kunst auswirkt: Welche Rolle spielt die Rückbindung an nationale Traditionen? Inwieweit verbinden sich lokale Traditionen und globale Themen zu neuen Formen einer Weltkunst? Streit um die Moderne I: ­N ormativer Gehalt und soziale Dynamik Frankfurt LAB 01.02.13 17.30 bis 19.30 Uhr Mit: Axel Honneth (Direktor des Instituts für Sozialforschung, Professor für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main und Columbia University, New York), Rahel Jaeggi (Professorin für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin), Armin Nassehi (Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) Streit um die Moderne II: Eine Moderne – viele Modernen? Frankfurt LAB 02.02.13 11 bis 12.45 Uhr Mit: Iwo Amelung (Professor für Sinologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main), Christian Kravagna (Kunsthistoriker und Kurator, Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien), Shalini Randeria (Professorin für Anthropologie und Entwicklungssoziologie am Graduate Institute of International and ­Development Studies, Genf), Susanne Schröter (Professorin für Ethnologie, GoetheUniversität Frankfurt am Main); Moderation: ­Wolfgang Knöbl (Professor für Soziologie, Georg-August-Universität Göttingen). Goethe-Universität Frankfurt am Main); Moderation: C ­ hristoph Menke (Professor für ­Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main). Entgrenzung der Künste I: Auflösung der Genres und der Kunst? Frankfurt LAB 02.02.13 13.15 bis 15 Uhr Mit: Daniel Birnbaum (Direktor des Moderna Museet, Stockholm, und Professor für ­Philosophie und Kunstvermittlung, Städelschule, Frankfurt am Main), Gertrud Koch (Professorin für Filmwissenschaft, FU ­Berlin), Juliane Rebentisch (Professorin für Philosophie und Ästhetik, Hochschule für Gestaltung Offenbach), Kevin Rittberger (Autor und Theaterregisseur, Berlin); Moderation: Christoph Menke (Professor für ­Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main). Entgrenzung der Künste II: Avantgarde und (post)nationale Konstellation Alte Oper 02.02.13 17.30 bis 19.30 Uhr Mit: Heinrich Blömeke (Leiter der GoetheInstitute Mittelosteuropa, Prag), Clémentine Deliss (Direktorin des Weltkulturen ­Museums, Frankfurt am Main), Roland Diry (Hauptgeschäftsführer des Ensemble Modern), Julika Griem (Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft, 75 Theater 25.01.13 21 Uhr 26.01.13 20 Uhr „Theatre“ von Superamas Uraufführung Künstlerhaus 76 Mousonturm 77 Theater „Theatre“ von Superamas Uraufführung Künstlerhaus Mousonturm 25.01.13 21 Uhr 26.01.13 20 Uhr Bühnendesign, Ton und Video: Superamas Lichtdesign: Henri-Emmanuel Doublier Konzept Bewegungserfassung und Programm: Pierre Gufflet 3D- Imagedesign: Superamas in Zusammenarbeit mit TechnocITé Mons / Belgien, CCCP / Frankreich und Howest Kortrijk / Belgien, Kevin Marien. Echtzeit-3D-Maschine: Pierre Gufflet, Superamas und CCCP / France Computergenerierte 3D-Animationen: CCCP / Frankreich, Howest Kortrijk / Belgien, ­K evin Marien und Superamas Supervision Technik: Pierre Gufflet Berater Programmierung: Yves Gufflet Kostüme: Sofie Durnez Workshop: Prototoutyp Bühnenmanager: Martin Schwab Mit: Lucie Eidenbenz, Karen Lambaek, Lieve de Pourcq, Faris Endris Rahoma, ­Bahar Temiz und Superamas 78 Die Geburt der Perspektive in der italienschen Malerei des 15. Jahrhunderts hat durchaus auch mit politischen Überlegungen zu tun. Die Medici wussten schon, was sie taten, als sie Maler der Perspektive wie Fra Filippo Lippi unterstützten, denn diese lieferten eine gerahmte und geordnete Weltsicht. Was lässt sich über die Weltsicht sagen, die uns ein Strom digitaler Bilder vermittelt, wie er heute täglich über uns hereinbricht? Wie im Zeitalter der Renaissance sind diese Bilder eminent politisch. Unseren Machthabern ist es klar, sie haben immer schon massiv in das Theater der neuen Technologien investiert, um durch die Politik der Illusion eine Illusion der Politik zu inszenieren. „Theatre“ ist eine Koproduktion u. a. von Superamas, Maribor Kulturhauptstadt 2012, dem Künstlerhaus Mousonturm, Kaaitheater (Brüssel), Vooruit (Gent), Buda kunstencentrum (Kortrijk, Belgien), Tanzquartier Wien, TeatroMetastasio di Prato-Firenze, Le Manège – CECN (Mons, Frankreich), GaîtéLyrique, (Paris), Maison de la culture ­(Amiens, Frankreich). Superamas Unser Markenzeichen: Eine muntere ­Mischung der Genres zu bieten, um die Komplexität der Welt zu analysieren oder gefühlsmäßig zu erfassen. Unsere Pläne: an der Oberflächlichkeit der Bilder kratzen. Unser Ziel: glücklich aus der Welt des Thea­ ters treten und mit einem neuen Blick die Welt betrachten. SUPERAMAS ist eine Gruppe von Künst­ lerInnen mit Arbeitsmittelpunkt in Belgien, Wien und Paris. Superamas steht im Französischen für einen großen wandernden Galaxienhaufen, die größte bekannte Struktur im Universum. 1999 in Paris gegründet, sind sie dafür bekannt, Impulse für ihre Kreationen in allen Lebensbereichen zu suchen. Sie vermischen ihr Ausgangsmaterial mittels Performance, Tanz, Lichtdesign, Video, Installation und Musik, wobei alle diese Medien gleichwertig behandelt werden. Ihre Methode nennen sie dé-montrer: Was ursprünglich eine Einheit darstellte, wird getrennt und zerlegt, die Fakten des Visuellen somit hinterfragt. Nach dem Debüt Building folgten Produktionen für zahlreiche Theater und Festivals, unter anderem die BIG-Triology (2002, 2004, 2006). Ihr letztes Projekt YOUDREAM (2010), eine künstlerische Verarbeitung eingesandter Träume in drei Formaten (Bühnenperformance, TV-Serie und Internetplattform), tourte quer durch Europa. Das Buch zur BIG-Serie erschien im Mai 2011 bei La Presse du Réel. Als ­erste Studie zu ihrem neuen Projekt Thea­ tre – Das Bild der Macht / Die Macht der Bilder drehten Superamas 2011 den Kurzfilm Berlusconi, eine Neuverfilmung einer Episode beim NATO-Gipfel im April 2009, als Silvio Berlusconi die deutsche Kanzlerin aufgrund eines Handygesprächs zehn Minuten warten ließ. Superamas publizieren auch Bücher und stellen in Galerien aus. Die Lichtinstallation Diggin´Up 2 war 2012 bei der Triennale in Hasselt zu sehen. auch zum Ort der unwahrscheinlichen Begegnungen. Was hätte Marschall Tito gesagt, wenn ihn Silvio Berlusconi hätte warten lassen? Reale Personen, fiktive Personen und Avatare treffen aufeinander. Wichtige Entscheidungen werden getroffen. Möglicherweise zeichnet sich ein Krieg ab. Die Bühne wird zum Kriegsschauplatz. Was Superamas hier interessiert, ist das Zusammenspiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion, wie es in den Berichten über die aktuelle Politik am Werk ist. Es geht darum, hinter der Illusion des Politischen die Wirklichkeit der Komödie oder des Dramas wiederzufinden. Superamas spielt Wahres und Unwahres, navigiert zwischen Realität und Virtualität und bemüht sich dabei stets, die Politik und das Bild der Politik auseinanderzuhalten. Oder die beiden noch mehr miteinander zu vermischen. Das Publikum wird jedenfalls die Gelegenheit haben, klar zu sehen: Der Werkzeugkoffer wird vor seinen Augen geöffnet. Durch den Einsatz verschiedener Techniken der erweiterten Wirklichkeit (3-D-Bilder, Avatare und Mapping) will „Theatre“ eine durch die Politik der Illusion strukturierte Welt darstellen. Diese Techniken ermöglichen es, markante oder anekdotische Szenen von der internationalen politischen Bühne nachzuspielen. Man erinnert sich noch an das Veto, das Frankreich in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegen den Irakkrieg einlegte. Die Bühne wird aber 79 Theater 01., 02., 03.02.13 20 Uhr Kimberlit. Ein Bestiarium von Kevin Rittberger 80 Frankfurt LAB Theater Kimberlit. Ein Bestiarium von Kevin Rittberger Uraufführung Schauspiel Frankfurt Frankfurt LAB 01., 02., 03.02.13 20 Uhr Regie: Samuel Weiss Bühne und Kostüme: Ralph Zeger Mit: Lisa Stiegler, ­V incent Glander und Mathis Reinhardt Die Jagd mit dem Falken galt im Mittelalter als die edelste und herrschaftlichste Form des Jagens. Auch heute noch schicken die Deutschen ihr arma bestiarium in weit entfernte und politisch höchst zweifelhafte Konflikte. Wir nennen sie liebevoll Tiger, Fuchs, Leopard oder Dingo und es sind die Exportschlager der deutschen Rüstungsindustrie. Kevin Rittbergers Stück führt durch einen globalen Zoo der Kampfmaschinen, durch eine Welt, in der die Jagd die maßlose Gier und Dekadenz des Menschen offenbart. Kevin Rittberger Kevin Rittberger wurde 1977 in Stuttgart geboren. Er studierte Neuere Deutsche Literatur, Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin. 2008 war er Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg und nahm an den Werkstatt-Tagen am Wiener Burgtheater teil. 2009 war er Stipendiat des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt und gewann mit dem Stück Puppen das Hans Gratzer-Stipendium des Wiener Schauspielhauses. Er wurde für seine Inszenierung von Abschaf­ fung der Arten (Dietmar Dath) und ­Nachrichten aus der ideologischen Antike (Alexander Kluge) mit dem Kurt HübnerPreis ausgezeichnet. 2011 wurde Rittberger mit seinem Stück Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. 2012 wurde ihm der Jürgen Bansemer und Ute Nyssen Dra­ matiker Preis verliehen. Für das Schauspiel Frankfurt inszenierte er 2010 Kleists Die Marquise von O. und 2012 die Uraufführung seines Stückes Lasst euch nicht umschlingen ihr 150000000!. Rittberger lebt als freischaffender Autor und Regisseur in Berlin. Über Kimberlit. Ein Bestiarium sagt er: „Es gibt diese funkelnden Geschichten, die das, was wir als unsere gegebenen Verhältnisse betrachten, begleiten. Darin haben wir gelernt zu leben, in den Verhältnissen, in den Geschichten – und sei es, dass wir sie verweigern. Darin geht es dann um besondere Fähigkeiten, um Durchsetzungsvermögen, um eine Kraft, die einen vor dem Nächsten zu etwas Einmaligem macht. In diesen Gewinnergeschichten ist die große Lüge, dass jeder gewinnen kann. Und tatsächlich gewinnt dann auch mal jemand, so dass die anderen Gewinnergeschichtenhörigen und sonstwie Gewinnergeschichtenerprobten also darin bestärkt werden, weiterhin nichts als gewinnen zu wollen, da der Hauptgewinn einer wahrhaften Begebenheit entspringt, wie es im Abspann des Films dann gerne heißt. Die anderen, die dieser Lüge, die meistens dem Fehlschluss aufliegt, aus dem sowieso schon falsch verstandenen Reich der Tiere nun ein grauenhaft entstelltes Reich der Menschen herbeiführen zu wollen, mit einer Geste der Verweigerung entgegentreten, müssen das nicht unbedingt ganz bewusst tun. Letztere nennt man Arglose oder Hoffnungsträger. Kimberlit ist ein Roadmovie und eine dieser funkelnden Geschichten.“ 81 82 Theater 05.02.13 20 Uhr Fluchtpunkt Berlin Eine Recherche von Tobias Rausch Frankfurt LAB 83 Theater Fluchtpunkt Berlin Eine Recherche von Tobias Rausch Regie Tobias Rausch Uraufführungsinszenierung Junges Deutsches Theater Berlin Frankfurt LAB 05.02.13 20 Uhr Bühne: Michael Böhler Kostüme: Jelka Plate Musik: Matthias Herrmann Dramaturgie: Birgit Lengers Recherche: Katja von der Ropp, Katharina Wessel, Natali Seelig Mit: Ruby Commey, Alexander Finger, ­Caroline Hellwig, Mehmet Kücük, Franz Schönberger, Hanna Friederike Stange, ­Ingraban von Stolzmann, Rojda Tekin, ­Finja-Marie Wilke, Kristina Fricke, Thao Tran, Johannes Waitz, Leonie Adam, Matilda Bostelmann, Judith Ehrhardt, Tatjana Kranz, Robert Will, Anna Maria Wuenst (Recherche / Musik / Spiel) 43,7 Mio. Menschen befanden sich im Jahr 2011 weltweit auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen, Armut, Umweltkatastrophen und -zerstörung, vor ethnischer oder religiöser Verfolgung. Viele träumen davon, irgendwann in die verlorene Heimat zurückkehren zu können. Aber was, wenn keine Rückkehr möglich ist, weil die Heimat unbewohnbar geworden oder ganz verschwunden ist? ­Berliner Jugendliche erforschen Flucht­ geschichten, die Heimat im Kopf und den Transitzustand hier und jetzt. 84 Tobias Rausch Tobias Rausch gilt als Forscher und Grenzgänger unter den Theatermachern. Nach dem Studium der Philosophie, Biologie und Literaturwissenschaften gründete er das Berliner Theater- und Performancekollektiv lunatiks produktion. Bekannt wurde die Gruppe mit ungewöhnlichen Theateraktionen, etwa der Versteigerung einer Theaterinszenierung bei eBay (livingROOMS 2004), oder der Dekonstruktion von Kriminalfällen, bei der die Zuschauer von Polizeiautos zu echten und falschen Tatorten gefahren wurden (Die Polizey – Physiognomie der Angst 2006). Aus dieser Beschäftigung mit der sozialen und mentalen Realität unserer Gesellschaft hat Tobias Rausch in den letzten Jahren eine spezifische Form des Re­ cherchetheaters entwickelt, in der aktuelle Themen und historische Ereignisse auf der Basis umfangreicher Recherchen und zahlreicher Interviews erforscht werden. Ob bei den Auswirkungen des Afghanistan-Einsatzes auf beteiligte Soldaten und ihre Familien (einsatz spuren, 2010) oder der Rekonstruktion der Oderflut 1992 (Oder Bruch, 2012) – stets geht es um mehr und anderes als um die Aufarbeitung historischer Fakten. Nicht die dokumentarische Wahrheit steht bei ihm im Vordergrund, sondern die Erforschung der Psychotopografie einer gesellschaftlichen Situation. Oft spielen anthropologische und naturwissenschaftliche Fragen in seinen Arbeiten eine zentrale Rolle, wie in seinem fünfjährigen botanischen Langzeittheater Die Welt ohne uns am Schauspiel Hannover (seit 2010). Tobias Rausch wurde mit dem Otto Kasten-Preis der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein 2012, dem Bremer Autoren- und Produzentenpreis 2007, dem Humboldt-Preis 2001 und mehreren Stipendien ausgezeichnet. Für die Frankfurter Positionen 2013 hat Tobias Rausch gemeinsam mit Jugendlichen Menschen interviewt, die zu Flüchtlingen geworden sind. Im Vordergrund der Inszenierung der Produktion mit dem Titel Fluchtpunkt Berlin, die unmittelbar nach ihrer Uraufführung am Deutschen Theater Berlin in Frankfurt zu sehen ist, stand die Frage, welche Bedeutung Sesshaftigkeit und die Vorstellung von Heimat für uns haben, und was passiert, wenn diese verloren sind. 85 Theater 06., 08., 09.02.13 20 Uhr 10.02.13 18 Uhr Nebenschauplätze Nr.1: Das 20. Jahrhundert Eine Sammlung flüchtiger Erscheinungen von Hofmann& Lindholm Uraufführung Künstlerhaus 86 Mousonturm Theater Nebenschauplätze Nr.1: Das 20. Jahrhundert Eine Sammlung flüchtiger Erscheinungen von Hofmann&Lindholm Uraufführung Künstlerhaus Mousonturm 06., 08., 09.02.13 20 Uhr 10.02.13 18 Uhr Konzept, Text, Regie, Raum: Hofmann&Lindholm Animation: Jan Sickinger, Oli Monn Ton: Peter Harrsch Hofmann&Lindholm reanimieren Schatten der Vergangenheit und projizieren sie in den Bühnenraum. Ausgangspunkt sind historisch überlieferte Situationen, die sich im 20. Jahrhundert in Innenräumen ereignet haben. Die Inszenierung entzieht der Historie ihren vordergründigen Glanz, raubt Tisch, Stuhl, Mensch die Leuchtkraft und folgt ausschließ­ lich den Schatten, die ein bestimmtes Ereignis hervorgebracht hat. Ein Kabinettstück flüchtiger Erscheinungen, eine Sammlung lichtheller Momentaufnahmen, in denen das Theater als Gedächtnisraum (der Projektionen) bespielt und kommentiert wird. Hofmann&Lindholm Was wissen Sie über Ihre Zukunft? Was wird auf Sie, auf die Stadt, auf unsere Gesell­ schaft zukommen? (Hofmann&Lindholm: Archiv der zukünftigen Ereignisse) … die Regeln, nach denen gesellschaftliches Leben funktioniert, nicht zu sprengen, son­ dern beweglich zu machen. (Hofmann&Lindholm) Ich beschäftige mich mit dem System, indem ich es beschäftige. (Hofmann&Lindholm: Aspiranten) Hoffmann & Lindholm sind zu sehr Künstler, um Aktivisten zu sein. Gleichzeitig sind sie aber auch zu wenig Theatermacher, als dass sie sich mit rein symbolischen Handlungen im Bühnenraum zufrieden geben würden. Seit 2000 erarbeiten sie als Regieund Autorenteam Projekte, die auf der Grenze zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst angesiedelt sind und ein intelligent-unterhaltsames Spiel mit unserer sozialen Realität entfalten. Dabei handelt es sich um Stadtrauminterventionen, Theaterabende, Hörstücke, Lectures, Videoinstallationen und Filme. Hofmann&Lindholm haben in den 90er Jahren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert. Sie sind Begründer des Büros für Angewandte Kulturvermittlung und Sonderbeauftragte der united goods organisation. In Arbeiten wie Aspiranten (2003), Alibis (2004), Vom Feuer (2006), Geschichte des Publikums (2006) oder Séancen (2007) untersuchen sie soziale Strukturen und Systeme nach ­Spielräumen für Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit. 2010 zählte das Goethe-Institut sie zu den 25 wichtigsten Performance- und Regiekollektiven in Deutschland: „Hofmann & Lindholm waren 2003 die ersten, die eine spezielle Form von nachgestellter und verfremdeter Wirklichkeit auf dem Theater erfunden haben. Zwar gab es auch damals schon die Pioniere des Authentischen wie die Gruppe Rimini-Protokoll, aber damit ist ihre Arbeit nur bedingt v­ ergleichbar. Während jene auf die realen Lebensgeschichten von Experten wie B ­ estattern, Börsenmaklern oder Karl-Marx-Liebhabern zurückgreifen, kreieren Hofmann&Lindholm mit ihren 87 Komplizen eigene Geschichten und verändern den ­Alltag, so dass er tiefer, doppelbödiger und komischer wirkt.“ (Künstler­ porträt, Goethe-Institut) Für die Frankfurter Positionen 2013 haben Hofmann&Lindholm ein Werk erarbeitet, das durch die Mitwirkung von Alltags­ spezialisten (also Menschen, die in Bezug auf das Thema der Frankfurter Positionen eine bestimmte Fachkompetenz vertreten, aber keine professionellen Schauspieler sind) eindeutig in Frankfurt verankert ist. Eine Koproduktion von Hofmann& Lindholm mit dem Künstlerhaus Mousonturm, dem FFT und PACT Zollverein. ­Gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrheinwestfalen, sowie der Kunststiftung NRW. 88 Theater 07.02., 08.02.13 20 Uhr Wunderland von Gesine Danckwart Frankfurt LAB 89 90 Theater Wunderland von Gesine Danckwart Uraufführungsinszenierung Nationaltheater Mannheim Frankfurt LAB 07.02., 08.02.13 20 Uhr Regie: Cilli Drexel Bühne: Marcela Snaselova Kostüm: Timo von Kriegstein Dramaturgie Katharina Blumenkamp Mit: Martin Aselmann, Katharina Hauter, Michaela Klamminger, Klaus Rodewald Aufsteigen, abgrenzen, abmessen, aufschneiden, durchleuchten, durchtherapieren, assessmenterklären und dann muss das, was da ist, immer noch den Humantest im Internet bestehen. Eine Seele ist, muss wohl auch da sein. Wie umgehen mit der Schuld des Wohlstandsglücks, und für wen funktioniert diese scheinbare Wunderwelt eigentlich? Dazwischen davor da dran Vertreter und Illegale, alte und ganz normal smart-Einsame vor der großen nahen Krisenwelt. Wer ist die WIR-Zentrums-Gesellschaft? Schnelles Abchecken für Privatheiten. Da muss doch noch mehr sein. Reden ums Verrecken / Überleben. Warten. An verschiedenen Orten weltweit (etwa in Ägypten, China oder Polen) sind Arbeiten mit Künstlern und Ensembles entstanden, die sich über Jahre weiterentwickelten. Fragen nach Arbeit und Identität sind die Basis. Woher kommst du, welche sind deine Liebes-, Körper- oder Arbeitsmarkt-Koordinaten? Was bildet dein Sein? Nach ausführlichen Recherchephasen entwickelt Danckwart ortsspezifische Themen und schließlich ihre Transformation: Der Film der Stadt in der Stadt. Im Zentrum die Alltags-Peripherie. In Mannheim etwa wurden der Hafen, die Straßenbahnen und Kasernen bearbeitet und erzählt, in Köln ging es um einen Platz zwischen Kirche und Kneipe und in Berlin um die Umschlagshallen der internationalen – vor allem asiatischen – Händler und ihre Lebensorte. In Johannesburg oder Sao Paolo dagegen betrat sie Apartments. In Peking, Shanghai oder Chengdu führten Architekturbefragungen zu Performances. Mit Chez Icke gründete Gesine Danckwart eine global funktionierende, virtuell-reale Kneipenfactory, die an verschiedenen Orten aufgebaut, eine echte Stammkneipe und digital interaktive Performance einer Stammkneipe ist. Mit Wunderland entstand nun wiederum ein Text, der mit vielen Stimmen um Arbeit und Identität kreist. Grenzen sind Arbeit und Angst. Wo fängt das Draußen an? Gesine Danckwart entwickelt als Kuratorin, Autorin und Regisseurin Theater-, Film- und mediale Kunstprojekte. Mit Staatstheatern und in freien internationalen Kontexten entstehen Projekte, die sich mit Wirklichkeit und ihrer Weitererzählung auseinandersetzen – in je neuen Formaten: Im Theater, aber vor allem auch außerhalb: Das Drama, die Utopie im Mikro, die große Geschichte in der Alltagsarchäologie in den Fokus bringen. 91 92 93 94 Bildanhang Künstler Andris Dzenītis Erik Bünger Carsten Nicolai František Chaloupka Christine Peters Gesine Danckwart 95 Hofmann&Lindholm Kristaps Pētersons Jānis Petraškevičs Marcus A. Wesselmann Judit Varga Matej Bonin Kevin Rittberger Mike Bouchet 96 Nina Šenk Richard Siegal Paweł Hendrich Superamas Jan Bang Tobias Rausch Rainer Römer Vito Zuraj 97 98 Service Eintrittskarten Karten für alle Vorstellungen im Künstlerhaus ­Mousonturm und im Frankfurt LAB – mit Ausnahme der Vorstellung Kimberlit. Ein Bestiarium – sind über den Vorverkauf des Künstlerhaus Mousonturm erhältlich: Telefon 069 – 405895 – 20; online: www.mousonturm.de. Karten für die Produktion des Schauspiel Frankfurt Kimberlit. Ein Bestiarium im Frankfurt LAB sind über den Vorverkauf des Schauspiel Frankfurt erhältlich: Telefon 069 – 21249494, Mo – Fr 9 – 19 Uhr, Sa, So 10 – 14 Uhr; online: ­­ www.schauspielfrankfurt.de. Karten für Woher? Wohin? – Mythen, Nation, ­Identitäten in der Alten Oper sind nur über den ­Vorverkauf der Alten Oper und die bekannten ­Vorverkaufsstellen erhältlich. Die Abendkassen an den jeweiligen Spielorten öffnen eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. 99 Reservierung für den performativen Kongress ­Currencies and Collectives unter: www.frankfurterpositionen.de / anmeldung-Performative_Konferenz oder Telefon 069 – 97328863 Veranstaltungsorte Frankfurt LAB www.frankfurt-lab.de Schmidtstr. 12; Anfahrt: Straßenbahnen 11 und 21, ­Haltestelle Mönchhofstraße; Bus 34, Haltestelle Schmidtstraße, Parkmöglichkeiten im Hof. Telefon 069 – 97328863 Künstlerhaus Mousonturm www.mousonturm.de Waldschmidtstraße 4; Anfahrt: U-Bahnlinien U4, Halte­stelle Merianplatz, U6 / U7, Haltestelle Zoo; ­Straßenbahn 14, Haltestelle Waldschmidtstraße; ­Parkmöglichkeiten: Parkhaus Waldschmidtstraße. Telefon 069 – 405895 – 0 Alte Oper Frankfurt www.alteoper.de Opernplatz; Anfahrt: U-Bahnlinien: U6, U7, Haltestelle Alte Oper; Parkmöglichkeiten: Parkhaus Alte Oper, Am Rossmarkt. Telefon 069 – 1340 – 0 MMK Museum für Moderne Kunst www.mmk-frankfurt.de Di, Do, Fr, Sa, So 10 – 18 Uhr; Mi 10 – 20 Uhr. 100 Am letzten Samstag im Monat Eintritt frei. Für Kinder unter 6 Jahren Eintritt frei. Domstraße 10, Anfahrt: U-Bahnlinien: U4, U5, Haltestelle Dom / Römer; ­Straßenbahn: 11, 12, Haltestelle Römer / Paulskirche; S-Bahnen: Haltestelle Konstablerwache; Parkmöglichkeiten: Parkhaus Konstabler. Telefon 069 – 21230447 Portikus www.portikus.de Di bis So 10 Uhr bis Sonnenuntergang Alte Brücke 2 / Maininsel, Anfahrt: U-Bahnlinien: U4, U5, Haltestelle Dom / Römer, Bus: 30, 36, Haltestelle Schöne Aussicht; Parkmöglichkeiten: Parkhaus Sachsenhausen. Telefon 069 – 962 4454 0 Festivalcafé und Theaterbar Während der Frankfurter Positionen 2013 betreibt ­labouche bistro und catering im Frankfurt LAB ein Festivalcafé und eine Theaterbar. Die Theaterbar öffnet jeweils zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn. Das Ensemble Modern wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Stadt Frankfurt sowie über die Deutsche Ensemble Akademie e.V. durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, die Deutsche Bank Stiftung, die GEMA-Stiftung und die GVL. hr2-kultur – Kulturpartner des Ensemble Modern Das Frankfurt LAB wird ermöglicht durch die Förderung des kulturfonds frankfurtrheinmain, der Stiftung 101 Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main und der BHF-BANK-Stiftung. Mit besonderem Dank an das Künstlerhaus Mouson­ turm für die umfangreiche Unterstützung bei der Planung und Durchführung der Veranstaltungen im Frankfurt LAB. Kontakt Haben Sie Fragen oder Anregungen, so schreiben Sie bitte an: [email protected]. Servicetelefon und Kontakt zum Frankfurt LAB: Telefon 069 – 97328863, [email protected] Servicetelefon und Kontakt zum Schauspiel Frankfurt: Telefon 069 – 21249494, [email protected] Das Programm der Frankfurter Positionen 2013 fi ­ nden Sie auch auf www.frankfurterpositionen.de zum Download. Dort können Sie auch unseren Newsletter bestellen, oder Sie besuchen die Frankfurter Positionen auf u­ nserer Facebook-Seite. 102 Fotonachweise Manu Theobald, Radek Klimek, Markus Malangeri Christoph Kniel, Sergey Horowitz, Tamara Tasev, Alf Sobakken, Christian Elgvin, CF Wesenberg, Superamas, Alexander Benz und privat. Sollten wir einen Fotografen vergessen haben zu ­nennen, bitten wir dafür um Entschuldigung. Die Fotos der Spielorte in diesem Heft sind von dem in Frankfurt lebenden Fotografen Walter Vorjohann: www.vorjohann.de Impressum Herausgeber: BHF-BANK-Stiftung, Bockenheimer Landstraße 10, 60323 Frankfurt a. M. Redaktion: Sigrid Scherer Gestaltung: www.hort.org.uk Logo: Wiebke Grösch und Frank Metzger Redaktionsschluss: 21.12.2012; ­ Änderungen vorbehalten 103 Die BHF-BANK-Stiftung – Neue Wege, neue Sichtweisen Soziale Phantasie zu entfalten und zu fördern, ist das Anliegen der 1999 gegründeten BHF-BANK-Stiftung. Ihr Engagement konzentriert sich auf zwei Felder: soziale und wissenschaftliche Projekte mit sozial­ politischem Hintergrund einerseits und die Förderung der zeitgenössischen Künste und des künstlerischen Nachwuchses andererseits. Wir unterstützen unsere Partner nicht nur finanziell, sondern sind oftmals auch Ideengeber. Wir ermutigen zu Vorhaben, die jenseits der ausgetretenen Pfade den Versuch machen, auch mit unkonventionellen Ideen an alten und neuen Problemen und Themen zu arbeiten. Wir sind davon überzeugt, dass Räume, in denen Neues erprobt und kreatives Potential erschlossen werden kann, unabdingbar für das gesellschaftliche Leben sind. 104