Schauspielhaus Zürich Zeitung #3

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Schauspielhaus
Zürich
Zeitung
#3
2
3 Vorwort
Herbstzeitlose
Der Herbst ist da und man nimmt das eine oder andere
Bändchen mit Herbstlyrik zur Hand, um mit kühleren
Temperaturen und schattigeren Tagen besser umgehen
zu können. Eine Art jahreszeitliche Entgleisung
in Gedichtform stammt von der Aargauer Lyrikerin Mary
Stirnemann-Zysset, die in ihren unfreiwillig komischen
Erzeugnissen eine ganz eigene Welt erschaffen hat. Eine
Welt des „Reim-Zwangs“ – bis zur Absurdität.
Man könnte Stirnemann-Zysset durchaus als Florence Foster
Jenkins der Poesie bezeichnen. Ihr Buch „Sonnenschein
ins tägliche Leben“ erschien 1936 in Aarau im „Eigenverlag
der Verfasserin“ und wurde eifrig erworben. Peter von
Matt hat erfreulicherweise zwei ihrer Gedichte in seine
wunderbare Sammlung „Die schönsten Gedichte der Schweiz“
aufgenommen und damit auf ihre besondere Bedeutung
hingewiesen. Nach Aussage meiner Verwandten, die
Stirnemann-Zysset in Aarau noch gekannt haben, wurde sie
öfter mit auffallender Kleidung und grossem Hut gesehen,
ganz versunken in ihren Kosmos. Hier eine Kostprobe ihrer
unvergleichlichen Kunst:
Inhalt
4
Wilhelm Genazino über Büchner,
Beckett und die Langeweile –
„Leonce und Lena“ und „Endspiel“
im Pfauen
8
Drei Bühnenbilder zur
Saisoneröffnung – Bettina Meyer
im Porträt
13
Das perfekte Stück –
Werner Düggelin und Stefan Pucher
über Becketts „Endspiel“
16
Herbert Meier über Thomas Jonigk
und dessen neues Stück „Weiter
träumen“ – ab 22.10. im Pfauen
19
Mit dem Regisseur Christian Stückl
durch Oberammergau – „Merlin“
ab 26.11. im Schiffbau/Halle
21
So köstlich war es nie – Kinder
kochen nach Wilhelm Hauff –
„Zwerg Nase“ ab 19.11. im Pfauen
24
Schon immer Schauspieler –
Patrick Güldenberg spielt
Werner Schwab im Schiffbau/Box
26
Wald in Farbe – Schicht mit
Malsaal-Chef Thomas Unseld
28
Büchner hören und sehen –
Ins Theater mit Katharina Epprecht
29
Mörderisches Zürich – Kolumne von
Lukas Bärfuss
Herbstzeitlose
Als letzter floristischer Wiesenschmuck,
Erscheint im Herbst die Herbstzeitlose,
Mit ihr ist es zwar so eine Chose,
Jedem Tier sie verursacht einen Ruck.
Auch der Landwirt verspürt so einen Druck,
Ausrotten möchte er sie erbarmungslose,
Doch ein so grosses Feld ist hoffnungslose,
Nur nicht das Messer in der Tasche zuck‘.
In der Sprache der Liebenden bedeute
Die Zeitlose Erinnerung an glückliche Tage,
Auf einen strengen Winter sie deute:
Wenn tief in die Erde die Knolle sich wage,
Aus dem Gift der Pharmazeute
Erleichtere Gicht- und Rheuma-Plage.
Auf in den Herbst!
Wir freuen uns auf Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,
Ihre Barbara Frey
Titel Jirka Zett als Leonce und
Markus Scheumann als Valerio in
„Leonce und Lena“
Rücktitel Nicolas Rosat und
Patrick Güldenberg in „Volksvernichtung
oder Meine Leber ist sinnlos“
4
5 Essay
Es genügt, das
Gras anzustarren
Über Büchner, Beckett und die
Langeweile, aus Anlass der
Neuinszenierungen von „Leonce
und Lena“ und „Endspiel“ im Pfauen
von Wilhelm Genazino
Die Langeweile stört uns dann am
meisten, wenn wir sie nicht brauchen
können. Wir arbeiten, wir verhandeln,
wir boxen uns durch, wir streiten und
plötzlich trifft uns der Pfeil der
„richtungslosen Zeit“ (Simone Weil):
die Langeweile. Was uns eben noch
angetrieben hat, verlässt uns im
Handumdrehen. Wir bleiben zurück wie
die Totenmaske unserer Interessen. Wir
schauen uns um, wir brauchen sofort
eine Anregung; wir hoffen, niemand möge
unsere Geistesverlassenheit bemerken.
Im Grunde ist Langeweile nur ein anderes
Wort für Zwiespältigkeit. Martin Heidegger
nannte sie einen „schweigenden Nebel“,
der das „Seiende im Ganzen offenbart“ –
was immer das heissen mag. Siegfried
Kracauer bekannte sich mutiger und
deutlicher zur Langeweile: „Ist man aber
vorhanden, so muss man sich
notgedrungen über das abstrakte Getöse
ringsum langweilen, das nicht duldet,
dass man existiere, und über sich selber,
dass man in ihm existiert“.
„Irgendetwas geht seinen Gang“: Robert Hunger-Bühler und Jean-Pierre Cornu in „Endspiel“
Für die Dauer einer als zu lang
empfundenen Zeitphase konfrontiert uns
die Langeweile mit unfreundlichen
Selbstvorwürfen. Wenn du eine andere
Frau (einen anderen Mann) geheiratet
hättest, wären deine Sinnabstürze
ausgeblieben. Wenn du einen anderen
Beruf gewählt hättest, müsstest du nicht
über die Ödnis deiner Tage klagen. Die
Langeweile ist ausserdem niederträchtig,
weil sie uns in der Krise nicht sagt, wo
der Notausgang ist. Wer sich langweilt,
ist antriebslos und hat keine Ideen, noch
nicht einmal langweilige. Langeweile ist
ironiefrei und bierernst und so traurig
wie eine Tankstelle nachts um halb vier.
Glück haben wir schon, wenn wir uns
als Gelangweilte inmitten einer grösseren
Menschenmenge befinden. Man wartet
mit vielen anderen auf einen Abflug, auf
eine Durchfahrt, auf einen Ober. In
der schier uferlosen Wiederholung des
Wirklichen haben wir plötzlich Interesse
für das Belanglose. Das Belanglose ist
das Zeichen für unsere Ankunft in der
Langeweile. Eine Frau zieht ihren rechten
Stöckelschuh aus und stellt ihn auf den
Tisch. Auch die Frau langweilt sich und
entgrenzt sich gerade. Der Stöckelschuh
steht zwischen einer Tasse Kaffee und
einem halb aufgegessenen Stück
Streuselkuchen. Die Frau legt ihr nacktes
Bein in den Schoss ihres Mannes. Der
Mann beginnt, seinen gestreckten
Zeigefinger in den Zwischenräumen der
Zehen der Frau hin- und herzuschieben.
Die Langeweile wird philosophisch, weil
sie drei Dutzend Menschen zwingt, noch
einmal und noch einmal hinzuschauen.
Dabei werden die Zuschauer auf stille
Weise mit ihrer Deplaciertheit vertraut,
die sie jetzt nicht mehr Langeweile
nennen würden. Heute Abend, wenn
sie in anderen Ländern angekommen
sind, werden sie von dieser Szene
erzählen, als hätten sie grosses Theater
erlebt. Vielleicht war es das tatsächlich.
Unter den Zuschauern befindet sich ein
junges Liebespaar. Sie sind beide um
die zwanzig. Sie sitzen nebeneinander,
beide haben eine offene Flasche Bier
in der Hand. In kurzen Abständen küssen
sich die Liebenden, in den Intervallen
dazwischen trinken sie Bier. In den
Gesichtern der älteren Wartenden zeigt
sich Abscheu. Ich vermute, die Liebenden
bemerken gerade (vielleicht zum
ersten Mal), dass auch Liebe Langeweile
hervorbringt. Diese fürchterliche
Entdeckung beantworten sie mit viel
Gekicher und Herumhampeln mit den
Flaschen. Man kann das Paar mit Leonce
und Lena vergleichen. Natürlich mit
einem wichtigen Unterschied: Leonce und
Lena stellen ihre Welt mit einem eigenen
Sprachaufwand dar. Leonce und
Lena erfinden ihre Gegenwart, indem sie
miteinander sprechen. Eben dieser
Sprachreichtum macht sie besonders, ja
einzigartig. Die Sätze von Leonce und
Lena beschreiben sogar das Bier
trinkende Paar. Zum Beispiel sagt Leonce
im 1. Akt: „Was die Leute nicht alles
aus Langeweile treiben! Sie studieren aus
Langeweile, sie beten aus Langeweile,
sie verlieben, verheiraten und vermehren
sich aus Langeweile.“ Man kann ruhig
hinzufügen: Sie trinken aus Langeweile.
Weil Leonce und Lena miteinander
sprechen können, zeigen sie den
Unterschied zwischen einer integrierten,
sozusagen humanisierten Langeweile
und einer bloss erlittenen, modernen
Langeweile, die sich einem zufälligen
Zeitstau verdankt. Das heutige, moderne
Liebespaar kommuniziert fast nonverbal
(man trinkt, kichert, küsst, begrabscht sich
und ist ein bisschen ordinär) und nimmt
damit teil an Massenunterhaltungen,
die nicht zufällig sprachlos angelegt sind.
Leonce und Lena dagegen sind sich der
Zumutung ihrer Existenz bewusst. Im
1. Akt sagt Lena: „Mein Gott, mein Gott,
ist es denn wahr, dass wir uns selbst
erlösen müssen mit unserem Schmerz?“
An einem solchen Satz erkennen wir, wie
fern uns heute die Selbsterlösung liegt
und wie nötig sie uns plötzlich scheint.
An die Utopie der individuellen Befreiung
durch eine eigene Sprachanstrengung
rührt Büchners Stück. Momentweise
haben wir den Eindruck, „Leonce und
Lena“ ist nicht für Büchners Zeit, sondern
für unsere Gegenwart geschrieben.
„Leonce und Lena“ ist ein Traumspiel,
das uns die Angst vor der Langeweile
nehmen möchte. Denn das Trauma der
endlos wuchernden Langeweile ist nichts
anderes als die Angst vor einer
überraschend eintretenden Spracharmut.
Nur wer seine Trauer ausdrücken kann,
ist ihr gewachsen. Und: Nur eine
ausgedrückte Trauer ist eine annehmbare
Trauer. Leonce und Lena können sagen,
was ihnen fehlt und sie können deswegen
auch sagen, was der Welt fehlt, damit
wir uns endlich mit ihr abfinden können.
Der Schmerz, der sich ungefragt im
Sprachmangel mitteilt, ist die treibende
Kraft in Büchners Lustspiel.
Aber man muss davon ausgehen, dass
die grosse Mehrheit der Menschen mit
der Langeweile ihren Frieden gemacht
hat. Wie gross wäre die Panik, wenn wir
plötzlich entdeckten, dass unser Leben
spannend und bereichernd sein kann wie
das Leben von Leonce und Lena. Darin
zeigt sich ein schwer zu verstehendes
Paradox: Nur in einer auf persönliche
Bedürfnisse zurechtgestutzten Langeweile
kann der Mensch die Rätsel der
Normalität unbedrängt studieren und
schliesslich annehmen. So ähnlich, wie
6
7
es Beckett oft beschrieben hat. Beckett
leistet ein Übriges: Seine Figuren,
gezeichnet durch irdische Auszehrung und
Monotonie, erleben fast alle ihre gloriose
Wiederaufrichtung, sei es als Gespenst,
Clown oder Landstreicher. Dabei kommt
bei Beckett das Wort Langeweile nicht
vor. Becketts Worte für Langeweile sind:
Trauer, Einsamkeit, Ratlosigkeit, Leere,
Scheitern, Stille, Zusammenbruch und –
das Schönste von allen – Endseufzer.
Beckett hat oft vorgeführt, mit welchen
Miniaturhandlungen seine Figuren aus der
nicht genannten Langeweile wieder
herausfinden. Das klingt zum Beispiel so:
„Es genügt, das Gras anzustarren. Wie
es regungslos hängt. Bis zu dem Moment,
da unterm unerbittlichen Blick es zu zittern
beginnt. Ein kaum sichtbares Zittern
aus seinem tiefsten Innern. Desgleichen
das Haar. Regungslos gesträubt, erzittert
es schliesslich unter dem beinahe
aufgebenden Auge …“.
In „Endspiel“ fragt Hamm: „Was ist denn
los, was ist denn eigentlich los?“ Und
Clov antwortet überwältigend wissendunwissend: „Irgendetwas geht seinen
Gang.“ Genauso ist es: Irgendetwas geht
seinen Gang – und wir merken es nicht.
Zum Beispiel erleiden Menschen
Verwandlungen, die so fundamental sind,
dass es für sie keine Worte zu geben
scheint. Man kann auch sagen: Wer nicht
aufhören kann, die Welt ernst zu nehmen,
wird komisch werden müssen. Praktisch
sieht das so aus, dass die Zuschauer
hinter dem Rücken von Hamm und Clov
(ebenso hinter dem Rücken von Nagg
und Nell) über deren ernstes Gehabe zu
lachen anfangen. Es ist (nach Becketts
Einsprüchen) nicht leicht zu verstehen,
warum Langeweile immer noch verpönt
ist. Im Grunde müsste sie uns willkommen
sein. Sie bringt endlich das, wonach wir
so oft verlangen: eine Unterbrechung der
Lebensraserei.
„Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben!“: Sarah Hostettler und Ursula Doll in „Leonce und Lena“
Man muss daran erinnern, dass Becketts
Stücke zu seinen Lebzeiten durchweg
ohne Augenzwinkern präsentiert worden
sind. Er selbst hat „Warten auf Godot“
1975 in Berlin todernst inszeniert. Todernst
heisst: unter Einschluss von Langeweile.
Erst die wiederholte Begegnung mit den
Stücken hat deren komische Abgründe
offen gelegt – wobei ich diesen Satz
nur mit Weh und Ach niederschreibe.
Es kann auch sein, dass der nicht
nachlassende Druck des Kulturklimas
der Nachkriegszeit die Komik erzwungen
hat – und wir haben es wieder nicht
bemerkt. Aber vielleicht ist die allgemeine
Lesart auch wahr und wirklich. Dann
ist die ewige Wiederkehr der Langeweile
so komisch wie (zum Beispiel) die
ewige Wiederkehr unserer Geburtstage.
Nur Kinder können, weil sie noch nicht
viele Geburtstage erlebt haben, deren
Ernst ungeschmälert erleben. Dann aber
steigert sich deren Komik (die
Langeweile), andererseits nähert sich mit
der Anzahl der Geburtstage das Ende
des Lebens. Deswegen steckt in jeder
Langeweile eine kleine Anzahlung an den
Tod; vermutlich ahnen wir das, und
vermutlich ist Langeweile deswegen so
wenig gelitten.
Becketts Herangehensweise besteht darin,
dass er beide Optiken, die lächerliche
und die ernste, auf halsbrecherische
Weise miteinander in Einklang bringt.
Man ist versucht zu sagen, bei Beckett
harmonisieren die Schrecken. Nur
wer den Ausweg der Komik kennt, kann
den Ernst ertragen, und nur wer den
Ernst erleidet, muss die Komik nicht
verdächtigen. Für die immer wieder
aufkommende Frage, ob Beckett ein
philosophischer, ein realistischer oder
ein transzendentaler Autor ist, gibt es in
„Endspiel“ einen deutlichen Hinweis.
Ausgerechnet der schwerfällige Hamm,
der das ganze Stück über seinen Sessel
nicht verlässt, ruft einmal „schwungvoll“
aus: „Lass uns beide abhauen, nach
Süden! Übers Meer … die Strömungen
werden uns forttreiben, weit weg … Mach
mir sofort das Floss. Morgen bin ich
schon weit weg!“ Aber dann, nur wenig
später, hat Hamm das Meer wieder
vergessen und fragt seinen Kumpan Clov:
„Muss ich noch immer nicht meine Pillen
einnehmen?“ Fortan ist vom Meer nicht
mehr die Rede. Was ist nun die Realität?
Das Meer, das wir wieder vergessen oder
die Pillen, die wir schlucken müssen? Die
Frage bleibt unentschieden. Bei Beckett
fasziniert der hohe Grad der Abstraktion
und der gleichzeitig mitlaufende
Realismus. Insofern beherrscht uns die
metaphysische Achterbahn: Wir sehnen
uns nach dem Meer, aber wir schlucken
unsere Pillen.
Der Autor Wilhelm Genazino wurde 1943
in Mannheim geboren und lebt seit 1970
als freier Schriftsteller in Frankfurt am
Main. Sein 20 Romane umfassendes
Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 2007
erhielt er den Kleist-Preis, 2004 den
Georg-Büchner-Preis (seine Dankesrede
„Der Untrost und die Untröstlichkeit der
Literatur“ ist in den Jahrbüchern der
Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung im Wallstein Verlag erschienen).
Seine aktuelle Roman-Veröffentlichung
„Wenn wir Tiere wären“ (Hanser Verlag,
München 2011) wurde für den Deutschen
Buchpreis nominiert. Genazino erzählt
darin ironisch, witzig und böse von einem
Mann, der den Alltag nur ertragen kann,
indem er das ordentliche Regelwerk
durchbricht.
Neu im Pfauen
Leonce und Lena von Georg Büchner
Regie Barbara Frey, Bühne
Bettina Meyer, Kostüme Bettina Walter
Mit Jan Bluthardt, Ursula Doll,
Sarah Hostettler, Sean McDonagh,
Michael Neuenschwander,
Markus Scheumann, Lilith Stangenberg,
Jirka Zett und dem Musiker
Claus Boesser-Ferrari
Endspiel von Samuel Beckett
Regie Stefan Pucher, Bühne
Barbara Ehnes, Kostüme
Marysol del Castillo, Musik
Christopher Uhe, Video Stephan Komitsch
Mit Jean-Pierre Cornu, Iris Erdmann,
Robert Hunger-Bühler, Siggi Schwientek
8
9 Werkporträt
Ohne Skizzen
Über die Bühnenbildnerin und
Ausstattungsleiterin Bettina Meyer,
die sich zu Saisonbeginn mit
drei neuen Arbeiten präsentiert
von Andrea Schwieter
Was für eine Verlockung zur SaisonEröffnung im Pfauen: Nüsse, Tee und
Kaffee in diversen Sorten, Dörrfrüchte
und Süsswaren soweit das Auge reicht ...
Die Schaufensterfassade des
stadtbekannten und traditionsreichen
Kolonialwarengeschäftes Schwarzenbach
war unverkennbares Vorbild für Bettina
Meyers Bühnenbild von „Leonce und
Lena“ in der Regie von Barbara Frey. Eine
altmodisch von Hand beschriftete Tafel
lehnt am Rahmen der Eingangstür – und
erst auf den zweiten Blick enttarnt sie
sich als trompe l’oeil, als gemaltes Detail
eines scheinbar realistischen Geschäftes.
Überhaupt der zweite Blick: Ist nicht
auch die Hausnummer erstaunlich gross
geraten? Die Eingangstür riesenhaft? Als
sich das Schwarzenbach mittels
Videoprojektion der Schaufenster auf
nahezu magische Weise in ein gehobenes
Modegeschäft der Zürcher Bahnhofstrasse
verwandelt, dann in eines für Dessous,
später in ein Hotel, wird deutlich: Nichts
ist klar in dieser Welt von Sein und Schein,
weil es Dinge gibt, die mittels Ratio nicht
zu fassen sind.
„Alles muss weg!“ Begehbare Stadtinstallation in der Schiffbauhalle
Wieder ein paar Tage später in der
Schiffbauhalle: „Kollision am Bürkliplatz!“
Lautsprecherverzerrte Stimmen
kündigen Unvorhergesehenes und
Geplantes an in der gewaltigen
begehbaren Stadtinstallation „Alles
muss weg!“, die Bettina Meyer
zusammen mit Lukas Bärfuss, Katja
Hagedorn, Anja Kerschkewicz und
Zwei Tage später in der Box: Zwischen
Nadia Schrader erfunden und in der
Wänden aus grossen Papierbahnen
Schiffbauhalle realisiert hat. Aus
steht die viel zu kleine weisse, leicht
Gerüstmaterial, Containern und Teilen
heruntergekommene Einbauküche, in
bestehender oder abgespielter
der sich der Krüppel und verhinderte
Künstler Hermann Wurm und seine Mutter Bühnenbilder ist eine ganz eigene
temporäre Stadt entstanden, die sich
in Werner Schwabs Radikalkomödie
mittels künstlerischer Interventionen,
„Volksvernichtung oder Meine Leber ist
Dokumentation, theoretischem
sinnlos“ (Regie Heike M. Goetze)
Diskurs mit den architektonischen,
mehr oder weniger wohnlich eingerichtet
städteplanerischen, philosophischen
haben, der Herd ist zu niedrig, der
Perspektiven Zürichs auseinandersetzt.
Küchenschrank zu schmal, der Tisch zu
Der „Stadtwald“ (aus den Bäumen
klein. Familie Kovacic hingegen, ein
der „Malaga“-Aufführung) lädt zum
Drehbühnendrittel weiter ansässig und
Spaziergang ein, ein Container bietet mit
zwischen den durch die Drehung der
Bühne zerrissenen Papierbahnen hausend, „Raum pro Kopf“ erlebbare Statistik, in
verwinkelten Ecken und Gängen findet
besitzt nebst einer unbedeutenden
sich Dokumentarisches und Spielerisches.
Schrankwand nur ein einziges Möbel:
ein unendlich grosses plastikbezogenes
Drei Szenerien, die unterschiedlicher
lachsfarbenes Sofa, das den
nicht sein könnten, stehen am Anfang der
unverrückbaren und inzestuösen
dritten Saison unter der Intendanz von
Lebensmittelpunkt der Familie bildet.
Barbara Frey am Schauspielhaus
Zürich und alle tragen sie die Handschrift
der Bühnenbildnerin Bettina Meyer –
dass drei grosse Arbeiten parallel
realisiert werden können, ist für jede
Bühnenbildnerin eine Ausnahmesituation,
die nur mit einer gewaltigen
Kraftanstrengung, einem gewissen Mass
an Sturheit und Durchsetzungskraft
sowie einer grossartigen Assistentenriege
an der Seite bewältigt werden kann.
Bereits in den letzten beiden Jahren waren
einige von Bettina Meyer entworfene
Bühnenbilder am Schauspielhaus zu
sehen: Auf die Eröffnungspremiere
„Maria Stuart“ folgten „Warum läuft Herr
R. Amok?“, „Triumph der Liebe“ (ein
Bühnenbild, das regelmässig beklatscht
wurde, sobald sich der Vorhang
hob), „Malaga“, „Fegefeuer in Ingolstadt“,
„Stiller“, „Der Hodler“, „Quartett“.
Zu Beginn ihrer Karriere als
Bühnenbildnerin – sie war noch
Assistentin am Hamburger Schauspielhaus
bei der damaligen Ausstattungsleiterin
Anna Viebrock – stand eine Arbeit, über
die Bettina Meyer noch heute auffallend
oft spricht: In einem stillgelegten
Schiessstand ausserhalb Hamburgs, in
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„Medea“ von Euripides, Regie Barbara Frey (Berlin, 2006 / Zürich, 2011)
„Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ von Werner Schwab, Regie Heike M. Goetze (Zürich, 2011)
„Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleisser, Regie Barbara Frey (Zürich, 2010)
„Leonce und Lena“ von Georg Büchner, Regie Barbara Frey (Zürich, 2011)
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dem in den letzten Monaten des NSRegimes sogenannte Wehrkraftzersetzer
Erschiessungskommandos
gegenübergestellt wurden, erfand sie eine
Welt aus mechanischen Skulpturen und
bewegten Bildern, einen Gedächtnisraum
als Auseinandersetzung mit
Erinnerungsritualen. Dass das Installative
nun im Zürcher Urbanitätsprojekt eine
Fortsetzung gefunden hat, ist kein Zufall –
auch ihre Bühnenräume haben oft fast
installativen Charakter; sie sucht die
Reibung an der Realität, die leichten
Wahrnehmungsverschiebungen im Blick
auf scheinbar Bekanntes.
Es sind keine gemütlichen Räume, die
zum Verweilen oder Wohlfühlen einladen,
die Bettina Meyer entwirft, keine
Rückzugsorte, die Schutz oder Wärme
bieten. Vielmehr sind die Figuren auf sich
selbst zurückgeworfen, oft sogar fast
voyeuristisch der Beobachtung anderer
ausgesetzt, wie in „Fegefeuer in
Ingolstadt“, wo es unangenehm dunkle
und sich über das ganze Bühnenbild
ziehende Sehschlitze gab, die das
misstrauische und jede Privatheit
negierende Klima von Marieluise Fleissers
Figuren gnadenlos offenbarten. In
„Geschichten aus dem Wiener Wald“ in
Salzburg und München waren weisse
Wände mit runden Öffnungen versehen,
durch die neugierige Blicke und Gesichter
von aussen das Geschehen verfolgten.
In der Uraufführung von Lukas Bärfuss‘
„Malaga“ waren es die Zuschauer selbst,
die zu Voyeuren wurden und die drei
Schauspieler auf einer minimal kleinen
Spielfläche mitten in einem Wald aus
Koniferen und Farnen ausgestellt sahen.
Überhaupt entsprechen die
Grössenverhältnisse in Bettina Meyers
Räumen selten der Realität – sei es
das überdimensionierte Kovacic-Sofa in
„Volksvernichtung“, die riesenhafte
Eingangstür zu den verheissungsvollen
Geschäften in „Leonce und Lena“ oder
der über 30 Meter lange Leuchtsteg in
Heiner Müllers „Quartett“, der von zwei
langen Zuschauertribünen gesäumt
quer durch die Schiffbauhalle verlief und
damit spielte, dass man die beiden
Protagonisten mal voyeuristisch viel zu
nah, mal aus einer viel zu grossen Distanz
verfolgte. Auch scheint Bettina Meyer
13 Gespräch
Das perfekte Stück
einem dokumentarischen oder falschen
Naturalismus zu misstrauen. Selten sind
ihre Räume ausformuliert, selten gibt
es viele Requisiten, die ein bestimmtes
Milieu näher definieren würden. Meist
bleiben sie abstrakt und hinterfragen auf
zeichenhafte und poetische Weise
Sehgewohnheiten, schärfen den Blick
und die Wahrnehmung des Zuschauers.
Das zeigt sich insbesondere in ihren
Bühnenbildern für Arbeiten der Regisseurin
Barbara Frey, mit der sie eine inzwischen
achtzehnjährige Zusammenarbeit
an unzähligen Theatern von Basel über
Mannheim, Berlin, Wien, Salzburg,
München bis nach Zürich verbindet.
Barbara Freys überaus präzise und
tiefenforschende Regiearbeit erfährt in
Bettina Meyers Räumen eine bildnerische
Entsprechung, oft auch eine Reibung,
die den Blick auf die auf sich selbst
verwiesenen Figuren befördert. Ihre
Bühnenbilder ermöglichen und lenken den
Fokus auf jede noch so kleine Geste,
Schauspielergesichter werden gross und
enorm präsent.
Bettina Meyer schätzt die Arbeit mit so
unterschiedlichen Regisseurinnen und
Regisseuren wie Barbara Frey, Heike M.
Goetze oder Ruedi Häusermann (zuletzt
„Der Hodler“ in der Box im Schiffbau).
Während Barbara Frey Theatermittel wie
Video, Requisiten, Theaterblut etc. sehr
reduziert einsetzt, leben die Arbeiten von
Heike M. Goetze davon, dass die Mittel
benutzt werden, manchmal bewusst
im Übermass und in einer grossen Form –
und immer mit einer enormen
Körperlichkeit. In Ruedi Häusermanns
Arbeiten wiederum bildet der Raum
gleichberechtigt mit Text und Musik eine
Art Gesamtkunstwerk. Nebst Bühnenund auch Kostümbildern im Schauspiel
arbeitet Bettina Meyer auch regelmässig
und gerne im Musiktheater – sei es
mit Christoph Marthaler („Invocation“),
Barbara Frey oder demnächst in
Antwerpen.
An einer Arbeit wie dem Urbanitätsprojekt
weiss sie zu schätzen, wie ihre Arbeiten
mit denen der Assistentinnen in
einen Dialog treten. Denn wenn sie als
Ausstattungsleiterin junge Leute ans
Schauspielhaus Zürich holt, sie fördert
und fordert – dann auch, um selbst immer
wieder neu inspiriert zu werden. Weil die
Nachkommenden sich mit anderen
Künstlern beschäftigen, andere Fragen
stellen, anders auf die Welt schauen.
Der Prozess des Erfindens eines
Bühnenbildes bleibt jedoch unabhängig
von der Regie derselbe: Wichtig ist
Bettina Meyer dabei nebst der Lektüre
des Textes das allererste Gespräch
mit der Regisseurin oder dem Regisseur,
in dem Assoziationsfelder oder
Atmosphären besprochen werden. Später
arbeitet sie fast ausschliesslich über
Adjektive, über die sich ihre ganz
subjektive Wahrnehmung einstellt: Ihre
Räume entstehen dreidimensional im Kopf
und nicht anhand von Skizzen. Wenn
sich eine Idee noch nicht einstellen will,
kann sie nicht durch Fleiss am Reissbrett
erzwungen werden.
Während ihres Bühnenbildstudiums an der
HdK Berlin hat sie vor allem eines gelernt:
dass man sich die Fragen nicht nur selbst
stellen, sondern auch selbst beantworten
muss. Der Auftrag muss von einem selbst
kommen. Vielleicht, sagt die Künstlerin
Bettina Meyer, sei das der Unterschied
zwischen Handwerk und Kunst.
W.D. – Einmal hat man Beckett gefragt:
Sind Sie eigentlich gegen die Alten, dass
Sie die …
S.P. – … in die Mülltonnen stecken?
Das hat man ihn wirklich gefragt? (lacht)
W.D. – Er meinte nur: Nein, aber wie soll
ich sie sonst auftreten lassen? So muss
ich nur den Deckel aufmachen und schon
sind sie da. Aber ich habe noch einen
schönen Satz von Beckett: „Ich habe
keine Erklärung für Rätsel anzubieten, die
Journalisten selbst erfunden haben. Bei
meinem Werk geht es um Grundtöne, die
so voll wie möglich gestaltet sind. Für
alle anderen bin ich nicht verantwortlich.
Wenn die Leute im Bereich der Obertöne
Kopfschmerzen bekommen, dann sollen
sie sich ihr Aspirin selbst beschaffen.“
„Das Spiel muss man ernstnehmen“: Werner Düggelin und Stefan Pucher
Der Regisseur einer legendären
„Endspiel“-Inszenierung am Pfauen,
Werner Düggelin, und der Regisseur
der aktuellen Neuinszenierung,
Stefan Pucher, im Gespräch über
Beckett und über Spiele, auf der
Bühne und auf dem Rasen
Stefan Pucher – Im Unterschied zu
Ihnen habe ich ja noch nie ein Stück von
Samuel Beckett inszeniert ...
Werner Düggelin – Ich kannte Beckett
ziemlich gut. Als er „Endspiel“ aus dem
Französischen ins Englische übersetzte,
schlug man ihm „End of Game“ als Titel
vor, also Ende des Spiels. Beckett fand
das aber völlig falsch und nannte sein
Stück „Endgame“, wie beim Schach.
S.P. – Oder beim Fussball. Es steht 0:0 –
und man will nur nicht mehr verlieren.
Der Titel kommt tatsächlich vom Sport.
W.D. – Ja, und von Marcel Duchamp.
S.P. – „Endspiel“ ist so unglaublich genau
geschrieben, dass wirklich alles schon da
steht, wie bei Duchamps „Readymades“ –
alles ist schon da, man muss die Kunst
nur sehen. Meine Regieanweisungen
sind im Prinzip nur die, die auch im Text
stehen. Einer muss halt auf das Spiel
gucken und das bin ich. Aber es ist schon
schwer genug, es so zu machen, wie
es da steht. Auch für die Schauspieler.
W.D. – Das Faszinierende ist ja, dass
wenn du aus dem Streichholz-Turm
ein einziges Streichholz herausnimmst,
alles in sich zusammenfällt.
S.P. – Ich muss gestehen, dass ich
schon Lust habe, das eine oder andere
Streichholz herauszuziehen und zu
schauen, was dann zusammenfällt ...
Man kann ja auch was umwerfen und
dann sagen, es war nur Spass! Und
sofort steht das alles wieder. Beckett
ist, genau wie Tschechow oder
Shakespeare, einfach Theater.
W.D. – Das sind für mich die drei
Grössten ... Ach, die Leute ärgern
mich so oft mit Beckett. Am meisten
ärgern sie mich, wenn sie sagen,
seine Stücke seien Absurdes Theater.
S.P. – Im Gegenteil: Seine Stücke
sind sehr konkretes Theater.
S.P. – Beckett hatte – wie man am
Beispiel mit den Mülltonnen sieht – ein
unglaubliches Theaterverständnis, wie
eben auch Shakespeare oder Tschechow.
Wenn bei Shakespeare jemand stirbt,
gibt es fast immer ein Wortspiel, das
klarmacht, dass er nicht wirklich tot ist:
„It’s just a counterfeit“, sagt Falstaff. Es
gibt immer ein Bewusstsein des Spiels.
Es geht um nichts, aber es geht um
alles. Bestimmte Sätze tauchen auch bei
Beckett immer wieder auf, wie zum
Beispiel „Jetzt bin ich dran“, also: „Jetzt
spiele ICH“. Oder es kann auch bedeuten
„Jetzt SPIELE ich“ im Sinne von „das ist
nicht Ernst“.
W.D. – Ich glaube Letzteres! Beckett hat
unglaublich viel über den Schauspieler,
über das Theater an sich verstanden. Und
ich glaube, er hat auch einfach grausam
viel über Menschen gewusst. Er war ein
unendlich belesener Mensch. In seiner
ganzen Zeit als Sekretär bei James Joyce
hat er nichts anderes getan als zu lesen.
S.P. – Bei Shakespeare gibt es in jedem
Stück Monologe, die darauf hindeuten,
dass alles nur ein Spiel oder ein Traum
ist. Beckett zitiert das in seinen
Monologen und fragt auch, was das
eigentlich ist, ein Monolog? Meistens
geht es in Monologen um die
menschliche Existenz oder den Tod –
aber solange ich rede, lebe ich! Ich spüre
14
15
sich irgendwie verlagert. Der Rausch
besteht derzeit ja darin, dass man den
Ball eigentlich nur für eine oder zwei
Sekunden hat. Früher bestand der Rausch
im Dribbeln.
manchmal einen, vielleicht auch
gespielten, Nihilismus in der Frage, ob es
überhaupt richtig ist, dass etwas existiert.
W.D. – Dass es weitergehen würde – das
wäre doch die grösste Katastrophe, oder?
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Mi, 9.11.2011
Di, 17.1.2012
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11/12 ZÜRI CH
Mo, 19.3.2012
Mo, 23.4.2012
Mo, 7.5.2012
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Zubin Mehta (Leitung), Francesco Piemontesi (Klavier)*
Werke von Mozart, Beethoven
Brandenburgisches Staatsorchester Frankfurt
Howard Griffiths (Leitung), Julian Rachlin (Violine)
Daniel Schnyder (Saxophon)*
Werke von Daniel Schnyder, Mendelssohn, Bruckner
Orchestre National de France
Daniele Gatti (Leitung), Antonio Meneses (Violoncello)*
Werke von Fauré, Saint-Saëns, Debussy, Ravel
Moscow Virtuosi Chamber Orchestra
Vladimir Simkin (Leitung), Sarah Chang
(Leitung und Violine «Die vier Jahreszeiten»)
David Pia (Violoncello)*
Werke von Vivaldi, Tschaikowski
Philharmonia Orchestra
Philippe Jordan (Leitung), Oliver Schnyder (Klavier)*
Werke von Brahms, von Weber, Beethoven
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S.P. – Es ist wirklich ganz schwer,
darüber zu sprechen. Das Stück berührt
Fragen, die jeder Mensch, der sich diesen
Text anhört, mit seiner eigenen Existenz
assoziiert, z.B. mit der grossen Frage
nach dem Tod – wie kommt er, wie sieht
er aus? Was kommt danach?
W.D. – Es stellt die grossen Fragen – aber
eben auf Beckett’sche Art. Bei den
Proben für die Uraufführung von „Warten
auf Godot“ – bei denen ich dabei sein
durfte – kam Beckett hin und wieder
vorbei. Das Schlimmste war für ihn
immer, dass ihn die Schauspieler fragten,
was denn dieser oder jener Satz heisse?
Beckett sagte dann immer: „Rien“.
Er meinte damit natürlich nicht, dass der
Satz nichts heisst, sondern er wollte,
dass der Schauspieler diesen Satz dem
Publikum nicht erklärt. Genauso, wie
er die Mülltonnen nicht erklärt hat – er
hat sie einfach aus technischen Gründen
benötigt. Was mich aber immer wieder
beschäftigt und worauf ich keine Antwort
habe: Als „Warten auf Godot“ uraufgeführt
wurde, war es unendlich schwer zu
verstehen und voller Rätsel. Heute ist das
komplett anders, es ist ganz einfach zu
verstehen.
S.P. – Die Zeit kommt dem Stück entgegen
– es wird eigentlich immer verständlicher.
Damit meine ich aber kein PseudoVerständnis, z.B. in Bezug auf unseren
Umgang mit den Alten in der
Gesellschaft. Das wäre völlig idiotisch.
„Warum hast Du mich gemacht?“, fragt
der Sohn. Darauf der Vater: „Ich wusste
doch nicht, dass DU es werden wirst.“
Da werde ich todtraurig. Das ist einfach
genial von Beckett. Ich habe wirklich noch
nie ein Stück inszeniert, das so perfekt
ist. Ich bin auch sehr froh, dass das Stück
so viel Humor hat ...
W.D. – Beckett schrieb es für Roger
Blin, den Regisseur von „Godot“, was ein
Riesenerfolg war. Als sie in Paris
„Endspiel“ probten, wurden sie nach zwei
Monaten vom Theater rausgeschmissen.
Und fanden tatsächlich kein Theater in
Paris. Deshalb erfolgte die Uraufführung
in London. „Endspiel“, nicht „Godot“, war
Becketts Lieblingsstück.
S.P. – Was an „Endspiel“ auch ganz toll
ist, ist, dass dem Regisseur vorgeführt
wird, wenn seine Arbeit leerläuft. Hamm
beispielsweise gibt immer Kommandos,
als wäre er auch eine Art Regisseur und
Clov führt diese einfach aus. Unsinnige
Kommandos – wie ein Regisseur,
dem nichts Richtiges einfällt, der aber,
um seine Autorität zu wahren, halt
irgendwelche Anweisungen gibt. Wie
dann der Schauspieler, oder eben Clov,
W.D. – Das kann heute nur noch einer,
nämlich Messi.
S.P. – Das Spiel hat immer eine
Bedeutung. Auch bei Beckett.
Norbert Schwientek und André Jung
(1991)
W.D. – Ohne Spiel könnten Hamm und
Clov nicht leben.
S.P. – Das ist ja die einzige Chance, die
sie noch haben.
W.D. – Mich fasziniert an „Endspiel“
auch diese wahnsinnige Angst, dass es
NICHT zu Ende sein könnte. Hamm hat
doch eine fürchterliche Angst, dass die
Welt nicht zu Ende sein könnte, dass es
weitergeht. Und deshalb hat er auch
Angst vor jeder Mikrobe, weil die ja etwas
zeugen könnte.
Robert Hunger-Bühler und
Jean-Pierre Cornu (2011)
den Chef aushebelt mit seinem
Widerstand, das ist toll.
W.D. – Aber immer als Widerstand, der
nicht als Widerstand deklariert ist, das
finde ich so wichtig.
S.P. – Es gibt ja Leute, die spielen
Gesellschaftsspiele, sagen wir Monopoly,
verlieren und sagen dann: „Ist ja eh
nur ein Spiel ...“ Da werde ich immer
wahnsinnig. Das Spiel muss man
ernstnehmen. Im Fussball, in einem
WM-Endspiel zum Beispiel, geht es ja
eigentlich um nichts …
W.D. – Ach, Fussball ist ein Traumspiel.
Es ist eine Katastrophe für mich, wenn
ich ein Spiel von Dortmund verpasse. Ich
habe das „Champions League“-Endspiel
gesehen, Manchester gegen Barcelona …
S.P. – Das war zum Niederknien. Sowas
gibt es ja nicht oft, das ist geradezu
magisch, dass elf Leute ohne Telepathie
in solch einer traumwandlerischen
Sicherheit zusammen Fussball spielen.
W.D. – Es gab einmal einen grossen
Trainer, Helmut Benthaus – übrigens ein
Theaterverrückter. Der war zu meiner
Zeit in Basel, und ich durfte einmal bei
einem Freundschaftsspiel des FCB gegen
die Bayern auf der Trainerbank sitzen.
Und ich frage Benthaus: „Du, erklär mir
mal, warum der Beckenbauer so viel
besser ist als die anderen.“ Und er: „Das
ist ganz einfach. Der hat auch hinten
zwei Augen.“ Heute haben die alle hinten
zwei Augen und wissen genau, wo sich
der andere gerade jeweils aufhält.
S.P. – Interessant, wie sich das Spiel
momentan entwickelt – der Rausch hat
S.P. – Ich frage mich immer, ob das die
Angst ist, dass die Welt ohne ihn
weitergeht …
W.D. – Nein, ich glaube nicht. Sondern
dass die Welt überhaupt weitergeht. –
Sag, gegen wen spielt Dortmund am
Samstag?
S.P. – Keine Ahnung, ich bin Bayern-Fan.
W.D. – Bayern-Fan …
Transkription Eva-Maria Krainz
Redaktion Andrea Schwieter
Werner Düggelin, geboren 1929 im
schwyzerischen Siebnen, erlernte in Paris
die Theaterregie und war 1953 beteiligt
an der Uraufführung von Samuel Becketts
„Warten auf Godot“. Von 1968 bis 1975
war Düggelin Künstlerischer Direktor
des Theater Basel. Seitdem arbeitet
er als freier Regisseur an den grossen
deutschsprachigen Theatern. Am
Schauspielhaus Zürich inszenierte
Düggelin 1991 „Endspiel“ mit Norbert
Schwientek und André Jung in den
Hauptrollen. Zuletzt war am Pfauen seine
Inszenierung „Volpone“ zu sehen, im
Mai 2012 führt er bei „Das Glas Wasser“
von Eugène Scribe Regie.
Stefan Pucher, 1965 in Giessen geboren,
war von 2000 bis 2004 Hausregisseur
am Schauspielhaus Zürich und blieb
diesem Haus auch danach verbunden.
Seine Zürcher Inszenierungen von „Drei
Schwestern“, „Richard III.“ und „Homo
Faber“ wurden zum Berliner
Theatertreffen eingeladen, ebenso 2011
„Tod eines Handlungsreisenden“ von
Arthur Miller. Seine Inszenierung von
„Endspiel“ mit Robert Hunger-Bühler als
Hamm und Jean-Pierre Cornu als Clov
hatte am 30. September im Pfauen
Premiere.
16
17 Stückporträt
Hinweg über die
Verwundungen des
Lebens
Über Thomas Jonigk und sein
neues Stück „Weiter träumen“,
das im Pfauen uraufgeführt wird
von Herbert Meier
Wie Thomas Jonigk brennende
Gesellschaftsstoffe in Theater zu
transformieren vermag, zeigte im
vergangenen Mai in der Box im Schiffbau
sein Stück „Täter“, das vom sexuellen
Missbrauch handelt. Das Gespielte
wird bei ihm zum abgespiegelten Leben,
wie man es zu kennen meint. Im
Innenraum des Theaters aber wirkt es
szenisch entfremdet und erscheint umso
eindringlicher. In ihrem Hintergrund
verraten die Dialoge, so leicht sie
daherkommen, eine tiefe Verletztheit
vom Leben selbst, wie es ist und doch
anders sein könnte. Das lässt sich
auch bei seinem neuen Stück „Weiter
träumen“ beobachten. Beim Lesen dieser
melancholischen Komödie versuche ich,
der Verfahrensweise des Autors auf die
Spur zu kommen. Dabei ist mir natürlich
bewusst, eines ist der geschriebene
Text, ein anderes seine inszenierte Lesart
und ein drittes das Erlebnis eines
Stückes in den Augen des Zuschauers.
Theater ist eine Kunst der wechselnden
Anschauungen und Interpretationen.
Thomas Jonigk schreibt seine Stücke in
einer Zeit, die man als postdramatisch
bezeichnet. Er erzählt nicht Geschichten
nach einer klassischen Dramaturgie.
Er stellt Augenblicke und Situationen von
Figuren dar, in denen Traumata der
Gesellschaft erlitten und kritisch befragt
werden. In seinem Libretto „Der
Sandmann“ (nach E.T.A. Hoffmann) kann
man Themen zum Stück „Weiter träumen“
entdecken. Es sind dies die sexualisierten
Beziehungen der heutigen Gesellschaft,
die Kälte in der menschlichen Welt, die
„atomisierten“ Gefühle. Ein formelhafter
Ausdruck aus dem „Sandmann“:
„Fatalistisch. Und doch utopisch“ könnte
auch die Grundstimmung des neuen
Stückes bezeichnen.
„Fatalistisch. Und doch utopisch“: Der Schriftsteller Thomas Jonigk
In solchen Paradoxien bewegen sich
Handlung und Personen. Nicht die
Handlung hat ihre Peripetien (etwa im
aristotelischen Sinne von „Umschwüngen
der Glücksumstände in ihr Gegenteil“),
sondern die Figuren. Nicht deren
Handlungen, sondern ihre inneren
Wünsche und Abgründe werden zu
Szenen. Das Ausgedachte und Erträumte
selbst ist der Grundimpuls ihres Daseins.
Sie sind unmittelbar ihren Traumata
und Sehnsüchten ausgeliefert und fallen
von einem Verhalten ins andere, von
Aggression in Freundlichkeit, von heftigen
Hassausbrüchen in Umarmungen,
von Gleichgültigkeit in Leidenschaft, von
Nüchternheit in Emphase. Sie sind
„atomisiert“, im innersten Kern gespalten,
nicht nur in ihren Gefühlen, auch in ihrem
Denken und Verhalten zum anderen.
Die Situationen folgen sich sprunghaft,
unerwartet und überraschend als ein
szenisches Puzzle. Das Ganze findet nicht
als geschlossenes Drama statt, vielmehr
in oft rasch vorüberziehenden
Minidramen. Es hinterlässt indessen
ein Grundgefühl von Mitleiden und
Befreiung und bewirkt so eine kritische
Katharsis. Es möchte die Gesellschaft
trotz allem Unabwendbaren nicht in ihren
traumatischen Fatalitäten belassen.
Immer wieder blitzen neue, wenn auch
utopische Hoffnungen auf. Das bedeutet,
wer weiter(hin) über die Verwundungen
des Lebens hinwegträumt, kann es
ertragen.
„Weiter träumen“ spielt in einem
Krankenhaus. Doch will es keine
Spitalrealität auf der Bühne. Was im
leeren Raum steht, ist ein
Weihnachtsbaum. Er weist auf die Zeit
hin, wo es in Krankenhäusern einsam
wird. Das Ganze spielt auf der
Intensivstation, vor „Zimmer 114“, in
dem der Diplomat Bockmann im
Koma liegt. Er ist der kaum sichtbare
Protagonist. Um ihn dreht sich
buchstäblich alles. Seine Frau Silvia
hofft, nach einer über 40 Jahre geführten
Ehe, er erwache als ein anderer, als
der, der er zeitlebens war. Durch sie
und die andern Personen: eine
Krankenschwester, ein Arzt, Tochter
Hildegard, Hans und die Anwältin Ursula
werden die Lebensverhältnisse rund
um Bockmann aufgedeckt und entlarvt.
Eine erste expositionelle Szene deutet
schon Jonigks Verfahrensweise beim
Stückeschreiben an. Nach zwei, drei
kaltschnäuzigen Repliken gibt Ursula sich
als die Retterin des Verunfallten zu
erkennen. Woraufhin die Stimmung in
eine angestrengte Freundlichkeit
umschlägt. Man isst Kekse und unterhält
sich: Frauen unter sich. Dann einer der
anklagenden Ausbrüche, wie sie Jonigks
Figuren oft haben: Ursula ereifert sich,
in scheinbar unsinniger Weise, plötzlich
über die Übergewichtigen und Fettleibigen
in den USA. Solche Ausbrüche können
seelische Verwundungen tarnen, die
nach und nach in der fortschreitenden
Entwicklung einer Person ans Licht
kommen. Es folgt dann, wie an anderen
Stellen auch, einer jener Momente, wo
ein Wort mitten in ein unversehenes
Schweigen fällt. „Ursula versinkt in
Gedanken. Silvia schüttelt traurig den
Kopf“, lautet die Regieanweisung.
Dann: „SILVIA (für sich) Das Leben.“ –
„URSULA (aufschreckend) Wo?“
Silvia, die ein Wohlstandsleben führte,
wird von den Geliebten ihres Mannes
verhöhnt als eine „unten rum
versteinerte“ Frau. Und wieder folgt
mitten im aggressiven Streit durch ein
einziges Wort („Haben Sie gar keine
Achtung vor sich selbst?“) ein perplexer
Umschwung: „Eine Attacke von
Nachdenklichkeit.“ Dann: „Schweigen.“
In solchen Momenten wird eine für
Jonigks Theater typische
Hintergrundstimmung spürbar: Liebe
und Selbstachtung wären doch das
Bessere als purer Sex und Aggression.
Indessen sexualisiert sich die
Gesellschaft zusehends, Einsamkeit und
Selbstentfremdung greifen um sich,
Zustände, an denen die Menschen im
Grunde leiden. Sie schwimmen im Leeren
ihrer Verhältnisse und wissen im
Innersten doch um jenes andere, das sie
ersehnen. Im Ausdenken und Träumen
wird es flüchtig Gegenwart. Über dem
Ganzen schwebt bei aller komödienhaften
Leichtigkeit der Dialoge und Einfälle eine
Melancholie.
Das Wort „Liebe“ ist längst zum
gesellschaftlichen Tabu geworden. Die
Vokabel „Sex“ hat es verdrängt, als
könnte Sexualität die Liebe ersetzen.
Sex ist das Abenteuer, nicht mehr die
18
dauerhafte Liebe. Und doch scheint
die Liebe mitten in der sexualisierten
Gesellschaft so etwas wie eine höhere
Traumexistenz zu führen. Sie produziert
in den Menschen Imaginationen, in
denen sie gleichsam Leben annimmt
und doch als das Ungreifbare erfahren
wird.
Silvia kann ein Wort wie „Liebe“ nicht
mehr hören. Die enttäuschende Beziehung
ihres Lebens hat es in ihr abgetötet,
obschon es das nennt, was sie sich im
Innersten noch jetzt in ihren späteren
Jahren erwünscht. Die Begegnung
mit einem jungenhaften Mann namens
Hans erweckt in ihr eine neue
Liebesempfindung.
Hans ist die heitere Person in „Weiter
träumen“. Auch er trägt wie
andere Figuren ein Gegengesicht. Seine
Heiterkeit ist die Maske eines
Selbstmordversuchs, dem er entgangen
ist. Nun kommt er mit der Leichtigkeit
eines Harlekins daher und bezaubert
Silvia. Allein schon zu reden mit ihr findet
er erotisch. Als einziger in diesem Stück
spricht er die Worte „Liebe“ und
„lieben“ aus, auch wenn er weiss, wie
abgenutzt sie sind. Er erklärt Silvia seine
Liebe und beschenkt sie. Er versetzt sie
in ihre jungen Jahre, in denen sie
Balletttänzerin war. Endlich erlebt sie in
einem selbstvergessenen Tanz wieder
soetwas wie Liebesbegeisterung.
19 Reise
Doch die Ernüchterung folgt auf dem
Fuss. Ihr Mann erwacht aus dem Koma
und zeigt sich als der Gleiche, der er
schon immer war.
französischer Übersetzung ausgezeichnet.
Der Autor inszeniert auch selbst, zuletzt
das libanesische Stück „Biokhraphia“ in
der Kammer des Pfauen.
Silvia findet indessen in Hans eine neue
Liebe, oder schwebt diese Liebe am
Ende doch im Irrealen? Das Stück endet
in einem lyrischen Akkord, in dem
atmosphärisch noch einmal seine
Grundstimmung aufklingt: ein Schweben
zwischen Realität und Imagination,
zwischen „Aufwachen“ und „Weiter
träumen“, wie es, nach einem Wort
Thomas Jonigks, der „Ungreifbarkeit der
Liebe“ entspricht.
Herbert Meier lebt als Autor und
Übersetzer in Zürich. Von 1977 – 1982 war
er Chefdramaturg am Schauspielhaus
Zürich. 2009 wurde Paul Claudels „Der
Tausch“ in seiner Neuübertragung in der
Box gespielt. Jüngste Publikation: „Das
Erhoffte will seine Zeit – Gedichte und
Prosa“ (Johannes Verlag, Freiburg 2010).
Thomas Jonigk ist seit 2009 am
Schauspielhaus Zürich als Schriftsteller
und Dramaturg tätig. Seine Bearbeitung
von Gottfried Kellers Roman „Martin
Salander“ wurde im Pfauen von Stefan
Bachmann uraufgeführt, sein Stück „Täter“
lief in Daniela Löffners Regie in der
Box im Schiffbau. Nun kommt sein Stück
„Weiter träumen“ im Pfauen zur
Uraufführung, inszeniert von Christof Loy.
Ausser Theaterstücken schreibt Jonigk
Drehbücher, Libretti (u.a. für Olga
Neuwirth und Andrea Lorenzo Scartazzini,
der momentan sein Libretto „Der
Sandmann“ für das Theater Basel
vertont). Jonigk erhielt zahlreiche Preise,
2009 wurde sein zweiter Roman
„Vierzig Tage“ mit dem „Prix Amphi“ als
bester nicht-französischer Roman in
Grias di, Grisdian!
Ein Besuch beim „Merlin“-Regisseur
Christian Stückl in seinem
bayerischen Heimatort Oberammergau
von Roland Koberg
Weiter träumen
von Thomas Jonigk
Uraufführung
Regie Christof Loy, Bühne Jan Versweyveld,
Kostüme Ursula Renzenbrink, Musik
Mathis Nitschke, Choreographie
Thomas Wilhelm
Mit Klaus Brömmelmeier, Fritz Fenne,
Silvia Fenz, Julia Kreusch,
Christoph Quest, Friederike Wagner,
Susanne-Marie Wrage
Ab 22. Oktober im Pfauen
Endlich wieder soetwas wie Liebesbegeisterung: Silvia Fenz (Silvia) und Fritz Fenne (Hans)
Die Träume, die man als Kind so hat,
hat Christian Stückl schon verwirklicht.
Mit zehn Jahren wusste er, dass er
einmal im Haus gegenüber des elterlichen
Wirtshauses wohnen wollen würde –
und lebt da nun, als Hausbesitzer,
nachdem er zuerst als Untermieter
eingezogen war. Ebenso wusste er als
Kind, dass er einmal Spielleiter der
Oberammergauer Passionsspiele sein
wolle, jenem alle zehn Jahre angesetzten
katholischen Mysterientheater mit
2000 Laiendarstellern, das zigtausende
Besucher aus aller Welt anzieht – er
wurde der jüngste Spielleiter aller Zeiten,
leitet die Passion nun seit mehr als
20 Jahren, zuletzt 2010. Als Spielleiter hat
er sogar erreicht, dass auch in den
spielfreien neun Sommern unterm Dach
des riesigen Passionstheaters
Oberammergau Schauspiel gemacht wird,
zuletzt gab man „Joseph und seine
Brüder“ nach Thomas Mann. Stückl hat
also wieder einen Grund mehr, nach
Hause in den Ort seiner Kindheitsträume
zu fahren, meistens von München aus.
Dort leitet der in unverfälschtem
Oberbairisch parlierende 49-jährige seit
2002 das Volkstheater.
Wenn man mit Christian Stückl in
Oberammergau unterwegs ist, dann gibt
es praktisch keinen einheimischen
Passanten, der nicht schon nach seinen
Anweisungen gespielt hat. Die Kinder
sowieso, die meisten Erwachsenen auch.
Mit dem ersten Auftritt als Kind erwirbt
man hier ein lebenslanges Recht auf
Mitwirkung an den Passionsspielen, zwei
Jahre vor dem Ereignis meldet man
sich jeweils an und lässt sich dann ein
Jahr lang die Haare wachsen, damit es
auf der Bühne auch wirklich aussieht
wie in unserer kollektiven Vorstellung von
Jerusalem bei der Kreuzigung Jesu.
Danach haben die Friseure viel zu tun,
und jetzt, ein Jahr nach den letzten
Passionsspielen, sehen eigentlich alle
wieder ganz ordentlich aus in ihren
Trachtengeschäften, Holzschnitzereien
und Hotelpensionen.
Einen Tag mit Stückl auf den Strassen
von Oberammergau zu wandeln bedeutet,
im Minutentakt Grüsse zu vernehmen:
Grias di, Grisdian! Kinder werden
entgegengehalten, Fotos geschossen,
Komplimente gemacht („Sehr schee wars
gestern“). Zwischendurch setzt sich der
Wirt an den Tisch, um sich zu bedanken.
Die Bespielung des Passionstheaters
habe ihm den Sommer gerettet, sagt der
Wirt. Zehn Mal 2000 Zuschauer, das
ist zwar bescheiden im Vergleich zu dem,
was bei den Passionsspielen los ist
(da finden im Passionstheater fast 5000
Zuschauer Platz), aber genug, damit der
Ort mitsamt seinem reichhaltigen
touristischen Angebot auch im MallorcaZeitalter überleben kann. Untertags
zieht es Stückl immer wieder hinein ins
Passionstheater, unter das
himmelszeltartige, von eleganten
Stahlträgern gestützte Runddach. Die
Oberammergauer haben es gebaut,
als ein begeisterter Thomas Cook die
Engländer mobilisierte, nach
Oberammergau zu kommen. 1900 war
das, doch die Tradition der Passionsspiele
ist noch um einiges älter. Seit 1634
erfüllen die Oberammergauer ihr
„Pestgelübde“: Sollte die Pest ein Ende
nehmen, wollten sie kollektiv die
Passionstragödie spielen. Bei der
Premiere taten sie das noch auf den
frischen Gräbern der Pesttoten. In
späteren Jahren zog man um, „und seit
1830 san mir auf dera Wiesn“, sagt
Stückl, als wir am heutigen Standort im
Ortszentrum stehen.
Wenn es um Oberammergau geht,
sagt Stückl immer „wir“. Kein Wunder:
Seit Generationen sind die Stückls
federführend beteiligt, ein Besuch in der
Ferienpension seiner Eltern gerät zur
Zeitreise. An den Wänden hängen die
Familiengruppenbilder seit 1950, alle
zehn Jahre in anderer Konstellation. Mit
den Menschen altern auch ihre Rollen.
In seiner Karriere hat es Christian Stückl
geschafft, his own private Oberammergau
weiter zu tragen. Bekannt wurde er, der
in München als Assistent an den
Kammerspielen begann, für seine
Uraufführungsinszenierung von
„Volksvernichtung oder Meine Leber ist
sinnlos“. Diese kräftige, lodernde, groteskwitzige Aufführung über die bigotten
Familienverhältnisse im Hause Wurm
machte 1991 auch den Dramatiker Werner
Schwab über Nacht berühmt. Seitdem
packt Stückl an, wo er kann, gerne bei
Texten, bei denen theologische
Kenntnisse von Vorteil sind: Seit 2002
trägt der Salzburger „Jedermann“ seine
Handschrift, 2011 wurde in seiner
Regie an der Münchner Staatsoper das
metaphysische Papst- und Künstlerdrama
„Palestrina“ ausgegraben und für „Merlin“
mit seinen Teufeln und der Suche nach
dem Heiligen Gral kann etwas
Kirchengeschichtswissen ebenfalls nicht
schaden.
Am nicht eben üppig bezuschussten
Volkstheater München hat sich Stückl als
Theaterleiter wie als Regisseur viel
Respekt verschafft. Das von ihm ins
Leben gerufene Theaterfestival „Radikal
jung“ ist eine wichtige Börse für junge
Regisseure geworden (nicht selten landen
diese auch am Volkstheater selbst), er
selbst inszeniert „Hamlet“, „Richard III.“
oder zuletzt „Dreigroschenoper“
und kontert damit die übermächtigen
Institutionen Residenztheater und
Kammerspiele immer wieder geschickt
aus. Auch hier, am Volkstheater, ist
Oberammergau längst daheim: Stefan
Hageneier stattet nicht nur Stückls
Profi-Inszenierungen aus, er gestaltet
auch die Passionsbühne und hatte mit
Stückl ein revolutionär neues Konzept für
die Passionsspiele 2000 entwickelt;
Stückls Jesus-Darsteller (im vergangenen
Sommer: Joseph-Darsteller) macht in
München die Pressearbeit, sein Judas ist
da wie dort technischer Direktor und auch
seinen Regieassistenten verdankt Stückl
einem unverhofften Wiedersehen. Ein
19-jähriger türkischstämmiger Mann hat
ihn eines Tages angesprochen, ob er
nicht am Volkstheater anfangen könne
und Stückl erinnerte sich sofort: Abdullah
war der kleine Junge gewesen, der bei
einer Passionsspiel-Probe als einziger aus
seiner Klasse singen konnte und den
er deswegen nach vorne zu sich auf den
Schoss nahm, um den anderen das
gewünschte Chorlied beizubringen. Er
hatte kurz geschorenes Haar gehabt, weil
Abdullahs Vater nicht wollte, dass er bei
20
21 Reportage
So köstlich war
es nie
Kochen mit Zwerg Nase: acht Mädels,
drei Gänge und das eine oder andere
Geheimnis
von Meike Sasse
Selbstbewusst tritt Zwerg Nase vor
den Oberküchenmeister des Herzogs
und bewirbt sich. Der verzauberte
Junge, eigentlich Jakob mit Namen,
hat sieben Jahre gegen seinen Willen
in den Diensten der Hexe Kräuterweis
gestanden, dabei aber in strenger
Lehrzeit ausgezeichnet kochen gelernt …
Der Regisseur Christian Stückl vor seinem Haus in Oberammergau
diesem katholischen Brimborium
mitmacht, und als Stückl das erfuhr,
erwirkte er persönlich beim Vater
die Spiel-Erlaubnis – gegen das
Versprechen, die Familie nicht zum
Katholizismus bekehren zu wollen ...
Jetzt arbeitet Abdullah am Volkstheater.
Zum Katholizismus wollte Stückl
tatsächlich noch niemanden bekehren,
auf der Passionsbühne setzt er gerne
aufklärerische Akzente, lässt hebräische
Lieder singen und bindet ortsansässige
Muslime ein. Seine freien Tage verbringt
er in Indien, die ganze Welt kennt
seine bisher populärste Inszenierung: die
Eröffnung der Fussball-WM 2006 in
München. Nicht zuletzt weil sein (Volks-)
Theaterverständnis über den Betrieb
hinausgeht, wird er mit Auszeichnungen
überhäuft, die in seiner Branche sonst
eher selten vergeben werden: Er bekam
schon den Ehrenpreis des
Oberbayerischen Integrationspreises, den
Oberbayerischen Kulturpreis und das
Grosse Verdienstzeichen des Landes
Salzburg. Ausserdem ist er Träger der
so genannten Bayerischen Sprachwurzel –
eine urige Trophäe wie aus den
Holzschnitzereien Oberammergaus. Einen
Preis für Kühnheit verdient auch sein
nächstes Münchner Regievorhaben: Rolf
Hochhuths „Stellvertreter“.
Wenn er noch in der Kirche ist, dann
deshalb, weil man mit seiner Familie als
Mitglied besser streiten kann denn als
Nicht-Mitglied. Kämpfe pflastern seinen
Passionstheaterweg, mehrfach war
seine Stellung als Spielleiter gefährdet,
einmal als er Versöhnung mit
passionsspielkritischen Juden suchte,
einmal als er sich mit einem altgedienten
Protagonisten anlegte, der
Oberammergaus grösster Nazi gewesen
war. Aber er hat den Job immer noch,
konkurrenzlos mittlerweile. Sein
streitbares Temperament, das durch eine
wilde Lockenmähne und funkelnde Augen
äussere Gestalt annimmt, zeigte sich
schon früh. Weil ihn der Herr Pfarrer
nicht als Messdiener zugelassen hat,
erklärte er sich selbst zum Mesner, quasi
zum Kirchen-Dekorateur, und bald war
er es, der die Fronleichnamsprozession
künstlerisch auffettete, angefangen bei
einem Stabfigurentheater, das er im
Speicher der Kirche entdeckt hatte. Die
Figuren waren einst gemacht worden,
um aus dem Holzrahmen hervorzutreten,
in dem sonst das Altarbild hängt – Mesner
Stückl erneuerte diese vergessene
Tradition.
Die Kirche, in der dies geschah, betritt er
nur noch selten, etwa um dem Besuch
aus Zürich das Deckengemälde zu zeigen:
ein Wachhund des Herrn (will meinen:
ein Dominikaner), stösst mit einer
Fackel die Ungläubigen von Gottes Thron.
Die Schriftgelehrten zählen zu den
Verstossenen, aber auch der Satan,
dargestellt als ein von einer Schlange
umschlungener Drache. Mit der
Vertreibung der heidnischen Götter
beginnt auch „Merlin“, bevor sich darin
alle Figuren zwischen Himmel und
Hölle in ihren Leidenschaften verirren.
Schon wieder Passion.
Wir haben uns im Hiltl Kochatelier
versammelt, um gemeinsam den
Rezepten von Zwerg Nase auf die Spur
zu kommen. „Eigentlich hat nur der
Chefkoch eine Kochmütze auf, aber
heute seid ihr die Chefs der Küche“,
mit diesen Worten begrüsst die Leiterin
des Kochateliers, Dorrit Voigt,
acht mutige Mädchen aus Zürich und
Umgebung (Jungs waren keine zu
gewinnen) und verteilt die Mützen.
Ganz unvorbereitet sind die jungen
Köchinnen im Alter von sieben bis neun
Jahren nicht: Zumindest geholfen
haben Annalena, Bengi, Gil, Leslie,
Nadine, Lilli, Johanna und Mette in den
Küchen ihrer Eltern schon.
Den Hut auf hat Kochatelier-Köchin
Anna Schlatter. Bevor es richtig
losgeht, gibt sie noch Anweisungen:„
Beim Schneiden die Hand zu Krallen
zusammenziehen, damit das Messer nicht
den Finder erwischt!“ – „Händewaschen
nicht vergessen“ – „Und wenn noch
jemand auf die Toilette muss ...“
In Zweiergruppen widmen sich die
Mädchen je einem geheimnisvollen Rezept
an ihren Kochinseln. Die Hiltl-Köche haben
die Rezepte eigens für uns entwickelt und
sich dabei von Wilhelm Hauffs Märchen
inspirieren lassen. Allerdings unter einer
Vorgabe: Im Haus Hiltl wird seit
Generationen vegetarisch gekocht!
Zauber-Kräutersüppchen. Verzaubert wird
der kleine Jakob, weil er sich am
Marktstand seiner Mutter über das
Aussehen der alten Hexe lustig gemacht
hat. Aus Rache kocht diese ihm ein
Kräutersüppchen, das er niemals
vergessen soll: „Iss nur dieses Süppchen,
dann wirst du alles bekommen, was dir
an mir so gefallen hat. Sollst auch ein
guter Koch werden, aber das Kräutlein, hi
hi hi ... nein, das Kräutlein sollst du
nimmer finden.“ Von welchem Kraut ist
hier wohl die Rede?
Johanna und Mette bilden das Team für
die Kräutersuppe – sie stecken die
Köpfe zusammen, studieren die Zutaten,
sammeln ihre Kochwerkzeuge zusammen.
Mit beängstigend grossen Messern
beackern sie Kartoffeln und einiges
Gemüse mehr. Die Zwiebeln sind schon
in ganz kleine Stücke gehackt, ich sehe
Dinkel, verschiedene Gewürze und
eine grosse Schüssel mit Erbsen ...
Denken die beiden auch an das Kraut?
Klösschen mit roter Sauce. Um Leibkoch
des dicken Herzogs zu werden, muss
Zwerg Nase Geschicklichkeit beweisen.
Zum Frühstück befiehlt der Herzog
„dänische Suppe und rote Hamburger
Klösschen“. Das Küchenpersonal auf dem
Schloss hält den Atem an, aber Zwerg
Nase sagt: „Nichts leichter als dies, man
gebe mir ... zu den Klösschen brauche
ich ...“ Ein gewisses Kraut namens
Magentrost scheint besonders wichtig zu
sein.
Auf dem Weg zu vegetarischen
„Fleischklösschen“ greifen sich Nadine
und Lilli Karotten, im Nu sind sie
klein gewürfelt. Die Zwiebeln sehen sie
als Herausforderung und veranstalten ein
Tränenwettrennen: „Guck, ich weine!“
Stolz werden die Augen noch einmal extra
zusammengekniffen.
Annalena und Bengi stehen an ihrer
Arbeitsfläche und sortieren Kräuter,
Paprika, Knoblauch und Schalotten. Ihre
rote Sauce soll die Klösschen
unvergesslich machen. Konzentriert und
recht routiniert zupfen sie ihre Kräuter –
ein Meer aus grünen Farben und
verführerischen Gerüchen strömt mir
entgegen. Rosmarin, Majoran, Estragon,
Petersilie – eine Explosion für Augen
und Nase.
Merlin oder Das wüste Land
von Tankred Dorst
Regie Christian Stückl, Bühne und
Kostüme Stefan Hageneier, Musik
Michael Acher
Mit Gábor Biedermann, Gottfried Breitfuss,
Ursula Doll, Nicola Fritzen,
Michael Gempart, Lukas Holzhausen,
Sarah Hostettler, Fabian Müller,
Jost Op den Winkel, Matthias Renger,
Anna Schinz, Jonas Schlagowsky,
Siggi Schwientek, Milian Zerzawy,
Jirka Zett u.a.
Ab 26. November im Schiffbau/Halle
Das Zauber-Kräutersüppchen: kein Problem für Johanna und Mette
Königin-Pastete. „Köstlich, köstlich“, alle
sind von Zwerg Nases Speisen begeistert –
doch muss vor allen Dingen der Herzog
überzeugt werden. Indessen ruft auch
er: „So köstlich war es nie!“ – Somit
isst er nun fünfmal statt dreimal am Tag,
findet alles neu und trefflich und wird
dabei fetter und fetter. Als der Herzog
eines Tages Besuch von einem
benachbarten Fürsten und grossen
22
23
Mit grossem Appetit verspeisen Nadine, Bengi, Lilli, Mette und Gil die Königin Pastete
Kenner der feinen Küche bekommt, muss
sich Zwerg Nase an der „Königin der
Speisen“ versuchen: Pastete Souzeraine.
Der Schrecken ist gross, denn Zwerg
Nase weiss nicht recht, wie er diese
Speise zuzubereiten hat …
Gil und Leslie sind da schon einen
Schritt weiter. Die Pilze sind geputzt und
in Scheiben geschnitten, die
Frühlingszwiebel kleingehackt und die
Cherrytomaten halbiert, zum „Kosten“
wandert immer wieder eine kleine
Tomate in die Münder der beiden. Die
Blätterteigrechtecke mit ihren kleinen
Krönchen stehen schon goldgelb bereit,
das angebratene Gemüse wird noch
kräftig gewürzt, frische Kräuter dazu
und dann können die aufgeschnittenen
Blätterteigstücke gefüllt werden.
Mittlerweile sind wir alle hungrig, aber
Erlösung naht – die gekochten Speisen
werden serviert. Die kleinen Köchinnen
sind im Grossen und Ganzen mit sich
zufrieden und haben auch allen Grund
dazu. Ihre Rezepte hüten die Mädchen
allerdings wie einen Schatz – ganz im
Stile der Meisterköche. Nur eines davon
bekomme ich zur Verfügung gestellt –
zum Nachkochen für unsere grossen und
kleinen Leser, als kulinarische Vorbereitung
auf den Theaterbesuch. Um jedoch zu
erfahren, wie man Kräutersuppe mit
Zauberkraft macht, wird man wohl sehr
genau auf die Bühne schauen müssen …
Königin Pastete
Rezept der Hiltl-Köche
(für 4 Portionen)
125 g Blätterteig
1 Eigelb
220 g Waldpilze, gemischt (Champignons,
Austernseitlinge)
1 Frühlingszwiebel
70 g Cherry-Tomaten
2 EL Öl, Meersalz, Pfeffer aus der Mühle
wenig frische Kräuter oder Kresse
1. Den Backofen auf 220 ˚ C vorheizen.
2. Blätterteig 3 mm dick auswallen und
mit Wasser bestreichen. Auf den
ausgewallten Blätterteig eine zweite
Schicht Blätterteig legen und vier
Quadrate mit ca. 6 cm Seitenlänge
herausschneiden. Mit einem
Ausstechförmchen oder von Hand jeweils
vier kleine Krönchen aus dem restlichen
Blätterteig schneiden, diese jeweils mittig
auf die Teigquadrate setzen.
3. Die Teigquadrate 15 Minuten kühl
stellen. Auf ein Blech mit Backpapier
legen, mit Eigelb bestreichen und in der
Mitte des Ofens in 10–15 Minuten
goldbraun backen. Auskühlen lassen und
quer durchschneiden.
4. Die Pilze putzen, in Scheiben bzw.
Streifen schneiden. Die Frühlingszwiebel
längs halbieren und schräg in feine
Streifen schneiden, Cherry-Tomaten
halbieren.
5. Das Öl in einer Bratpfanne erhitzen,
die Pilze heiss anbraten. Cherry-Tomaten
und Frühlingszwiebeln dazugeben, kurz
mit anbraten. Mit Salz und Pfeffer würzen.
6. Die Blätterteig-Böden auf vier Tellern
auslegen, Pilze darauf verteilen, Deckel
schräg auflegen. Mit frischen Kräutern
oder Kresse garnieren.
Das Hiltl Kochatelier bietet u.a. Kochkurse
für Kinder, Jugendliche und Familien
Anmeldungen unter:
www.hiltl.ch/atelier
Hiltl Kochatelier
Sihlstrasse 28
8001 Zürich
[email protected]
044 227 70 13
Zwerg Nase
nach Wilhelm Hauff
Regie Corinna von Rad, Bühne Ralf Käselau,
Kostüme Sabine Blickenstorfer
Mit Irene Eichenberger, Thomas Douglas,
Pascal Goffin, Jürg Kienberger,
Nicolas Rosat, Lilith Stangenberg,
Rainer Süssmilch
Ab 19. November im Pfauen
Die rote Sauce macht die Klösschen unvergesslich: Bengi schmeckt ab
24
25 Porträt: Patrick Güldenberg
Schon immer
Schauspieler
Patrick Güldenberg ist neuerdings
als Volksbürger Herrmann in einer
Radikalkomödie von Werner Schwab
zu sehen
von Thomas Jonigk
Hamburg, 1984: Patrick Güldenberg
besucht mit seinen Eltern eine Vorstellung
von „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“.
Er ist beeindruckt. Beim Auftritt der Figur
mit dem politisch unkorrekten Namen
„Neger-Joe“ verstecken sich die Kinder im
Zuschauerraum instinktiv unter den Sitzen.
Spätestens in dem Moment ist sich
der Vierjährige sicher: Er will Schauspieler
werden.
Im Alter von sieben Jahren ist das Ziel
erreicht: Er steht auf der Bühne.
Das Stück: „Urmel aus dem Eis“. „Man
brauchte jemand, der in ein Ei aus
Pappmaché passte, für das mein
Rollenvorgänger zu gross geworden
war“, sagt er, „und es darin eine halbe
Stunde aushält.“ Man entschied sich
für Patrick: Er wurde grün bemalt und
war Urmel.
Später, mit zwölf Jahren, kam das
Fernsehen dazu: eine feste Rolle in der
Serie „Neues vom Süderhof“, 1999
dann der erste Kinofilm: „Sonnenallee“
in der Regie von Leander Haussmann,
seine Filmographie ist bereits jetzt, mit
Anfang 30, äusserst umfangreich.
Seit der Spielzeit 2009/10 ist Patrick
Güldenberg nun Ensemblemitglied am
Schauspielhaus Zürich. Nach Arbeiten
u.a. am Thalia Theater Hamburg, am
Hamburger Schauspielhaus oder am
Nationaltheater Weimar (wo er
„Hamlet“ war) entschied er sich erstmalig
für ein Festengagement und spielte so
unterschiedliche Rollen wie den
seelenlosen Wirtschaftskriminellen Isidor
Weidelich in „Martin Salander“, einen
beflissen-anbiedernden Postdirektor
in Gogols „Revisor“ oder beeindruckte in
Lenz‘ „Der Hofmeister“ als rücksichtsloser
Pätus.
Und dann sein Sir Andrew Aguecheek.
„Was ihr wollt“ stellt 2010 seine erste
Zusammenarbeit mit Barbara Frey dar.
Patrick Güldenberg schafft eine Figur
Den Abgrund hinter der Pointe aufspüren: Patrick Güldenberg
zwischen Grössenwahn, Profilneurose,
Minderwert und Depression: „Ich
wollte die Unvereinbarkeiten dieser Pole
verdeutlichen“, erklärt er. „Seine
Selbstwahrnehmung ist die eines Helden,
nur leider ist er der einzige, der sich so
sieht“. Das Resultat: eine ebenso Mitleid
erregende wie umwerfend komische
Figur.
Als man ihn an der Hochschule für
Musik und Theater in Hannover, wo er
von 1999–2003 Schauspiel studierte,
als komödiantisches Talent bezeichnete,
konnte er damit nichts anfangen. Heute
geniesst er es, spielerisch mit Traurigkeit
und Verzweiflung umzugehen, den
Abgrund hinter dem Lachen und der
Pointe aufzuspüren.
Und spielt wieder Komödie,
Radikalkomödie: Werner Schwabs
„Volksvernichtung oder Meine Leber ist
sinnlos“. Patrick Güldenberg ist
Herrmann Wurm, ein verkrüppelter,
künstlerisch ambitionierter Volksbürger,
der unter der Last seiner Mutter,
unter einem rassistischen, sexistischen
und brutalen Umfeld leidet – und daran
teilhat.
Bei der Lektüre fand er das Stück „extrem
komisch“, mittlerweile findet er es im
wahrsten Sinne des Wortes „schrecklich
komisch“. Das liege vor allem an der
(sprach-)gewaltigen Kraft des Textes: Die
Sprache hat keine Innerlichkeit, könne
auch vom Schauspieler nicht mit Gefühl
oder Befindlichkeit befrachtet werden,
werde vielmehr wie ein Schutzschild oder
eine Waffe vor sich hergetragen: „Die
Sprache bei Schwab kennt weder Tabu
noch Zensur“, sagt Patrick Güldenberg,
„sie ist losgelöst von den Figuren. In
ihr formuliert sich das Unbewusste ohne
unseren zivilisatorischen Filter: ein
aussergewöhnlicher Autor.“
Aussergewöhnlich auch die Besetzung
der Kunigunde von Thurneck in Kleists
„Käthchen von Heilbronn“ mit Patrick
Güldenberg. Er sah im Rahmen des
Konzepts von Regisseur Dušan David
Pařízek die Chance, von einem Menschen
zu erzählen, der sich in seiner Haut nicht
wohlfühlt, tatsächlich aus ihr nicht heraus
kann. „Die Figur ist ungreifbar“, sagt er,
„nicht transsexuell, keine Alte, die sich
über Schönheitsoperationen jung hält,
kein Automat.“ Bei den Proben hat er sich
vorgestellt, wie sich ein Mann, der in
seinem eigenen Körper nicht zuhause ist,
zu Kleists Zeiten gefühlt haben mag.
Entstanden ist eine melancholische,
verführerische und in jedem Sinne schöne
Figur, bei deren finalem Scheitern
keine Häme im Publikum zu spüren war.
Patrick Güldenberg ist in Zürich
angekommen. Dem Theater bleibt er treu,
was künftige Filmprojekte nicht
ausschliessen soll: Der Schauspieler ist
Fan von Fernsehserien wie „True Blood“,
„Twin Peaks“ oder der frühen Staffeln
von „24“, Dominik Graf verehrt er und
wünscht sich, eines Tages in einem
seiner Filme mitzuwirken. Wunsch
Nummer zwei: Dass das Publikum ins
Theater strömt, um „Volksvernichtung“ zu
sehen und es anders macht als der Autor
selbst, der gesagt hat, dass er vor der
Aufführung seines ersten Stücks „nur ein
einziges Mal im Theater war – und das
in der Pause“.
Thomas Jonigk ist Schriftsteller und
Dramaturg am Schauspielhaus Zürich.
Siehe auch den Text auf Seite 17.
Volksvernichtung
oder Meine Leber ist sinnlos
von Werner Schwab
Regie Heike M. Goetze, Bühne
Bettina Meyer, Kostüme Inge Gill Klossner
Mit Ludwig Boettger, Patrick Güldenberg,
Franziska Machens, Miriam Maertens,
Isabelle Menke, Nicolas Rosat,
Milian Zerzawy
Im Schiffbau/Box
26
27 Schicht mit: Thomas Unseld
Wald in Farbe
Im Malsaal ist man dem Spielplan immer
schon ein bisschen voraus, denn
Bühnenbilder entstehen oft, bevor die
Proben beginnen. Thomas Unseld
ist seit 2001 Leiter des Malsaals in den
Schiffbau-Werkstätten
von Eva-Maria Krainz
8.10 Uhr Ich treffe Thomas Unseld in
seinem Büro in der Zwischenetage
zwischen den beiden grossen
Arbeitsräumen des Malsaals – in den
Stockwerken darüber und darunter
wird bereits gearbeitet.
Holzboden, dazwischen kann man bei
Bedarf Drähte spannen. Dadurch entsteht
ein Raster, an dem sich die Malerinnen
orientieren können. Ganz einfach also …
Thomas wirkt entspannt und zufrieden
mit seinem hochkonzentriert arbeitenden
Team.
8.42 Uhr Im Pausenraum beantwortet
mir Thomas ein paar Fragen zu seinem
Werdegang: Am Schauspielhaus ist er
seit 1994 – nach seinem Malerei-Studium
an der Hochschule für Angewandte
Kunst in Wien hat er hier als Werbemaler
begonnen. Werbemaler? Ja, im
Pfauenfoyer seien damals gemalte Bilder
8.12 Uhr Auch Thomas ist schon in
zu den laufenden Stücken aufgehängt
Arbeitskleidung – in seinem Fall eine
schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, worden. Seit 2001 ist er Leiter des
beides mit reichlich Farbspritzern verziert. Malsaals, sieht sich aber nicht als „Chef“:
„Einer muss es ja machen, aber im
Kurz geht er seinen Posteingang durch,
Grunde arbeiten wir hier einfach alle
nur eine wirklich wichtige Mail würde er
zusammen.“
beantworten. Die dringlichere Aufgabe
sehen wir durch eine Glasscheibe einen
Stock tiefer vor uns: Das Bühnenportal
9.17 Uhr Wir machen uns auf den Weg
für „Volksvernichtung“ wartet darauf, noch ins Sitzungszimmer des Schiffbaus,
mit einigen letzten Schichten an GrauThomas muss zur Werkstattbesprechung
und Silbertönen überzogen zu werden.
für „Zwerg Nase“. Der Bühnenbildner
Damit muss er heute noch fertig werden,
Ralf Käselau ist gekommen, um mit den
denn ab morgen ist der gesamte Malsaal
Mitarbeitern der Werkstätten die
der Produktion des „Merlin“-Bühnenbildes Produktion des Bühnenbildes zu planen.
gewidmet. Ab Mitte November soll sich
Auch wenn nicht alles, was im Laufe der
die Schiffbauhalle nämlich in eine riesige
Besprechung geklärt werden muss, direkt
Urwaldlandschaft verwandeln.
für Thomas’ Arbeit relevant ist, findet er
es doch hilfreich, um einen
Gesamteindruck von dem Projekt zu
8.23 Uhr Thomas und ich gehen eine
bekommen.
Etage nach oben, wo bereits erste Teile
des Horizonts zu sehen sind, der bei
„Merlin“ nicht nur die Spielfläche,
11.04 Uhr Es geht immer noch um „Zwerg
sondern auch die Zuschauertribünen mit
Nase“, inzwischen um die Gestaltung
„Urwaldpflanzen“ umschliessen wird.
des Parkettbodens. Thomas bespricht mit
Baumwollstoff ist auf den Boden
dem Bühnenbildner die verschiedenen
gespannt. Bäume, Sträucher und Farne
Holzarten und deren Vor- und Nachteile
wurden bereits mit Kohlestift
betreffend Aussehen und Belastbarkeit. Er
vorgezeichnet, Thomas’ Mitarbeiterinnen
wird in den nächsten Tagen mehrere
erfüllen den Wald allmählich mit Farbe.
Muster liefern und die Maserung jeweils
speziell herausarbeiten, damit das Holz
bis in die hinteren Reihen lebendig wirkt.
8.28 Uhr Ich folge Thomas vorsichtig
Ein Teil des Bodens wird im Übrigen gar
durch den Raum und staune über die
nicht aus echtem Holz bestehen, sondern
Detailgenauigkeit, mit der die Malerinnen
„nur“ gemalt werden – was man aus dem
die Pflanzen von der verhältnismässig
Zuschauerraum natürlich nicht bemerken
winzigen Vorlage – einer Reihe von
soll.
Fotografien im DIN A4-Format – auf die
riesigen Stoffflächen übertragen.
Amüsiert über meine Verblüffung zeigt
12.35 Uhr Zeit für eine kleine
mir Thomas, wie das funktioniert: Am
Mittagspause. Im Malsaal wartet eine
Rand der Stoffflächen stecken Nägel im
willkommene Überraschung auf uns:
Begann am Schauspielhaus 1994 als Werbemaler: Thomas Unseld (hier im Malsaal, vor „Merlin“-Prospekten)
Einer von Thomas’ Kollegen hat für alle
Wildschweinbraten zubereitet – den hat
das Team von einem begeisterten Jäger
(und ehemaligen Technischen Direktor
des Schauspielhauses) bekommen.
13.00 Uhr Thomas trifft sich mit der
Theaterplastikerin und dem Konstrukteur,
um einen Produktionsplan für die
„Merlin“-Landschaft zu erstellen. Die
Unterkonstruktion aus Styropor gibt es
bereits, nun geht es um die Wahl der
Bodenabdeckung und die „Bepflanzung“.
Drei grosse Landschaftsteile sollen
dicht mit Bäumen, Sträuchern, Farnen
und Moos bewachsen sein.
13.06 Uhr Zunächst müssen für jeden
einzelnen der zwölf verschiedenen, vom
Bühnenbildner gewünschten Baumtypen
Material und Herstellung der Äste und
Blätter festgelegt werden. Thomas
konstatiert, dass die Bäume zu individuell
und unterschiedlich sind, als dass man
sie in irgendeiner Form käuflich erwerben
könnte. Der Wald muss also von den
Werkstätten selbst hergestellt werden.
Damit ist für ihn klar, was als nächstes zu
tun ist: Er wird sich morgen einen ganzen
Tag Zeit nehmen, um die Herstellung
jedes Baumes detailliert zu planen. Klingt
kompliziert. Ist es auch, meint Thomas.
In zehn Wochen muss alles fertig sein.
15.25 Uhr Die Besprechung ist für heute
zu Ende, man wird sich wieder
zusammensetzen, wenn Thomas seine
„Baum-Pläne“ erstellt hat. Doch zunächst
muss er noch einen Stock tiefer, das
Portal für „Volksvernichtung“ mit dem
letzten Schliff, besser gesagt: den letzten
Farbschichten versehen. Dann ab in die
Box damit. „Merlin“ kann kommen.
28 Ins Theater mit: Katharina Epprecht
Hören und sehen
zusammen
Am 15. September 2011 ging Katharina
Epprecht auf unsere Einladung hin in die
Premiere von „Leonce und Lena“. Sie
sass in der 11. Reihe Parkett auf Platz
294. Am nächsten Morgen beantwortete
sie den unten stehenden Fragebogen.
Katharina Epprecht ist stellvertretende
Direktorin des Museums Rietberg
und Kuratorin der Japan-Abteilung. Dort
eröffnete zuletzt die weltweit erste
kulturvergleichende Ausstellung zum
Thema Mystik.
Von woher kamen Sie zur Vorstellung ins
Schauspielhaus?
Ich kam mehr oder weniger direkt mit
einem kurzen Umziehstopp von meinem
Arbeitsort, dem Museum Rietberg, per
Fahrrad und zu Fuss.
Wie war der erste Eindruck, den das
Haus auf Sie gemacht hat?
Das Schauspielhaus nehme ich als
Eingang und nicht als eigenständiges
Gebäude wahr. Dem Heimplatz fehlt der
Platz. Der Kulturstadt Zürich fehlt die
Piazza oder eine grosse, Schauspielhaus
und Kunsthaus im Blick haltende
Freilufttreppe wie sie Roger Diener in
seinem Entwurf für die KunsthausErweiterung vorgesehen hatte.
Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen?
Ein schlichtes auberginefarbenes Kleid
von Fidelio, das man nicht bügeln muss
und dessen seidener Glanz gut zu meiner
schwarzen Lederjacke passt. Ich bin
kaum wegen meiner Kleidung aufgefallen,
ich mag keine auffälligen, extravaganten
Kleider. Es muss praktisch und bequem
und wenn irgend möglich fahrradtauglich
sein. Wenn ich aufgefallen sein sollte,
dann wohl eher, weil ich selbst intensiv
beobachte, und dies nehmen dann
wiederum andere wahr, was bisweilen zu
neugierigen Blickkontakten führt.
In welcher Stimmung waren Sie in dem
Moment, als im Zuschauerraum das Licht
ausging?
Glücklich. Ja wirklich, das ist nicht so
daher gesagt. Ich war noch ganz erfüllt
von dem Tag im Museum, wo wir gerade
unsere neue Sonderausstellung über
Mystik einrichten. Dies sind die schönsten
Momente, wenn die Kunstwerke aus der
ganzen Welt eintreffen und man den
Objekten physisch ganz nahe ist. Diese
Berührungen haben etwas Magisches.
So war ich also noch mit unserer eigenen
Bühne beschäftigt als das Licht ausging.
Haben Sie während der Vorstellung
gelacht, und wenn ja, worüber?
Ich habe oft gelacht. Meist hing es mit
dem Einsatz von Bewegungen oder
musikalischen Intermezzi zusammen, die
den tiefsinnig satirischen Text kongenial
unterstrichen oder verstärkten.
Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt?
Wenn ja, was?
Ja, die klägliche Figur des Königs, der
sich seine Aufgabe als Staatsoberhaupt
und seine Freude an der Hochzeit
seines Sohnes wie eine Medizin selbst
verordnen muss. Nichts, nicht einmal
ein stimmiger Ton kommt aus seinem
Innern, es ist alles leer und oberflächlich
wie die Konsumgüter, die er mit sich
herumschleppt.
Entsprach die Aufführung Ihren
Erwartungen? Wenn ja, wie sahen
diese Erwartungen aus? Wenn
nein, warum nicht?
Ich hatte keine Erwartungen, ich kannte
das Stück nicht, also liess ich mich
einfach überraschen. Einzig vielleicht,
dass es mich Wunder nahm, ob mich
das Stück genauso fesseln würde wie
Büchners „Woyzeck“, den ich vor
nicht allzu langer Zeit am Stadelhofer
Puppentheater sah.
Hatten Sie während des Zusehens
den Gedanken, dass es besser
gewesen wäre, wenn Sie sich vor
Ihrem Besuch noch einmal genauer
über den Text und den Autor
informiert hätten?
Nein. Ich lasse generell die Kunst – egal ob
Schauspiel, Musik oder bildende Kunst –
ganz gerne erstmal unvoreingenommen
auf mich wirken. Das schränkt die
Wahrnehmung weniger ein. Im Nachhinein
will ich dann mehr wissen und bin froh
um gute Begleitschriften. Es stört mich
nicht, Aha-Erlebnisse mit der Erinnerung
zu verbinden oder zu testen, ob ich
das Wesentliche auf Anhieb erfasst habe
oder nicht.
Finden Sie, dass die Aufführung etwas
mit Ihnen zu tun hat? Wenn ja, was?
Was die Thematik betrifft wenig.
Langweile quält mich nicht, eher die
begrenzte Zeit, die mir für kreativen
Müssiggang bleibt.
Hätten Sie Lust, das Bühnenbild zu
betreten? Welchen Platz würden Sie
sich darin suchen?
Eine interessante Frage. Nein, ich
verspürte keine Lust, schliesslich sitzt
man sehr komfortabel im Dunkeln und
kann ganz im Schauen versinken ohne
gesehen zu werden. Wenn ich aber
aufgefordert worden wäre, auf die Bühne
zu treten, hätte ich sicher die Treppe
gewählt. Ja, ich merke nun selbst, wie
sehr ich Treppen mag. Das liegt wohl
daran, dass ein Teil meines Elternhauses
aus einem über zwei Stockwerke offenen
Raum bestand, durch den eine Treppe in
der Art einer stark geneigten Leiter
führte. Hier fand alles statt, hier wurde
die Weihnachtsgeschichte gelesen,
hier konnte man sich bequem einen Dorn
aus den Zehen ziehen lassen und das
Wichtigste, hier konnte man als Kind
etwas abseits seine eigene Perspektive
auf die Erwachsenenwelt wählen.
Haben Sie sich nach der Vorstellung über
das Stück unterhalten?
Ja, ich stiess gerade beim Verlassen der
Sitzreihe direkt auf Herrn und Frau
Muschg. Adolf Muschg meinte, „Leonce
und Lena“ sei eines seiner liebsten
Bühnenstücke, er habe sicher schon zehn
Inszenierungen gesehen, denn ihn
fasziniere dieser facettenreiche und
fortschrittliche Text immer wieder aufs
Neue.
Welche Frage würden Sie dem Regieteam
dieser Aufführung gerne stellen?
Wie sie mit dem Zusammenwirken
zwischen Hören und Sehen umgehen.
Dies scheint mir die grösste
Herausforderung bei einem so dichten
Text. Wie vermeide ich, dass das
Sehen vor das Hören tritt und Inhalt
verloren geht?
Welches Stück würden Sie gerne als
nächstes sehen?
„Die Frau in den Dünen“ von Abe Kôbô.
29 Lukas Bärfuss: Mörderisches Zürich
Kann aufgelöst
werden
Vom Theater bleibt nichts übrig. Nichts,
was man anfassen könnte. Wenn am
Sonntagabend die letzten Besucher die
Stadtinstallation „Alles muss weg!“ in der
Schiffbauhalle verlassen haben und der
Abbau beginnt, erinnert schon am Tag
darauf wenig an die neun Tage urbanen
Ausverkauf. Wehklagen wird nicht helfen:
Auch diese Produktion ist den Weg aller
Theaterproduktionen gegangen. Sie ist
„abgespielt“, wie es im Jargon heisst. Der
künstlerische Betriebsdirektor hat den
„Auflöser“ an alle Abteilungen geschickt.
Gut sichtbar hängt dieser Exekutionsbefehl
am Schwarzen Brett. „Die Produktion ist
bedauerlicher Weise abgespielt. Sie kann
aufgelöst und die Ausstattung verwertet
werden.“ Und das heisst: Was keine
Aussicht auf Wiederverwendung hat,
landet im Sperrgut und wird vernichtet,
die Kostüme werden eingemottet, die
Plakate abgehängt.
Die Menschen am Theater sind an die
Vorläufigkeit ihrer Arbeit gewöhnt, aber
gewöhnen kann man sich nicht daran.
Man lebt mit einer Kunst, von der kein
materielles Zeugnis bleibt und die
ausschliesslich in der Erinnerung jener
fortdauert, die sie erlebten – ob hinter,
vor oder auf der Bühne.
Während seiner kurzen Existenz ist das
Theater einem beständigen Wandel
unterworfen. Und dieser vollzieht sich für
die Beteiligten oft ungleichzeitig. An der
Leseprobe, wenn für die Schauspieler die
eigentliche Arbeit beginnt, legt der Autor
sein Werk endgültig in fremde Hände und
sagt Adieu. Und für die Zuschauer und
die Schauspieler ist die Premiere der
Anfang ihres Zusammentreffens, doch für
den Regisseur ist es das Ende seiner
Arbeit. Für ihn gibt es nichts mehr zu tun;
Schauspielhaus Zürich Zeitung #3
Herausgegeben von der
Schauspielhaus Zürich AG
Zeltweg 5, 8032 Zürich
www.schauspielhaus.ch
Intendanz Barbara Frey
Diese Zeitung wird ermöglicht durch
Swiss Re und Credit Suisse.
erwartet wird nur noch seine Abreise.
Theatermenschen sind Experten im
Abschiednehmen.
Deshalb war der Titel der Stadtinstallation
„Alles muss weg!“ im Schiffbau auch
ein wenig das geheime Motto der
Theaterarbeit. Der Umgang mit dem
Ephemeren, mit der Tatsache, dass nichts
lange währt, belebt. Gewohnheiten
können sich nicht einspielen, aus jeder
Routine wird man bald gerissen. Aber
das Gegenteil trifft auch zu. Gerade, wenn
man es sich gemütlich gemacht hat und
angekommen ist, wird die Behaglichkeit
zerstört. Das ist oft unangenehm und
manchmal grausam. Aber es ist
unvermeidlich, weil das Theater hier nur
einem Lebensprinzip folgt. Fausts
Todeswort „Oh, Augenblick verweile
doch, du bist so schön!“ beendet nicht
nur sein Leben, sondern auch den
Theaterabend.
Träumen, dann müssen sie einen Zugang
zu ihrer Erinnerung finden. Nur dann
können sie wissen, was schlecht und
was gut war an der alten Zeit. Erst dann
kann man sich fragen, wie man die
Rückkehr des einen verhindert und des
andern befördert.
Vielleicht, so meinte einmal der
Schriftsteller Gerhard Meier, vielleicht
leben wir nur, um uns zu erinnern. Erst
wer erzählt, sich und anderen, wie es
früher gewesen und warum die Welt von
heute so ist, wie sie ist, kann vergleichen.
Und nur wer vergleichen kann, kann sich
ein Urteil bilden. Darüber, was einfach
nur neu ist – und was von diesem Neuen
lebenswert.
Theater ist eine Erinnerung, die uns die
Gegenwart erklärt.
Wandel vernichtet und erzeugt. Man kann
das in Zürich zur Zeit deutlich sehen.
Wohnblöcke, Fabriken, Kneipen. Städte
verschwinden und entstehen neu. Die
in Stein gehauene Wirklichkeit muss dem
erst Gedachten weichen. Wo jemand
seine ersten Jahre verbrachte, entsteht
einem Kind eine neue Heimat.
Es gibt nur die Erinnerung, die uns mit
dem Vergangenen verbindet. Nur sie ist
dem Lauf der Zeit enthoben. Die
Geschichten, die wir uns erzählen, in
Romanen, Filmen und Theaterstücken,
sind Zeitmaschinen. Die Welt Goethes
und Shakespeares wird durch die
Lektüre zu unserer Gegenwart.
Wenn die Menschen den Wandel gestalten
wollen, nach ihren Wünschen, nach ihren
Redaktion Lukas Bärfuss, Katja Hagedorn,
Thomas Jonigk, Roland Koberg (Leitung),
Eva-Maria Krainz, Meike Sasse,
Andrea Schwieter
Gestaltung velvet.ch / Daniel Peter
Druck Speck Print AG, Baar
Auflage 20 000, erscheint am 6.10.2011
Partner des Schauspielhauses Zürich
Fotos Matthias Horn S. 1/4/6/10/
11 unten/15 unten, Roland Koberg S. 20
T+T Fotografie S. 8/9/11 oben/13/16/
18/21 – 26/32, Leonard Zubler S. 15 oben
30
31
carNage ist grosses, raffiNiertes Boulevardtheater, das
geNüsslich WeltaNsichteN uNd eheglücke filetiert. der BuNd
jodie
FOSTER
kate
WINSLET
christoph
WALTZ
john c.
REILLY
Die Essenz des Lebens finden Sie täglich
im Schauspielhaus Zürich.
Kultur schafft gemeinsame Werte. Deshalb unterstützen wir Organisationen und
Institutionen, die diese Herausforderung annehmen. Mehr über unsere Partnerschaft
mit dem Schauspielhaus Zürich erfahren Sie auf unserer Website.
www.swissre.com/sponsoring
E
G
A
N
R
A
C
EtzEls
m
E
G
s
E
D
t
t
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DER G
Nach dem erfolgsstück «der gott des gemetzels» voN YasmiNa reza
eiN film voN
FILMFESTIVAL VENEDIG 2011
Venezia 68 - Competition
Ab 1. DEZEmbER Im RIffRAff & WEITEREN KINoS
32
„Immer stürzen aus deinen Innereien
solche gemeinen Fragen hervor.“
aus „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“
von Werner Schwab
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