Back to Basics: Vielfalt und Verfall wohlfahrtsstaatlich organisierter

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Lessenich, Back to Basics: Vielfalt und Verfall ...
Back to Basics: Vielfalt und Verfall wohlfahrtsstaatlich
organisierter Solidarität in Europa
Von Dr. Stephan Lessenieh, Göttingen l )
"Selbst dort, wo die Gesellschaft völlig auf der Arbeitsteilung beruht, löst sie sich
folglich nicht in eine Wolke von isolierten Atomen auf, zwischen denen es nur
äußerlich und vorübergehende Kontakte geben kann. Die Mitglieder sind vielmehr untereinander durch Bande verbunden, die weit über diese allzu kurzen
Augenblicke hinausgehen, in denen sich der Austausch vollzieht. Jede der Funktionen, die sie ausüben, hängt ständig von anderen ab und bildet mit diesen ein
solidarisches System .... Vor allem gibt es ein Organ, von dem wir immer stärker
abhängen: Das ist der Staat. Berührungspunkte mit ihm vervielfältigen sich genauso wie die Gelegenheiten, bei denen ihm die Aufgabe zuwächst, uns an das
Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern." Emile Durkheim (1988, S. 284 f)
1. Einleitung
Auf die Frage nach der Funktion des modernen Wohlfahrtsstaates bietet die einschlägige sozialwissenschaftliche Literatur eine Vielzahl von Antworten an. Die
diesbezüglich gängigen Interpretationsangebote lassen sich durchweg drei Strängen
zuordnen. Häufigster Bezugspunkt einer solchen Funktionsbestimmung dürften die
Individuen als Adressaten wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sein: Der Wohlfahrtsstaat erscheint als Produzent sozialer Sicherheit, seine Maßnahmen zielen auf "die
Sicherung sozialer und materieller Teilhabechancen" der Wohlfahrtsstaatsbürger
und -bürgerinnen (vgl. etwa Ti:Hos/Obinger 1998, S. 9; als loeus classieus dieser Deutung MarshaIl1963). Davon zu unterscheiden sind solche Analysen, die die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Politik für den Wohlfahrtsstaat selbst hervorheben:
Durch den Ausbau seiner Leistungsprogramme sichert er sich die Loyalität der davon Begünstigten und darüber vermittelt - wenn auch auf durchaus widersprüchliche, tendenziell selbstschädigende Weise - seine "relative Autonomie" als politischer Akteur (so der Tenor der neomarxistischen Debatte der siebziger Jahre, vgl.
beispielsweise Narr/Offe 1975 oder Vobruba 1978). Eine dritte, in jüngster Vergangenheit zunehmend populäre Deutung schließlich bestimmt den Wohlfahrtsstaat
(mit Betonung auf ,,-staat") als dem Markt entgegengesetzte und zu diesem alternative, politische Steuerungsform kapitalistischer Gesellschaften; wohlfahrtsstaatliche Regulierungen interessieren dann als "politics against markets" und werden an
ihrem marktbegrenzenden, "de-kommodifizierenden" Effekt gemessen (vgl. - wen
sonst? - Esping-Andersen 1985 und 1990, damit in der Tradition von Polanyi 1944
stehend).
1) Ich danke Stefan Huf für wertvolle Hinweise und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Wiener
Arbeitskreises für die kritische Diskussion dieses Textes.
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Bestimmt die sozialwissenschaftliche Wohlfahrtsstaatsforschung den Gegenstand
ihres Interesses somit vorrangig mit Blick auf dessen Rolle als Wohlfahrtsproduzent,
als Legitimationsinstrument oder aber als Marktkontrahent - und haben auch all
diese Sichtweisen durchaus ihre Berechtigung -, so liegt dem folgenden Beitrag ein
anderes und umfassenderes, grundlegenderes, in gewisser Weise auch altmodischeres Verständnis moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit zugrunde: Der Wohlfahrtsstaat
interessiert hier in seiner konstitutiven, d. h. Gesellschaftlichkeit erzeugenden und
reproduzierenden, soziale Beziehungen organisierenden Funktion. Wohlfahrtsstaaten sind, auf eine kurze (und insofern auch verkürzende) Formel gebracht, institutionalisierte Solidaritätsarrangements.
Im folgenden wird es darum gehen, den diagnostischen und analytischen Wert dieser spezifischen Funktionsbestimmung wohlfahrtsstaatlichen Handeins als Institutionalisierung gesellschaftlicher Solidaritätsbeziehungen zu plausibilisieren. Ich
werde zum einen vorschlagen, die historisch gewachsenen, real existierenden europäischen Wohlfahrtsstaaten nach der Intensität und Extensität dieses Solidaritätsarrangementszu unterscheiden; dabei gehe ich davon aus, daß eine solch qualitative, mehrdimensionale und falsche Eindeutigkeiten vermeidende Unterscheidung letztlich aussagekräftiger und aufschlußreicher ist als quantitativ fundierte, eindimensionale und/oder kategoriale Trennschärfe bloß suggerierende Typologisierungsversuche. Zum anderen - und hierauf aufbauend - werde ich die These vertreten, daß die von Fall zu Fall spezifischen Formen wohlfahrtsstaatlicher Solidaritätsproduktion und -reproduktion ihrerseits die Ansatzpunkte und Angriffsflächen
für den aktuellen (und wohl auch künftigen) Rückbau des Wohlfahrtsstaates bieten.
Dementsprechend lassen sich die jüngsten Entwicklungen in den europäischen
Wohlfahrtsstaaten einerseits durchaus auf einen gemeinsamen Nenner bringen:
überall scheinen die in der Vergangenheit institutionalisierten Solidaritätsbeziehungen auf ihren Kerngehalt zurückgeführt zu werden. Insofern aber dieser Solidaritätskern, hinsichtlich seines Volumens wie auch seiner Dichte, in verschiedenen
Wohlfahrtsstaaten durchaus unterschiedlich definiert wird, führt eine generalisierte
Politik des Back to Basies letztlich gleichwohl zu je anderen Ergebnissen. An diesem
Phänomen einer - um gleich Martin Seeleib-Kaisers in seinem Beitrag zu diesem
Heft entwickelten Begriff zu übernehmen - "divergenten Konvergenz" wird auch,
so lautet jedenfalls meine abschließende Prognose, die sich beschleunigende, irreversible Tendenz zur Europäisierung der Politik (vgl. Bach 1995) nichts ändern.
Die folgenden Ausführungen - dies sei vorweggenommen - sind notgedrungen konzeptioneller Art und erheben erklärtermaßen nicht den Anspruch, die vorab formulierten Thesen in detaillierter und erschöpfender Form zu belegen. Vielmehr
handelt es sich bei dem vorliegenden Beitrag um die nächste Runde von Vorüberlegungen im Rahmen des längerfristig angelegten Versuchs, eine "relationale" Perspektive auf die Konstruktion und den Wandel des modernen Wohlfahrtsstaates zu
entwickeln (vgl. dazu Lessenich 1998) - ein Analyseraster, das einstweilen noch seiner empirischen Umsetzung und Überprüfung harrt, mir aber eine gerade für die
vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung interessante, weiterführende Perspektive
zu bieten scheint.
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2. WohlJahrtsstaatlichkeit als institutionalisierte Solidarität
Moderne Wohlfahrtsstaatlichkeit läßt sich auch als die institutionalisierte Form solidarischer Risikoteilung in einer Gesellschaft umschreiben (vgL zum folgenden
auch Lessenich/Ostner 1996). Der Wohlfahrtsstaat löst historisch, im Kontext der
gesellschaftsweiten Durchsetzung des Marktprinzips, traditionale Sozialbeziehungen in ihrer Versorgungsfunktion ab (und jene Beziehungen dadurch tendenziell
auf) und macht somit ehedem private Aspekte individueller Lebensführung zum
Gegenstand öffentlicher Gestaltung. Den hiermit eröffneten Handlungsraum hat
der Wohlfahrtsstaat im Zuge seines Wirkens kontinuierlich ausgedehnt und dabei
einen immer größeren - zunehmend auch marktferneren - Personenkreis in den
Geltungsbereich seiner Leistungsprogramme eingeschlossen. Die gemeinsame Betroffenheit von typischen Risiken moderner Gesellschaften einerseits, die je unterschiedlichen Potentiale zu deren Bewältigung andererseits haben das Spannungsfeld
gebildet, innerhalb dessen sich erst über Klassengrenzen hinweg Solidarität entfalten konnte (vgL Achinger 1958).
Dieses gesellschaftliChe risk-sharing (vgL Baldwin 1990) freilich ist höchst voraussetzungsvoll. Selbst wenn die überwältigende Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder
eine gemeinsame Risikobetroffenheit anerkennt und vom gemeinschaftlichen Teilen des Risikos zu profitieren meint, so ist dieses Teilen an wie auch immer begriffene Reziprozitätserwartungen und stets widerrufbare Handlungsdispositionen jener Mehrheit rückgebunden. Derartige Erwartungen und Dispositionen wiederum
bedürfen zu ihrer Aktualisierung einer hinlänglich klar umrissenen, auf Dauer angelegten Gemeinschaft von einigermaßen zuverlässig einschätzbaren und einander
mehr als nur durch ihre bloße "Mitmenschlichkeit" verbundenen Solidarpartnern.2)
Eine solche Gemeinschaft aber konstituiert sich - jedenfalls im größeren, Gruppengrenzen überschreitenden Rahmen - als Solidargemeinschaft nicht aus sich selbst
heraus, sondern nur vermittels des Eingriffs einer externen, den gesellschaftlichen
Risikoausgleich organisierenden Instanz.
Diese Instanz ist der Wohlfahrtsstaat. Der moderne Wohlfahrtsstaat stellt gewissermaßen die Politisierung und Institutionalisierung des traditionellen Gedankens
wechselseitiger Haftung dar (vgl. Metz 1998). "An die Stelle einer ,natürlichen' Brüderlichkeit tritt unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft eine ,künstliche'
Gerechtigkeit, deren praktische Realisierung sich zugleich von den Individuen auf
den Staat und seine Institutionen verschiebt." (Bayertz 1998, S. 40) Die historische
Entwicklung des modernen Staatsbürgerstatus, wie sie uns in der klassischen Version von T. H. Marshall (1963) überliefert ist, läßt sich als graduelle Herausbildung
eines Institutionengefüges interpretieren, auf dessen Grundlage sich eine dauer-
') Vgl. hierzu Bayertz 1998. S. 12, der hervorhebt, daß soziale Solidaritätsbeziehungen in mindestens dreifacher Hinsicht als normativ aufgeladen zu gelten haben: der objektive wechselseitige Zusammenhang zwischen den Gruppenmitgliedem wird subjektiv wahrgenommen und für bedeutsam gehalten, d. h. die
Gruppe hat Gemeinschaftscharakter: dieser Gemeinschaftscharakter schließt die Erwartung gegenseitiger
Hilfe im Bedarfsfall ebenso ein wie die tatsächliche Bereitschaft dazu: schließlich wird dabei die Legitimität
der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer Ziele unterstellt.
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hafte, erwartungssichere und soziale Verbundenheit reflektierende Form gesellschaftsweiter solidarischer Risikoteilung erst verwirklichen ließ. Marshalls Staatsbürgerstatus ist nicht nur mit einer grundlegenden Gleichheit der Teilhabe an einem
sich stetig ausweitenden Katalog bürgerlicher, politischer und insbesondere sozialer
Rechte verbunden, sondern zugleich und ebensosehr (was häufig übersehen wird)
auch mit einer verpflichtenden Verantwortung des Individuums gegenüber der gemeinschaftlichen Wohlfahrt. Der Staatsbürgerstatus ist somit ein komplexes System
hin- und hergehender Rechte und Pflichten: Als Medium der Gewährleistung universaler Freiheits-, Mitwirkungs- und Teilhaberechte konstruiert, reklamiert er von
den vielen Anspruchsberechtigten seinerseits ein lebendiges und aktiv gelebtes Gemeinschaftsbewußtsein - in Marshalls Worten einen "lebendigen Sinn der Verantwortung gegenüber der Wohlfahrt der Gemeinschaft" (1992, S. 83).
Der Staat in seiner modernen, entwickelten Ausformung als Wohlfahrtsstaat knüpft
somit ein ebenso engmaschiges wie weitverzweigtes Netz von Staatsbürgerrechten
und -pflichten; er profiliert sich in seiner Rolle als politischer Garant des "sozialen
Bandes". Schon bei Emil Durkheim, dem Theoretiker des gesellschaftlichen Zusammenhalts (le lien social), ist es der Staat, dem immer häufiger "die Aufgabe zuwächst, uns an das Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern" (1988, S. 285).
Während Durkheim staatlicher Intervention allerdings nur eine zweitrangige, subsidiäre Funktion bei der primär moralisch-kulturell sich vollziehenden (und damit aus
der Gesellschaft selbst heraus erwachsenden) Solidaritätsherstellung beimißt, haben
sich die Staatsfunktionen mittlerweile in einer zu Beginn dieses Jahrhunderts wohl
noch unvorstellbaren Weise multipliziert und verselbständigt. Fernab davon, seine
Bürger und Bürgerinnen bloß "an das Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern",
bindet der moderne Staat die in einer immer komplexeren, pluralistischeren Welt lebenden Individuen aktiv in eine gesellschaftliche Solidarität ein, die staatlich - wohlfahrtsstaatlich - hergestellt ist, also pOlitisch erst konstitutiert wird.
Dabei scheint es mir wichtig zu sein, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß Durkheim den Solidaritäts begriff keineswegs normativ-emphatisch benutzt (wie etwa die
zeitgenössische Arbeiterbewegung dies tat: als moralischen Kampfbegriff), sondern
ihn in analytisch-relationaler Weise verwendet (vgl. Müller/Schmid 1988, S. 489 f.).
Er versteht unter Solidarität einen gesellschaftlichen "Relationierungsmodus"
(ebda., S. 489), d. h. die je unterschiedliche Gestalt, Stärke und Flexibilität der sozialen Beziehungsformen (in) einer Gesellschaft. Es ist diese zunächst nicht-normative, moralfreie oder jedenfalls ,moralarme' Ausdeutung der Solidaritätskategorie
als terminus technicus für die "wechselseitigen Bindungen und Verpflichtungen ... ,
die zwischen einer Gruppe von Menschen bestehen" (Bayertz 1998, S. 49), als Form
und Verfahren sozialer Relationierung, die den folgenden Ausführungen zugrundeliegt. 3)
3) Die tendenzielle moralische Entleerung oder relative moralische Anspruchslosigkeit des hier angesprochenen Solidaritätsverständnisses ergibt sich gerade dadurch, daß die soziale Verbundenheit signalisierende "latente Reziprozität" (HondrichlKoch-Arzberger 1992, S. 22) von der Ebene persönlicher Interaktion losgelöst und als Aufgabe bzw. Zweckbestimmung an die Institutionen des Wohlfahrtsstaates verwiesen wird. Bayertz (1998, S. 37; vgl. dazu auch ders. 1996, S. 318 ff.) spricht in diesem Zusammenbang von
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Der Wohlfahrtsstaat ist, so gesehen, ein institutionelles Arrangement zur Koordination des Zusammenspiels gesellschaftlicher Rechte und Pflichten, zur sozialen Relationierung von Individuen und Gruppen, zur Organisation von Solidarität im Kooperationszusammenhang moderner Gesellschaften. Wohlfahrtsstaatlichkeit ist institutionalisierte, organisierte Reziprozität (vgl. Hondrich/Koch-Arzberger 1992).
Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates verkörpern die generalisierten Gegenseitigkeitserwartungen der Gesellschaftsmitglieder (vgl. Kaufmann 1997a, S. 141 ff.).
Reziprozität wird als allgemeines regulatives Prinzip, gleichsam als "Meta-Norm"
gesetzt, die gerade aufgrund ihrer vorläufigen Unbestimmtheit (in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht) gesellschaftliche Beziehungsgeflechte stabilisiert (vgl.
Gouldner 1960; Thome 1998, S. 252 ff.). Die konkrete Ausgestaltung dieser im
Wohlfahrtsstaat inkorporierten und durch ihn reproduzierten gesellschaftlichen
Wechselverhältnisse wird historisch in konflikthaften Prozessen sozialer Konsensbildung und politischer Entscheidungsfindung vollzogen. Dabei wird solidarische
Risikovorsorge - wie erwähnt - aus ihren traditionellen, lebensweltlichen Bezügen
gelöst, doch knüpft die Ausweitung von Solidarität zum gesellschaftlichen Koordinationsmechanismus (vgl. Prisching 1992) durchaus an diesen Vorläufern solidarischen Bedarfsausgleichs an. Die politische Rekonstruktion von Solidaritätsbeziehungen im Wohlfahrtsstaat erfolgt insofern in "pfadabhängiger" Weise. Sie kann
(bzw. muß) daher von Land zu Land unterschiedlich ansetzen und jeweils andere
Formen annehmen.
Dies sind Fragen nach der Extensität oder, in Adaptation eines Durkheimschen Begriffs, nach dem "Volumen" der Solidarität. Fragen, die sich auf die Intensität bzw.,
um nochmals Durkheim zu bemühen, die "Dichte" der Solidarität beziehen, lauten
hingegen: Wie stark ausgebildet, wie weit fortgeschritten ist die politische Institutionalisierung von Solidaritätsansprüchen? Inwieweit werden Solidaritätsbeziehungen nicht nur "innerhalb des Staatswesens", sondern gerade (und nur) durch manifesten Staatseingriff geWährleistet?
3. Die Formenvielfalt wohlfahrtsstaatlieh organisierter Solidarität in Europa: Worlds
ofWelfare, revisited
Versteht man unter Wohlfahrtsstaatlichkeit also, wie hier vorgeschlagen, die soziale
Realität gewordene "Vorstellung einer innerhalb des Staatswesens geWährleisteten
generalisierten Reziprozität von Rechten und Pflichten" (Kaufmann 1997b, S. 145),
so ist damit noch nichts über die konkrete Gestalt jener Realität (bzw. ihren Gestaltwandel) gesagt: Diese(r) kann viele Formen annehmen. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen lassen sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten zum einen
nach dem personellen Einzugsbereich, zum anderen nach dem Grad staatlicher
Durchdringung ihrer gesellschaftlichen Reziprozitätskonstruktion differenzieren.
Zum einen unterscheiden sie sich im Hinblick auf den Wirkungsradius reziproker
Rechte und Pflichten der Individuen untereinander. Zum anderen gibt es Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes, in dem es staatliche Instanzen sind, denen die
Koordination dieser Reziprozitätsbeziehungen überantwortet wird.
Zentrale Unterscheidungskriterien einzelner Wohlfahrtsstaaten wären demnach die
Extensität und die Intensität (sprich: der Generalisierungsgrad und der Institutionalisierungsgrad) der in sie eingelassenen Solidaritätsstrukturen. Welche Teile der
Gesellschaft sind in diese Solidaritätsbezüge integriert? Gibt es einen einzigen, gesellschaftsweiten, mehrere große oder viele kleine Solidaritätszusammenhänge?
einer "Dialektik der Verstaatlichung": "durch ihre Institutionalisierung wird Solidarität auf ,Quasi-Solidaritäe verdünnt".
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Was an diesem Punkt der Argumentation folgen müßte, liegt auf der Hand: Auf der
Grundlage der Extensitäts-Intensitäts-Unterscheidung und der möglichen Ausprägung beider Variablen (groß/klein, stark/schwach) ließe sich nun ohne weiteres ein
Vier-Felder-Schema konstruieren, woraufhin verschiedene Wohlfahrtsstaaten oder
auch Gruppen von Wohlfahrtsstaaten den einzelnen Zellen zugewiesen werden
könnten. Der spontanen Versuchung, genau dies zu tun, möchte ich aber, jedenfalls
dieses eine Mal, widerstehen - und damit nicht nur einer eigenen Gewohnheit, sondern einer mittlerweile weitverbreiteten (Un-)Sitte (vgl. dazu auch Baldwin 1996).
Hier soll es einmal nicht um Typenbildung gehen: Die analytische Bezugnahme auf
unterschiedliche politische Konstruktionen gesellschaftlicher Solidaritätsbeziehungen führt gerade nicht zu drei, vier oder einer beliebigen anderen Zahl von (mehr
oder weniger) klar gegeneinander abgrenzbaren worlds ofwelfare. Sie vermag vielmehr die Besonderheit(en) jedes einzelnen Wohlfahrtsstaates zu erfassen: die konkrete Organisation sozialer Solidaritätsbeziehungen in ihrem je spezifischen institutionellen, ökonomischen und kulturellen Kontext. Dabei geht es letztlich um nichts
anderes als um die Einlösung von G~sta Esping-Andersens Postulat einer qualitativen, relationalen Analyse des Wohlfahrtsstaats - ein Postulat, das Esping-Andersen
selbst einem offenbar übermächtigen Typisierungsdrang geopfert hat, und dies mit
zweifelhaftem Gewinn. Denn wird mit dem Denken in "social relations" ein für die
wohlfahrtsstaatliche Analyse durchaus weiterführender Ansatz verschüttet (vgl.
Lessenich 1998), so kann die in ihrer dreifaltigen Eindeutigkeit bestechende Regimetypologie ja letztlich doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in allen Wohlfahrtsstaaten "durchaus einen Mix von Strukturprinzipien" und somit insgesamt
eine beträchtliche "Differenz zwischen Idealtypen und sozialstaatlichen Realisationen" (Talos/Obinger 1998, S. 12; vgl. auch schon Kohl 1993) gibt. 4)
Um solche "sozialstaatlichen Realisationen", um unterschiedliche Verwirklichungen ,,[der] Vorstellung einer innerhalb des Staatswesens gewährleisteten generalisierten Reziprozität von Rechten und Pflichten" muß es also gehen; um die Frage,
wie generalisiert (oder ausgedehnt) und wie institutionalisiert (oder verstaatlicht)
gesellschaftliche Solidaritätsbeziehungen in verschiedenen Wohlfahrtsstaaten sind
(vgl. Ferrera 1993). Die Extensität der Solidaritätsbezüge im Wohlfahrtsstaat bewegt sich dabei auf einem Kontinuum, das von universalistischen Konstruktionen
4) Um recht verstanden zu werden: Es geht nicht darum, prinzipiell den heuristischen Wert der Typenbildung
zu bestreiten - nichts läge mir ferner. Doch scheint mir die Typologie-Fixiertheit der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung teilweise doch schon kontraproduktive Formen anzunehmen. Daher mein Plädoyer
für eine Rückwendung zur - ,typologisch informierten' - Länderstudie.
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auf der einen bis hin zu individualistischen Arrangements auf der anderen Seite
reicht. Wird der (bzw. immer auch: die) einzelne im einen Fall als Staatsbürger konstruiert, den die gemeinsame Verbundenheit in einem gleichen Recht mit allen anderen Staatsbürgern (und insofern mit der Gesellschaft selbst) dauerhaft eint, so tritt
er im anderen Fall als Marktbürger auf, der in ungebundener Eigenverantwortung
ebenso spontane und punktuelle wie instrumentelle Solidarbeziehungen eingeht.
Zwischen diesen beiden Polen liegt das weite Feld partikularistischer Solidargemeinschaften, wo Gruppenbezüge unterschiedlichster Größenordnung den Rahmen
für die Entfaltung von Solidarität abgeben. Die Intensität wohlfahrtsstaatlich konstruierter Solidaritätsbezüge andererseits stellt ebenfalls ein Kontinuum dar. Hier
geht es um das, was gelegentlich mit dem unschönen Begriff der "state penetration"
zu fassen versucht wird: darum nämlich, ob - bis zu welchem Grad und in welcher
Weise - der Wohlfahrtsstaat die konkrete Gestalt gesellschaftlicher Verbundenheit
aktiv zu beeinflussen sucht oder ob er die Formen und Maßstäbe sozialer Relationierung der gesellschaftlichen Selbststeuerung überläßt; und ob er letzteres auf dem
Wege regulativer Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen tut (vgl. hierzu - aus
anderer Perspektive - auch Mayntz/Scharpf 1995).
nem methodischen Instrumentarium, das diese Besonderheiten zutage zu fördern
erlaubt. Es scheint mir offensichtlich zu sein, daß die Analyse wohlfahrtsstaatlieh organisierter Solidaritätsbeziehungen sich nicht allein auf quantitative Indikatoren
verlassen kann. Vielmehr bedarf die Analyse der Formen und Mechanismen wohlfahrtsstaatlicher Integration zusätzlich genuin qualitativer Instrumente, was dann allerdings einem einfachen Vergleich i. S. des "mehr" oder "weniger", des "besser"
oder "schlechter" enge Grenzen setzt.
Intensitäts- und Extensitätskontinuum bilden gewissermaßen die Achsen des Koordinatensystems, innerhalb dessen sich die unterschiedlichsten wohlfahrtsstaatlichen
Solidaritätsarrangements verorten lassen. Hat man nun aber eben dieses Bild eines
Koordinatensystems vor Augen, dann ist erneut eine Versuchung groß - nämlich für
die beiden Dimensionen bzw. Variablen "Intensität" und "Extensität" jeweils einen
leicht quantifizierbaren Indikatoren zu finden, dessen (bzw. deren) Werte für verschiedene Wohlfahrtsstaaten zu messen und auf dieser Basis die genaue Position jener Staaten im Koordinatensystem abzutragen. Einem derartigen "two-dimension
approach" folgt beispielsweise Giuliano Bonoli (1997) bei seiner wohlfahrtsstaatlichen Klassifikation sechzehn europäischer Nationen. Bonoli mißt für diese sechzehn
Staaten die Höhe der Sozialausgaben (bezogen auf das jeweilige Bruttosozialprodukt) sowie das Ausmaß ihrer Beitragsfinanzierung (sprich den Anteil der kontributiven Sozialleistungen an allen Sozialausgaben) zu Beginn der neunziger Jahre,
weist seinen sechzehn Fällen ihren Platz innerhalb des durch die beiden Untersuchungsdimensionen aufgespannten Raumes zu - und siehe da, es emergieren Wohlfahrtswelten. Es ergeben sich Ländercluster, die sogleich wieder zu vier vermeintli5
chen "Idealtypen" stilisiert werden können. )
Auch hier wiederum gilt es, nicht dem.Lockruf der Klassifizierer zu folgen. Haben
wir den Wohlfahrtsstaat als Instrument der Sozialintegration bestimmt und in diesem Zusammenhang die - jenseits aller unbestreitbaren Gemeinsamkeiten wohlfahrtsstaatlicher Systeme liegende - Eigenart, ja Einzigartigkeit nationaler Solidaritätsarrangements betont, so führt uns dies im nächsten Schritt zur Suche nach ei-
') "Beveridgean" bzw. "Bismarckian" "high spenders" bzw. "low spenders" (vgl. Bonoli 1997, S. 360 f.). Die
Abgrenzung zwischen den einzelnen Typen (graphisch: Quadranten) erfolgt dabei offenbar willkürlich. So
wird die Grenze zwischen Beveridge- und Bismarck-Staaten bei einer Beitragsfinanzierungsquote von ca.
57% gezogen; läge sie bei 60%, so würden Luxemburg, Portugal und Schweiz die Typenzugehörigkeit
wechseln.
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Zwar ließen sich, mit allen erdenklichen Einschränkungen, etwa Bonolis Ausgabenund Beitragsquoten durchaus als Grobindikatoren für die Extensität und Intensität
staatlich gerahmter Solidaritätsarrangements lesen. Doch könnte dies nur der allererste Schritt einer entsprechenden Analyse sein - einer Analyse, welche in aller
Breite und Tiefe die institutionellen Rahmenbedingungen, die ökonomischen Strukturen, die kulturellen Voraussetzungen und die normativen Implikationen konkreter Solidaritätsarrangements zu klären hätte. Untersuchte man soziale Sicherungssysterne aus dieser Perspektive, dann kämen nicht allein Quoten, sondern Relationen (oder, für pathetischere Naturen: nicht Zahlen, sondern Menschen) in den Blick.
Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Versteht man unter dem Wohlfahrtsstaat einen institutionalisierten Solidaritätszusammenhang, so ergeben etwa Daten
zur Höhe und Struktur der Sozialhilfeausgaben, zur Zahl und Zusammensetzung der
Sozialhilfeempfänger oder zur Dauer und Häufigkeit des Sozialhilfebezugs ein allenfalls vordergründiges Bild vom wohlfahrtsstaatlichen Umgang mit dem sozialen
Problem der Einkommensarmut. Um die gesellschaftliche Gestalt des Wohlfahrtsstaates zu eruieren, wären - auf dieser Grundlage - vielmehr Fragen zu stellen wie
diese: Mit wem werden einkommensarme Personen zwecks ihrer Unterstützung gesellschaftlich relationiert? Wem gibt der Staat welche Leistungsrechte, wen nimmt
der Staat korrespondierend wie in die Pflicht? Springt der Staat selbst ein - und in
welcher Form -, oder organisiert er private Unterstützungsleistungen? Tut er dies
auf zwingende, autoritative Weise, oder überläßt er das Zustandekommen (bzw.
Ausbleiben) privater Unterstützung der gesellschaftlichen Selbstorganisation (und
ihren Unwägbarkeiten)? Welche sozialen Bande knüpft der Staat mit seiner jeweiligen Intervention? Welche Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Gemeinschaften stellt er her?
Es sind die - in aller Regel kaum quantifizierbaren oder auf einen einfachen Nenner
zu bringenden - Antworten auf diese Fragen (bzw. auf entsprechende Fragen zu anderen sozialpolitischen Problemfeldern: Altersversicherung, Krankenversorgung,
Unterhaltsleistungen usw.), aus denen sich mosaikartig das komplexe Bild wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität ergibt. Es liegt auf der Hand, daß die umfassende Untersuchung der konkreten sozialen Realität eines bestimmten Wohlfahrtsstaates weniger generalisierbares, den einzelnen Fall transzendierendes Wissen zutage fördert als vielmehr die Variabilität wohlfahrtsstaatlicher Arrangements, die
Bandbreite sozial- oder gesellschaftspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten, das Idiosynkratische einzelner Wohlfahrtsstaaten und ihrer Entwicklungspfade. Und dennoch: Es bleibt auch hier noch ein nicht unbeträchtliches Erkenntnispotential des
Wohlfahrtsstaatsvergleichs erhalten - wenn auch jenseits des Versuchs, die soziale
Realität der abstrakten Konstruktion irgendeines Typus' gefügig zu machen. Dieses
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Potential liegt einerseits darin begründet, einen gemeinsamen Bezugspunkt der
Analyse wohlfahrtsstaatlicher Strukturen zu bieten: die jeweilige wohlfahrtsstaatliche Solidaritätskonstruktion. Und andererseits läßt sich aus dem entsprechend fundierten Vergleich heraus auch eine - dann doch allgemeinere - Diagnose wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung und aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Wandels stellen:
die generalisierte wohlfahrtsstaatliche Solidaritätskontraktion.
4. Der Verfallsprozeß wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität in Europa: Back to
Basics?
Schien es lange Zeit so, als ob die Geschichte des modernen Wohlfahrtsstaates
allein die Geschichte seiner unaufhaltsamen Expansion sei, so haben die Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte gelehrt, daß wohlfahrtsstaatliche Entwicklung
durchaus zyklischer Natur ist: Auf Zeiten der Ausdehnung von Sozialprogrammen,
Leistungsniveaus und Begünstigtenkreisen folgen Phasen des wohlfahrtsstaatlichen
Rückbaus. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten unterliegt wohlfahrtsstaatliche Regulierung in den europäischen Staaten einer solch rückläufigen Tendenz - und die Zeichen wohlfahrtsstaatlicher Regression scheinen sich, angetrieben von den Makroprozessen einer Internationalisierung der Ökonomie und einer Europäisierung der
Politik, zu mehren. Dieser kollektive Rückzug vollzieht sich in mehrerlei Hinsicht
(vgl. zum folgenden Talos/Falkner 1994, S. 271 ff.): Sozialpolitik wird enger an ökonomische Erfordernisse rückgebunden; sozialpolitische Regelungen folgen immer
weniger allgemeinverbindlichen Normen und setzen seltener allgemeingültige Standards; vormals öffentliche Sicherungsfunktionen werden zunehmend nicht-staatlichen Reproduktionsinstanzen zugewiesen; der Bereich gesellschaftlicher Selbstregelung durch dezentrale Institutionen und Akteure wird zusehends erweitert.
Angesichts derartiger Tendenzen einer Ökonomisierung, Differenzierung, Privatisierung und Dezentralisierung der sozialen Reproduktion in allen entwickelten
Wohlfahrtsstaaten wird für Talos und Falkner deren "erhöhte Selektivität" (1994,
S. 274) zum gesellschaftspolitischen Hauptproblem. In die Begriffskategorien einer
relationalen Wohlfahrtsstaatsanalyse übersetzt: Was die jüngere und jüngste Geschichte des Wohlfahrtskapitalismus charakterisiert ist die fortschreitende Erosion
der historisch gewachsenen, politisch institutionalisierten Solidaritätsarrangements,
ihre Rückentwicklung hinsichtlich Extensität und Intensität, die Verengung und Differenzierung gesellschaftlicher "Solidaritätshorizonte" (Kaufmann 1998, S. 9).6) Ist
dies die globale, generelle, über die verschiedenen Wohlfahrtsstaaten hinweg zu beobachtende Entwicklungsrichtung, befinden sich also wohlfahrtsstaatlich organisierte Solidaritäten allerorten und allenthalben auf dem Rückzug, so legen die einzelnen Wohlfahrtsstaaten gleichwohl auf ganz unterschiedliche Weise den Rückwärtsgang ein (Seeleib-Kaisers "konvergente Divergenz", s.o.). Eine Feststellung,
6) Göbel und Pankoke (1998, hier S. 463) verweisen wiederholt auf die künstlichen und historisch entsprechend flexiblen Grenzen sozialer Solidargemeinschaften: "Historisch ist zu beobachten, wie geschichtliche
Krisen diese Solidaritäts-Grenzen verschieben, sei es, daß Ansprüche auf Solidarität ausgeweitet werden,
sei es, daß bislang gewährte Solidarität wieder zurückgenommen wird."
Lessenich, Back to Basics: Vielfalt und Verfall ...
die im Lichte des vorherigen Verweises auf die Formenvielfalt wohlfahrtsstaatlicher
Solidaritätskonstruktionen kaum überraschen dürfte. Wie aber der besagte Erosionsprozeß konkret vonstatten geht, wo er an- und wie er einsetzt, um dann
(womöglich immer) weitere Kreise zu ziehen, sei an dieser Stelle nur kurz für den
mich derzeit vornehmlich interessierenden, deutschen Fall skizziert (vgl. hierzu erneut auch Lessenich/Ostner 1996).1)
Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist dadurch gekennzeichnet, daß er vorrangig partikularistische Solidaritäts bezüge herstellt und politisch sanktioniert. Er unterstellt
bzw. organisiert komplementäre Sozialbeziehungen auf einer intermediären Ebene:
Solidargemeinschaften innerhalb des Betriebs, der Familie, der Sozialversicherung.
Die Sozialversicherungen als primäre und dominante Sicherungsinstanzen Deutschland gilt im internationalen Vergleich zu Recht als "Sozialversicherungsstaat" (vgl. Schmidt 1998, S. 215 ff.) - betreiben einen begrenzten und bedingten Solidarausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, beitragsleistenden und
beitragsfreien Mitgliedern. Von der Idee her ein Club, der Risiken zwar auch interpersonell, vor allem aber intertemporal umverteilt, operiert die Sozialversicherung
mit reduzierten (und auf die Dauer gesehen nicht zuletzt deshalb auch von den Mitgliedern allgemein akzeptierten) Solidaritätsansprüchen. Parallel hierzu alimentiert
die steuerfinanzierte staatliche Versorgung Beamte bzw. Personen, die besondere
Leistungen für die Gesellschaft erbringen, erfaßt die gleichfalls aus Steuereinnahmen gespeiste Fürsorge subsidiär und bedarfsgeprüft individuelle Notlagen. Versicherung, Versorgung und Fürsorge umschreiben Prinzipien einer "eng" bzw. "weit"
solidarischen sozialen Sicherung sowie "starke" und "schwache" Garantien des sozialen Schutzes: Je geringer der Anspruch an verallgemeinerte Solidarität (und der
Bedarf an ihr), je weniger weitgespannt die Solidargemeinschaft, um so höher - jedenfalls der Tendenz nach - das Leistungsniveau und um so größer der Besitzstandsschutz.
Letzteres wird spätestens dann unmittelbar relevant, wenn das Sicherungssystem
insgesamt wie auch seine einzelnen Teile - Versicherung, Versorgung und Fürsorge
- vor Finanzierungsproblemen stehen und das gesellschaftliche Solidaritätsarrangement als Ganzes wie auch in seinen einzelnen Teilen von den Rändern her erodiert.
Oder genauer: Wenn sich Solidarität auf Kernbereiche, wo Leistung und Gegenleistung erwartungssicher ineinandergreifen, zurückzuziehen beginnt und damit die Integrationsdifferentiale innerhalb von Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgesystemen wie auch zwischen ihnen offenkundig werden. So verläuft die Scheidelinie
in den Sozialversicherungen zwischen Empfängern bzw. Empfängerinnen von beitragsgedeckten Leistungen einerseits und sog. versicherungsfremden Leistungen andererseits. Zur Debatte stehen heute beitragsfreie oder geminderte Leistungen ohne
Bestandsschutz, vor allem abgeleitete Leistungen für Frauen in der Kranken- und
') Es soll hier im übrigen nicht behauptet werden, die Kontraktion historisch institutionalisierter Soli daritätsbeziehungen sei der alleinige Nenner, auf den sämtliche wohlfahrtsstaatliche Reformen der jüngeren
Vergangenheit zu bringen wären. Es ist dies aber doch der größere, gesellschaftspolitische Rahmen, innerhalb dessen sich die sozialstaatlichen "Umbauten" vollziehen und nachvollziehbar werden (vgl. hierzu
Lessenich 1996 a, b).
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Hinterbliebenenversicherung. Im Fürsorgebereich haben Arbeitsförderungsreform,
Sozialhilfereform und Asylbewerberleistungsgesetz zum einen nicht-deutsche Bedürftige aus gesellschaftlichen Solidaritätsbezügen herausgelöst, zum anderen über
verschärfte Zumutbarkeitsregelungen und neue Formen der Bedarfsprüfung deutsche Langzeitarbeitslose - so die offizielle Lesart - an ihre Verpflichtungen der Gesellschaft bzw. der Gemeinschaft der Hilfeleistenden gegenüber erinnert. Und selbst
vor der Beamtenversorgung macht das revitalisierte Denken in Kategorien von Leistung und Gegenleistung nicht halt und entdeckt nicht nur die Notwendigkeit eines
eigenständigen Beitrages der Staatsbediensteten zu ihrer Altersversorgung, sondern
auch die Verwundbarkeit von Ansprüchen, die sich gerade keinen Eigentumsschutz
durch Beiträge erworben haben.
Dieser kurze Exkurs zum deutschen Fall mag in einer ersten Annäherung deutlich
machen, daß das Verständnis des Wohlfahrtsstaates als institutionalisiertes Solidaritätsarrangement ein analytisches Raster gerade auch für den aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Rückbau liefert. Über die allgemeine These einer Re-Ökonomisierung des Sozialen bzw., auf die Arbeitsmarktpolitik bezogen, einer "Re-Kommodifizierung" wohlfahrtsstaatlicher Programmatik (vgl. Neyer/Seeleib-Kaiser 1996)
hinaus wird hier deutlich, wer aufgrund welcher politischen Intervention oder NichtIntervention aus gewachsenen sozialen Bezügen entbunden und in neue Abhängigkeitsbeziehungen entlassen wird. 8 ) Über Veränderungen des wohlfahrtsstaatlichen
Relationierungsmodus - im Sinne von "mehr Markt", "mehr Individuum", "mehr
Familie" usw., bzw. einer Kombination dieser Tendenzen - können Ausmaß und
Richtung wohlfahrtsstaatlichen Wandels abgebildet werden; ein analytischer Vorzug, den nicht alle Konzeptualisierungen des Wohlfahrtsstaates für sich reklamieren
können (vgl. etwa die entprechende Kritik an Esping-Andersens Regime-Konzept
bei Taylor-Gooby 1996 oder Borchert 1998).
5. Schluß
Über den deutschen Fall hinaus gibt es m. E. deutliche Anzeichen dafür, daß sich in
allen europäischen Wohlfahrtsstaaten die historisch gewachsenen Solidaritätsstrukturen zusammenzuziehen, sich zu kontrahieren beginnen; daß sich all diese Wohlfahrtsstaaten auf den originären Kernbereich ihres Solidaritätsarrangements (vgl.
dazu Metz 1998) und auf eine Politik zu dessen Festigung rückbesinnen. Andererseits aber ist diese Politik des Back to Basics insoweit variabel, als - wie zuvor angedeutet - die Reichweite solidarischer Beziehungsstrukturen und der Grad ihrer Institutionalisierung in verschiedenen Wohlfahrtsstaaten durchaus unterschiedlich
sind _ und damit auch die jeweilige Interpretation dessen, was denn nun als "basic",
als basaler, elementarer, "eigentlic;her" Solidaritätsgehalt, als die Essenz wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität zu gelten hat.
8) Aus dieser Perspektive wird dann auch deutlich, daß die im Zuge der Re-Kommodifizierungs-Welle international Anklang und Verbreitung findenden Politikinstrumente (etwa solche des workfare) aufgrund ihrer Anwendung im Rahmen ganz unterschiedlicher sozialer Beziehungsstrukturen auch völlig verschiedene Bedeutung, Erfolgsaussichten und Konsequenzen haben werden.
34
An dieser interpretativen und in der Folge auch realen Vielfalt wird sich im fortlaufenden Prozeß der Europäisierung unterschiedlichster - und, wenngleich in Maßen,
auch sozialpolitischer - Politikfelder wenig ändern. Es wird sich, diese Prognose sei
gewagt, nicht eine jener konkurrierenden Interpretationen des wohlfahrtsstaatlichen Solidaritätsfundaments als hegemonial erweisen, sondern wir werden es nach
wie vor mit einem Pluralismus wohlfahrtsstaatlicher Solidaritätskonstruktionen in
Europa zu tun haben. Auch in Zukunft wird wohlfahrtsstaatliche Politik, um ein
Wort Franz-Xaver Kaufmanns (1997b, S. 141) aufzunehmen, "im Bereich nationaler gesellschaftlicher Kosmologien" verbleiben (in der Quintessenz ganz ähnlich
z. B. Streeck 1998; vgl. auch den Beitrag von Klaus-Bernhard Roy in diesem Heft).
Um so notwendiger bleiben, ja dringlicher werden differenzierte Analysen des
Wohlfahrtskosmos der europäischen Nationen, ihrer wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der von ihnen organisierten Solidarbeziehungen (vgl. etwa jüngst Talos
1998).
Im übrigen gilt es abschließend festzuhalten, daß die Suche nach dem "sozialen
Band", nach dem Modus und den Motoren der Sozialintegration, weder zu Durkheims noch zu unseren Zeiten eine bloße akademische Hirnverrenkung war bzw. ist.
"Das einheitsstiftende soziale Band ist keine Notwendigkeit soziologischer Theorie[bildung, S. L.], sondern ein Postulat gesellschaftlicher Praxis" (Kaufmann 1997b,
S. 143). Solidaritätsansprüche und -bereitschaften, die Enge oder Weite gesellschaftlicher Solidaritätshorizonte, insbesondere auch die Rolle wohlfahrtsstaatlicher Intervention bei der Konstruktion, Reproduktion und Revision dieser Solidaritätsbeziehungen: All dies sind keineswegs bloße Objekte wissenschaftlichen Disputes, sondern hier sind unmittelbar lebenspraktische Fragen des Zusammenhaltes
von Gesellschaften, des Fortbestands von Gesellschaftlichkeit und des Erhalts der
Menschenwürde angesprochen. Fragen, die eine Zeitlang von der politischen Tagesordnung verschwunden waren oder zumindest schienen, doch nun mit kaum
mehr für möglich gehaltener Macht auf diese zurückdrängen - und zwar nicht nur
im "Neuen", selbst auch im "Alten Europa". Fragen, die in dem Maße, in dem der
Wohlfahrtsstaat sich darauf zurückzieht, uns in immer selektiverer Weise "an das
Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern" , den europäischen Gesellschaften und
damit uns selbst noch zu schaffen machen werden. Fragen also, die uns gerade deshalb auch weiterhin zu denken geben sollten.
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Demokratie und Sozialstaatlichkeit in Europa Legitimationsprobleme und Politikperspektiven
Von Dr. Klaus-Bernhard Roy, Magdeburg
1. Einleitung
Ausgangspunkt der Argumentation ist das lange Zeit erfolgreiche Gesellschaftskonzept sozialintegrativer Demokratien in Europa, in dem die Legitimationsebene
demokratischer Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren und der Legitimationsstrang der sozialen Inklusion als Strukturmerkmale moderner Demokratien zusammenlaufen.
Die lange Zeit tragfähige Verbindung von ökonomisch und sozial prosperierender
Gesellschaftsentwicklung mit demokratischer Herrschaft ist mit weitreichenden Folgen der innergesellschaftlich wie globalisierungsbedingten sozioökonomischen
Strukturveränderungen konfrontiert, die das bislang primär nationalstaatliche Legitimationsmuster sozialintegrativer Demokratie zunehmend hinterfragen.
Wenn die Folgewirkungen der Globalisierung für die Nationalstaaten als traditionelle Organisationsrahmen der Demokratie diskutiert werden, gewinnt die europäische Integration zunehmend an Gewicht.
Allerdings werden die häufigen staatsrechtlichen Differenzierungen der Europäischen Union der demokratietheoretischen Problematik kaum gerecht. Sie gehen an
dem für die Europäische Union kennzeichnenden Legitimationstypus vorbei, bei
dem die Nationalstaaten einerseits entscheidend für die Vermittlung von Legitimation des europäischen Politikgefüges verantwortlich sind, gleichzeitig aber die Partikularität der nationalen Interessenaggregation und Loyalitätsbindungen bestimmend bleibt (Kielmansegg 1996). Auf diese Legitimationsprobleme reagieren seit einiger Zeit Forschungsansätze, deren Schwerpunkt zumeist auf neuen Partizipationsund Mitentscheidungsverfahren liegt (etwa Grande 1996).
Solche Legitimationsfragen des europäischen Mehrebenengeflechts sollen um eine
in der Diskussion weitgehend vernachlässigte Dimension der Theorie und Praxis
sich wandelnder Demokratie ergänzt werden.
Entsprechend der gewählten Analyseperspektive richtet sich der Blick auf die "Output"-Ebene der Demokratie. Es wird nach aktuellen Integrationsproblemen gefragt
und demokratische Legitimation auf einer materiellen Dimension betrachtet, die
stark von den Möglichkeiten und Grenzen sozialstaatlicher Politik bestimmt wird.
Damit steht die soziale Legitimationsebene im Vordergrund, die neben der formalen Legitimationsdimension für die Demokratie in Europa ebenso relevant ist (Weiler 1989, S. 78 ff.). Dies greift aktuelle Analysen auf, die für die Perspektiven Europas neben institutionellen Elementen auch die Dimensionen gesellschaftlicher Kräftebalance und Integrationsfähigkeit als Bausteine der Demokratie herausstellen
(Puntscher-Riekmann 1997, S. 103-107).
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