Erasmus Master Mundus „Deutsche und Französische Philosophie in Europa“ Ruhr Universität Bochum Die Begriffe der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in der Heideggerischen Philosophie und das Konzept des Philosophen bei Epiktet. Betreut von Prof. Dr. Alexander Haardt und Prof. Dr. Hans-Ulrich Lessing Eingereicht von Levan Ghambashidze 1 Whenever you find yourself on the side of the majority, it is time to pause and reflect. Mark Twain Einleitung In der vorliegenden Arbeit möchte ich zwei Begriffe der Heideggerschen Philosophie analysieren. Diese Begriffe sind die der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit des Daseins. Es ist sehr schwer, den ganzen Gang der Entwicklung der Philosophie von Heidegger in einer Arbeit zusammenzufassen. Daher möchte ich mich auf zwei Werke konzentrieren. Das sind sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ und „Die Grundbegriffe der Metaphysik“. Von Sein und Zeit werde ich hauptsächlich die §25-27 und §39-66 benutzen, die für uns interessante Themen enthalten. Aus den „Grundbegriffen der Metaphysik“1 nehme ich einen Teil, in dem Heidegger über die Langeweile spricht, da für unsere Arbeit dieser Begriff von entscheidender Wichtigkeit ist. Anschließend werde ich für das bessere Verständnis der Sache eine Erzählung von Robert Musil „Die Amsel“ interpretieren, welche, meiner Meinung nach, die literarische Beschreibung von Grundgedanken der Heideggerschen Philosophie ist. Die Erzählung beschreibt das Problem der Eigentlichkeit und des Man, ohne es systematisch zu analysieren, sondern in der Weise, die dem Schriftsteller eigen ist: in der Beschreibung. Der Autor gibt uns nicht die Antwort auf die Frage „was“, sondern zeigt uns das Phänomen in seinem „So-sein“, wie es ist. Daher ist es interessant, nicht nur die systematische Beschreibung des Themas bei Heidegger nachzuvollziehen sondern auch seine Wichtigkeit aus der Literatur zu gewinnen. Im Laufe der Arbeit werde ich für uns die wichtigsten Begriffe auslegen und die Bewegung dieser Auslegung wird sich vom Man, also der Uneigentlichkeit zum eigentlichen Selbst vollziehen. Diese Bewegung wird für uns einen roten Faden durch den Ablauf der Arbeit bilden. Die Begriffe, die ich hauptsächlich analysieren werde, sind diejenigen des „Man“, des Todes, der Angst, des Gewissens und der Langeweile. Um diese Begriffe zu erklären, werde ich auch andere Begriffe im Laufe der Abhandlung interpretieren müssen, da es sehr schwer ist, 1 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, II Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 29/30. Grundbegriffe der Metaphysik; Welt-Endlichkeit-Einsamkeit. 2 wenn auch nicht unmöglich, einzelne Begriffe fur sich zu erklären, abgetrennt von dem ganzen Kontext des Textes von Heidegger. Die eigentliche Aufgabe, welche Heidegger in seinem Hauptwerk zu lösen versucht, ist die Frage nach dem Sinn des Seins. Diese Frage nimmt ihren Anfang in der griechischen Philosophie, konkreter in Platons und Aristoteles` Philosophie. Obwohl schon viel Zeit vergangen ist, seitdem diese Frage gestellt wurde, gibt es keine eindeutige Antwort auf sie und mehr noch; sie ist von verschiedenen Vorurteilen verdeckt worden, was die Sache noch unzugänglicher gemacht hat. Heidegger nennt drei über die Seins frage existierende Vorurteile: 1. Das „Sein“ ist der „allgemeinste“ Begriff. 2. Der Begriff „Sein“ ist undefinierbar. 3. Das „Sein“ ist der selbstverständliche Begriff. Diesen Vorurteilen folgend ist Sein etwas, das keiner weiteren Analyse bedürftig ist. Aber Heidegger versucht die Frage wiederholt zu stellen und zu zeigen, dass der frühere Zugang zur Sache nicht adäquat war. Daher ist es notwendig einen neuen Zugang zu bekommen, wodurch der Erfolg der ganzen Analyse abhängt. Um den Zugang zum Sein zu gewinnen, sollen wir zuerst sehen, wo das Sein sich zeigt. Erstens soll man andeuten, dass, wenn man über das Sein spricht, man immer über das Sein eines Seienden spricht. Aber „Das Sein des Seienden „ist“ nicht selbst ein Seiendes“. (SuZ 6) Daher soll man eine strenge Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden vollziehen. „Diese Unterscheidung impliziert fur Heidegger vor allem, dass sich das Sein nicht durch die auf das Seiende zugeschnittenen Begrifflichkeit fassen lässt. Das Sein fordert nämlich „eine eigene Aufweisungsart“, „verlangt“ also „eine eigene Begrifflichkeit“. Lässt sich die Begrifflichkeit für und das gängige Sprechen über das Seiende terminologisch als „ontisch“ bezeichnen, wird die Rede vom Sein rein „ontologisch“ sein müssen“2. Dieser Unterschied ist unter dem Namen der „ontologischen Differenz“ bekannt. Es ist wahr, dass Seiendes und das Sein nicht getrennt existieren können. Immer wo ein Seiendes ist, ist das Sein da, und wenn wir über das Sein sprechen, sprechen wir über das Sein des Seienden. Aber da diese beiden Begriffe so verknüpft sind, ist es schwer, sie getrennt zu betrachten und zu analysieren. Was Heidegger mit der ontologischen Differenz versucht zu tun ist, das Sein als solches zu thematisieren. Dieser Trennung nach gehört das Seiende zu der Sphäre des Ontischen 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; 2007. S. 5-6 3 und das Sein zu der Sphäre des Ontologischen. Aber wie wir schon gesehen haben, um an das Sein heran zu kommen, sollen wir unbedingt die Analyse des Seienden anfangen. Aber es soll nicht ein zufälliges Seiendes sein, sondern ein spezifisches. „Seiend ist in gewissem Sinne alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns verhalten, und wenn auch nur als zu einem Unzugänglichen, alles, wozu wir beziehungsmäßig sind und alles das, was und wie wir selbst sind.“3 In dieser Vielfalt des Seienden ist eines von denen ausgezeichnet durch ein spezifisches Verhältnis zu dem Sein selbst. Dieses Seiendes, das „wir je selbst sind“, hat vor allen anderen Seienden einen ontisch-ontologischen Vorrang. Es ist ein Seiendes, welches „ein ausgezeichnetes Seinsverhältnis in sich beschließt“ (PGZb 200). Seinsverhältnis besagt nichts anderes als das Seinsverständnis. Dieses Verständnis ist natürlich erstmals nicht thematisiert. Zum Beispiel benutzt der Mensch das Wort „ist“ ohne begrifflich zu wissen, was das „ist“ bedeutet. So ein Seiendes, um seine Auszeichnung zu akzentuieren nennt Heidegger das Dasein. So ein Seinsverständnis bezeichnet Heidegger als „durchschnittlich und vage“, aber trotzdem hilfreich in der Frage nach dem Sinn von Sein, da das Dasein ein Seiendes ist, welches „ontologisch ist“. Ontologisch sein heißt, dass das Dasein immer ein gewisses Verständnis seines Seins hat. In diesem Verhältnis zu dem Sein liegt genau das Wesen des Daseins. Was das Dasein ist, kann nur aus seinem Sein bestimmt werden und kann nicht mit den Kategorien begriffen werdenfo wie es der Fall bei anderen Seienden ist „das Wesen“ des Daseins liegt in seiner Existenz“(SuZ 42) und dementsprechend nennt Heidegger die Wesensbestimmungen die „Existenzialen“. Wenn wir also über das Dasein die Frage stellen sollen, ist das Gesuchte nicht sein “Was” sondern seine „Weise des Seins“. Ausgezeichnet an diesem Seienden ist, dass „es (…) zu sein“ hat. „Dieses Seinverhältnis zu dem Seienden, das ich selbst bin, charakterisiert dieses „Zu-sein“ als das „je meine“. „Die Seinsart – es zu sein – ist wesenhaft je meine es zu sein, ob ich ausdrücklich darum weiß oder nicht, ob ich mich in meinem Sein verloren bin (vgl. das Man) oder nicht“ (PGZb 206) Die „Jemeinigkeit“ des Daseins impliziert auch die Weise des Seins. Man entscheidet ständig „in welcher Weise Dasein je meines ist“, „das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder 3 Martin Heidegger. Gesamtausgabe, Ln, Bd. 20, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs: Marburger Vorlesung Sommersemester 1985: BD 20. Klostermann. Frankfurt am Mein, 1994 S. 195 4 selbst gewählt, oder es ist in sie hineingetragen oder je schon darin aufgewachsen. Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. 4 So zeigt sich, dass sich das Dasein zu seinem Sein als seiner Möglichkeiten verhällt. Aber jede Möglichkeit hängt von der Wahl ab, ob man sie wählt oder nicht. Eine der Grundmöglichleiten des Existierens bezeichnet Heidegger terminologisch als Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Diese beiden sind die Seinsmodi des Daseins und entsprechen dem „sich selbst wählen“ und dem „sich verlieren“. Ob man zwischen diesen zwei Möglichkeiten tatsächlich wählen kann oder nicht ist das Thema unserer Arbeit. Herauszustellen, wie es möglich ist, dass das Dasein sich verlieren kann und wenn das passiert, was die Stelle ist, wo er sich verliert. Um das zu klären, müssen wir ein Phänomen auslegen, welches Heidegger als das Man bezeichnet. In §25 stellt sich Heidegger die Frage nach dem Dasein, nämlich wer das Dasein eigentlich ist, dessen Strukturen der Existenz in vorherigen Kapiteln geklärt wurden. Es wurde gezeigt, dass das Dasein in seinem In-der-Welt-sein ein gewisses Mitsein ist. Die nichtdaseinsmäßigen Seienden sind als Zuhandene oder Vorhandene zu bestimmen, aber es gibt auch ein anderes Seiendes, das die gleiche Art des Existierens hat wie das Dasein selbst. Das ist das Dasein der Anderen, aber im Unterschied zu verschiedenen Theorien der Intersubjektivität handelt es sich bei Heidegger nicht um die Beziehung zwischen zwei oder mehr Menschen, vielmehr sind das Mit-sein und Mit-Dasein gleich ursprünglich mit dem In-der-Welt-Sein, die die Strukturelemente des Daseins ausmachen. Aber die Frage, „wer“ das Dasein ist, bleibt immer noch offen. Ontisch gesehen kann man sagen, dass dieses Dasein „ich selbst“ bin, aber bei diesem Seienden kann es passieren, dass es auch nicht-ich sein kann. Selbst-sein-können und nicht-Selbst-sein-können sind die Möglichkeiten des Daseins, jeweils in der einen oder anderen Form zu existieren. Dieses nicht-ich aber meint keinesfalls das Verschwinden von Dasein, sondern „eine bestimmte Seinsart des „ich“ selbst, zum Beispiel die Selbstverlorenheit“ (SuZ, 116). Aber bevor wir über die Verlorenheit des Daseins sprechen, sollten die Strukturen des Mitseins und Mit-Daseins erörtert werden. Wie wir schon gesagt haben, ist das Dasein immer ein mit-Dasein. Es kann nicht alleine sein, besser gesagt, alleine-sein ist nur möglich, da es konstitutiv ein mit-Dasein ist. Die Beziehung zu den anderen Seienden ist auch wie diejenige zu dem nichtdaseinsmäßigen Seienden durch die Sorge charakterisiert. Aber in diesem Fall hat die Sorge eine andere Form. Da 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S. 12 5 es selbst ein Dasein ist, kann das Mit-Sein nicht besorgt werden, sondern „steht in der Fürsorge“. Dieses Phänomen wird in zwei verschiedenen Modi entfaltet. „Sie kann dem Anderen die „Sorge“ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den anderen.“ 5 Weil man die Sorge für andere übernimmt und für ihn etwas besorgt, wird dieser andere in dieser Form abhängig gemacht. Man bekommt etwas schon besorgt Und damit verfügt der Andere über mich. Diese Art von Abhängigkeit bezeichnet Heidegger als Herrschaft, obwohl es nicht immer offensichtlich zu sehen ist. Hauptsächlich betrifft diese Art von Fürsorge das Besorgen des Zuhandenen. Gleichwohl existiert eine andere Art der Fürsorge, welche nicht mehr für den anderen einspringt, sondern „ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt.“ Das nennt Heidegger die eigentliche Fürsorge, weil es selbst die Existenz der anderen und nicht die Dinge betrifft. Im alltäglichen Miteinandersein aber sind diese Formen der Fürsorge nicht so radikal getrennt zu betrachten. Mit dieser Beschreibung sind nur die radikalen Pole des Phänomens der Fürsorge aufgewiesen. Es ist nur anzudeuten, dass durch die zweite Art von Fürsorge die Seinsmöglichkeiten des anderen Daseins eröffnet werden, worin dessen Befreiung zu eigentlichem Selbstsein ermöglicht wird. An dieser Stelle wird wieder die Frage nach dem „Wer“ des Daseins gestellt. Wenn man das alltägliche Miteinandersein, das alltägliche Leben des Daseins betrachtet, findet man es in der „Botmäßigkeit der Anderen“ vor. Diese Anderen sind aber nicht als Fremde zu betrachten, weil es selbst, das Dasein, zu diesem Anderen gehört und selbst die Macht der Anderen legitimiert. Um diese Struktur zu verdeutlichen, sollte man sich daran erinnern, dass das Dasein in seiner Umwelt, wo wir es primär vorfinden, in der öffentlichen Umwelt von Zuhandenen steht die für ihn schon besorgt sind, wodurch er sich schon dieses Zuhandenen bedienen kann. Zum Beispiel, wenn man ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, bedient man sich der Zuhandenen, die auch für jeden andern zuhanden sind. In dieser Struktur ist „jeder Andere wie der Andere“. Die Seinsart des Daseins ist nicht von der Seinsart von anderen zu unterscheiden, da jeder das macht, was man zu machen hat und kann. Genau hier findet Heidegger das gesuchte Phänomen des Wer des alltäglichen Miteinanderseins. Das ist das „Man“. Mit diesem Wort ist kein Subjekt gemeint es ist ein Neutrum. Und „das Man hat selbst eine eigene Weise zu sein.“ Was in dem 5 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S. 122 6 Man besorgt wird, ist die Durchschnittlichkeit, welches ein existentialer Charakter des Man ist. ausmacht. Was in dem Man besorgt wird, ist die Einebnung der Seinsmöglichkeiten des Daseins. Die Ausnahmen, die Handlungen oder die Gedanken, die aus dem Dasein entspringen, werden durch „man“ zur Durchschnittlichkeit geführt und lässt es nur als solches existieren. „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus“ (SuZ,127). In dieser Anonymität übernimmt das „Man“ die Verantwortung für die Urteile und die Entscheidungen des Daseins und es gelingt sehr leicht, weil in dieser Situation die Verantwortung an etwas hängt, was eigentlich „nicht ist“. Nicht ist, bedeutet hier nicht, dass es nicht existiert, sondern, dass es trotz seines allgemeinen Charakters unpersönlich bleibt. „Das „Man“ war es immer und doch kann gesagt werden, „keiner“ ist es gewesen“(SuZ, 127). Einerseits entlastet das „Man“ das Dasein durch diese Übernahme der Verantwortung, und gleichwohl gewinnt es die Herrschaft über das Dasein. Wenn man aber die Verantwortung über sein Sein dem anderen übergibt, wird jedes Selbst zum Anderen. Daher ist das Wer des alltäglichen Daseins ein Niemand. Das alles gibt Heidegger den Grund zu behaupten, dass in solchen Modi des Man sich das Dasein in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit befindet. Aber das alles ist nicht negativ zu bewerten: „Das Man ist ein Existential und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins“(SuZ, 129). Es bedarf noch einer gewissen Präzisierung bezüglich des Werdens vom Selbst zum Anderen. Das Selbst des alltäglichen Daseins ist nicht das andere, sondern das Man-selbst. Dieses Phänomen ist von dem eigentlichen Selbst zu unterscheiden, welches nur auf Grund des konstitutiven Charakters des Man für das Dasein möglich ist. Das heißt, das eigentliche Selbst ist nur möglich, weil wir in der Weise des Man existieren können. Heidegger behauptet, dass das Dasein unter der Herrschaft des Man „zerstreut“ ist dadurch dass dem Dasein in dem Man alles vorgegeben ist. Die Welt, als Bewandnisganzheit ist für ihn erstmals „durchschnittlich entdeckte Welt, und wenn das Dasein sein eigentliches Sein entschließt, soll es diese schon-entdeckte Welt „wegräumen“. Das heißt, sich von den Verdeckungen und Verdunkelungen befreien. Aber trotz dieser, aus einer Sicht gegen „ das Man“ gerichteten Haltung bleibt das eigentliche Selbst immer eine Modifikation des Man. „Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzial“ 6 6 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S. 130 7 Es ist sehr schwierig, die Begriffe, die in „Sein und Zeit“ gegeben sind, zu definieren. Alle Begriffe sind miteinander verknüpft und das volle Verständnis kann man nur aus dem Buch als Ganzem gewinnen. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle nicht das Kapitel weiterverfolgen, sondern mit der Auslegung einer anderen Stelle fortfahren. Worüber jetzt gesprochen wird, ist „das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins“(SuZ, §34, B.). In diesem Kapitel handelt es sich um die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins in der Seinsart des Man. Genauer gesagt geht es darum, wie das Dasein sich im Man versteht. Dafür ist an dieser Stelle der Begriff des Verstehens kurz zu erläutern. Im Unterschied zu nichtdaseinsmäßigem Seienden existiert das Dasein verstehend. Verstehen interpretiert Heidegger als „etwas können“, und daher ist die Seinsart des Daseins das Sein-können. Das Dasein als Sein-können „begibt“ sich ständig der Möglichkeiten seines Seins. Es versteht sich selbst immer aus seinen Möglichkeiten, und dieses Verstehen hat einen Entwurfscharakter. Entwerfen bedeutet nicht, dass der Mensch sich einen gewissen „Plan“ ausgedacht hat, welcher in Zukunft zu verfolgen ist. Das Dasein ist im strengen Sinne seine Möglichkeiten. „Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und dessen Entwurfscharakter seine Konstitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: >>werde, was du bist!<<“7 Das Verstehen seinerseits kann eigentlich oder uneigentlich sein. Wenn das Dasein sein Sein aus seiner Welt versteht, wie es am häufigsten der Fall ist, ist dieses Verstehen uneigentlich. Aber es kann sich auch auf sein Worumwillen entwerfen, also existier es in der Weise des Selbst. Genau über diesen Charakter der uneigentlichen Erschlossenheit der Welt wird im folgenden Kapitel gesprochen. In dem Man, in der Alltäglichkeit bezeichnet Heidegger die Seinsart des Daseins als das Verfallen. Verfallenheit heißt verfallen sein in der Welt. „Dieses Strukturmoment des In-der-Welt-seins hat er charakterisiert als Sein-beiinnerweltlich-Seiendem und Mit-sein-mit-Anderen. Verfallenheit ist das Sein bei Zuhandenem oder Vorhandenem, aber auch bei anderem Dasein in Gestalt dessen, was gesprochen, geschrieben und sonst noch handelnd veröffentlicht wird”8 7 Ebd. S. 145 8 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; 2007. S. 119 8 Wovon man „abgefallen“ ist, ist das eigentliche Selbstseinkönnen des Daseins. Heidegger betont, dass obwohl diese Begriffe des Verfallens oder der Verlorenheit negativ klingen können, es sich nicht um negative Phänomene handelt. Das im Man Verlorene, oder Verfallene geht nie aus dem Bereich des In-der-Welt-seins heraus und stellt daher nur einen existentialen Modus desselben dar. Im Verfallen ist das Dasein schon ausgelegt und verstanden. Man weiß, wie man zu handeln oder was man zu sagen hat. In dieser Ordnung weiß man genau wie alles funktioniert und das bringt dem Dasein eine gewisse „Beruhigung“. Das Man gibt einem das Gefühl, dass Man über alle nötigen Kenntnisse verfügen kann, dass man alles verstehen kann, aber was verborgen bleibt, ist das eigentliche „Was“ des Verstehens. „Es bleibt unverstanden, dass Verstehen selbst ein Seinkönnen ist, das einzig im eigensten Dasein frei werden muss.“ (SuZ, 178) Dadurch wird das eigenste Seinkönnen verborgen, was eine Entfremdung des Daseins verursacht. Die Seinsart des Daseins, in welcher es im Man existiert, ist Seinsart seiner selbst und nicht etwas Fremdes. Aber dieses Seinsart ist eben als uneigentlich zu bezeichnen. Die Bewegungsart in die Uneigentlichkeit des Man beschreibt Heidegger als Wirbel und Absturz und in dieser Bewegung hat der Entwurfscharakter eine andere Form. Das Dasein entwirft sich nicht auf seine eigentlichen Möglichkeiten. Soweit das Dasein faktisch existiert, hält es sich in dieser Geworfenheit, wo ihm seine eigentlichsten Möglichkeiten verborgen bleiben. Sein zum Tode Bisher haben wir die Elemente der Seinsart des Daseins in seiner Uneigentlichkeit, unter der Herrschaft des Man, besprochen. Aber wie Heidegger oft angedeutet hat, ist das nur ein Modus des Seins, des In-der-Welt-seins des Daseins, und um das ganze Phänomen ins Licht zu 9 stellen, führen wir die Konzeption des Modus der Eigentlichkeit ein. Aber wenn Heidegger über die Ganzheit des Daseins spricht, meint er eine andere Art, als die von dem nichtdaseinsmäßigen Seienden. Das Wesen des Daseins besteht im Existieren, welches in ständigem Werden besteht. Als Seinkönnen ist es immer etwas, was es noch nicht ist. Daher stellt sich die Frage, ob es für dieses Seiende überhaupt möglich ist, „ganz“ zu sein, die Frage nach dessen Ganzsein-können. Um diese Frage zu beantworten, untersucht Heidegger die Phänomene des Todes und des Gewissens. Unsere Aufgabe ist, es die in den §46-60 dargestellte Erläuterung bezüglich dieser Phänomene darzustellen. Die Unmöglichkeit des Ganzsein-könnens zeigt sich in der Erläuterung des Phänomens der Sorge. Das Dasein, sobald es existiert, ist besorgend da. Die Sorge fasst Heidegger als die Grundstruktur des Daseins überhaupt. In dem eigentlichen Sein geht es dem Dasein um seine eigensten Möglichkeiten, und sein Seinkönnen, während sich das Dasein in der Verfallenheit auf Innerweltliches bezieht und auf etwas, was es in der Welt vorfindet. Beide Arten der Sorge haben eine Struktur des „sich-vorweg“ seins, weil das zu Besorgende noch nicht da ist („da“ in zeitlicher Hinsicht). Das heißt, dass das Dasein wegen dieser Struktur der Sorge, welches die „Ganzheit des Strukturganzen des Daseins bildet“, immer besorgend unabgeschlossen bleibt. Daher stellt sich Heidegger die Aufgabe, das Dasein von dem Punkt her zu betrachten, von wo aus es sich als Ganzes zeigt. Dieser Punkt ist das Ende des Daseins, also der Tod. Es ist natürlich unmöglich, das Dasein von seinem Tod her zu betrachten, da es nach dem Tod aufhört zu existieren. Wovon wir dieses Phänomen aber erfahren können, ist der Tod des Anderen. Wenn ein anderer stirbt, existiert er nicht mehr in der Weise des In-der-Welt-seins, sondern – so scheint es – nur noch als vorhandenes Körperding. Daher ist der Tod ein Umschlag von der Seinsart des Daseins zur Seinsart des Vorhandenen. Aber auch hier gibt es einen Unterschied zwischen der Leiche des Menschen und der Vorhandenheit der nichtdaseinsmäßigen Seienden. Dieser Umschlag ist nicht ein solcher in die Vorhandenheit, sondern in das Unlebendige, welchem das Leben entzogen ist. Der Verstorbene, obwohl er nicht mehr da ist, bleibt für uns als ein Objekt der Fürsorge, indem wir ihn zu ehren suchen. Daher können wir nicht den ganzen Seinsverlust erfahren, den der Verstorbene erleidet. Um dies zu verdeutlichen, erläutert Heidegger eine der Seinsmöglichkeiten des Miteinanderseins, nämlich die Vertretbarkeit. Im alltäglichen Dasein verstehen wir unser Sein von etwas her, was wir zu besorgen pflegen: „>>Man ist<< das, was man betreibt.“ (SuZ, 239) Vertretbarkeit gibt uns die Möglichkeit, für andere etwas zu besorgen und deswegen ist es ein wichtiger Moment des Miteinanderseins. Was aber im Tod uns versagt ist, ist genau diese Vertretbarkeit. „Der Tod ist, sofern es >>ist<<, wesensmäßig je der meine“. 10 Diese Analyse zeigt, dass die Ganzheit des Daseins aus dem Tod der Anderen zu fassen unmöglich ist, aber positiv haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass der Tod den Charakter der Jemeinigkeit und Existenz hat. Das ist eine Seinsmöglichkeit, in der es um das „Sein des je eigenen Daseins“ geht. Alle Möglichkeiten überhaupt sind als „Noch-nicht“ zu beschreiben, und da das Dasein ein Sein-können ist, soll das Noch-nicht konstitutiv zu ihm gehören. Um dieses Phänomen zu verdeutlichen, bringt Heidegger zwei verschiedene Fälle, wo wir das Noch-nicht für die Beschreibung des nichtdaseinsmäßigen Seienden benutzen. Wenn wir den Mond betrachten, der halb im Schatten steht, sagen wir, dass es noch nicht Vollmond ist. das „Noch-nicht“ wird beseitigt, sobald der Schatten beseitigt wird und das heißt, dass das wirkliche Ganze immer schon da „war“, aber in verdeckter Form. Am Beispiel der wachsenden Frucht aber sehen wir eine andere Struktur des Noch-nicht. Die wachsende Frucht ist noch nicht reif, das heißt, dass diese Frucht im Werden begriffen ist, und einmal das sein wird, was wir die Frucht nennen. Sie existiert, aber in ihrer Existenz ist sie konstitutiv auf das bezogen, was sie noch-nicht ist. Genau so ist „das Dasein, solange es ist, je schon sein Noch-nicht“ (SuZ, 244). Obwohl diese Prozesse sich formell ähnlich sind, gibt es einen wichtigen Unterschied. Der Prozess des Wachstums einer Frucht wird im Reif-sein vollendet. Das heißt, sie hat ihre Möglichkeiten erschöpft. Aber das Dasein vollendet sich nicht mit seinem Tod. Durch den Tod werden seine Möglichkeiten nicht vollendet, sondern sie werden ihm genommen. Daher soll man das Ende des Daseins anders fassen als die Vollendung. Diese neue Fassung sieht bei Heidegger so aus: „So wie das Dasein vielmehr ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch schon immer sein Ende. Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Endesein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.“9 Wenn der Tod aber zu der Existenz des Daseins gehört, soll seine Auslegung auch existential-ontologisch sein und soll sich aus der Grundstruktur des Seins des Daseins heraus erklären. Diese Grundstruktur ist die Sorge, welche, wie wir gesehen haben, sich in folgender Formulierung fassen lässt: Sich-vorweg-schon-sein-in. In dieser Formel sind die Hauptelemente der Existenz enthalten, die Heidegger Existenz(sich-vorweg), Faktizität(Schon-sein-in) und 9 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S. 245 11 Verfallenheit (Sein-bei) nennt. Daher soll das Phänomen des Todes auch von diesen Charakteren her verstanden werden. Das Verhältnis des Daseins zum Tod vergleicht Heidegger mit einer Situation, wo jemandem eine Reise oder ein Gewitter bevorsteht. Was bevorsteht, sind immer gewisse Möglichkeiten des Daseins. Aber wie wir oben gesehen haben, ist der Tod die Möglichkeit, die das Dasein je selbst zu übernehmen hat. Es ist seine eigenste Seinsmöglichkeit und genau dieses eigenste Seinkönnen steht ihm im Tod bevor. Gleichzeitig ist der Tod die äußerste von allen seinen Möglichkeiten, da es von dort aus überhaupt keine Existenz mehr gibt. Deswegen ist es eine unüberholbare Möglichkeit, in welche das Dasein in seiner Existenz geworfen ist. Damit wir diese Geworfenheit in den Tod verstehen, ist es nötig, dass wir die Erläuterungen eines Phänomens hinzufügen, welches wir vorläufig übersprungen haben. Das ist das Phänomen der Angst. Die Angst Angst fasst Heidegger als eine der Stimmungen, die „am weitgehendsten und ursprünglichsten Erschließungsmöglichkeiten [...], die im Dasein selbst liegt“ (SuZ, 182) Vorläufig kann man andeuten, dass durch diese Stimmung etwas erschlossen wird, was das eigentliche Selbst heißt. Um etwas eröffnen zu können, soll es erstmals geschlossen, verschlossen sein. Diese Verschlossenheit vollzieht sich in dem Man, in das Dasein verfallen ist. In der Verfallenheit flieht das Dasein vor sich selbst, vor der Eigentlichkeit, und es bleibt ihm verschlossen. Die Flucht hat einen Charakter, welcher Flucht-vor-etwas heißt. Um vor etwas fliehen zu wollen, muss man sich bedroht fühlen. Aber in der Bedrohung zeigt sich immer ein innerweltliches Seiendes. Diese Beziehung zum innerweltlichen Seienden fasst Heidegger als Furcht, und diese ist von der Angst radikal zu unterscheiden. Wenn wir gesagt haben, dass im Verfallen das Dasein vor sich selbst flieht, heißt es, dass es sich von sich selbst abkehrt und sich der Welt hingibt. Also kann das Dasein im Verfallen sich nicht von dem innerweltlichen Seienden bedroht fühlen. Deswegen ist der Charakter der Abkehr des Verfallens die Angst, worauf sich eigentlich jede Furcht gründet. Das Wovor der Angst ist nicht mehr wie bei der Furcht ein in der Welt Seiendes, sondern das In-der-Welt-sein selbst. Eine solche Auffassung verleiht der Angst eine gewisse Unbestimmtheit, da das Bedrohliche sich nicht von dem innerweltlichen Seienden bestimmen lässt. In der Angst hat „die Welt [. . .] den Charakter völliger Unbedeutsamkeit“ (SuZ, 186). Auch die Räumlichkeit verliert ihre gewöhnliche 12 Bedeutung, da das Bedrohende eigentlich von „Nirgends“ her das Dasein ängstigt. Dieses „Nirgends“ aber ist wiederum nicht nichts. „Das Wovor der Angst ist die Welt als solches.“ (SuZ, 187). Wenn alles Innerweltliche seine Bedeutung verliert, offenbart sich die Möglichkeit der Existenz dieser Seienden überhaupt, und das einzige, was bleibt, ist „Die Welt als Welt.“ Die Angst als ein Modus der Befindlichkeit hat zwei Strukturmomente. Das erste Moment der Angst vor . . . haben wir eben betrachtet. Zugleich ist es aber Angst um . . ., und das „Worum“ der Angst ist wiederum das In-der-Welt-sein selbst. „In der Angst versinkt das umweltliche Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die >>Welt<< vermag nichts mehr zu bieten, ebenso wenig das Miteinandersein Anderer.“ (SuZ, 187). Wegen dieses Geschehens kann das Dasein sich nicht mehr aus der Welt verstehen und wendet sich dem eigentlichen In-der-Weltsein-können zu. An dieses Moment muss man sich erinnern, wenn wir über die tiefe Langeweile sprechen werden. Durch diesen Moment des Sich-nicht-mehr-aus-der-Welt-verstehen-Könnens vereinzelt die Angst das Dasein auf seine eigentlichsten Möglichkeiten und eröffnet ihm die Freiheit des Sich-selbst-Wählens und Begreifens. Die Vereinzelung bedeutet nicht die Getrenntheit von der Welt, sondern meint, dass durch die Angst das Dasein unmittelbar vor sich selbst, vor sein in-der-Welt-sein, gestellt wird. In der alltäglichen Öffentlichkeit des „Man“ fühlt das Dasein sich „zu Hause“. Ihm ist alles bekannt und bedeutungsvoll, wogegen es ihm im Modus der Angst „unheimlich“. Durch die Angst bricht dem Dasein „die alltägliche Vertrautheit“ zusammen und dadurch wird es von dem Verfallen zurückgezogen. Genau die Unheimlichkeit der Angst ist dasjenige, wovor man in Verfallen flieht. Die Bedrohung der Angst ist, dass das Dasein sich von „zu Hause“, von dem Man, wo alles vertraut ist, in die Unheimlichkeit zurückzieht, wo es keine Sicherheit, keine Stabilität gibt, wie es bem Man der Fall ist. Und weil in der alltäglichen Verfallenheit das Dasein immer vor der Unheimlichkeit flieht, muss „das un-zuhause [.] existential-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.“ (SuZ, 189). Daraus schließt Heidegger, dass in der Angst dem Dasein, da es aus der Verfallenheit herausgeholt und vereinzelt ist, die Möglichkeiten seiner Existenz offenbar werden, die der Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit. Wenn wir mit dieser gewonnenen Kenntnis zu der Erläuterung des Todes zurückkehren, wird vieles deutlicher werden. Wenn Heidegger den Tod als eigenstes Seinkönnen fasst, ergibt sich, dass die Angst vor dem Tod sich vor dem eigensten Seinkönnen ängstigt. Durch diese Erläuterung wird klar, dass, wenn das Dasein in Verfallenheit vor der Unheimlichkeit flieht, diese Unheimlichkeit der Tod ist. 13 In der Alltäglichkeit wird das Vorlaufen zum Tod als eigenstes Seinkönnen durch das Man verdeckt gehalten. Es wird nicht mehr über den eigenen Tod gesprochen, sondern in das Man ist auch Das man dasjenige, denen es um den Tod geht. Das alles wird in dem Satz „man stirbt“ ausgesprochen. Da das Selbst von durchschnittlicher Alltäglichkeit das man ist, welches seinerseits ein „niemand“ ist, wird der Tod auch anonym gehalten. Dadurch gewinnt der Mensch die Beruhigung, dass es nicht das Selbst ist, welches stirbt. Besser gesagt, der Mensch gewinnt eine Gewissheit, dass es noch nicht stirbt. Also Tod ist nicht versteckt, sondern einfach in die Zukunft verschoben. Außerdem ist diese Gewissheit nicht bezüglich des Todes als eigensten Seinkönnens, sondern der Tod ist hier als eine Tatsache gefasst, welche wir an dem Tod der Anderen feststellen können. Durch diese Struktur ist in der man die Tatsache verdeckt, „dass er(der Tod) jeden Augenblick möglich ist“. Was wir jetzt betrachtet haben, ist das Sein zum Tode in Verfallenheit. Dementsprechend soll es aber analysiert werden, wie es in dem Modus der Eigentlichkeit aussieht. Heidegger fängt seine Auslegung aus dem Begriff der Möglichkeit an und schreibt ihm einen Bezug zur Verwirklichung zu. Alle Möglichkeiten sind an das Verwirklichen bezogen und das sehen wir in dem Satz „möglich für …“ sein. Wenn das auch für den Fall des Todes wahr sein sollte, heißt es, dass das Dasein in seinem Sein zum Tode auch nach seiner Verwirklichung strebt. Aber da die Verwirklichung des Todes ein Ableben, nicht mehr existieren heißt, kann die Verwirklichung des Todes nicht erstrebt werden. Vielmehr soll man in eigentlichen Bezug zum Tode ein Denken an sie vollziehen, wo der Tod als Möglichkeit sich als Möglichkeit zeigt. Die Beziehung zum Tod fasst also Heidegger, in Unterschied zu anderen Möglichkeiten, als „Vorlaufen zum Tode“. Was in dem Vorlaufen das Dasein einhüllt, ist, dass es sich in der „faktischen Verlorenheit in die Alltäglichkeit des Man-selbst“ befindet. Im Bezug zum Tod als eigenstes Seinkönnen wird das Dasein an ihm selbst „vereinzelt“ und so ist Sein selbst nicht mehr das man. In diesem Ereignis wird ihm jeder Bezug zum Besorgenden und zum Mitsein versagt, aber nicht in dem Sinne, dass es sich außerhalb der Struktur der Sorge befindet, sondern in dem Sinne, dass es ihm in dieser Sorge um das eigene Seinkönnen überhaupt geht. Es entwirft sich nicht mehr auf die Möglichkeiten des man-selbst, sondern auf sich-selbst. Im Vorlaufen wird der Tod nicht mehr versteckt, sondern wird als eigenstes Seinkönnen gezeigt und dadurch wird das Dasein frei für sie. Diese Freiheit zieht das Dasein aus der Verlorenheit zurück und lässt ihm seine Existenz, selbst aus eigenen Möglichkeiten zu verstehen und zu wählen. Dadurch, dass das Dasein im Vorlaufen zu seinem Ende, zu dem eigensten Sein bezieht, fasst es ihn als die Ganzheit seiner Existenz. Wenn wir uns über die Struktur der Angst erinnern, wird es gewisse Ähnlichkeit zu dem Vorlaufen zum Tode deutlich. Das lässt Heidegger behaupten, dass 14 „das Sein zum Tode [.] wesenhaft Angst“ ist. (SuZ, 266). Hier wird die Angst nicht mehr befürchtet und das Dasein wird nicht mehr von ihm fliehen. Aber es wird auch nicht vernichtet, sondern wird als solches behalten, so dass man sich von ihm nicht mehr fürchtet. Die kurze Fassung der ganzen Struktur des Seins zum Tode fasst Heidegger folgender Weise: „Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär unterstützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstigenden Freiheit zum Tode“10 Das Gewissen Das nächste Problem, welches Heidegger in seiner Auslegung anstößt, ist das Problem der Bezeugung des eigentlichen Seinkönnens. Im Man wird das eigentliche Seinkönnen versteckt und verborgen. Alles was man ist, ist vor ihm schon gewählt und bestimmt worden. Das heißt, dass das Man ihm, dem Dasein der Wahl, von eigenen Möglichkeiten entnommen und die Verantwortung für sie zu sich genommen hat. Daher ist das Zurückziehen aus dem Man etwas, wo man sich diese Wahl wieder gewinnt und die Entscheidungen für sein Sein an sich selbst nimmt. Was Heidegger sucht ist ein Phänomen, welches dem Dasein in seiner Verlorenheit das eigentliche selbst zeigt. Für ihn ist dieses Phänomen die „Stimme des Gewissens“. Das Gewissen ist etwas, was das Dasein überhaupt von dem anderen Vorhandenen unterscheidet und als eine Form der Erschlossenheit dem Dasein etwas zu verstehen gibt. Was es zu verstehen gibt und in welcher Form das gemacht wird, ist die Aufgabe im folgenden Gang der Abhandlung. Wenn wir über das Man gesprochen haben, haben wir eine Formulierung benutzt, wo das Verhältnis zu diesem erklärt war: „man sagt“. Das ist die Redeweise welche man in der Verfallenheit benutzt um zu reden. Solche Art von Gespräch in der Öffentlichkeit nennt Heidegger das Gerede und es hat die Form der Selbstverständlichkeit. Im Gerede ist nicht nötig an die Sachen selbst heranzugehen, weil „man sagt das es so ist.“ Das heißt, dass das Dasein im Man der Stimme des Man zuhört und durch diese Zuhören wird das eigene Selbst überhört. Um aus dem Man „zurückzuziehen“ aber soll dieses Hinhören gebrochen werden und das ist durch den „Ruf“ möglich. Aber da das Gerede durch den „Lärm“ charakterisiert ist, soll dieser Ruf, als 10 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S 266 15 ihm Entgegengesetztes lärmlos, lautlos sein. „Was dergestalt rufend zu verstehen gibt, ist das Gewissen“(SuZ, 271). Was in solchem Ruf gerufen wird ist das Dasein selbst in seinem „alltäglich durchschnittlich besorgenden Sich-immer-schon-verstehen“ also als das Man-selbst. Durch solch einen Ruf wird das von Man gesagte in Bedeutungslosigkeit gebracht und so wird das Selbst zu sich selbst gebracht. Zu sich selbst heißt hier dass dem Dasein in dem Ruf sein eigenes Seinkönnen gezeigt wird. Aber was der Ruf des Gewissens von der andere Weise der Rede unterscheidet ist, dass in ihm nichts erzählt wird und so wird das Reden des Gewissen in den Modus des Schweigens geführt. Die verwirrende Frage ist die nach der Herkunft des Rufes. Wenn es schweigend ruft und nichts Vorhandenes besagt, entsteht der Schein, dass es irgendwo von außerhalb der Welt kommen sollte. Aber diese Einstellung wird abgelehnt, wenn wir uns über die Unheimlichkeit der Angst erinnern. Wie wir schon wissen ist die Verfallenheit eine Flucht vor der Unheimlichkeit. Der Ruf des Gewissens kommt aus dem Dasein selbst, von seiner Unheimlichkeit und da in der Unheimlichkeit das eigentliche Selbstseinkönnen offenbart wird, so trifft der Ruf des Gewissens auch dasjenige. „Durch die Angst gestimmte Ruf ermöglicht dem Dasein allererst den Entwurf seiner selbst auf sein eigenes Sein können.“ (SuZ, 277). Diesen Ruf gliedert Heidegger in drei Elemente: den Rufer, den Angerufenen und den Aufgerufenen. Der erste ist das Dasein in seiner Geworfenheit; der zweite das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen; und was aufgerufen wird ist das Dasein aus „dem Verfallen in das Man“. Was wir also hier sehen sind die Charakteristiken der Sorge(Faktizität, Existenzialität und Verfallenheit) und das gibt Heidegger die Möglichkeit zu sagen, dass das Gewissen sich als „Ruf der Sorge“ offenbart. Was in diesem Ruf gesagt wird kann gehört oder auch nicht gehört werden und je unverzüglicher das Dasein es versteht, desto eigentlicher ist das Verstehen dessen. Mit dem Begriff des Gewissens hängt untrennbar der Begriff der Schuld zusammen. Aber wiederum, weil der Ruf des Gewissens von der Unheimlichkeit kommt, lässt es sich schwer fassen, was eigentlich das Schuldigsein bedeutet. Um diesen Begriff zu klären, wendet Heidegger sich der alltäglichen Auffassung der Schuld zu, weil sich von dort aus auch ihre eigentliche existenzielle Bedeutung begreifen lässt. In der uneigentlichen Auslegung seines Seins fasst das Dasein diesen Begriff als Prädikat des „ich bin“. Hier heißt es jemandem etwas schuldig sein, also zurückgeben sollen. So gesehen ist dieses „jemandem etwas schuldig sein“, „schuld haben“, eine Weise des Mitseins selbst und bezieht sich auf etwas Besorgbares. Von dieser Form der Schuld unterscheidet Heidegger ein „schuld sein an“, und das taucht auf, wenn man z. B. 16 „ein Recht verletzt“11. Die allgemeine Form beider Arten der Schuld lässt sich fassen als „sich schuldig machen“ und bezieht sich auf einen Mangel, auf ein Vorhandenes, welches noch nicht da ist, welches fehlt. Da es aber in diesem Mangel um eine Vorhandenheit geht kann diese Auffassung der Schuld nicht für das Dasein bestimmend sein, weil seine Seinsart nicht Vorhandenheit, sondern Existenz ist. Demgegenüber bietet Heidegger uns eine existenziale Auffassung des Schuldigseins wo es als „Grundsein einer Nichtigkeit“ verstanden wird. Das Dasein, soweit es existiert, wählt sein Sein aus seinen Seinsmöglichkeiten. In der Geworfenheit aber wird die Tatsache verdeckt, dass das Dasein selbst der Grund seiner Existenz ist und dadurch entwirft es sich auf die Möglichkeiten, die ihm schon gegeben sind. Nichtigkeit meint hier, dass das Dasein soweit entwerfend ist, sich selbst auf gewisse Möglichkeiten entwirft und dadurch alle anderen ausgeschaltet werden. Wählend ist es auch vernichtend da. Es ist schuldig, nicht nur, wenn er sich uneigentlich, auf die Möglichkeiten entwirft, die vom Man vorgegeben sind, sondern im Grunde, wenn es auch eigentlich wählt, ist diese Wahl eine vernichtende. Genau dieses „Grundsein der Nichtigkeit“ liegt der ontologischen Auffassung der Schuld zugrunde. Genau dieses Schuldig-sein wird in den Ruf des Gewissens für das Dasein offenbart. Dieser Ruf holt das Dasein aus der Verfallenheit in das Man zu seinem eigentlichen Seinkönnen und gibt ihm die Schuld zurück, welche es immer schon war. Dadurch wird die Schuld nicht vernichtet, sondern als solches gehalten und an sich genommen. Anders gesagt, dadurch übernimmt das Dasein seine Existenz an sich selbst. Um das zu tun aber soll das Dasein frei werden für die Übernahme der Schuld. Frei, um das zu hören was das Gewissen sagt. „Das Dasein ist rufverstehend hörig zu seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es hat sich gewählt.“ (SuZ, 287). In dieser Wahl wird nicht das Gewissen gewählt sondern „das Gewissen-haben als Freisein für das eigenste Schuldigsein.“ Um es in einem Satz mit den Worten von Heidegger zu formulieren: Anrufverstehen besagt: Gewissen-haben-wollen.“ (SuZ, 288) . Wie wir zu Anfang der Abhandlung über das Gewissen angedeutet haben, sollte dieses Phänomen eigentliches Seinkönnen bezeugen und jetzt soll gezeigt werden, welche Struktur dieses bezeugte Seinkönnen eigentlich hat. Weil durch Gewissen-haben-wollen für uns sich etwas offenbart, nämlich das eigenste Seinkönnen, fasst Heidegger dieses Phänomen als eine Weise der Erschlossenheit. Stimmungsmäßig fällt es mit der Angst zusammen und heißt schon die „Bereitschaft zur Angst“. Und die Redeweise des Gewissens ist die Verschwiegenheit. Daher: 11 Siehe Andreas Luckner: Martin Heidegger „Sein und Zeit“, Schöningh, Paderborn 2007. S. 118 17 „Die im Gewissen-haben-wollen liegende Erschlossenheit des Daseins wird demnach konstituiert durch die Befindlichkeit der Angst, durch das Verstehen als Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein und durch die Rede als Verschwiegenheit.“12 Diese Weise der eigentlichen Erschlossenheit ist ein Modus derselben und Heideegger nennt Ihn die Entschlossenheit. Erschlossenheit ist seinerseits mit dem fundmentale Existential des Daseins, mit der Wahrheit verbunden. Das Dasein, soweit es existiert ist in der Wahrheit und weil sich die Entschlossenheit auf die Eigentlichkeit des Daseins gründet, soll es die ursprüngliche Weise des Erschließens sein. Durch Entschlossenheit gewinnt das Dasein die Freiheit, aber das soll nicht heißen, dass es frei von der „Welt“ wird. Es wird frei für seine Welt und gründet seine Beziehungen zu Zuhandenen, Vorhandenen und den Mitsein auf das eigentliche Selbst. Anders gesagt es wird frei von den Strukturen des Man. Die Langeweile Ein solches Phänomen beschreibt Heidegger bei der Analyse der Langeweile in seinem Werk „Die Grundbegriffe der Metaphysik“.13 Die Langeweile fasst er als „Grundstimmung“ des Daseins, welche immer da ist, aber vom dem Dasein unterdrückt wird. Man versucht es ständig einschlafen zu lassen, sobald es irgendwann bewusst wird. Was sich in der tiefen Langeweile zeigt, ist die Zeit, welche uns in diesem Moment lang wird. In der alltäglichen Sprache benutzt man das Wort als Charakteristik für irgendein Seiendes, wie z. B. das Buch, das Theaterstück, der Mensch usw. Aber Heidegger unterstreicht, dass Langweilen eigentlich das ist, das in uns erweckt wird. Das Dasein ist der Ort der Langeweile und nicht die Dinge selbst. Aber andererseits können wir über ein Ding etwas nicht behaupten, wenn das Ding es uns nicht erlaubt. Also ist Langweilen nicht nur subjektiv, sondern enthält auch etwas Objektives, an dem Ding Haftendes. Um diesen Knoten zu lösen, können wir Heideggers erste Definition der Langeweile anführen, welche sehr hilfsreich für unsere Abhandlung ist: „das Langweilende, Langweilige ist das Hinhalten und doch Leerlassen.“14 Das heißt, dass die Langeweile nicht der „gleichgültige“ Bezug zu der Sache ist, sondern ein Zustand, wo wir in der Sache gehalten 12 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006. S. 298 13 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 29/30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Klostermann, Frankfurt am Main. 1992. 14 Ebd. 130 18 bleiben, ohne irgendetwas davon zu entnehmen. Und was dem Langweilen charakteristisch ist, ist, dass es kein Subjekt-Objekt, kein Ursache – Wirkung Verhältnis ist. Da es sich bei der Langeweile um eine Stimmung handelt, welche Objekt und Subjekt umgreift ist die Langeweile „ein Zwitterwesen, teils objektiv, teils subjektiv.“ Wir wollen hier nicht die vollständige Auffassung von Heidegger über die Langeweile darstellen, aber es lohnt sich noch einen Aspekt dieser Problematik zu erläutern. Das ist die Beziehung der Langeweile zur Zeit. Um diesen Bezug zu erklären, führt Heidegger den Termin des Zeitvertriebes ein. Er bringt ein Beispiel des wartendenden Menschen, der sich auf einem Bahnhof befindet und auf den Zug wartet. In dieser Situation fühlt man sich gelangweilt, da es nichts gibt was seine Aufmerksamkeit an sich lenken konnte. Man fängt an die Reisepläne und die Landkarten zu betrachten und dabei guckt man ständig auf dem Uhr. Somit versucht man die Zeit zu verbringen, damit sie schneller vergeht. Aber wie ist es möglich, dass man Zeit schneller fließen lässt? In bewussten Situationen sind wir immer bei gewissen Sachen, das heißt, wir sind beschäftigt, aber in der Langeweile, wie wir gesehen haben, gibt es ein gewisses Hinhalten bei Leerheit. Aber was ist das, woran wir in der tiefen Langweile hingehalten sind? Das ist die Zeit selbst. „In gelangweiltwerden sind wir hingehalten, und zwar durch die zögernde Zeit.“(GA29/30, 150) „Das gelangweiltwerden ist eine eigentümliche lähmende Betroffenheit vom zögernden Zeitverlauf und der Zeit überhaupt“ (GA29/30, 148) „Im Zeitvertreib suchen wir eine Beschäftigung, etwas, wobei wir uns aufhalten können“. (GA29/30, 150). Aufhalten bedeutet hier von der zögernden Zeit sich ablenken wollen und ablenken lassen. Wie wir schon erwähnt haben, ist man in normalem Zustand immer mit etwas beschäftigt. Dieses etwas ist immer in irgendeine Weise vorhanden, aber in der Langweile gibt es gar nichts vorhandenes. Nicht vorhanden sein heißt nicht dass es vernichtet wird, sondern, dass es uns „völlig in Ruhe“ lässt. Sobald es passiert taucht die Langeweile auf, welches durch den Zustand der Leergelassenheit charakterisiert ist. Ferner unterscheidet Heidegger diese Art von „Gelangweilt-sein von…“ von einer anderen Art von Langeweilen, nämlich das „Sich-langweilen bei ...“. Diese Art von Langeweilen ist zum Beispiel bei einer Einladung auf einem Fest vorhanden. Für diesen Fall ist eine nähere Analyse bedürftig, da er auf den ersten Blick eine andere Struktur hat als der erste Fall. Es ist zu fragen, wie es möglich ist, dass man sich in einer Gesellschaft langweilt, wo es verschiedene Dinge gibt an welchen man sich aufhalten kann. Es gibt keine Leergelassenheit und keine Not für Zeitvertrieb, aber man langweilt sich doch. In dem Sinne besteht die erste Form darin, dass es bestimmte Sachen gibt, die man langweilig findet und die uns langweilen. Hingegen „in zweiten 19 Fall finden wir nichts langweiles.“ Daraus schließt Heidegger, dass diese Art von Langeweile erwächst aus uns selbst, es ist tiefer als die erste Weise. Die Situation der Einladung, allgemein gefasst, „ein Sichmitnehmenlassen von dem, was da gerade abspielt“. (GA29/30, 177). In diesem Sichmitnehmenlassen versteckt sich ein Moment, welches direkt zu unserem Thema passt. Heidegger sagt: „In dieser Lässigkeit dämmert ein Entgleiten auf, weg von uns selbst, an das, was gerade abspielt.“ (GA29/30, 177). Also sehen wir zwei Hauptstrukturelemente solcher Langeweile. Einerseits ist es das „sichüberlassen an das, was sich da abspielt“ und an der anderen Seite „Sichzurücklassens, nämlich sich, das eigentliche Selbst.“ Wenn in dem ersten Fall des Langweilens gewisse Fülle entstand, dadurch dass bestimmte vorhandene Dinge uns versagt blieben, so bildet sich im zweiten „gerade erst eine Leere“. „Diese Leere ist die Zurückgelassenheit unseres eigentlichen Selbst. Diese sich bildende Leere ist dieses >Ich weiß nicht was< – das, was uns mehr oder minder bedruckt“15 Die nächste Frage ist, wie diese Form des Langweilens sich zu der Problematik der Zeit verhält. Wie wir am ersten Fall gesehen haben, handelt es sich bei der Langeweile um einen gewissen Zeitvertreib, aber in den letzten Fall ist diese Struktur nicht leicht zu bemerken. Diese Täuschung hängt davon ab, dass in Wirklichkeit die ganze „Einladung“ einen Zeitvertreib darstellt. Wir langweilen uns bei etwas, weil dieses etwas nur ein Zeitvertreib ist. Heidegger Als ein Beispiel dafür untersucht Heidegger das Rauchen und beyeichnet es als „gesellschaftlich idealen Zeitvertreib“. „Das soll heißen, das Rauchen gehört dazu, man wird dazu aufgefordert und bekommt so – ohne dass wir es wissen – eine unauffällige Möglichkeit des Zeitvertriebes in die Hand gespielt.“ (GA29/30, 169) Aber dabei ist das Rauchen nicht mit der Beschäftigung der ersten Langeweile gleichzusetzen, „sondern das ganze Verhalten und Benehmen ist der Zeitvertreib – der ganze Abend, die Einladung selbst.“ (GA29/30, 170) In dieser zweiten Form der Langeweile ist auch der Bezug zu der Zeit anders. Wenn in der ersten Form die Zeit, die uns bedrängte, zögernd war, finden wir in der zweiten Form eine absolut andere Auffassung. Auf dem Bahnhof z.B. warten wir auf den Zug, und das heißt, dass wir nicht zur rechten Zeit irgendwo angekommen sind. Anders gesagt, es ist die „falsche Zeit“ für etwas, das uns langweilt. Aber bei der Einladung wussten wir genau, wohin wir gehen sollten und haben uns dafür „Zeit genommen“. Das heißt, dass die Zeit für uns nicht zögernd sein kann, weil wir selbst diese Zeit für uns genommen haben. Genau das ist interessant bei dieser Analyse. 15 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 29/30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Klostermann, Frankfurt am Main. 1992. S. 180 20 Was heißt es, Zeit nehmen, woher nimmt man sie, und welchen Bezug hat sie zu der Zeit, von wo aus wir sie genommen haben? In Wirklichkeit passiert folgendes: „wir bringen die Zeit zum Stehen“ ( GA29/30, S.186) Diese Zeit, welche wir für die Einladung genommen haben, ist nicht mehr ein Teil der Zeit, welche verfließt, sondern stellt gewissermaßen „einziges gedehntes Jetzt“ dar. Die ganze Einladung entspringt aus dem normalen Ablauf der Zeit, welche aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht und nur in der Gegenwart aufgelöst wird. Wir wenden uns ganz dem zu, was vor uns gegenwärtig passiert. Wir lösen uns in dem Dabeiseinbeim. . . auf und wir sind es ganz „Gegenwart“. „Wir kehren uns nicht an das, was und wie und wo wir gewesen, wir haben es vergessen. Ganz Gegenwart, haben wir auch keine Zeit für das, was wir uns vielleicht mit dem morgigen Tag oder sonst vorgenommen haben, wozu wir entschlossen bzw. unentschlossen sind, wofür wir uns verwenden, was uns bevorsteht, wovor wir uns drücken. Ganz Gegenwart für das, was passiert, sind wir von unserer Gewesenheit und Zukunft abgeschnitten.“16 Abgeschnitten heißt hier, wie Heidegger bemerkt, nicht Verschwinden von Gewesenheit und Zukunft, sondern, dass deren Horizonte für uns geschlossen sind. In der Heideggerischen Auffassung gibt es die traditionelle Trennung von diesen Zeitmomenten nicht. Das Gegenwärtige ist das, was es früher war, und das, was es in Zukunft sein wird. Aber in dem „Jetzt“, da die Horizonte der Vergangenheit und Zukunft geschlossen sind, bleibt keine „Möglichkeit des Übergangs von noch-nicht zum nicht-mehr“ enthalten und es bleibt nichts Weiteres als stehenzubleiben. Jetzt kann sich nicht mehr als Frühere oder Spätere zeigen und bleibt ein bloßes jetzt. Trotzdem ist dieses „Jetzt“ auch unsere Zeit, das was wir selbst sind, aber da in der Vergangenheit und Zukunft Horizonte geschlossen bleiben, sind wir in unserem Selbst zurückgelassen. Diese stehende Zeit ist das, was uns in das sich langweilen-bei hingehalten hält. „Wenn wir so, losgelassen in das Dabeisein, gestellt werden von dem stehenden Jetzt, das unser eigenes, aber aufgegebenes und leeres Selbst ist, langweilen wir uns.“ (GA29/30, 189) Abgesehen von diesen zwei Formen der Langeweile gibt es noch eine, tiefere Form. In diesem Zustand ist man nicht mehr bei etwas oder wird nicht mehr von etwas gelangweilt. Dieser Zustand beschreibt Heidegger als „es ist einem langweilig“. Wenn man in den ersten zwei Formen die Langeweile durch gewissen Zeitvertreib verdrängt hat, ist in dieser Form jeder Zeitvertreib „machtlos“. Machtlos ist es nicht, weil es nicht gedrängt werden kann, sondern weil 16 Ebd. S. 188 21 der Charakter dieser Langeweile absolut anders ist. Es bekundet uns etwas und in diesem Bekunden lassen wir uns selbst an die Langeweile aufgeben. Was bekundet wird ist etwas Grundsätzliches für das Dasein. „Es offenbart, wie es um uns geht“ (GA29/30, 205). In den ersten zwei Formen hat man versucht, durch das langweilig Gesagte nicht zu hören und deswegen hat man versucht sich irgendwie zu beschäftigen, Zeit zu vertreiben. Aber in der letzten Form „haben wir jetzt das Gezwungensein zu einem hören, ein Gezwungenwerden im Sinne des Zwanges, den alles Eigentliche im Dasein hat, das demnach auf die innerste Freiheit Bezug hat.“ (GA29/30, 205). In diesem Zustand hat man überhaupt kein Wollen und alles erscheint einem „gleich viel und gleich wenig“. Man hat eine Einstellung der Gleichgültigkeit zur Welt und sogar zu sich selbst auch. Diese Gleichgültigkeit entsteht nicht durch die Analyse der Seienden, Analyse im Sinne der Schätzung, sondern „mit einem Schlag wird alles und jedes gleichgültig“. Das Seiende im Ganzen wird gleichgültig. Alles Seiende versagt uns aber nicht in dem Sinne, dass es uns nichts anbietet, sondern alles tun oder lassen für das Dasein gleichgültig ist. Die Leere, welche zum Beispiel im ersten Fall durch „Nichtrechtzeitlichkeit“, und im zweiten Fall durch zurücklassen von sich selbst und Eingehen an vor uns abgespielte Sache entstand, hat hier eine absolut andere Form: Das Dasein hängt nur noch zwischen dem im Ganzen sich versagenden Seienden. Die Leere ist nicht ein Loch zwischen Ausgefülltem, sondern betrifft das ganze Seiende und ist gleichwohl nicht das Nichts.17 Wenn es aber die Leergelassenheit gibt, soll es auch gewisse Form der Hingehaltenheit geben, welche wir bei früher erörterten Beispielen gesehen haben. Aber wenn man allem gegenüber gleichgültig ist, was soll einen dann noch hinhalten? Um das zu verstehen, soll man zuerst sehen, was im Versagen eigentlich versagt wird. Das sind die Möglichkeiten von Dasein etwas zu tun oder zu lassen. Durch Versagen also wird man auf die Möglichkeiten verwiesen, die jetzt „brachliegend“ geworden sind. Genau dieses Hinweisen auf brachliegende Möglichkeiten ist die Hingehaltenheit der dritten Form des tiefen Langweilens. Die offene Frage ist jedoch, wer der Adressat dieser Form der Langeweile ist. Im „es ist einem langweilig“ ist nicht gezeigt wer derjenige ist der sich langweilt. Das bin nicht ein konkreter ich, sondern wie Heidegger sagt das Selbst. Diese Langeweile „bringt das Selbst erst in aller Nacktheit zu ihm selbst als das Selbst, das da ist und sein Da-sein übernommen hat“ 17 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 29/30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Klostermann, Frankfurt am Main. 1992. S.210 22 (GA29/30, 215). Wie wir bei der Analyse des Seins und der Zeit gesehen haben, ist das Dasein als solches ein Sein-können und durch Versagen wird genau dieses Sein-können betroffen. Dieses sein-Können ist nicht einer der Möglichkeiten des Daseins, sondern diejenige, welche überhaupt jede Möglichkeit erst ermöglicht, das was Dasein erst möglich macht. Demnach ist diese Langeweile eine gewisse „verweisen“, oder ein „Anrufen“, welches diese allen Möglichkeiten zugrundeliegende Ermöglichende zum Sprechen bringt. Heidegger merkt an, dass diese Ermöglichende kaum zu nennen ist, da es kein Vorhandenes ist, worauf man immer seinen Blick werfen kann. Was im Anrufen aber gezeigt wird, ist nur die äußerste Spitze der eigentlichen Ermöglichung. All das erlaubt es Heidegger zu behaupten, dass „die spezifische Hingehaltenheit der dritten Form“ eine „Hingezwungenheit an die ursprüngliche Ermöglichung des Daseins als eines solchen“ ist. (GA29/30, 216) Natürlich, wie bei den ersten Formen sollte das Problem der Zeit auch hier eine gewisse Rolle spielen und daher soll es auch analysiert werden. Im Versagen, wie wir gesehen haben, treten wir in eine gewisse Gleichgültigkeit zum Seienden. Es heißt wiederum nicht, dass das Seiende verschwindet, sondern was verschwunden ist, ist der Zugriff auf sie welcher in normalen Zustand als tun und lassen bezeichnet wird. Jedes Tun und Lassen hat drei Sichten, woher wir zu dem Seienden Stellung nehmen. Das sind Hinsicht, Rücksicht und Absicht, welche in normalem Zustand eine Einheit des ganzen darstellen, wo „das Dasein sich ständig bewegt“. Sie entsprechen den drei Formen der Zeit: der Gegenwart, der Gewesenheit und der Zukunft, welche genau wie diese drei Sichten eine Ganzheit darstellen, die Heidegger den „einheitliche AllHorizont der Zeit“ nennt. Wenn man im Versagen dem Ganzen versagt, so ist jetzt dieses Ganze als Versagen in diesem Horizont der Zeit zu verstehen. Daraus schließt Heidegger, dass was im Ganzen passiert, nur durch den Zeithorizont möglich wird. Alles Offenbaren des Daseins ist nur im Horizont der Zeit möglich. Also ist dieser Zeithorizont Bedingung der Möglichkeit jeder Offenbarung des Seienden. Daher ist die neue Aufgabe gestellt, den Begriff des Horizonts zu klären. Wie wir gesehen haben, ist im „es ist einem langweilig“ alles Seiende versagend. Aber das Dasein selbst wird natürlich immer da sein, da es einfach existiert. Wegen seiner Stimmung kann es nur von der Ganzheit der Seienden nichts mehr erwarten, nichts lockt ihn in irgendeiner Weise. Das Dasein ist in seiner Leergelassenheit trotzdem an diesem Ganzen „gebannt“, er kann ihm nicht entfliehen und dasjenige, was ihn bannt ist der Horizont der Zeit, welcher das Ganze überhaupt zugänglich macht. 23 „Die Zeit bannt das Dasein, aber nicht als die Stehengebliebene im Unterschied zum Fluss, sondern die Zeit jenseits von solchem Fließen und seinem Stehen, die Zeit, die je das Dasein selbst im Ganzen ist. Diese ganze Zeit als ein Horizont bannt. Gebannt von der Zeit kann das Dasein nicht zum Seienden finden, das sich gerade in diesem Horizont der bannenden Zeit als das sich versagende im Ganzen bekundet.“18 Diese bannende Zeit stellt eine Einheit von dem dar, was versagt wird, und dem, was durch dieses Versagen bekundet wird. Durch diesen ganzen Prozess wird die Freiheit des Daseins bekundet, welche nur im „Sichbefreien“ möglich ist. Damit gelangen wir zum Begriff des Entschlusses zu sich selbst, welchen Heidegger in Sein und Zeit mit dem Begriff von Freiheit verbindet. Dieses Entschließen geschieht in dem Augenblick, in welchem das Dasein einen volleren Blick aus die „Situation eines Handelns“ gewinnt. Durch den Augenblick gewinnt das Dasein einen Blick auf alle „Richtungen der Sicht“ (Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit), welcher ihm eine Entschlossenheit bringt für eigentliches Handeln. Daher können wir herauslesen, dass es in der tiefen Langeweile um die Möglichkeiten des Handelns geht. Der Mensch befindet sich in einer solchen Situation, wo er sich absolut gemütlich fühlt: Das Dasein „hat, was es wünscht, und nur wünscht, was es haben kann.“ Wenn man so sein eigenes Leben führt, kann nichts versagt werden, aber in solcher Situation begnügt man sich damit, was einem vorgegeben wird. Der Mensch übernimmt keine Verantwortung für sein Handeln und damit widerspricht er seinem Wesen, wonach er die Verantwortung auf sein Sein auf sich selbst nimmt. Obwohl diese Idee der Übernahme der Existenz auf sich selbst längst verbreitet ist, behauptete Heidegger, dass der Mensch es nur inhaltlich kennt und keinen Wert mehr auf es legt. „wir wissen es nicht, sofern wir vergessen haben, dass der Mensch, wenn er werden soll, was er ist, gerade das Dasein sich auf die Schulter zu werfen hat; dass er gerade nicht ist, wenn er sich [...] treiben lasst.“19 Die Analyse der Grundstimmung also ist sicher Anzeige dessen, dass der Mensch sein Dasein verloren hat, im Sinne der Verantwortung. Daher spricht Heidegger über die Befreiung des Menschen, welche Befreiung hier im Sinne von Übernahme des Daseins an sich selbst gemeint ist. „Dem Menschen das Dasein als seine eigenste Bürde aufladen“ heißt bei ihm 18 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 29/30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Klostermann, Frankfurt am Main. 1992. S. 221 19 Ebd. S. 246 24 Befreiung und durch diese Formulierung wird deutlich das Freiheit nur durch die Übernahme dieser „Bürde“ möglich ist. Als Anmerkung kann man beifügen, dass was wir in der Interpretation der Langeweile gesehen haben, enthält in sich verschiedene Elementen der Angst, des Gewissens und des Seins zum Tode. Was Heidegger bei der Langeweile mit Versagen meint, sehen wir auch in der Interpretation der Angst.20 Seinerseits ist Angst auch einer der Grundstimmungen der Befindlichkeit des Daseins. Das durch Gewissen und das Sein zum Tode eröffnete Selbst-seinkönnen wird auch bei der Langeweile als Spitze der ermöglichenden Möglichkeit gezeigt. So gesehen haben wir in der Interpretation der Langeweile eine Zusammenfassung der Elemente des Wandels von Man zum eigentlichen Selbst. Es soll auch nicht zufällig sein, dass Heidegger, dieses Geschehen als Augenblick fasst. In Platons Werk „Parmenides“ wird der Augenblick als der Moment des Umschlages von Ruhe zum Bewegung oder auch von Bewegung zur Ruhe beschrieben, genauso wie der Umschlag von Sein zum Nichtsein und umgekehrt. Diese Auffassung des Augenblicks wird später von der Christlichen Philosophie umformuliert und wird als ein Moment aufgefasst, „worin die Zeit und die Ewigkeit einander berühren“ 21. Kierkegaard benutzt diesen Begriff des Augenblicks beim Aufbau seiner Theorie der Angst. Heidegger seinerseits, wenn er über die Angst philosophiert, befindet sich in die Tradition Kierkegaards. Obwohl er den Begriff des Augenblicks nicht bei der Angstinterpretation sondern bei der Interpretation der Langeweile benutzt. Das gibt uns die Handhabe zu behaupten, dass es bei Heidegger eine gewisse Verwandtschaft, oder radikaler gesagt eine Umformulierung von dem Begriff der Angst in den Begriff der Langeweile gibt. Nachdem wir die wichtigen Elemente der Heideggerscher Philosophie betrachtet haben, ist es mehr oder weniger klar geworden, was der Philosoph mit den Begriffen der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit meint. Um es besser zu verdeutlichen mochte ich an diese Stelle mit der Interpretation von der in der Einleitung angekündigten Erzählung von Robert Musil vortfahren. Die Amsel Das Buch „Die Amsel“ wurde 1957 veröffentlicht. Der Struktur nach handelt es sich um einen Dialog zwischen zwei Freunden Aeins und Azwei die einander lange Zeit nicht gesehen haben. Eigentlich ist es ein Monolog von Azwei, welcher über seine Erlebnisse erzählt. Diese 20 Siehe S. 7 21 Siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie. Der Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. Bd. 1. Augenblick. 25 Erlebnisse bleiben unerklärbar; es wird nicht eindeutig gesagt was der Autor sagen wollte. Es sind nur die Beschreibungen, von denen auch Azwei zugibt, dass er selbst nicht weiß, was das zu heißen hat. Mit der Geschichte wird einfach „etwas“ beschrieben, ohne negative oder positive Bewertung. Ich versuche zu zeigen, dass das, was wir in der Erzählung betrachten genau die Problematik des Man darstellt, welche wir bei Heidegger gesehen haben. In seiner Rede beschreibt Azwei drei Erlebnisse die er in unterschiedlichen Zeiten seines Lebens erlebt hat. Am besten folgen wir dem Text. Die erste Geschichte findet sich in Berlin statt, wo Azwei mit seiner Frau wohnt. Den ersten Fingerzeig für die Interpretation gibt uns Musil in der Beschreibung der Wohnung: „Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbufett. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht.“22 Diese Stelle ist deswegen interessant, weil die Phänomene die Musil beschreibt eigentlich die emotionalen Zustände des Menschen sind, welche auf ersten Blick, nichts mit der physische Lage zu tun haben scheinen. Aber Musil unterstreicht genau diesen Charakter des Existierens, wo der Raum nicht mehr etwas Fremdes darstellt, etwas, in was der Mensch befindet, sondern zu dem Existieren des Menschen wesentlich zugehöriges. Und in der Räumlichkeitsgleichkeit sieht Musil eine Beschränkung der menschlichen Freiheit: „Du wirst zugeben, dass die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer das Gleiche: da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriss von allem gleich macht.“23 Dieser Druck der „Gleichheit“ war für Azwei so unerträglich, dass er einmal auf einen Schrank kletterte, „um die Vertikale auszunutzen“. Was wir hier sehen kann man als die Beschreibung der Strukturen des Man bezeichnen. Die Öffentlichkeit, worüber Heidegger spricht, steigt in das Leben des Menschen so hinein, dass man überhaupt keine Stelle hat, wo er nicht öffentlich sein kann. In der alltäglichen Sprache wird dem öffentlichen Raum das Private gegenübergestellt, wo eigentlich der Mensch frei von der Öffentlichkeit zu sein hat. Aber hier betrachten wir den Zugriff von Öffentlichkeit auf das private Leben selbst. Die Möglichkeiten 22 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. S. 8/9 23 Ebd. S. 9 26 des Menschen sind schon von vorherein auf gewisse Räumlichkeiten beschränkt. Es ist schon von jemandem entschlossen, dass man so leben soll, und derjenige, der in dieser Wohnung einzieht, ist gezwungen diesem Entschluss zu folgen. Genau deswegen bemerkt Musil, dass es sich nicht mehr um ein einfaches „Bedienen von Zuhandenen“ handelt, sondern die Gefühle selbst werden zum Zuhandenen und ihr Bedienen ist vom Man schon bestimmt. Aus dieser Interpretation folgt, dass der erster Abschnitt der Erzählung das „Verfallen in das Man“ darstellt. Nach dieser Beschreibung kommt ein Bruchpunkt, wodurch Azwei sein Leben radikal ändert. Dieser Punkt ist mit der Erscheinung eines Vogels eingeführt. Wie Azwei erzählt „erwartete(er) nun nichts mehr als den Schlaf und am nächsten Morgen einen Tag wie den abgelaufenen.“ In dieserm Zustand hörte er gewisse Stimmen: „Da wurde ich durch etwas Näherkommendes erweckt; Töne kamen näher. Ein-, zweimal stellte ich das schlaftrunken fest. Dann saßen sie auf der Frist des Nachbarhauses und sprangen dort in die Luft wie Delphine. Ich hatte auch sagen können, wie Leuchtkugeln beim Feuerwerk; denn der Eindruck von Leuchtkugeln blieb; im Herabfallen zerplatzten sie sanft an den Fensterscheiben und sanken wie große Silbersterne in die Tiefe. [...] Die Zeit rann in fieberkleinen schnellen Pulsschlägen.“24 Am Ende identifiziert Azwei diese Stimme als Gesang der Amsel. Für Azwei war dieser Amsel nicht ein einfacher Vogel. „Diese sei zu mir geflogen. Zu mir!“. In dieser Stimme erkennen wir den Ruf des Gewissens. Es sagt nichts, obwohl es „zu mir“ spricht. Azwei hatte das Gefühl ihm zu folgen, aber in Wirklichkeit hat dieses „Folgen“ kein Objekt. „Es hatte mich von irgendwo ein Signal getroffen – das war mein Eindruck.“ Dieses Signal hat keinen konkreten Ausgangspunkt. Man weiß nicht woher es kommt und wohin es führt. Aber die Folge dieses Ereignisses ist, dass Azwei sein Haus verlässt und weggeht. Bevor wir diese erste Stelle durch die Heideggersche Philosophie zu erklären versuchen, möchte ich ein Zitat aus dem Werk von Emanuel Levinas anführen, welches die Schlaflosigkeit betrifft: „Die Unmöglichkeit, das hereinstürzende, unvermeidbare und anonyme Rauschen des Seins zu unterbrechen, äußert sich besonders in gewissen Momenten in denen sich der Schlaf unserem Appell entzieht. Man wacht wenn es nichts mehr zu wachen gibt und obwohl jeder Grund zu wachen fehlt. Die nackte Tatsache der Gegenwärtigkeit bedrückt: 24 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. 11 27 Man wird am Sein festgehalten, man ist gehalten zu sein. Man löst sich von jedem Objekt, von jedem Inhalt, aber es gibt Gegenwärtigkeit. Diese Gegenwärtigkeit, die hinter dem Nichts auftaucht, ist weder ein Seiendes noch das Funktionieren des Bewusstseins, das leerläuft, sondern die universelle Tatsache des es gibt, die sowohl die Dinge als auch das Bewusstsein umgreift.“25 Ich möchte nicht genauer auf die Philosophie von Levinas eingehen, wir entnehmen von ihr nur diese Beschreibung von der Schlaflosigkeit. Das Erlebnis, welches Azwei uns bietet, sieht genauso aus. Er sagt: „Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem auch ich bestand.“26 Das Levinassche Zitat kann man mit Heideggers Begriff der Langeweile erklären. Eigentlich ist das die Einheit von allen drei Formen der Langeweile, welche Heidegger beschreibt. Man wartet auf dem Schlaf und sucht etwas, womit man sich hinhalten kann, eine Beschäftigung. Aber in der Nacht gibt es gar nichts, was uns aufhalten kann. Zweitens entsteht die Tatsache der Gegenwärtigkeit, welche in der zweiten Form zu sehen ist, aber wenn man bei Heidegger durch zögernde Zeit gehalten wird, ist hier der Haltende das Sein selbst, die bloße Tatsache des Seins, womit diese Konstruktion der dritten Form ähnlich ist. In diesem Zustand gibt es kein Subjekt-Objekt, sondern es gibt nur das Sein welches, Heideggerisch gesagt, als Versagen aller Seienden im Ganzen zu interpretieren ist. Dass es um die Offenbarung der eigensten Möglichkeiten handelt, wird in der Geschichte nicht gesagt. Aber dieser Charakter der Erscheinun duch „ein Signal“ „von irgendwo … getroffen“ zu sein lässt uns leicht an das Phänomen des Gewissens oder der Langeweile anknüpfen. Die Herkunft dieses Signals ist verborgen, sowie der Inhalt. Seiner Ruf -Form nach aber lässt es sich mit den oben angedeuteten Phänomene identifizieren. Es gibt noch einen direkten Fingerzeig dafür, dass wir diese erste Erzählung so verstehen können. Bevor Azwei die Entscheidung trifft und sein Haus verlässt, beschreibt er seinen Zustand folgenderweise: „Ich war nun völlig wach, und die Stille langweilte mich.“ . Die zweite Geschichte ist mit Azwei im Krieg passiert. Musil bietet uns die Beschreibungen von dem Krieg, welche das Thema des Man ergänzt in Bezug zum Tod: „Auf solchen Plätzen, wo man Zeit zum Nachdenken wie zum Erschrecken hat, lernt man die Gefahr erst kennen. Jeden Tag holt sie sich ihre Opfer, einen festen 25 Levinas, Emmanuel: Vom Sein zum Seienden. Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 1997. S. 79 26 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. S. 11 28 Wochendurchschnitt, soundso viel vom Hundert, und schon die Generalstabsoffiziere der Division rechnen so unpersönlich damit wie eine Versicherungsgesellschaft. Übrigens man selbst auch. Mann kennt intensiv seine Chance und fühlt sich versichert...“27 Diese Beschreibung ist identisch mit der Beschreibung von Heidegger, wenn er die öffentliche Daseinsauslegung über den Tod beschreibt. Man stirbt, hat kein Objekt, da das Man eigentlich ein niemand ist. Die Statistik des Todes ist ein Werkzeug des Man, wodurch der Mensch die Beruhigung bekommt und von der Unheimlichkeit geschützt wird. Der Tod wird von ihm versteckt und „das Man besorgt dergestalt eine ständige Beruhigung über den Tod“. (SuZ, 253). In dieser Situation hatte Azwei sein zweites Erlebnis. Der feindliche Flieger flog über die Stelle, wo Azwei sich gerade mit seiner Truppe befand. Was aus dem Flieger herausgeworfen wurde, waren keine Bomben, sondern die Fliegerpfeile. „Das waren spitze Eisenstäbe, nicht dicker als ein Zimmermannsblei“ und während des Fallens erzeugten sie spezifische Stimmen, welche dem Pfeifen ähnlich waren. Was Azwei in dieser Situation gefühlt hat ist ein weit von der Angst entferntes Phänomen: „Und in diesem Augenblick, wo ich innewurde, dass ich allein diesen feinen Gesang horte, stieg ihm etwas aus mir entgegen: ein Lebensstrahl; ebenso unendlich wie der von oben kommende des Todes.“28 Die Gedanken von Azwei waren den bei dem ersten Erlebnis aufgetauchten ähnlich. „Dieser Laut war auf mich gerichtet“, „eine Stimme singe für mich“. Und was besonders wichtig für unsere Abhandlung ist zeigt sich in diesem Abschnitt: „Kein einziger Gedanke in mir war von der Art, die sich in den Augenblicken des Lebensabschiedes einstellen soll, sondern alles, was ich empfand, war in die Zukunft gerichtet.“29 Eine erste Erklärung möchte ich bezüglich des Fliegerpfeiles bringen. Hier findet sich wiederum eine Vereinzelung des Daseins im Hinblick auf seinen Tod statt, worüber auch Heidegger spricht. Wenn Musil einfach den Bezug zum Tod beschreiben wollte, könnte er 27 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. S. 15 28 Ebd. 29 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. 18 29 einfach die Bombe fallen lassen. Aber mit der Bombe bleibt der Tod auch in der Ebene des Man, im Sinne, dass durch sie viele Menschen gleichzeitig getötet werden. Es wird in den Sätzen wie „Man stirbt“ oder „Wir sterben“ sehr deutlich gezeigt. Was Azwei aber erlebt, ist sein Tod und nur seiner. Der Fliegerpfeil vereinzelt ihn in seinem Tod. Daher kann man, mit der Hilfe von Heidegger auch das zweite Zitat erklären. „Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit, ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei“ (SuZ, 262). Man kann sagen, dass Azwei dieses Erlebnis der Freiheit beschreibt. „In die Zukunft gerichtet“ sind die Möglichkeiten unseres Seins welche durch die Erfahrung unserer letzten, eigensten Möglichkeit, des Todes sich offenbaren und zu sich geholt werden. Erstaunlich ist ein Satz, den Azwei benutzt um den Augenblick dieses Geschehens zu beschreiben: „Mein Herz schlug breit und ruhig; ich kann auch nicht den Bruchteil einer Sekunde erschrocken gewesen sein; es fehlte nicht das kleinste Zeitteilchen in meinem Leben“ (Die Amsel, S. 19) Das erinnert uns direkt an den Augenblick der letzten Form der tiefen Langeweile. Zeit wird dort nicht mehr nach verschiedenen Horizonten der Vergangenheit, Gewesenheit und Zukunft verstanden sondern durch die Langeweile wird das Ganze in einem All-Horizont der Zeit offenbart. Azwei sagt nicht, dass er sich in diesem Augenblick an verschiedene Seiende gedacht hat die Ihm in seinem Leben begegnet sind. Die Ganzheit seines Lebens wird als zeitliche Ganzheit gezeigt. Und wie wir schon wissen ist es die eigentliche Möglichkeit des Selbst-sein-könnens, wie die Möglichkeit der Existenz überhaupt. Was in der letzten Geschichte erzählt wird, kann man nur der reinen Interpretation überlassen und versuchen zu erklären, was es sein könnte. Gleich am Anfang der Erzählung, als Azwei noch in Berlin gelebt hat, hat es sehr oft über seine Eltern nachgedacht. Der Grund dafür war nicht das Heimweh, sondern eine Tatsache, die ihn nicht in Ruhe lassen könnte: „Sie haben dir das Leben geschenkt [. . .], Nun hast du ein Leben aus eigenen Kraft geschaffen [. . .] Und da erschien es mir . . .als ein Geheimnis, dass es etwas gab, das mir geschenkt worden ist, ob ich wollte oder nicht, und noch dazu das Grundliegende von allen übrigen.“30 Als Azwei die Nachricht bekommt, dass seine Mutter verstorben ist, kehrt er zurück zu dem Haus, wo er aufgewachsen ist. In seinem Zimmer war nichts verändert worden und deswegen hatte er die lebendigen Erinnerungen über seine Kindheit erlebt. Die Kindheitserinnerungen haben ihn an ihn selbst erinner,t aber es ist nicht so, dass dieses Selbst als 30 Robert Musil, Die Amsel, Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008. S. 9-10 30 etwas Vergangenes zu verstehen ist. Sein Verhältnis zu der Zeit überhaupt fasst Azwei in folgenden Wörter: „wenn etwas vorbei ist, dann bin ich auch an mir vorbei“. Deswegen hatte er ein besonderes Erlebnis, als er zu seinem Haus zurückgekehrt ist. „Für andere Menschen mag es nichts Besonders sein, wenn sie sich an sich selbst erinnern, aber für mich war es, als ob das Unterste zuoberst gekehrt würde“.31 Nach diesen Sätzen haben wir alle Begriffe, die wir für die Interpretation brauchen. Es handelt sich um eine Kehre zu sich Selbst. Azwei erinnert sich selbst als Etwas vor allen verfallen stehendes. Symbolisch ist das „noch-nicht-verfallen-sein“ als Kindheit dargestellt, da es eigentlich kein Entwurf auf Möglichkeiten gibt. In der Kindheit kann es so etwas wie Langeweile oder Angst in der Form wie Heidegger sie beschreibt nicht geben, da die Bedeutungen, die durch das Auftauchen dieser Phänomene verschwinden, noch gar nicht da sind. Etwas kann dem Kind nicht versagen, da es nur den eigentlichen Bezug zum Zuhandenen gibt. Man benutzt die Zuhandene jeweils auf eine eigene Weise, nach eigener Entscheidung. Dem Kind ist das Gerede fremd, da es die Sprache des Man noch nicht beherrscht. Wenn wir die Kindheit so betrachten, ist sie dem Zustand des Todes gleich, welches wir an den Tod der anderen Menschen vestellen können. Wie der verstorbene Mensch existiert auch das Kind nur in der Weise der Fürsorge von der Seite der Anderen(den Eltern). Aber das Kind hat einen Raum, wo er innerhalb dieser Fürsorge, sein Welt noch nach eigener Weise bestimmt und versteht. In dem Sinne ist das Kind frei von dem Man. Die gleiche Freiheit sehen wir in der Erzählung von Hans Christian Andersen „Des Königs neue Kleider“, wo das Kind der Einzige ist, der die Wahrheit zu sagen wagt, weil es überhaupt keine andere Wahrheit kennt, außer das Gesehene zu fixieren und in seinem Sosein darzustellen. Außerdem, ist die Kindheit ein Ort, wo der Mensch vor allen seinen Möglichkeiten steht. Es ist noch nichts und wird erst später etwas. Das sind nur verschiedene Elemente, warum Musil die Kindheit als das Symbol der Eigentlichkeit gewählt hat. Wenn wir die Kindheit ganz aus Heidegger zu interpretieren versuchen, werden natürlich verschiedene Auseinandersetzungen zu oben gesagtem auftauchen. Und das ist auch nicht unser Thema. Es ist nur interessant zu sehen wie Musil den Gang von der Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit literarisch beschreibt. Nach den erlebten Kindheitserinnerungen kommt zu Azwei die Amsel wieder. Diesmal wird sie als Azweis Mutter identifiziert. Er fängt sie und setzt sie in einen Käfig: „Ich bin nie im Leben ein so guter Mensch 31 Ebd.. S. 25 31 gewesen wie von dem Tag an, wo ich die Amsel besaß“. Mit diesem Satz wird ein Unterschied zwischen Heideggers und Musils Auffassungen eingeführt. Obwohl Heidegger die Eigentlichkeit als Freiheit versteht, benutzt er bei der Beschreibung dieses Phänomens keine Bewertung. Er fasst die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Modi unseres Seins, welche weder positiv noch negativ nicht bewertet werden können. Obwohl Musil nicht erklärt worum es in seiner Erzählung eigentlich geht, gibt uns der letzte Satz wieder einen Hinweis, wie wir sie verstehen können. Bei der Bewertung der drei Geschichten sagt Azwei: „Es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!“ (Die Amsel, S. 27). Man soll sich an Gerede erinnern. Das ist die Form der Gesprächs welches im Man geführt wird und durch das Hinhören auf sie wird das eigentliche Selbst überhört. Wenn wir die Amsel als Symbol des Gewissens, oder des eigentlichen Selbst verstehen, heißt es, dass am Ende Azwei mit dem „Besitz“ von der Amsel eigentlich zu sich selbst zurückgekehrt ist. Er hat ihm zugehört und hat sich von dem Lärm von dem Gerede befreit. Dadurch wurde er zum einem „Guten Menschen“. Aber für Heidegger ist die ethische Bewertung fremd. In Sein und Zeit gibt es keine Stelle, wo er das eigentliche Selbst als etwas „Gutes“ beschrieben hätte. Aber es gibt eine Philosophie die ungefähr den gleichen Unterschied der Seinsweisen vollzieht, und wir versuchen die vergleichende Analyse dieser beiden Philosophien durchzuführen. Was wir konkreter bei Stoikern zu analysieren pflegen, ist die Teilung der Menschen in zwei Kategorien: der Durchschnittsmenschen). Weisen (Philosophen) und den Toren (NichtßPhilosophen, Aber bevor wir zum Hauptthema übergehen sollten wir die Hauptelemente der Stoischen Philosophie betrachten. Die Hauptidee der Stoiker war, dass es eine Natur, einen Logos, gibt, der alles in der Welt verbindet und einen Sinn gibt. Logos ist Vernunft. Da der Mensch das einzige Lebewesen ist, dessen Leben durch Vernunft gekennzeichnet ist, ist nur er in der Lage den Logos zu ergreifen. Der Mensch ist „die Krone der Natur“. Aber dem Menschen ist die Vernunft nur als Potential gegeben. Er soll sie ausbilden und nach Vollkommenheit streben. Diese Vollkommenheit, die vollkommenste Vernunft, ist der Logos. Der Logos ist überall. Er bestimmt nicht nur das Wesen der Dinge, sondern macht das Wesen des Menschen aus. Sein Wesen ist eben die Vernunft. Da der Mensch Vernunft ist, trägt er sein Wesen in sich, und daher trägt er seine Bestimmung in sich. Er soll seine Seelenfähigkeiten entwickeln, und damit erreicht er auch die Glückseligkeit. Aber um die Glückseligkeit zu erreichen, also nach dem Logos zu leben braucht man eine gewisse Übung und nicht jeder kann und will sie vollziehen. 32 Es gibt Menschen, weise Menschen, die im Besitz der Erkenntnis sind und ein vollkommenes, glückseliges Leben führen, und die Toren, die mit dem größten Übel, der Unwissenheit, belastet zu keiner vollkommenen Handlung fähig sind und im tiefsten Elend leben. „Den ideal richtigen Handel verkörperten die Stoiker in der Figur des Weisen. Dieser handelt in allen Dingen vollkommen, er tauscht weder sich noch andere, versteht sich auf Religion, Politik, Wirtschaft, Kunst, ist reich, schön, frei, er wird von keinerlei Übeln behelligt und führt in „stoischer“ Ruhe ein vollkommenes glückseliges Leben.“ 32 Die Handlungen, die die Weisen vollziehen, stammen vom Geist und entsprechen dem Vernunftgesetz, dem Logos. Die Toren sind `geisteskrank`, ihnen fehlt die Gesundheit des Logos. Der Weise kennt die Prinzipien. Er weiß, was gut und was übel ist, und dieses Wissen hilft ihm immer vernunftgemäß richtig zu handeln. Er erkennt seine Möglichkeiten und deswegen ist sein Willen immer innerhalb seines Könnens. „Er kennt den Weltlauf der Welt und will nur das, was er kann. Darum kann er auch, was er will.“33 Malte Hossenfelder beschreibt das gleich in folgenden Wörtern: „Wenn das Glück in der Erreichung aller selbstgewählten Zwecke besteht, dann kommt alles darauf an, sich nur solche Zwecke zu setzen, von denen man sicher sein kann, dass man sie auch erreichen kann, d. h. man muss darauf achten, dass das Wollen mit dem Können übereinstimmt.“34 Der Weise weiß, dass das einzig Gute nur das Sittliche ist, was seinerseits nur vernünftig sein kann. Deswegen haben auf ihn die äußeren Dinge gar keinen Einfluss. Natürlich muss er als Lebewesen essen und trinken, aber er lässt die animalischen Triebe keinen Einfluss auf seine Entscheidung nehmen. Der Weise braucht kein Gesetz im Sinne des staatlichen. Sein Gesetz ist das Logos. An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir auch die Freiheitsauffassung der Stoiker erwähnen. „Epiktet, selbst als Sklave geboren, hat sogar verlangt, wir sollten in jedem Sklaven den Bruder sehen, der demselben göttlichen Samen entsprossen sei wie wir“35. Von Natur aus ist 32 Die Philosohie der Antike 3. Stoa, Epikurismus und Skepsis. Bd. 3 von Malte Hossenfelder. Verlag C. H.Beck; 1995. S. 67 33 Max Pohlenz; Die Stoa. Geschichte einer geistiger Bewegung; Vandenhoeck & Ruprecht, 1992; S 155 34 Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikurismus und Skepsis von Malte Hossenfelder. Verlag C.H. Beck, Munchen 1985. S. 46 35 Ebd. S. 136 33 niemand ein Sklave. „Nur der ist Sklave, der sich selbst zum Knechte seiner Begierden und der äußeren Dinge macht; nur der ist frei, der sich seine innere Unabhängigkeit wahrt und dadurch imstande ist, sein Leben in eigenem Ermessen zu führen“. Die Freiheit ist also Freiheit des Denkens. Die Dinge, die uns umgeben, vermitteln uns das Gefühl von Glückseligkeit, aber dies ist nur ein Schein. Wie ich bereits oben erwähnt habe, wird echte Glückseligkeit durch sittliches Leben erworben, welches unabhängig und frei von allem ist, das nicht vernünftig ist. Diese Idee von Freiheit, welche die Stoiker einführten, unterscheidet sich davon, wie der Begriff früher verstanden wurde. Die stoische Freiheit gilt für jeden, der der Gattung des Menschen angehört. Sie ist nicht die Freiheit der Aristokraten. Wie wir sehen, handelt es sich bei den Stoikern um die Ethik. Wir konzentrieren uns auf einen den Repräsentanten dieser Schule, nämlich auf Epiktet. Bei ihm werden wir sehen, dass das, was er mit dem Wort Philosoph36 beschreibt eine „eigentliche Seinsweise“ darstellt, aber immer mit ethischer Konnotation. Wie man frei, also weise leben soll, wird im nächsten Zitat aus Epiktets „Handbüchlein der Moral“37 sehr gut gezeigt. Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.38 Das ist das Maß für eigentliches Handeln der Weisen. Er handelt nur in dem Bereich seines eigentlichen Könnens und versteht sich selbst auch aus seinen eigenen Möglichkeiten. Alles was außerhalb der Sphäre des eigenen Gebietens liegt, kann nicht Motiv der Handlung von Weisen sein. Der Tor hingegen versteht sich aus den ihn umgebenden Dingen, worüber er überhaupt nicht gebieten kann. Wenn man aber aus dem Bereich seines Könnens handeln will, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, was zu diesem Bereich gehört. Daher ist es die erste die Aufgabe des Philosophen, diesen Bereich zu erforschen. Erforscht man ihn, dadurch, dass man die Fragen stellt. Daher ist der Philosoph derjenige, der die Fragen über sein eigentliches Können stellt. Wenn er auch seinem Können nach handelt, heißt es, dass er die Verantwortung für sein Handeln immer auf sich nimmt. Heideggerisch gesprochen lässt er sich nicht verlieren und in das 36 Epiktet benutzt das Wort „Philosoph“ um die Weisen zu beschreiben. 37 Epiktet; Handbuchlein der Moral; Reclam, Dizingen; 2006 38 Ebd. S. 5 34 Man aufgehen. Die Erforschung seiner Möglichkeiten impliziert auch das Selbstverständnis des Philosophen: Sei auf keinen Vorzug stolz, der nicht dein eigener ist. Wenn ein Pferd in seinem Stolz sagen würde: „Ich bin schon“, so wäre das noch erträglich. Wenn du aber mit Stolz sagst: „ich habe ein schönes Pferd“, dann wisse, dass du nur auf einen Vorzug eines Pferdes stolz bist. Was ist nun dein eigen?“39 Was wir hier sehen, kann man als Phänomen des Entwurfes bezeichnen. Wie Heidegger schreibt, gibt es zwei Möglichkeiten des Verstehens. „Dasein kann sich als verstehendes aus der „Welt“ und den Anderen her verstehen oder aus seinem eigensten Seinkönnen“(SuZ 221). Wie wir sehen, kritisiert Epiktet die erste Weise des Verstehens. Wenn er das erste kritisiert können wir behaupten, dass er die zweite Art als etwas Positives betrachtet. Der Philosoph weiß, dass die Schönheit des Pferdes außerhalb des Bereiches des eigenen Könnens liegt. Er entwirft sich nur auf sein eigenstes Seinkönnen. Du musst entweder das leitende Prinzip in dir zur Vollendung bringen oder die außen Dinge, kunstvoll an der Innen- oder Außenwelt arbeiten, das heißt: entweder die Stelle eines Philosophen oder eines Durchschnittsmenschen einnehmen.40 Epiktet benutzt das Wort Durchschnittsmensch, um das zu bezeichnen, was bei Stoikern unter dem Namen des Toren bekannt war. Es ist faszinierend, dass Epiktet das gleiche Wort benutzt, das Heidegger wählt, um die Sphäre der Uneigentlichkeit zu bezeichnen. Heidegger benutzt das Wort, um das zu bezeichnen, was im Man besorgt wird. Man ist Durchschnittlichkeit besorgend. Was bei Epiktet eine Kategorie des Menschen ist, ist bei Heidegger eine Charakteristik des Man. Aber wenn wir den Philosophen als Symbol der Eigentlichkeit nehmen können wir behaupten, dass der Durchschnittsmensch als Synonym des Heideggerischen Begriffes des „Man“ gelten kann. Für gewöhnlich herrsche Schweigen, oder es werde nur das Notwendige gesprochen und das mit wenigen Worten. Selten aber nur, wenn besondere Umstände dich zum Reden auffordern, rede, doch nicht über die landläufigen Themen, nicht über Gladiatorenkampfe, Pferderennen oder Athleten, nicht über Speisen und Getränke, alles 39 Ebd. S. 13 40 Epiktet; Handbuchlein der Moral; Reclam, Dizingen; 2006. S. 43 35 hundertmal besprochen; […] Wenn es dir möglich ist, so lenke durch dein Gespräch auch das der übrigen Teilnehmer auf einen schicklichen Gegenstand. 41 Was wir in der Liste der Themen, worüber ein „Durchschnittsmensch“ spricht, sehen, ist die typische Charakteristik dessen, was Heidegger das Gerede nennt. Das in der Öffentlichkeit des Man Geredete ist „selbstverständlich“. Diese Selbstverständlichkeit wird dadurch erworben, dass man sie „hundertmal besprochen“ hat. Luckner behauptet, dass unter diesen Begriff des Geredes soll man „alle instituntionalisierten Redeweisen wie Floskeln, Schlagwörter, Modethemen, bestimmte „angesagte“ Ausdrucksweisen usw., kurz alles zu verstehen, was weiter- und nachgeredet werden kann.“42 Unter diese Beschreibung fällt alles, was Epiktet „landläufige Themen“ nennt. Der Philosoph, hingegen, wählt das Schweigen. Er nimmt keinen Teil am Gerede und versucht sein Gespräch zu philosophischen Themen zu führen. Dass der Philosoph sich dem Gerede entgegen setzt, zeigt uns, dass seine Seinsweise im Heideggerischen Sinne eigentlich da ist. Schweigen ist auch der Modus der Rede des Gewissen, welches sich dem Gerede des Man entgegen setzt. Gerede ist seinerseits ein Phänomen „das die Seinsart des Verstehens und Auslegens des alltäglichen Daseins konstituiert“(SuZ 167). Wenn das von Epiktet Beschriebene das Gerede ist, dann ist seine Forderung an die Philosophen, dass sie sich von ihm fernhalten, also sich nicht in das Man hineinziehen lassen sollen. Besonders interessant für uns ist die Beziehung der Stoiker zum Tod. Tod wird nicht als etwas Furchtbares erkannt, sondern als ein dem allgemeinen Gesetz der Natur entsprechendes Phänomen. Daher gibt es keine Furcht vor dem Tod mehr. Als ideal haben die Stoiker Sokrates angesehen, der ohne Angst den Tod an sich genommen hat. Aber der Tod wird nicht nur als eine Tatsache anerkannt, die einmal kommen wird, sondern prinzipiell ist es für Stoiker wichtig, dass man den Tod ständig vergegenwärtigt. Aug diese Weise gewinnt der Tod die Funktion des Maßstabes für einer moralischen Handlung. So sehen wir bei Epiktet: „Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, halten dir täglich vor Augen, vor allem aber den Tod, und du wirst niemals schäbige Gedanken haben oder etwas maßlos begehren.“43 Etwas „maßlos begehren“ kann ein Philosoph nur in dem Fall, wenn er etwas begehrt, das sich außerhalb seines Könnens befindet. Demzufolge können wir schließen, dass die 41 Epiktet; Handbuchlein der Moral; Reclam, Dizingen; 2006. S. 51 42 Andreas Luckner. Martin Heidegger, „Sein und Zeit“, Schoningh, Paderborn; 2007. S. 76 43 Epiktet; Handbuchlein der Moral; Reclam, Dizingen; 2006. S. 29 36 Vergegenwärtigung von Tod etwas ist, das den Philosophen immer wieder auf seine eigene Möglichkeiten hinweistt. Er kann ihn täglich „vor Augen“ halten und wird davor nicht fliehen. Wenn der Tod etwas ist, wovor das Dasein in das Man flieht wir sagen wir, dass der Philosoph keinen Grund dafür hat. Epiktet sagt nicht, dass er keine Angst vor dem Tode hat. Im Gwgwntwil. Der Philosoph soll das vor Augen halten, was ihm „furchtbar erscheint“. Darin besteht der Mut des Philosophen, welches dem Dasein in seiner Verlorenheit unbekannt ist. „Das Man lässt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen“(SuZ 254). Beide Philosophen setzen den Tod als „ein in dem ‚Leben’ innewohnendes Phänomen“44. Oben haben wir schon erwähnt, dass für die Stoiker jeder, der es gewollt hätte, könnte das Leben des Weisen führen. Aber dafür sollte man Mühe geben und viel üben. „Man muss, so verlangt er(Epiktet), vor allem darüber klar sein, dass man in lauter Einbildungen lebt, muss sich mit dem Wunsche, geheilt werden, in den philosophischen Unterricht begeben. Der ermahnende Teil der Philosophie hat in seinen Augen nur die Aufgabe, die Menschen zu dieser Einsicht zu bringen und sie für die Lehren der Philosophie empfänglich zu machen.45“ Was in diesem Zitat beschrieben ist, erinnert uns direkt an den von Kant geschriebenen Aufsatz: „Was ist Aufklärung?“ Nach dieser Schrift ist für Kant die Aufgabe der Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“46 Dieser kurze Aufsatz steht in direktem Bezug zur unserem Thema und daher lohnt es sich, sie kurz zu erläutern. Mündigkeit leitet sich aus dem Begriff Munt ab. Munt beschreibt die Stellung des Hausherrn, wie er sich seiner Familie gegenüber verhält. Er beschützt seine Familie vor den Angriffen Fremder, dabei herrscht er über sie. Also verteidigt er seine Familie, aber dafür erhält er Gehorsam. Nach Kant hat der Mensch keinen Mut, seinem eigenen Verstand nach zu handeln/denken und lässt ihn von anderen leiten. Aufklärung ist für ihn der Ausgang aus dieser, wie er sagt, Unmündigkeit. Die Gründe dieser Unmündigkeit sind Faulheit und Feigheit. Natürlich kann man sagen, dass ein Grund dafür auch die Möglichkeit ist, dass andere für jemanden alles tun. Wenn 44 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; 2007 S. 139 45 Barth-Goedeckemeyer. Die Stoa. Fr. Frommanns Verlag/ Stutgart; 1941. S. 194 46 Ebd. S 342 37 man zum Beispiel krank ist, geht man zum Arzt oder wenn man etwas wissen will, liest man die Bücher, die von anderen geschrieben wurden. Der Mensch ist schon sehr daran gewöhnt, dass immer jemand an seiner Stelle handelt, also ist es zu seiner Natur geworden. Man hat sich die Freiheit schon abgewöhnt, und nur wenige schaffen es, durch „Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln“.47 Der Gang zur Freiheit aber soll nicht schnell verlaufen. Denn wenn man alte Vorurteile mit einem Schlag zerstört, kommen neue Leute, die eigene Ideen als wahr annehmen, und so werden neue Vorurteile eingepflanzt. Deswegen soll das Publikum (Volk) langsam aufgeklärt werden. Dieser Text ist für uns aus zwei Gründen sehr wichtig. Erstens war Kant selbst durch die stoische Philosophie beeinflusst.48 und wir können gewisse Brücke zwischen Stoischer und Heideggers Philosophie schlagen. Und zweitens sind in dem Aufsatz Begriffe behandelt, die für unser Thema aktuell sind. Ich möchte wiederum diesen Text mit der Heideggerischen Terminologie interpretieren. Was Kant Unmündigkeit nennt, kann man als das Man betrachten. In diesem Zustand werden die Entscheidungen über eigenes Sein von anderen Menschen getroffen. Aber dieser Zustand ist nicht durch Gewalt entstanden, sondern wegen „Faulheit“ und „Feigheit“ des Menschen. Wir brauchen nur an die „entlastende“ Eigenschaft des Man erinnern. „Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit“(SuZ 127) Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber vom „großen Haufen“ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden „empörend“, was man empörend findet.49 Genau das hatte Kant die „Unfähigkeit“ genannt, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Man lässt sich bedienen, aber dafür gibt er seine eigene Freiheit auf. Die Aufgabe der Aufklärung ist es daher, diese Freiheit den Menschen wiederzugeben. Besser gesagt, ihnen zu helfen, die Freiheit selbst an sich zu nehmen. So trifft die Aufgabe der Philosophen(Epiktet) mit der Aufgabe der Aufklärung (Kant) zusammen und die Beschreibung dessen finden wir auch bei Heidegger. Man kann es kurz mit dem Begriff der eigentlichen Für-sorge beschreiben. Wie wir gesehen haben, betrifft diese Modifikation der Für-sorge die Existenz der Anderen, was ihnen hilft, frei für seine Sorge zu werden. Der Philosoph ist nicht derjenige, der jemandem die Freiheit gibt, sondern derjenige, der ihnen nur den Weg zeigt, wie man frei sein soll. 47 Ebd. S. 343 48 Siehe: Reinhard Brandt; Die Bestimmung des Menschen bei Kant; Felix Meiner Verlag; Hamburg 2007 49 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006 S. 127 38 Schluss Was ich in meiner Arbeit versucht habe zu zeigen, ist die allgemeine Auffassung der Heideggerischen Begriffe der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit und ihre Ähnlichkeit mit dem Stoischen Konzept des Weisen. Die Ähnlichkeit gibt uns die Möglichkeit zu behaupten, dass es sich auch bei ihm sich um eine Ethik handelt. Wir haben es schon erwähnt, dass auch die Terminologie, die er zu beiden Seinsweisen des Daseins zuordnet, in der Alltagssprache eindeutig negativ oder positiv bewertet wird. Aber Heidegger selbst behauptet nirgendwo eine Ethik aufgestellt zu haben. Die Aufgabe seiner Arbeit war ausgerechnet deskriptiv, den Sinn von Sein zu finden. Also die wichtige Frage ist ob es bei Heidegger wirklich um eine Ethik handelt oder nicht. Diese Frage zu beantworten betrachten wir den kleinen Aufsatz von andreas Luckner „Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit“.50 50 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; S. 149 168 39 In diesem Aufsatz versucht Luckner an die Stelle des Daseins den Begriff der Person zu setzen und die ganze Abhandlung von dieser Perspektive zu beschreiben. Heidegger, so Luckner, hat das Wort Dasein eingeführt, nicht nur wegen des spezifischen Bezuges dieses Seienden zum Sein, sondern auch deswegen, weil er gedacht hat, dass dieser Begriff durch Tradition überbelastet war. Aus Luckners Sicht ist die Frage nach der Eigentlichkeit nichts weiter als die Frage „wie eine Person überhaupt dazu kommt, sich in ihrer Autonomie und „Selbst-ständigkeit“ zu erfassen und in eine Form persönlicher Existenz umzusetzen“51 Im Anschluss an Figals These nennt Luckner die von Heidegger durchgeführte existentiale Analyse „die Phänomenologie der Freiheit“. Von Eigentlichkeit einer Person […] kann immer dann gesprochen werden, wenn sie „sich zueigen“ ist, und das heißt von sich aus bzw. „selbstbestimmt“ ihre „faktischen (das heißt nicht nur prinzipiellen, sondern jeweils zu Gebote stehenden) Möglichkeiten des Handels ergreift“52 Selbstständigkeit heißt nicht, dass die Person keine Acht auf die in der Gesellschaft existierenden Regeln gibt und willkürlich handelt. Der Mensch existiert nur in der Gesellschaft und daher ist er gezwungen, sich an verschiedene Regeln zu halten. So, mit den Regeln in Ubereinstimmung lebend, finden wir das Dasein in seiner Alltäglichkeit. Wenn eine Person sich in ihrer Handlung auf das verlässt, was allgemeingültig geregelt ist, handelt es sich um eine Uneigentlichkeit. Obwohl es scheint, dass es sich bei diesen Begriffen um ein Gegeneinandersetzen handelt, versucht Luckner diese Meinung zu leugnen und zu zeigen, dass die Eigentlichkeit nicht bloß als gute und Uneigentlichkeit als schlechte zu bezeichnen wäre. Dafür spricht die Tatsache, dass man die uneigentliche Seinsweise überhaupt nicht wählen kann, da es eine Nichtexistenz des Wählers beinhaltet. Wenn man den existenzialen Entschluss treffen würde, dann wird diese Entscheidung schon an sich genommen und daher eigentlich. Außerdem ist das Konzept der Eigentlichkeit bei Heidegger nicht ethisch, weil es überhaupt kein ethisches Ideal gibt ,wozu man sich zu entschließen hatte. Man kann eigentlich etwas Gutes, aber genauso auch etwas Böses wählen. „weil wir als Personen angewiesen sind auf die Institutionen, die uns einander koordinieren, besteht die Eigentlichkeit unserer Existenz nicht darin, dass wir aus der 51 Andreas Luckner. Martin Heidegger, „Sein und Zeit“, Schoningh, Paderborn; 2007 S. 153 52 Ebd. S. 154 40 institutionalisierten Welt aussteigen, sondern sie uns auf eine bestimmte Weise, nämlich als unseren Lebensraum aneignen“ Nach diesem Modell handelt es sich bei der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit um eine Person-Institutionen-Beziehung, in welcher die Persönlichkeit sich bildet. Damit die Persönlichkeit sich bildet, soll die Person sich „als in einer Situation stehend begreifen und in der Lage sein, in selbstbestimmter (frei) Weise zu handeln“53 Das zu tun, trifft die Person eine gewisse Wahl, was eine Selbstwahl heißt. Diese Wahl ist ihrer Struktur nach anders als eine Optionalwahl. Bei der Optionalwahl gibt es eine Mehrheit der Gegenstände, zwischen welchen wir eine Entscheidung treffen. Aber wie wir oben gesehen haben, ist die uneigentliche Seinsweise nicht etwas was wir wählen. Daher ist die Wahl der Eigentlichkeit „eine Wahl ohne Alternative.“ Diese Alternativlosigkeit zeigt Luckner an dem Satz „ich kann das nicht tun“. Wenn man eine Gewissensentscheidung trifft, sind mehrere zur Verfügung stehende Möglichkeiten als Möglichkeiten nicht mehr zu betrachten. „Nicht können“ besagt eine besondere Unfähigkeit. Genauer „faktisch(aufgrund der Freiheit, selbst zu sein) nicht anders handeln können“54. was also in dieser Wahl gewählt wird, ist die Wahl selbst. Das Sichzurückholen aus dem Man, dass heisst die existenzielle Modifikation des Manselbst zum eigentlichen Selbstsein muss sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.55 Wenn also die Eigentlichkeit der Übernahme der Wahl an dem eigenen Selbst ist, heißt die Uneigentlichkeit das „Unterlassen der Wahl“. Die „Modifikation“ wiederum besagt, dass es nicht Zwei voreinander absolut getrennte Seinsweisen gibt. In diesem Fall wäre das richtige Wort der „Wechsel“. Luckner versteht die Modifikation als das „Umfunktionieren“ und es besteht „primär in einem gewissen (souveränen) Umgang mit Regeln bzw. Institutionen, das heißt nicht nur in einer Regelbefolgungs-, sondern auch in einer Regelsetzungskompetenz“56 (soll man bemerken, dass mit dem Begriff der „Institutionalität“ ersetzt Luckner das, was bei Heidegger „Verfallen“ heißt) Wie wir schon wissen ist der Katalysator für die Modifikation der Seinsweise der Ruf des Gewissens. So bietet uns Luckner auch seine Interpretation zu diesem Phänomen. 53 54 55 56 Andreas Luckner. Martin Heidegger, „Sein und Zeit“, Schoningh, Paderborn; 2007 S. 157 Ebd. S. 158 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006 S. 268 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; 2007 S. 160 41 „Er (der Gewissensruf) versetzt eine Person in eine Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst und ihrem Leben“57 Wie wir bei Heidegger gesehen haben, hat jeder Ruf einen Rufer und den Gerufenen. In verschiedenen Theorien des Gewissens (sei es psychologisch, soziologisch oder theologisch) ist es nicht hinreichend erklärt, woher die Stimme des Gewissens überhaupt kommt. Um das zu verstehen, sollen wir zum Thema der Institutionalisierung zurückkehren. Die Sozialisation ist ein Prozess, wodurch der Mensch verschiedene gesellschaftliche Normen und Werte internalisiert, also verinnerlicht. Daher ist die Herkunft des Gewissens fragwürdig. Aber für Luckner ist die Institutionalität genau die Antwort dafür. Der Gewissensruf setzt sich gegen die Institutionalität und durchbricht sie. Dass das Gewissen nicht den Regeln der Institutionalität zugeordnet ist zeigt sich auch darin, dass es jederzeit auftauchen kann. Auch „wenn äußerlich alle Bedingungen der Regelkonformität erfüllt sind“58 Das heißt, dass der Ruf von „jenseits aller Institutionaltät“ ausgeht. Genau so sieht es auch bei Heiddeger aus. Wenn das Dasein sein Seinkönnen primär aus der „Besorgten Welt“ erschließt ist der Ruf des Gewissens etwas, was nicht mit etwas Innerweltlichem zu identifizieren. Und was gerufen ist, ist das eigentliche Seinkönnen des Daseins. Da das Gewissen sich der Institutionalität gegenübersetzt, ist es auch unmöglich, das im Ruf des Gewissens Gesagte durch die Argumentation darzustellen. Es zeigt nur der Person eine Seite ihrer Selbst, welche nicht in Institutionen „aufgegangen“ ist. Zusammenfasend lässt sich sagen, dass eine Person dann „eigentlich existiert“, wenn sie institutionell gegebene – nicht etwa nur gegenwärtig sich anbietende, sondern auch und gereade geschichtlich „wiederholbare“ – Handlungsregeln (oder: „Maximen“) in einer „existenziellen Modifikation“ sich so aneignet, dass sie nicht nur ihnen gemäß, sondern gleichsam aus ihnen heraus handelt. Erst dann kann man auch von einer moralischen Persönlichkeit sprechen – was bedeutet, dass eine Person sich selbst Ansprüchen unterstellt, an denen sie gemessen werden will59 Was Heidegger die Übernahme des Daseins an sich selbst nennt, versteht Luckner so, dass die Person keine „Entschuldigungen“ für ihre Handlung sucht, sondern frei zu ihnen steht. Luckners Kritik der Unmöglichkeit der strengen Trennung der eigentlichen und uneigentlichen Seinsweisen des Daseins ist gerecht. Genau diese Trennung haben wir bei den Stoikern gesehen. Da sie ein Ziel für das das Leben gesetzt haben, haben sie eine gewisse Orientierung angenommen, welche als der Indikator für die moralische Handlung gilt. Ziel des 57 Ebd. S. 161 58 Ebd. S. 162 59 Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, berlin; 2007 S. 165 42 Lebens ist es ethisch zu führen und daher können sie die strenge Trennung zwischen ethischer und unethischer Lebensführung vollziehen. Bei Heidegger gibt es kein Ziel des Lebens. Er untersucht nicht wie die Menschen leben „sollen“, sondern wie sie es praktisch „tun“. Man soll sich auch erinnern, dass die stoische Trennung nur ein ideales Modell der Handlung darstellt. In Wirklichkeit ist es fragwürdig, ob der Weise sein Leben immer nach den Regeln des Logos führt oder nicht. Was wir durch die Analyse gesehen haben und feststellen können, ist, dass die von den Stoikern idealisierte Lebensführung eine gewisse Bevorzugung nur einer Seinsweise des Menschen aufweist, die Heidegger Eigentlichkeit nennt. Dadurch bekommen wir besseren Blick einerseits auf die Stoische Ethik und anderseits auf die heideggers Philosophie selbst. Bibliographie 1. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen; 2006 2. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 29/30. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Klostermann, Frankfurt am Main. 1992. 3. Andreas Luckner, Martin Heidegger „Sein und Zeit“, Schöningh, Paderborn 2007 4. Po-shan Leung, Eigentlichkeit als Heideggers Wegmotiv. Edition Gorz, 2007 5. Franz-Karl Blust, Selbstheit und Zeitlichkeit. Heideggers neuer Denkansatz zur Seinsbestimmung des Ich. Königshausen & Neumann, Würzburg 1987 6. Wolfgang Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger. Walter de Gruyter & Co. Berlin 1960 7. Robert Musil, Die Amsel/Bilder. Reclam, Ditzingen, 2008 8. Epiktet; Handbuchlein der Moral; Reclam, Ditzingen; 2006 9. Barth-Goedeckemeyer. Die Stoa. Fr. Frommanns Verlag/ Stutgart; 1941 10. Max Pohlenz; Die Stoa. Geschichte einer geistiger Bewegung; Vandenhoeck & Ruprecht, 1992 43 11. Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikurismus und Skepsis von Malte Hossenfelder. Verlag C.H. Beck, München 1985 12. Martin Heidegger: Sein und Zeit (Klassiker Auslegen). Von Thomas Rentsch. Akademie Verlag, Berlin; 2007 13. Reinhard Brandt; Die Bestimmung des Menschen bei Kant; Felix Meiner Verlag; Hamburg 2007 14. Martin Heidegger. Gesamtausgabe, Ln, Bd. 20, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs: Marburger Vorlesung Sommersemester 1985: BD 20. Klostermann. Frankfurt am Main, 1994 44