Guardini lecture Metaphysik.2

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„Every-Day-Life“ Metaphysik
Edmund Runggaldier
Einleitung
Jeder Mensch hat seine eigene Metaphysik. Es hat zwar nicht jeder eine
kritisch durchdachte oder sonderlich ausgefeilte Metaphysik, jeder hat aber
metaphysischen Überzeugungen, die ihn in der Verarbeitung seiner
Erfahrungen und in seinen Lebensentscheidungen leiten.
Metaphysische Überzeugungen sind Antworten auf erste bzw. letzte Fragen,
Fragen wie: gibt es nur materiell Ausgedehntes oder auch etwas anderes,
etwas Geistiges? Vergeht wirklich alles? Ist es mit dem individuellen
biologischen Tod für mich als menschliche Person ganz aus? Worin besteht
meine personale Identität? Ist sie in meinem Gehirn verankert? In meinem
Herzen? In meiner Seele?
Dass jeder seine eigene Metaphysik hat, besagt nicht, dass er einen
monolithischen Block an unverrückbaren oder dogmatischen Annahmen
hätte. Die Metaphysik eines Menschen bleibt nicht immer gleich – Revisionen
geschehen in unterschiedlicher Häufigkeit und oftmals gehen sie mit
Änderungen im Alltagsleben einher: Oft sind es Änderungen im Privatleben,
ein neues Milieu, ein anderes Land und eine andere Kultur –, die für die
Revision der eigenen Metaphysik ausschlaggebend sind. Auch die Lektüre
von Literatur kann dazu führen, dass bestimmte metaphysische
Überzeugungen ins Wanken geraten, andere wiederum gestärkt werden.
Wenn ich behaupte, dass jeder Mensch seine eigene Metaphysik hat, so will
ich damit nicht behaupteten, dass jeder explizite Antworten auf die großen
Lebensfragen hätte. Auch zurückhaltende Positionen zähle ich zur faktischen
Metaphysik eines Menschen. Sie können im Glauben bestehen, dass derartige
Fragen prinzipiell nicht beantwortbar sind. Es könnte ja sein, dass wir
Menschen mit keinem entsprechenden kognitiven Vermögen ausgestattet
sind, sie zu beantworten.
Sv.D.u.H., Sie werden beanstanden, dass ich den Ausdruck „Metaphysik“
sehr weit fasse, als wäre er extensionsgleich mit „Weltanschauung“. Dass das
problematisch ist, gehe schon allein daraus hervor, dass man von
„Metaphysik“ keinen Plural bilden kann. Es mag zwar sinnvoll sein, von der
Metaphysik des Herrn oder der Dame X zu sprechen, aber nicht von den
„Metaphysiken“ (im Plural) der Philosophen. Man spricht ja auch nicht von
den „Physiken“ der Physiker. Außerdem gehe es nicht um metaphysische
Überzeugungen der Menschen auf der Strasse, sondern um die Metaphysik
der Philosophen, um die Fachmetaphysik.
Zunächst: Wie sich die metaphysischen Fragen dem Menschen ganz
allgemein aufdrängen, so drängen sie sich auch dem Philosophen auf.
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Allerdings: Nicht jeder Philosoph muss sich, insofern er Philosoph ist, mit
metaphysischen Fragen beschäftigen. Viele Bereiche der Philosophie sind von
derlei Fragestellungen nicht tangiert. Wenn es aber um Erkenntnistheorie,
Ontologie, Orientierungswissen und speziell Ethik geht, so wirken sich die
metaphysischen Überzeugungen des jeweiligen Philosophen sehr wohl aus –
und umgekehrt: Die philosophische Arbeit wirkt zurück auf die
metaphysischen Überzeugungen des Philosophen.
Die metaphysischen Thesen, die Philosophen faktisch vertreten, variieren
stark. Die Palette der inhaltlichen metaphysischen Überzeugungen unter
Fachphilosophen dürfte in etwas der Vielfalt der Positionen unter NichtPhilosophen entsprechen.
Wie steht es aber um die Fachmetaphysik?
Einige unter Ihnen werden meinen: Ist die Metaphysik als philosophisches
Fach nicht obsolet? Leben wir nicht in postmetaphysischen Zeiten? Hat nicht
schon Kant nachgewiesen, dass Metaphysik unmöglich sei? Hat schließlich
nicht die Sprachanalyse die Metaphysik endgültig überwunden?
Ich habe vor, auf ein weit verbreitetes Argument für den Glauben an die
Unmöglichkeit von Metaphysik einzugehen und dann auf aktuelle
metaphysische Debatten unter analytischen Philosophen zu verweisen. Diese
neuere, fast explosionsartige Entwicklung in der analytischen Metaphysik
zeigt, dass metaphysische Fragestellungen keineswegs obsolet sind.
Ich möchte sodann zwei verschiedene Typen von Metaphysik bzw.
metaphysischen Überzeugungen umreißen. Der Unterschied zwischen diesen
beiden ergibt sich aus dem Ansatz bzw. Ausgangspunkt sowie den faktischen
Rationalitätskriterien, nach denen man sich in den Argumenten richtet.
Der eine Typ ist naturalistisch geprägt und geht von den Daten der
Naturwissenschaften aus, der andere hingegen vom größeren Kontext der
Alltagswelt, in der wir alle leben, handeln und untereinander interagieren. In
Anlehnung an Lynne Rudder Baker nenne ich diesen zweiten Typ „EveryDay-Life“-Metaphysik. Methodisch wie auch inhaltlich entspricht er großteils
dem aristotelischen Typ von Metaphysik.
Möglichkeit von Metaphysik
Die Überzeugung, Kant habe nachgewiesen, dass Metaphysik unmöglich sei,
ist weit verbreitet. Eine schnelle, nicht sehr überzeugende Reaktion auf diese
Auffassung besteht darin, sie durch eigenes Tun falsifizieren zu wollen. Der
Metaphysiker Peter Van Inwagen meinte im Rahmen einer Tagung, dass die
Behauptung, Metaphysik sei unmöglich, schon allein deshalb falsch sei, weil
er als Metaphysiker Metaphysik betreibe: „I do it“!
Die Überzeugung von der Unkmöglichkeit der Metaphysik hängt letztlich ab
von der Vorstellung, die man von ihr hat. Erwartet man von ihr unerfüllbare
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Aufgaben oder verlangt man von ihr eine Art apodiktische Gewissheit, die sie
gar nicht bieten kann, so wird man sie für unmöglich halten müssen.
Kant scheint jedenfalls von der Metaphysik eine derartige absolute
Gewissheit zu fordern. So lesen wir z.B. in den Prolegomena: „Nur zwei
Dinge muß ich […] verbitten: erstlich, das Spielwerk von Wahrscheinlichkeit
und Mutmaßung, welches der Metaphysik ebenso schlecht ansteht, als der
Geometrie, zweitens die Entscheidung vermittelst der Wünschelrute des so
genannten gesunden Menschenverstandes, die nicht jedermann schlägt,
sondern sich nach persönlichen Eigenschaften richtet. Denn was das erste
anlangt, so kann wohl nichts Ungereimteres gefunden werden, als in einer
Metaphysik, einer Philosophie aus reiner Vernunft, seine Urteile auf
Wahrscheinlichkeit und Mutmaßung gründen zu wollen. Alles, was a priori
erkannt werden soll, wird eben dadurch vor [?] apodiktisch gewiß
ausgegeben, und muß also auch so bewiesen werden.“ (Prolegomena zu einer
jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können,
1783, 195f)
Wer nun überzeugt davon ist, dass Metaphysik in diesem Sinne gänzlich a
priori und folglich apodiktisch gewiss sein muss, wird zur Überzeugung
gelangen, dass Metaphysik unmöglich ist.
Muss aber Metaphysik a priori sein? Und was ist schon apodiktisch gewiss,
d.h. unmöglich falsch?
Eingangs verwies ich auf die faktischen metaphysischen Überzeugungen der
Menschen. Die Gesamtheit der metaphysischen Überzeugungen einer Person
nannte ich die Metaphysik dieser Person. Wie soll solch eine Gesamtheit
gänzlich a priori und apodiktisch gewiss sein können? Selbst wenn man
annähme, die Grenzen zwischen einer empirischen und einer metaphysischen
Überzeugung wären klar erkennbar. Die faktischen metaphysischen
Überzeugungen der Menschen sind jedenfalls alles andere als a priori. Sie
stützen sich auf Traditionen, auf Lebenserfahrungen, Bewährungen in der
Praxis, usw.
Ist ein Mensch von einer metaphysischen Position überzeugt – glaubt er, dass
sie wahr ist –, so impliziert das nicht, dass er auch glaubt, sie könne
unmöglich falsch sein.
Der Grund für die Annahme, dass metaphysische Überzeugungen auch
fehlbar sind, ist letztlich der, dass sie sich großteils auf Sachverhalte beziehen,
die nicht a priori sind. Wir können uns darin täuschen, gerade weil das,
worauf sie sich beziehen, unabhängig von uns und unseren Überzeugungen
ist. Nehmen wir die Überzeugung, dass die personale Identität über den
biologischen Tod hinaus fortdauert. Wenn sie wahr ist, so ist es eine Tatsache,
dass es mit dem biologischen Tod für eine menschliche Person nicht aus ist.
Diese Tatsache ist aber unabhängig davon, ob ich davon überzeugt bin oder
nicht. sie richtet sich jedenfalls nicht nach meiner Überzeugung.
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Wer von einer metaphysischen Annahme überzeugt ist, glaubt, dass sie wahr
ist – aber nicht deshalb, weil sich die Wirklichkeit nach seiner Annahme
richten würde, sondern umgekehrt, weil die Annahme der Wirklichkeit
entspricht. Gewiss, das setzt eine realistische Sicht der Metaphysik voraus.
Der kritische Realismus erinnert aber daran, dass auch die metaphysischen
Überzeugungen gerade deshalb fehlbar sind, weil sich die Wirklichkeit, auf
die sie sich beziehen, nicht nach unseren Überzeugungen richtet.
Wenn man von Metaphysik Apriorizität und apodiktische Gewissheit
verlangt, ist es unmöglich, Metaphysik zu betreiben. Tut man es nicht, so ist
ein grundlegender, weit verbreiteter Einwand gegen die Möglichkeit von
Metaphysik zurückgewiesen.
Metaphysische Überzeugungen können mehr oder weniger gewiss sein, mehr
oder weniger wahrscheinlich. Neuere Religionsphilosophen stufen auch die
Frage nach der Existenz Gottes als Wahrscheinlichkeitsfrage ein. (Richard
Swinburne)
Unsere metaphysischen Überzeugungen als wahrscheinlich einzustufen heißt
nicht, dass sie bloße Vermutungen wären. Kant scheint im besagten Zitat
Wahrscheinlichkeit und Mutmaßung gleichrangig zu sehen. Was eine
Überzeugung wahrscheinlich bzw. wahrscheinlicher als ihr Gegenteil macht,
sind aber Indizien bzw. Gründe. Wenn Überzeugungen sehr gut begründet
sind, so ist es unvernünftig, sie zu bezweifeln, obwohl sie – wie gesehen –
auch falsch sein könnten. Metaphysische Überzeugungen können jedenfalls
so gewiss sein, dass es vernünftig ist, unser Leben darauf zu setzen.
An der Wurzel der radikalen Ablehnung von Metaphysik stehen häufig
Verzerrungen von dem, was Metaphysik sein kann. Wenn heute mancherorts
Metaphysik nicht nur von Philosophen, sondern auch von Theologen
zurückgewiesen wird, so z.T. deshalb, weil man von ihr und ihren Aufgaben
Vorstellungen hat, die vernünftigen und zeitgemäßen Einstellungen
widersprechen und notgedrungen Widerspruch provozieren.
Die weit verbreitete Auffassung, Metaphysik sei heute obsolet, geht aber auch
auf die Ansicht zurück, die Sprachphilosophie und die so genannte
analytische Philosophie habe die Metaphysik „überwunden“, was immer
dieser Ausdruck bedeuten mag.
Metaphysik in der analytischen Philosophie
Trotz der weit verbreiteten Auffassung, dass es im Rahmen der analytischen
Philosophie wegen ihrer positivistischen und empiristischen Wurzeln keine
Metaphysik geben könne, haben gerade analytische Philosophen in den
letzten Jahren viele Theorien entwickelt und Thesen vorgebracht, die sie
selber als metaphysisch charakterisieren. So haben sie zahllose Bücher,
Sammelwerke und Einzelbeiträge zur Metaphysik herausgegeben (siehe z.B.:
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Metaphysics. An Anthology (Ed. J. Kim and E. Sosa). Oxford 1999; The
Oxford Handbook of Metaphysics (Ed. M. Loux and D. W. Zimmerman).
Oxford 2003; Metaphysics: The Big Questions (Ed. P. Van Inwagen and D.
W. Zimmerman). Oxford 1998; Contemporary Readings in the Foundations
of Metaphysics. (Ed. St. Laurence and C. Macdonald). Oxford 1999), Speziell
formal-semantische Arbeiten haben erneut zu metaphysischen Überlegungen
angeregt.
Die Probleme, die man heute im Rahmen der analytischen Philosophie als
metaphysisch einstuft, entsprechen jenen, die man in der Scholastik im
Rahmen der Ontologie oder der klassisch aristotelischen Metaphysik
behandelt hat. Um das festzustellen, genügt eine Gegenüberstellung des
Inhaltsverzeichnisses einer beliebigen, vornehmlich allerdings
englischsprachigen Einführung in die philosophische Logik oder analytischen
Ontologie, und des Inhaltsverzeichnisses eines beliebigen metaphysischen
Traktats der Neuscholastik.
Zentrale Themen, die heute im Rahmen der analytischen Philosophie unter
der Bezeichnung „Metaphysik“ behandelt werden sind: das Problem der
Modalitäten, Aktualität und Möglichkeit (de ente existenti et possibili), die
Individuation, Identität und Wahrheit (de proprietatibus entis) sodann die
Kategorienfrage mit dem Universalienproblem (de substantia et accidente)
und schließlich die Fragen nach der Wirksamkeit und Intentionalität von
Agenten (de causis).
Die Lösungsvorschläge auf die behandelten Fragen und die daraus
resultierenden metaphysischen Thesen sind unterschiedlich. Es gibt
analytische Fachontologen, die die Existenz von Substanzen ablehnen, und
solche, die sie annehmen. Es gibt Ontologen, die an einen objektiven Fluss
der Zeit glauben, und solche, die alle Zeitpunkte als objektiv gleich real
bestimmen. Viele glauben, dass jegliche Kausalität Ereingiskausalität sei,
andere wiederum verteidigen die Annahme, dass es auch Agentenkausalität
gibt.
Die von neuem aufgeflammte metaphysische Debatte über die Frage nach
dem Werden bzw. der Veränderung entstand aus Engpässen im Denken über
die Zeit. Denkt man bestimmte Annahmen, die zunächst ganz
selbstverständlich scheinen, zu Ende, gerät man in Aporien. Aber auch die
klassische aristotelische Metaphysik verdankt ihre Anfänge verschiedenen
Perplexitäten und Aporien wie jenen des Werdens oder der Veränderung.
Diese hatten bereits Platon in mehreren Dialogen beschäftigt: Wie sollen wir
das Werden oder den Fluss der Zeit deuten, ohne in Aporien zu geraten? Die
Annahme von Substanzen (ουσιαι, heute Kontinuanten oder endurers), die
im Laufe ihrer Existenz Eigenschaften annehmen bzw. verlieren, gilt von
alters her als aristotelischer Beitrag zur Lösung der angeschnittenen
Probleme.
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Tiefschneidende Unterschiede unter analytischen Fachontologen gehen aber
auf unterschiedliche Hintergründe ihrer Forschungsarbeit zurück. Die einen
gehen – wie in der Einleitung angedeutet – in ihren metaphysischen
Überlegungen von den Erkenntnissen oder Ergebnissen der
wissenschaftlichen Forschungen aus. Die anderen gehen von der
gemeinsamen Lebenswelt (every day life) aus und wollen auf sie
zurückverwiesen bleiben. Die gemeinsame Alltagswelt, in der wir handeln,
sprechen und auch forschen, ist einerseits reicher als das, was uns die positive
Wissenschaft darüber sagt, andererseits ärmer, weil wir ohne die
Wissenschaft sehr wenig darüber wüssten.
Die Abweichungen unter den zeitgenössischen Metaphysikern betreffen auch
das Metaphysikverständnis selbst, d.h. die Meta-Überlegungen zur Ontologie
und Metaphysik.
„Every-Day-Life“-Metaphysikverständnis
Was ist und was soll der Kontext sein, Metaphysik zu betreiben? Für den
„Every-Day-Life“-Metaphysiker ist es – wie bereits zuvor erwähnt – die
gemeinsame Lebenswelt. Er will zwar die Ergebnisse der positiven
Wissenschaften nicht ausklammern – ganz im Gegenteil! Sie sind aber nicht
die alleinige Ausgangsbasis für metapyhsische Überlegungen.
Es wäre ein Missverständnis, würde man meinen, durch Betonung dieses
Ausgangspunktes der gemeinsamen Lebenswelt würde man die
Grundannahmen, die wir in unserem Alltagsleben über die Wirklichkeit
machen und die uns faktisch in unseren Lebensvollzügen leiten, bildeten die
unrevidierbare Basis unserer metaphysischen Annahmen. Dass sie
Ausgangspunkt sind, impliziert nicht, dass sie nicht revidierbar wären.
Dass man die gemeinsame Lebenswelt als Ausgangs- und Bezugspunkt für
die Metaphysik wählt, besagt nicht, dass man im Sinne der „ordinary
language philosophy“ oder der „common sense philosophy“ den alltäglichen
faktischen Konsens oder das faktische Verständnis zur normativen
Richtschnur des Philosophierens erheben würde. Es heißt auch nicht, dass
man im Sinne des in den letzten Jahren so oft in Anspruch genommenen
„linguistic turns“ nicht die Sache untersuchen würde, sondern sich mit der
Untersuchung der Art, wie man über die Sache spricht, begnügen würde.
Der Ausgangspunkt und die Rückbindung an die Lebenswelt ermöglichen
metaphysische Überzeugungen, die alle Lebensbereiche betreffen. Diese
metaphysischen Überzeugungen ergeben sich aus dem Bemühen zu klären,
welchen Status die verschiedenen Arten von Erfahrung für unser
Orientierungswissen und unsere Lebensgestaltung haben und welche Rolle
den wissenschaftlichen Theorien zukommt – Wie hängen die einzelnen
Lebensbereiche miteinander zusammen? Was ist primär? Was ist
grundlegend?
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Die gemeinsame Lebenswelt war auch in der aristotelischen Tradition erster
Bezugspunkt für die Identifizierung der unterschiedlichen Lebensbereiche in
ihrer Vielfalt und Differenziertheit. Sie war es auch für Gilbert Ryles
Betonung der Vielfalt der „Kategorien“ bzw. für Wittgensteins Sprachspiele.
Der Metaphysiker will es allerdings nicht bei der Feststellung der Vielfalt
bewenden lassen, wie es bei Wittgensteinanhänger gelegentlich der Fall ist,
sondern will – gerade als Metaphysiker – verstehen, wie sie miteinander
zusammenhängen und was die Ontologie ist, auf die diese Vielfalt gründet.
Der „Every-Day-Life“-Metaphysiker erhebt nicht den Anspruch, das Ganze
des Lebens und der Welt gleichsam überblicken zu können, wohl aber dessen
Teilbereiche als Teilbereiche einzuordnen. Er bemüht sich um die
Aufdeckung der Bedingtheit von Sichtweisen und somit um die Erkenntnis
von eingeschränkten Sichtweisen als solchen.
Im Rahmen einer Alltags- oder Lebenswelt-Metaphysik wird grundsätzlich
alles betrachtet, was Gegenstand menschlicher Erfahrung und menschlichen
Verhaltens sein kann, aber nicht auf die Weise einer einzelwissenschaftlichen
Betrachtung. Es geht vielmehr um eine Interpretation des Einzelnen im
Rahmen der Gesamtheit dessen, womit es der Mensch zu tun hat.
Es wäre ein grobes Missverständnis zu meinen, der genannte Typ von
Metaphysik würde mit dem Anspruch einer besonderen Weise der
Erkenntnisgewinnung in Konkurrenz zu einzelnen Erkenntnisweisen treten,
z.B. zu den wissenschaftlichen Betrachtungsweisen.
Der Metaphysiker soll vielmehr wie der Weise sein, der in seiner Weisheit
unberechtigte Verabsolutierungen und Verallgemeinerungen durchschaut. Der
Weise versteht es, das Erlebte und Gewusste richtig einzuordnen.
Dem Wissen, welches wir den Wissenschaften verdanken, kommen
grundlegende Funktionen und Aufgaben für die Bewältigung unseres Alltags
und für die Befriedigung unserer intellektuellen Grundbedürfnisse zu. Der
„Every-Day-Life“-Metaphysiker will aber die wissenschaftlichen
Erkenntnisse wegen der methodischen Einschränkungen und Abstraktionen,
die ihnen zu Grunde liegen, in ihrer Bedingtheit erkennen und so richtig
einordnen. Sein naturalistisch geprägter Kontrahent neigt dagegen dazu,
naturwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse zu verallgemeinern.
Ein Teil der neu entwickelten metaphysischen Entwürfe im Rahmen der
analytischen Philosophie entpuppt sich als Folge von Verallgemeinerungen
wissenschaftlicher Daten – man denke beispielsweise an die typischen
Tropenontologien, die heute weit verbreitet sind. Die ontologische
Fragestellung, was die allgemeinsten Kategorien und die letzten Bestandteile
der Wirklichkeit seien, verleitet nämlich allzu leicht zu meinen, nur die
positiven Wissenschaften könnten uns sagen, was es heißt zu existieren, und
worin die Wirklichkeit letztlich besteht.
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„Every-Day-Life“-Metaphysik ist auch für unser Orientierungswissen von
Relevanz. Ein derartiges Wissen kann und soll uns helfen, unser Leben gut zu
meistern und uns selbst sowie unsere Stellung in der Welt besser zu
verstehen.
Rationalitätskriterien für Metaphysik
Die Unterschiede zwischen den zwei Typen von Metaphysik betreffen auch
die Meta-Ebene, also auch die Auffassungen von der Metaphysik selbst. Der
„Every-Day-Life“-Metaphysiker will auch Maßstäbe oder Kriterien
ausdrücklich machen, um inhaltliche metaphysische Einzelüberzeugungen
sowie weltanschauliche Einstellungen, die uns in unserem Alltag faktisch in
der Lebensorientierung leiten, zu prüfen. Sie nach Kriterien einer
Einzelwissenschaft beurteilen zu wollen, ist jedenfalls nicht stichhaltig. Wenn
sie andererseits gültig sein können, ist auch die weit verbreitete skeptische
Auffassung, man könne sie überhaupt nicht prüfen und darüber könne man
nicht rational argumentieren, fehl am Platze.
Der Alltagsmetaphysiker glaubt jedenfalls, dass es Kriterien gibt, die rational
kritische Auseinandersetzungen auch auf dem Gebiet der Metaphysik
zumindest ansatzweise ermöglichen. Naheliegend ist es, zuallererst die innere
Kohärenz und die Widerspruchsfreiheit zu den grundlegenden Kriterien zu
zählen. Es leuchtet ein, dass metaphysische Ansichten, die in
Weltanschauungen und in einem entsprechenden Orientierungswissen ihren
Ausdruck finden, nur dann als vernünftig gelten können, wenn sie in sich
stimmig und nicht widersprüchlich sind.
Für den „Every-Day-Life“ Metaphysiker ist besonders das Kriterium der
Offenheit für alle Lebensbereiche von Relevanz: Klammert eine
metaphysische Theorie von vornherein bestimmte Lebensbereiche als
irrelevant aus, so kann sie nicht als allumfassend im oben besprochenen Sinn
gelten. Naturalistisch geprägte metaphysische Überzeugungen neigen dazu,
die subjektiven Seiten des Handelns und Lebens zugunsten der objektiven
Betrachtung auszuklammern. Für wissenschaftliche Zwecke ist das
unerlässlich. Muss es aber auch für eine rational vertretbare Deutung der
Gesamtwirklichkeit so sein? Ganz im Gegenteil! Eine vernünftige
metaphysische Position hat auch diese Seiten und die entsprechenden
Probleme des Zugangs der ersten Person und der Indexikalität zu
berücksichtigen.
Einem weiteren Kriterium zufolge muss eine vernünftige, rational vertretbare
Metaphysik offen für Erfahrung und auf Erfahrung rückbezogen sein. Man
muss sich aber dessen bewusst bleiben, dass es vielfältige Arten von
Erfahrung gibt. Für den Alltagsmetaphysiker wäre es ein grobes
Missverständnis, würde man für die Metaphysik nur einen Typ von Erfahrung
gelten lassen, nämlich jenen, auf den die positive Wissenschaft gründet und
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der durch Wiederholbarkeit und intersubjektive Zugänglichkeit
gekennzeichnet ist.
Wissenschaftliche Hypothesen müssen durch Experimente getestet werden.
Als wissenschaftlich gelten Tests allerdings nur dann, wenn sie zumindest
prinzipiell wiederholbar sind und von mehreren Beobachtern als solche
festgestellt werden können. Die dafür erforderlichen Erfahrungsberichte
können sich folglich nur auf einen Teilbereich von Erfahrungen beziehen. Sie
müssen um der Objektivität der getesteten wissenschaftlichen Aussagen
willen jene Erfahrungen ausschließen, die nicht wiederholbar sind.
Die Thesen der „Every-day-Life“ Metaphysik beruhen auf Erfahrungen in
einem umfassenderen Sinn. Sie klammern den Bereich der praktischen
Rationalität und der entsprechenden subjektiven Erfahrungen nicht aus. Dazu
sind Leid, Schmerz, Erfüllung, Freude, Wert einer Person, Familie, aber auch
institutionelle Gegebenheiten zu rechnen. Derartige Erfahrungen sind für
unser Handeln und die Alltagspraxis von zentraler Relevanz. Man subsumiert
sie unter die so genannten „Lebenserfahrungen“.
Für die Zielsetzungen der positiven Wissenschaft müssen stattdessen
methodische Einschränkungen, Ausklammerungen und Idealisierungen
vorgenommen werden. Abstraktion und Idealisierung waren bereits für die
Entwicklung der Prinzipien der Mechanik (Galilei, Descartes) wichtig.
Entsprechendes dürfte aber auch für die Entwicklung der wissenschaftlichen
Medizin gelten. Die Betrachtung des menschlichen Organismus nach der
cartesisch- galiläischen Methode – als ob er eine Maschine sei – ermöglichte
die grundlegenden Erkenntnisse des Blutkreislaufs.
Dass man den menschlichen Organismus wie einen rein physikalischen
Gegenstand betrachten muss, um bestimmte wissenschaftliche Ziele zu
realisieren, impliziert allerdings nicht, dass er eine Maschine ist!
Die für wissenschaftliche Zwecke und für die Vermittlung ihrer kognitiven
Inhalte unerlässlichen Bezüge auf Strukturen und funktionale Verhältnisse
sind nur durch Abstraktion und Beschränkung möglich. Damit soll nicht
gesagt sein, dass durch die Wissenschaft lediglich ganz bestimmte regional
beschränkte Gebiete untersucht werden könnten. Die Einschränkung betrifft
nicht Bereiche, sondern lediglich die Rücksicht oder Perspektive.
Handlungen und Indexikalität
Die Unterschiede zwischen den zwei Typen von Metaphysik wirken sich in
der Erforschung des menschlichen Handelns ganz besonders aus. Wie sollen
wir unsere Alltags-Erfahrung deuten, dass wir handelnd in den Verlauf der
Dinge eingreifen, dass wir verantwortlich für unser gewusst gewolltes Tun
sind? Handlungen werden von Handelnden hervorgebracht und ergeben sich
aus einem komplexen Gefüge von Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten, zu
denen auch die subjektive Perspektivität und Indexikalität gehören:
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Handelnde erfahren sich als Zentrum ihrer Welt, in die sie handelnd
eingreifen. Diese Erfahrungen werden aufgrund der unterschiedlichen Typen
von Metaphysik unterschiedlich eingeordnet und gedeutet.
Handelnde drücken ihre Perspektivität durch so genannte indexikalische
Ausdrücke aus, das sind Ausdrücke wie "ich", "hier", "dort", "jetzt", "gestern"
usw. Durch derartige Ausdrücke verweisen sie auf den subjektiven
Gesichtspunkt des jeweiligen "ego". Dass ich über etwas indexikalisch
spreche, denke und fühle, heißt dass ich in Beziehung zu mir selbst darüber
spreche, denke und fühle. Die indexikalische Rede wird somit nicht nur als
egozentrisch, sondern auch als selbst-bezüglich (self-referential) oder als de
se charakterisiert (Roderick Chisholm).
Das Bedürfnis, die indexikalischen Ausdrücke durch nicht-indexikalische
Ausdrücke zu ersetzen, entspricht dem Bedürfnis, sich im Erkenntnisprozess
der Abhängigkeit von subjektiven Faktoren zu entledigen. Für die
Entwicklung einer wissenschaftlichen oder "idealen" Sprache ist das
unumgänglich. Die Beseitigung bzw. Ersetzung der indexikalischen
Ausdrücke ist relativ zur Zielsetzung der objektiven Erkenntnisgewinnung
sinnvoll, ja sogar gefordert; relativ zur Zielsetzung der Beschreibung und
Erklärung von Handlungen führt sie allerdings zu einem Verlust an
Aussagekraft.
Wie soll man in einer Sprache der objektiven Wissenschaft unsere Erfahrung
zum Ausdruck bringen, dass wir immer nur im Jetzt handeln? Dieser jetzige
Augenblick ist nämlich ständig ein anderer, er fällt mit immer neuen
Zeitpunkten aus der objektiven Zeit zusammen. Welcher Zeitpunkt als Jetzt
von uns erlebt wird, kann daher nicht in der objektiven Sprache, die keine
indexikalischen Ausdrücke kennt, festgehalten werden. Die Zeit ist für uns
und unsere Erlebniswelt wie im Fluss. Der gegenwärtige Augenblick ist von
ganz anderer Relevanz als ein gewesener oder ein zukünftiger. Die einen
Zeitpunkte sind nicht mehr aktuell, und die anderen sind es noch nicht.
Oft wird verlangt, dass man sich in der eigenen Metaphysik entweder für den
ontologischen Vier-Dimensionalismus, der keine Indexikalität zulässt, oder
aber für eine Ontologie mit drei-dimensionalen Entitäten, mit Kontinuanten,
denen indexikalische Einstellungen zukommen, zu entscheiden habe. Es wird
vorausgesetzt, dass man sich entweder für eine positiv wissenschaftliche
Ontologie oder aber gegen sie zu entscheiden habe. Aufgrund des zum Typ
der „Every-Day-Life“-Metaphysik Gesagten dürfte es aber einleuchten, dass
die positive Wissenschaft uns nicht zwingt, den Vier-Dimensionalismus als
allgemeine Ontologie anzunehmen. Dass ich vom indexikalischen zeitlichen
Fluss absehe oder abstrahiere, impliziert nicht, dass es ihn nicht gibt.
Für den Alltagsmetaphysiker ist es zwar verständlich, dass die
wissenschaftliche Arbeit mit dem vier-dimensionalen Raum-Zeit-System die
naturalistische These nahelegt, dass alles vier-dimensional ist. Die
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wissenschaftliche Perspektive als solche ist aber auch mit der Annahme
kompatibel, dass wir als Handelnde in der Zeit weiterexistieren. Der
Wissenschaftler muss aber – um der Objektivität des Inhalts seiner Theorien
willen – alle Art von zeitlicher Indexikalität ausklammern. Wissenschaftliche
Theorien kennen keinen privilegierten „point of view“.
Für wissenschaftliche Zwecke soll man den methodischen VierDimensionalismus – sofern er wissenschaftlichen Zielsetzungen dient – gelten
lassen; für eine zufrieden stellende Deutung der Handlungen und des
Handlenden als Handelnden muss man aber drei-dimensionale Kontinuanten
annehmen. Die Gründe für die Annahme von Kontinuanten sind nicht strikt
wissenschaftlich, sondern resultieren aus unserem Handeln und unserem
gängigen Zeitverständnis mit der für unser Leben wichtigen Dreiteilung in
Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit.
In der Reaktion auf die von neuem erwachte naturalistische Herausforderung,
dass das personale Selbst und die Willensfreiheit Illusion seien, wird sich der
„Every-Day-Life“-Metaphysiker davor hüten, die wissenschaftlichen
Methoden und Ergebnisse in Frage zu stellen; er wird aber auf Fehlschlüsse
hinweisen, wenn aus methodischen Ausklammerungen auf ontologische
geschlossen wird, nach dem Motto: Das, wovon man für die Zwecke der
Objektivität und Intersubjektivität der Wissenschaft absehen muss, könne es
nicht geben.
Die „Every-Day-Life“-Metaphysik fragt nach den letzten Kategorien des
umfassend Wirklichen, versteht sich aber nicht als eine allgemeinere Form
von naturwissenschaftlicher Theorie über die letzten Konstituenten der
physikalischen Wirklichkeit. Sie will auch die Voraussetzungen der
lebensweltlichen Alltagspraxis berücksichtigen. Wer diese umfassendere
Sicht teilt, wird die genannten metaphysischen Positionen zur Indexikalität
und Drei-Dimensionalität nicht von vornherein im Namen der
Wissenschaftlichkeit ablehnen.
Personale Identität
In vier-dimensionalistischen Ontologien kann es keine diachrone Identität und
somit auch keine personale Identität durch die Zeit geben. Wenn nämlich alles
auch zeitlich ausgedehnt ist und somit aus zeitlichen Phasen oder „Teilen“
zusammengesetzt ist, kann sich nichts durch die Zeit als es selbst bewegen.
Wenn aber die oben genannten Voraussetzungen der Alltagspraxis und der
praktischen Rationalität gültig sind, so sind wir mit uns selbst identisch
bleibende drei-dimensionale Kontinuanten. Wenn aber wir als lebendige
Organismen Kontinuanten sind, so sind es auch unsere Organe, ja auch die
letzten zellularen Einheiten, aus denen wir bestehen. Das spricht für den DreiDimensionalismus.
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In drei-dimensionalistischen Kontinuanten-Ontologien gibt es diachrone
Identität. Ein Kontinuant bleibt vom ersten Moment seiner Existenz bis zu
seinem Zerfall mit sich selbst identisch. Empirische Forschungen können
beitragen, besser zu verstehen, worin die diachrone Identität besteht, sie muss
aber nicht erst „konstituiert“ oder konstruiert werden – die diachrone Identität
ist „basic“ oder vorgegeben.
Im Kontext von vier-dimensionalistischen Ontologien hingegen muss die im
Alltag angenommene diachrone Identität von Organismen weginterpretiert
und durch schwächere Relationen wie Kontinuitäts- oder Ähnlichkeitsrelationen ersetzt werden. Dass wir im Laufe unseres Lebens mit uns
selbst identisch bleiben, bedeute letztlich nichts anderes, als dass unsere
zeitlichen Abschnitte oder Phasen in einer Art Kontinuitäts- oder
Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen.
Vier-dimensionalistische Ontologen bemühen sich daher, Kriterien zu
entwickeln, um das, was wir im Alltag personale Identität nennen,
konventionalistisch zu „konstituieren“. Die einen neigen zu organischen
Kriterien, die anderen zu psychologischen oder Erinnerungskriterien. Dreidimensionalistische Ontologen nehmen stattdessen an, dass Kriterien zwar
hilfreich sind, um die Identität festzustellen, dass aber personale Identität
nicht von sprachlichen Festsetzungen oder kulturellen Konventionen
abhängig ist. Drei-Dimensionalisten unterscheiden somit zwischen Kriterien
und Bedingungen personaler Identität.
Instrumente und komplexe Maschinen
Betreibt man „Every-Day-Life“-Metaphysik, so fragt man sich auch nach der
Realität und Identität der Dinge, mit denen wir Tag ein Tag aus interagieren.
Unser soziales Leben ist heute unter anderem durch Interaktionen mit
Maschinen geprägt. Maschinen entlasten uns, indem sie verschiedene
Arbeiten oder Aufgaben für uns erledigen.
Was sind die ontologischen Verpflichtungen, die wir mit der Rede über
Maschinen und unser Interagieren mit ihnen eingehen, wenn wir von
Funktionen oder Aufgaben von Maschinen, von komplexen Artefakten,
sprechen? Ergeben sich ihre Identitäts- und Kontinuitätsbedingungen allein
aus ihren Verwendungszwecken?
Es leuchtet ein, dass ein Hammer nur solange Hammer ist, als er für den
Zweck eines Hammers verwendet wird bzw. verwendet werden kann –
solange es also Menschen gibt, die wissen, wofür Hämmer konstruiert
wurden, und es verstehen, mit ihnen umzugehen. So gesehen sind Hämmer
ontologisch, also auch in ihren Identitätsbedingungen, von uns abhängig.
Die Frage nach dem ontologischen Statuts von Maschinen ist aber komplexer
als jene nach Instrumenten wie Hämmern, Briefbeschwerern oder von
Gebrauchsgegenständen wie Wanderstöcken, Vasen, Schuhen, Mützen. Der
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ausschlaggebende Grund für die Differenz besteht – in der Alltagssprache
ausgedrückt – darin, dass die einen von sich aus nichts tun können, die
anderen hingegen aufgrund ihrer aktiven Dispositionen oder powers sehr viel
bewirken, erledigen können.
Die einen sind in ihrer Funktion passiv, die anderen auch aktiv. Motoren
setzen Pumpen, Autos, Flugzeuge in Bewegung; Bagger reißen Strassen auf
und heben Gruben aus; Automaten produzieren Socken und Pullover;
Computer lösen komplexe Probleme. Viele Aufgaben erfüllen Maschinen viel
besser als die Menschen.
Es ist plausibel, dass einfache Instrumente ontologisch von ihrem Zweck, also
von einem Bewusstsein von Menschen, die sie gebrauchen, abhängig sind.
Bei Maschinen dürfte die These der Bewusstseinsabhängigkeit aber so nicht
haltbar sein. Maschinen können nämlich, sofern sie funktionsfähig sind,
unabhängig von Menschen – wie wir gesehen haben – sehr vieles tun. Sie
brauchen zwar in der Regel eine Bedienung; Maschinen funktionieren und
arbeiten aber unabhängig von Menschen.
Die Identitäts- und Kontinuitäts- oder Persistenzbedingungen von Maschinen
sind komplexer als jene einfacher Instrumente. Was für die Identitäts- und
Kontinuitätsbedingungen von Maschinen von Relevanz ist, ergibt sich nicht
primär aus dem Nutzen, sondern aus dem, was sie können, unabhängig davon,
ob jemand das in Anspruch nimmt oder nicht, unabhängig davon, ob sie ihre
Kapazitäten actualiter realisieren oder nicht. Besonders problematisch ist die
These, dass Artefakte identisch mit dem sind, woraus sie bestehen, mit einer
Menge von simples (siehe Peter v.Inwagen). Man muss nicht Aristoteliker
sein, um zwischen der Frage zu unterschieden, was oder welcher Art eine
Maschine ist, und dem, woraus sie besteht.
Lynne Rudder Baker entfaltet in aller Breite die These, dass die klassischen
Argumente, die für die ontologische Kategorie der Substanz vorgebracht
wurden und noch werden, an sich auch auf Maschinen zutreffen, dass sie
somit nicht ausreichen, um zwischen eigentlichen Substanzen und ontologisch
minderwertigen Artefakten zu unterscheiden. Auch Maschinen haben
beispielsweise ein internes Aktivitätsprinzip (Wiggins, Aristoteles), und ihre
Identität und Persistenz ist - wie gesehen - unabhängig von intentionalen
Einstellungen.
Dass es wesentliche Unterschiede zwischen Lebewesen und modernen
komplexen Maschinen gibt, wird wohl niemand bestreiten. Aus dem folgt
aber nicht, dass komplexen Maschinen schon allein deshalb ein besonderer
ontologischer Status abgesprochen werden müsste. Baker argumentiert dafür,
dass ein ontologisches Inventar der Wirklichkeit auch jene Fs enthalten
müsse, unter die die komplexe Artefakte, also Maschinen, fallen. Sie vertritt
mit guten Gründen die Ansicht, dass die klassischen Kriterien für
Substantialität auch auf komplexe Artefakte zutreffen.
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Die bisherigen Überlegungen setzen voraus, dass es – ontologisch betrachtet –
aktive Dispositionen, powers oder potentialities, tatsächlich gibt und dass die
teleologische Rede von Funktionen nicht auf die Beschreibung und Erklärung
von Handlungen limitiert werden muss.
Diese Voraussetzungen sind zwar nach wie vor umstritten, werden aber heute
thematisiert.
Teleologie und Dispositionen
Können und sollen Aussagen über natürliche Gegebenheiten in Hinblick auf
Ziele und Zwecke gedeutet werden? Der naturalistisch eingestellte Denker
neigt dazu, die teleologische Rede auf den praktischen Bereich menschlicher
Handlungen zu beschränken. Vermeintlich teleologische Erklärungen von
Naturgegebenheiten hätten – wenn überhaupt – lediglich eine heuristische
Rolle.
Der „Every-Day-Life“-Metaphysiker fragt sich aber, ob teleologische
Beschreibungen und Erklärungen nicht auch ontologisch verpflichten. Er will
jedenfalls die Alltagsrede von Funktionen als Dispositionen ernst nehmen:
Nieren haben beispielsweise die Funktion, das Blut zu reinigen, das Herz hat
die Funktion, Blut zu pumpen. Nieren und Herzen tun zwar viele andere
Dinge, das sind aber nicht ihre eigentlichen Funktionen. Man versteht erst
dann, warum ein Organ da ist, wenn man seine eigentliche Funktion (proper
function) erfasst hat. Wie soll man aber eine proper function von einem
zufälligen kausalen Beitrag unterscheiden können, wenn man nicht auf Ziele
oder Zwecke Bezug nehmen könnte?
Schreibt der Metaphysiker Organismen und Maschinen zielgerichtetes
Verhalten zu, so bedeutet dies nicht, dass er ihnen Intentionen zuschreiben
würde. Um den Heliotropismus von Pflanzen teleologisch zu beschreiben,
müssen wir den Pflanzen keine mentalen Haltungen zuweisen.
Funktionsaussagen über natürliche können informative Aussagen über den gesollten Beitrag von Eigenschaften, Teilen oder Prozessen zum Erreichen eines
Zieles sein.
Im Kontext lebensweltlicher metaphysischer Betrachtungen drängt sich
schließlich die Frage nach der Realität von Dispositionen auf. Unsere
Lebenspraxis ist nämlich von der Kenntnis der Dispositionen von Materialien,
chemischen Substanzen, Tieren, menschlichen Personen und heute auch von
Maschinen abhängig. Köche müssen wissen, wie ihre Ingredienzien
schmecken, Ärzte müssen wissen, welche Nebenwirkungen Medikamente
haben. Ein Dobermann ist bereits aufgrund seiner Art gefährlich. Um uns gut
orientieren und um unsere Zukunft planen zu können, richten wir uns aber
vornehmlich nach den Dispositionen von menschlichen Personen. Kennt man
jemanden gut, weiß man, was ihre oder seine Dispositionen sind, d.h. man
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weiß um die Haltungen, Neigungen, Charakterzüge, Einstellungen, welche
das Verhalten bestimmen.
Dispositionen werden in der Regel so genannten kategorischen Eigenschaften
gegenübergestellt. Dispositionen sind im Unterschied zu diesen auf
Manifestationen bezogen. Das Zerbrechen des Glases ist die Manifestation
seiner Zerbrechlichkeit, die Explosion der Bombe die Manifestation ihrer
Gefährlichkeit, Peters Widerspruch die Manifestation seines Mutes, usw.
Die Nicht-Dispositionen werden kategorisch genannt, insofern sie nicht von
Manifestationsbedingungen abhängig sind.
In welcher Beziehung stehen diese zwei Arten von Eigenschaften, die
dispositionalen einerseits und die kategorischen andererseits, zueinander?
Sind sie völlig getrennt, oder gibt es ein gewisses Ausmaß an Interaktion
zwischen beiden? Welche Eigenschaften sind die eigentlichen Ursachen für
jene Ereignisse, die normalerweise als die Manifestationen von Dispositionen
gelten?
Dualisten neigen zur Annahme, die dispositionalen Eigenschaften
unterscheiden sich fundamental ihrer Art nach von den kategorischen.
Monisten hingegen führen die eine Kategorie auf die andere zurück: Letztlich
gibt es nur eine grundlegende Kategorie von Eigenschaften.
Die monistische Reduktion kann eine zweifache sein, je nachdem ob
Dispositionen auf kategorische Eigenschaften oder kategorische
Eigenschaften auf Dispositionen zurückgeführt werden. Für den
kategorischen Monismus sind alle Eigenschaften kategorische Eigenschaften
– dispositionale Eigenschaften gibt es nicht – und für den dispositionalen
Monismus sind alle Eigenschaften dispositionale Eigenschaften –
kategorische Eigenschaften gibt es nicht.
Die Debatte verläuft parallel zu jener zwischen Dualismus und Monismus in
der philosophy of mind. So tauchen für dualistische Positionen die typischen
Interaktions- oder Überdeterminationsprobleme auf. Sollte z.B. die Welt
kausal geschlossen sein und alle Erklärungen durch kategorische
Zuschreibungen erfolgen, würde die Annahme, Dispositionen kämen kausale
Rollen zu, zu kausaler Überdetermination führen.
Versteht man Metaphysik als „Every-Day-Life“-Metaphysik oder klassisch
aristotelisch als umfassende erste Philosophie, so wird man die Frage nach der
Realität der Dispositionen nicht auf eine rein physikalistische Fragestellung
einengen, sondern von der Lebenswelt ausgehen und auf sie zurückverwiesen
bleiben. Lebensweltlich gesehen, scheinen Dispositionen reale Eigenschaften
zu sein, die Materialien, Lebewesen und auch Maschinen zukommen. Einige
kommen ihren Trägern lediglich temporär, andere immer zu. Einige
Dispositionen rechnen wir zu den wesentlichen Eigenschaften der Dinge. In
dieser unserer Lebenswelt ist, wie wir gesehen haben, die Kenntnis von
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Dispositionen für unser Handeln von größter Bedeutung. Unser Wissen um
Dispositionen bestimmt unser Interagieren mit der Umwelt.
Der dispositionale Aspekt unserer lebensweltlichen Rede und Praxis wird der
Tatsache gerecht, dass sich die Welt verändert. Eine rein strukturell bzw.
allein anhand von kategorischen Eigenschaften beschriebene und erklärte
Welt würde keine Veränderung kennen. Um Ereignisse, Prozesse und
Bewegungen beschreiben und erklären zu können, müssen wir uns auf das
beziehen, was Lebewesen tun und Dinge bewirken können: Durch
dispositionale Ausdrücke geben wir an, wie sie sich in verschiedenen
Umständen verhalten, an welchen Prozessen sie beteiligt sein können, und
wie sie von anderen Objekten und Substanzen beeinflusst werden.
Schluss
Metaphysik ist keineswegs obsolet. In den letzten Jahren hat es eine geradezu
explosionsartige Wiederbelebung metaphysischer Forschungsarbeit gegeben.
Der Großteil der neueren metaphysischen Theorien im Rahmen der
analytischen Philosophie ist naturalistisch geprägt. Es gibt aber auch den
„Every-Day-Life“ Typ von Metaphysik, der von der gemeinsamen
Lebenswelt ausgeht, in der wir untereinander und mit Maschinen interagieren.
Er fragt nach den ontologischen Verpflichtungen unserer Alltags-Rede und
berücksichtigt auch die Erfahrungen der Vergänglichkeit, des Zeitflusses und
der personalen Identität.
Wir haben eingangs gesehen, dass jeder Mensch metaphysische
Überzeugungen hat, die aber in der Regel nicht sehr ausgefeilt und kritisch
durchdacht sind. Der Fach-Metaphysiker vertritt demgegenüber
differenziertere, wenn auch sehr unterschiedliche Thesen. Er entwickelt
zudem eine Art Meta-Metaphysik. Der „Every-Day-Life“ Metaphysiker
betont dabei die Kriterien, der Offenheit für alle Lebensbereiche sowie für die
nicht repetierbare „Lebenserfahrung“.
Ich schließe mit Baker: „…the every day world – that part of reality that
includes us, our language, and the things we interact with – is no less
ontologically significant than the microphysical parts of reality.“ (The
Metaphysics of Everyday Life, Cambridge University Press 2007, 20)
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