Körper und Geist im Wechselspiel. Psychiatrische und internistische

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Psychiatrische und internistische Erkrankungen
Maladies psychiatriques et internistes
Körper und Geist im Wechselspiel
Le corps et l’esprit en interaction
Michaela Harzke, Solothurn; Martin Hatzinger, Solothurn / Basel
―― Die Anzahl der psychiatrischen Störungen bei internistischen Erkran­
kungen beläuft sich auf bis zu 35% [1]. Internistische Erkrankungen
­können mit psychiatrischen Erkrankungen in Wechselwirkung treten.
Des Weiteren können sich beide gegenseitig bedingen.
―― Sowohl die Demenz als auch das Delir haben teils internistische
Ur­sachen. Umgekehrt gehen systemische Immunerkrankungen sowie
­Störungen des Glukosestoffwechsels, der Schilddrüsenfunktion oder
­Nebenschilddrüsenerkrankungen in gewissen Fällen mit psychopatho­
logischen Phänomenen einher.
―― Für das gehäufte Auftreten somatischer Erkrankungen bei Patienten mit
schweren psychischen Leiden wie der Depression spielt die ungünstige
Lebensführung eine entscheidende Rolle.
―― Hinsichtlich einer erhöhten Morbidität und Mortalität von Patienten ­
mit psychiatrischen Erkrankungen werden zudem biologische Verände­
rungen (z.B. Stresshormonaktivierung) als mögliche Ursachen diskutiert.
―― Le nombre de troubles psychiatriques dans les pathologies internistes
peut s’élever jusqu’à 35% [1]. Les pathologies internistes peuvent
­interagir avec les troubles psychiatriques. De plus les deux peuvent être
liées réciproquement.
―― Aussi bien la démence que le délire ont parfois des causes internistes.
À l’inverse, les maladies immunitaires systémiques ainsi que les troubles
du métabolisme du glucose, de la fonction thyroïdienne ou les maladies
des surrénales s’accompagnent dans certains cas de phénomènes
­psychopathologiques.
―― Les mauvaises habitudes de vie jouent un rôle important dans la survenue accrue des maladies somatiques chez les patients atteints de pathologies psychiques graves telles que la dépression.
―― En ce qui concerne la morbidité et la mortalité élevées des patients
­atteints de maladies psychiatriques, les modifications biologiques
(p. ex. l’activation des hormones de stress) seront également discutées
en tant que causes possibles.
Credits auf
■■ Die am häufigsten zu internistischen ­Problemen
führenden psychiatrischen Erkrankungen sind Abhängigkeits-/Suchterkrankungen von psychotropen Substanzen [2]. Als weitere Beispiele sind stuporöse
Zustände und selbstschädigendes Verhalten zu erwähnen. So tritt ein durch Thiaminmangel bedingtes Wernicke-Korsakow-Syndrom nicht nur bei Alkohol­
abhängigkeit auf, sondern auch bei Malnutrition,
verursacht durch ein Magenkarzinom oder protrahiertes Erbrechen. Posthypoxische Zustände und rezidivierende schwere Hypoglykämien können ursächlich
für amnestische Syndrome sein. Besonders problematisch ist die artifizielle Störung mit den typischen diagnostischen Unklarheiten, die aus den Verhaltensweisen der betroffenen Patienten resultieren [3].
Es gilt als gesichert, dass das Risiko für eine ischä­
mische Herzkrankheit durch eine Depression erhöht
wird und psychische Erkrankungen den Verlauf inter­
nis­ti­scher Krankheiten negativ beeinflussen können
[4]. Andererseits gibt es Hinweise, dass Angsterkrankungen protektive Effekte auf internistische Erkrankungen haben. Patienten mit einer Angststörung
haben – wahrscheinlich bedingt durch ein geringeres Risikoverhalten, eine bewusstere Lebensführung
und eine grössere Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Veränderungen – eine signifikant höhere
Lebenserwartung als Menschen ohne Angststörung.
Demenz
Es ist davon auszugehen, dass etwa 2% der Demenz­
erkrankungen eine internistische Ursache zu­grunde
liegt (Tab. 1), durch deren gezielte Behandlung eine
Besserung der kognitiven Leistung erreicht wird. Mit
einem Anteil von 55–70% ist die Alz­hei­mer’sche
Erkrankung die häufigste Demenzform. Vaskuläre
Prozesse und Mischformen gelten als die zweithäufigste Ursache. Ihnen liegen arteriosklerotisch-degenerative Pro­zesse der intra- bzw. extrakraniellen Hirngefässe zugrunde. Daneben sind kardioembolische
Ereignisse, entzündli­che Angioopathien und Koagulopathien zu nennen [5]. Neue Studienergebnisse verweisen auf ein erhöhtes Demenzrisiko bei gemeinsamem
Auftreten von Diabetes und Depression gegenüber
einer der Erkrankungen alleine [6].
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Eine nahezu unübersichtliche Vielfalt internistischer
Erkrankungen kann ein Delir verursachen. Tabelle 2
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HAUSARZT PRAXIS 2016; Vol. 11, Nr. 10
Insbesondere bei immunologischen Systemerkrank­
ungen lässt sich eine Bandbreite psychopathologischer
Syndrome beobachten. Es zeigen sich paranoid-halluzinatorische Syndrome, affektive Störungen (insbesondere depressive Syndrome), kognitive Defizitsyndrome (bis zur Demenz), sonstige Störungen wie
organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
sowie organische Angst­störungen. Die gleichen psychopathologischen Syndrome können in unspezifischer Weise mit anderen Krankheitsgruppen, wie z.B.
den Endokrinopathien, assoziiert sein, so dass aus dem
Vorliegen eines bestimmten Zustandsbilds kein zuverlässiger Rückschluss auf den ätiopathogenetischen
Prozess gezogen werden kann (Tab. 3) [7].
Störungen des Glukosestoffwechsels
Akute Hypoglykämien können ein vielgestaltiges psychopathologisches Erscheinungsbild haben, bei dem
Bewusstseinstrübung, psychomotorische Erregung
und Angst die psychischen Leitsymptome darstellen.
Chronisch rezidivierende schwere Hypoglykämien
und starke Schwankungen des Blutzuckers können bis
zu einer Demenz führen.
Gleichermassen wie eine ungünstige Lebensführung werden biologische Veränderungen als mögliche Ursachen für eine erhöhte Morbidität und
Mortalität diskutiert [8]. Die Lebensqualität ist bei
komorbiden Patienten mit Depression und Diabetes
signifikant vermindert gegenüber nicht-depressiven
Patienten mit Diabetes [9]. Depression ist mit Stress
und einer Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-(HHN)-Achse mit Hyperkortisolismus verbunden, der die Akkumulation des viszeralen Fettgewebes fördern und die Insulinresistenz bis
hin zum klinisch manifesten Typ-2-Diabetes steigern
kann [10 –12]. Komorbid erkrankte Patienten sollten antidepressiv behandelt werden, wobei auf das
Kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen
–– Arteriosklerotische und degenerative Angiopathien
–– Arteriitiden (z.B. bei systemischem Lupus erythematodes, Riesenzellarteriitis)
–– Schwere Herzerkrankungen (Herzinsuffizienz, Vitien, Arrhythmien)
–– Rezidivierende Hirnembolien
–– Chronisch respiratorische Insuffizienz
–– Schlafapnoesyndrom
Erregerbedingte Erkrankungen
–– HIV-Infektion/Aids
–– Borreliose
–– Morbus Bang
–– Morbus Whipple
–– Malaria
Metabolische und endokrine Erkrankungen
–– Endokrinopathien (z.B. Hypothyreose, Hyper-/Hypoparathyreoidismus,
Hypoglykämie)
–– Vitamin B12- und andere Vitaminmangelzustände
–– Urämische Enzephalopathie, Dialysedemenz, Hyponatriämie
–– Leberinsuffizienz
–– Stoffwechselerkrankungen (z.B. Fett-Porphyrin-Stoffwechsel)
–– Malabsorptionssyndrome
Diverse Erkrankungen
–– Hämatologische Erkrankungen (Polycythaemia vera, Paraproteinämien,
Gerinnungsstörungen)
–– Sarkoidose
–– Paraneoplastische limbische Enzephalitis
nach [18]
Systemische Immunerkrankungen
Tab. 1: Internistische Erkrankungen als Ursache demenzieller Syndrome
Tab. 2: Prädisponierende und auslösende Faktoren eines Delirs
Prädisponierende Faktoren
Auslösende Faktoren
–– Alter >70 Jahre
–– Medikamente
–– Männliches Geschlecht
–– Akute lebensbedrohliche
Erkrankung
–– Demenz, kognitive Beeinträchtigung
–– Depression
–– Seh-, Hörminderung
–– Beeinträchtigung der
Aktivitäten des täglichen Lebens
–– Immobilität, Fraktur, funktionale
Abhängigkeit
–– Mangelernährung, Dehydratation
–– Multimorbidität
–– Infektionen (Harnwege, Pneumonie)
–– Elektrolytstörungen, Stoffwechsel­
entgleisungen
–– Minderdurchblutung und pulmo­
nale Insuffizienz (Hypoxämie,
Schock, Anämie, chronisch obstruktive ­Lungenerkrankung, Herz­
insuffizienz)
–– Schlaganfall in der Anamnese
–– Zerebrale Erkrankungen (Blutung,
Infektion, Ischämie, Tumor)
–– Soziale Isolation
–– Schmerzen
–– Nichterkennen von Delirium,
Fokus Akutmedizin
–– Jede Art von Eingriffen, Blasen­
katheter, Operationen, A
­ nästhesie,
Anwendung freiheitsentziehender
Massnahmen, hohe Anzahl von
Prozeduren, Intensiv­behandlung,
verlängerter Aufenthalt auf der
Notfallstation (>12 Std.)
–– Mangel oder Überfluss an
sensorischen Stimuli
–– Psychischer Stress
nach [19,20]
gibt einen Überblick zu möglichen prädisponierenden
und auslösenden Faktoren. Dabei kann das Delir als
Schwellenphänomen gesehen werden, das bei gleichzeitigem Vorliegen einer internistischen Grunderkrankung umso wahrscheinlicher zum Vorschein tritt, ­je
relevanter eine zerebrale Schädigung vorbesteht. Bei
einer zerebralen Vorschädigung können vergleichsweise leichte internistische Probleme – wie z.B. ein
Harnwegsinfekt – zur Manifestation des Delirs führen.
Als wichtigste internistische Ursachen deliranter
Syndrome gelten:
–– Infektionen (z.B. Pneumonie, Harnwegsinfekt)
–– Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts
(z.B. Exsikkose)
–– Endokrinologische Störungen (z.B. Funktions­stö­
run­gen von Schilddrüse und Nebenschilddrüse, Vitaminmangelzustände, Störungen der Nieren- und
Leberfunktion, Hypoglykämie)
–– Kardiopulmonale Erkrankungen (z.B. Lungenembo­
lie, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz)
–– Ausgeprägte Anämie
–– Internistisch eingesetzte Pharmaka (z.B. anticholinerg wirkende Substanzen, Antibiotika, Kortikosteroide, Zytostatika).
–– Schlafmangel
–– Harn- und Stuhlverhalt
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Tab. 3: Häufigkeit körperlich begründbarer psychischer Störungen
bei immunologischen Systemerkrankungen
nach [21]
Krankheitsbild
Assoziierte psychische Symptome
Systemischer Lupus erythematodes
++
Sjögren-Syndrom
++
Progressive systemische Sklerose
–
Mischkollagenose
–
Isolierte Angiitis des ZNS
(–)
Takayasu-Arteriitis
(–)
Arteriitis temporalis
(–)
Churg-Strauss-Syndrom
(–)
Wegener-Granulomatose
(–)
Panarteriitis nodosa
(–)
Mikroskopische Polyangiitis
(–)
Antiphospholipidsyndrom
+
Sneddon-Syndrom
++
Morbus Behcet
+
++ = häufig; + = weniger häufig; (–) = selten; – = nur in Einzelfällen
Nebenwirkungsprofil der Antidepressiva zu achten ist
(Blut­zuckerbeeinflussung, Gewichtszunahme, kardiotoxische Nebenwirkungen).
lich zerebraler Infarkte [14]. Bereits bei leichtgradiger
Depressivität eines Patienten mit Diabetes vervielfacht sich das Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung. Da auch das Vorliegen einer Depression alleine
das Risiko für einen späteren Schlaganfall um ca. das
1,5-Fache erhöht, besteht zwischen den beiden Erkrankungen Depression und Diabetes wahrscheinlich eine
bidirektionale Beziehung [4]. Zusammen mit der im
Rahmen des metabolischen Syndroms auftretenden
arteriellen Hypertonie und Dyslipoprotein­ämie ist von
einer deutlichen Steigerung des kardiovaskulären und
Mortalitätsrisikos auszugehen.
Bei der Pathophysiologie der Depression spielen
unter anderem Veränderungen im Serotoninhaushalt
eine Rolle. In mehreren Studien mit unbehandelten
depressiven Patienten konnte eine Veränderung der
Thrombozytenfunktion gezeigt werden, die zu einer
vermehrten Thrombozytenaggregation führte [15].
Ausserdem wurde gezeigt, dass die Depression mit
einer höheren Dichte an Serotonin-5HT2A-Rezeptoren auf den Thrombozyten assoziiert ist. Der Einfluss
der erhöhten Dichte ist unklar. Dass schwere kardiologische Ereignisse bei der Gabe von Sertralin seltener
vorkommen als bei Patienten unter Placebo, konnte
bislang nicht eindeutig gezeigt werden. Eine Verminderung der Thrombozyten-Endothel-Aktivierungsfaktoren wird vermutet, wodurch Sertralin einen Vorteil
hinsichtlich Morbidität und Mortalität mit sich bringen könnte [16]. Mehrere kontrollierte Studien deuten
darauf hin, dass die langfristige Einnahme von Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) sowohl im klinischen als auch im präklinischen Setting nach ein bis
zwei Wochen zu einer sukzessiven Down-Regulation
der HHN-Achsenaktivität bzw. der Hormonausschüttung von Kortisol und CRH führt [17].
Schilddrüsenfunktionsstörungen
Die psychopathologischen Phänomene einer Schilddrüsenfunktionsstörung sind vielgestaltig. Nicht selten werden Patienten mit einer Erkrankung der
Schilddrüse erstmals in einer psychiatrischen Umgebung diagnostiziert (ca. 1–2% in akutpsychiatrischen
Kollektiven). Typische psychopathologische ­Folgen
einer Hyperthyreose sind Affekt­labilität, depressive
Verstimmungszustände, psychomotorische Unruhe,
Insomnie und Angst. Bei manifester Hypo­thyreose stehen ebenfalls oft affektive Symp­tome im Vordergrund.
Meist handelt es sich dabei um gehemmt-depressive
Symptome, Müdigkeit und An­triebsarmut. Es werden
auch agitiert-depressive Zu­­stände beobachtet [7].
Nebenschilddrüsenerkrankungen
Die psychiatrischen Phänomene bei Hyper- und Hypoparathyreoidismus weisen grundsätzlich keine Unterschiede auf. Es dominieren depressive, aber auch kognitive Symptome in Form von Vergesslichkeit bis hin
zu demenziellen oder auch deliranten Zuständen.
Pathogenetisch scheint weniger das Parathormon
selbst als die davon abhängige Serumkalziumkonzentration verantwortlich zu sein.
Depression und kardiovaskuläre Erkrankungen
Depression ist ein deutlicher Prädiktor für mikround makrovaskuläre Erkrankungen [13], einschliess-
16
Dr. med. Michaela Harzke
Psychiatrische Dienste Solothurn
Weissensteinstrasse 102
4503 Solothurn
[email protected]
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© Ron Haviv / VII
ErstE HilfE
für MEnscHEn Mit
lEtztEr Hoffnung
www.msf.ch
18
Pc 12-100-2
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