- „Kinder psychisch kranker Eltern“ Vortrag auf Tagung der Psychiatrischen Institutsambulanzen in Kloster Seeon 21.6.2016 Dipl.-Psych./-Päd. Andreas Schrappe, Psycholog. Psychotherapeut, Supervisor, Leiter des Evangelischen Beratungszentrums Würzburg, Mail: [email protected] www.ebz-wuerzburg.de Evangelisches Beratungszentrum Würzburg Das EBZ Wü hat folgende Arbeitsbereiche: - Erziehungs- und Familienberatung - Trennungs- und Scheidungsberatung - Ehe- und Lebensberatung - Eingliederungshilfe, Förderhilfe - Sozialpädagogische Familienhilfe - Schwangerschaftsberatung Aktuelle Projekte Gegenwärtig ergänzen folgende Projekte das übliche Aufgabenspektrum: - Entwicklungspsychologische Beratung - Gerichtsnahe Beratung am Familiengericht - Hilfe für hochbegabte Problemkinder - Therapie bei Legasthenie und Dyskalkulie - Hilfe für Kinder psychisch erkrankter Eltern Gerade an der Grenze zu anderen Berufsgruppen und Versorgungsbereichen (Schule, Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Familiengericht) geschieht Neues – dies gilt auch für den Bereich Kinder psychisch kranker Eltern, wo Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie zusammentreffen. Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Unterstrichen sind diejenigen psychischen Störungen, die im Hinblick auf das Thema von besonderem Interesse sind: - Organische Störungen - Psychotrope Substanzen - Schizophrene und wahnhafte Störungen - Affektive Störungen (Depression, bipolare Stör.) © Andreas Schrappe, Würzburg Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Verhaltensauffälligkeiten mit körperl. Störungen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (v. a. vom Borderline-Typ) Intelligenzminderung Entwicklungsstörungen Störungen mit Beginn in Kindheit/Jugend SCHIZOPHRENE STÖRUNGEN Erkrankungsrisiko der Kinder Die Tabelle gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Kind mit einem oder zwei schizophren erkrankten Elternteil später im Leben eine gleichartige (also ebenfalls schizophrene) Störung entwickelt: Risikogruppe Gesamtbevölkerung Wenn ein Elternteil an einer schizophrenen Psychose erkrankt ist Wenn beide Eltern erkrankt Risiko Kind 0,7 – 1 % 12 % 40 % Lifetime-Prävalenz nach Propping, 1989, nach Mattejat 2005 Für die Aufklärung von Kindern und Eltern bedeutet dies, dass zwar ein – genetisch zu verstehendes – Selbsterkrankungsrisiko besteht, dass aber die meisten Kinder mit einem schizophren erkrankten Elternteil diese Störung später nicht entwickeln. Unspezifische Störungen Allerdings kommt es bei etwa der Hälfte der Kinder zum Auftreten von sog. unspezifischen Störungen: - Störung von Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung - Beeinträchtigung schulischer Leistungen - Auffälligkeiten im emotionalen Bereich: ängstlich, erregbar, stressempfindlich, depressiv - Störungen des Sozialverhaltens Nach Remschmidt & Mattejat, 1994 Kinder schizophrener Eltern Eine elterliche schizophrene Erkrankung irritiert das Kind bei zentralen kindliche Entwicklungsaufgaben: Umgang mit Ängsten, Aufbau von Weltverständnis, Einordnung von Sinneswahrnehmungen, Aufbau einer tragfähigen psychischen Struktur und einer positiven Beziehung zu anderen Menschen. Eltern mit einer schizophrenen Psychose scheinen die Qualität der Erziehung und ihrer Beziehung zum Kind eher zu überschätzen. PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 1 Anthony (1986) unterscheidet zwei Formen, wie ein Kind in die elterliche Erkrankung einbezogen werden kann: - Involving psychosis: Eltern verwickeln das Kind in das wahnhafte Erleben - Abandonment: Kind wird verlassen, weil der psychotische Elternteil in sich versunken Eine Gefährdung des Kindeswohls kann daher sowohl in der Überstimulation des Kindes bzw. in der Verkennung seiner Bedürfnisse bestehen, als auch in der Vernachlässigung des Kindes. Im Hinblick auf Misshandlung ist eine psychische M. viel wahrscheinlicher als eine körperliche M. Eine Kindeswohlgefährdung muss im Auge behalten werden vor allem … - bei Ersterkrankung mit floriden Symptomen - bei unbehandelten Verläufen Risiko für Affektive Psychose Risikogruppe Gesamtbevölkerung Ein Elternteil mit unipolarer affektiver Psychose (nur Depression) Ein Elternteil mit bipolarer affektiver Psychose (manisch-depressiv) Beide Eltern affektive Psychose Risiko Kind 5 – 10 % 8 – 15 % 9 – 21 % 56 % Lifetime-Prävalenz nach Propping, 1989, nach Mattejat, 2005 Unspezifische Störungen - Erhöhte Wahrscheinlichkeit für DSM-IIIDiagnosen gegenüber Kontrollgruppe - Emotionale Dysregulation: Ängste, Aggressivität, niedriges Selbstwertgefühl - Aufmerksamkeitsstörungen - Entwicklungsverzögerungen Nach Remschmidt & Mattejat, 1994 DEPRESSIONEN Kinder depressiver Eltern Eine elterliche Depression läuft den kindlichen Bedürfnissen nach Kontakt und Resonanz, nach elterlicher Initiative und Anregung, nach emotionaler Orientierung und nach Grenzen zuwider. Kinder haben Mühe, das ganze Gefühlsspektrum und ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Die Suizidalität des Elternteils löst existentielle Ängste aus. BORDERLINEPERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG BIPOLARE STÖRUNG: MANIE Persönlichkeitsstörungen sind im Grunde Interaktionsstörungen. Interaktion jedoch ist das Wichtigste zwischen Kind und Elternteil. Die BPS ist ein durchgängiges Muster von Instabilität im Bereich der Stimmung, der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Selbstbildes. Mind. 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: - Muster instabiler, intensiver Beziehungen, zwischen Überidealisierung und Abwertung - Impulsives, selbstschädigendes Verhalten - Instabilität im affektiven Bereich - Starke Wut, mangelnde Impulskontrolle - Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten - Identitätsstörung, etwa im Selbstbild, sex. Orientierung, Lebens- und Berufsziele … - Chronisches Gefühl der Leere, Langeweile - Nicht allein sein wollen/können Die Situation der Kinder bei elterlicher Manie - Einbeziehung des Kindes in die manische (psychotische) Verkennung - Missachtung der kindlichen Bedürfnisse nach Maß, Orientierung, Schutz - Belastung der Kinder durch die verzweifelte, gereizte oder aggressive Tönung der Manie - Traumatische Erlebnisse durch die Manie und die Umstände der Klinikeinweisung - Gefühle der Scham gegenüber der sozialen Umgebung (Gleichaltrige, Nachbarn, …) aufgrund der maniebedingten Eskalationen des Elternteils Kinder von Eltern mit Borderlinestörung - Mütter mit Borderlinepersönlichkeitsstörung (eigene Misshandlungserfahrung, Impulskontrollstörung …) stehen in Gefahr, ihre Kinder (auch) körperlich zu misshandeln - Gefährdung durch Unberechenbarkeit des elterlichen Verhaltens >> Ausbildung des desorganisierten Bindungstyps - Defizite in der Erziehung durch mangelnde Kontinuität in Beziehung und Regeln - Beeinträchtigung durch Begleitphänomene der Borderline-Persönlichkeitsstörung - Gefahr durch körperliche / emotionale Vernachlässigung und seelische Misshandlung Risiko von Unterstimulation – direkt und durch mangelnden sozialen Austausch Das Risiko körperlicher Misshandlung gilt eher als gering Fälle des erweiterten Suizids sind selten, kommen aber vor >> Abklären der Suizidalität © Andreas Schrappe, Würzburg PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 2 EXKURS: ELTERL. TRAUMATISIERUNG Folgen auf Seiten der Eltern - Hyperreagibilität: Dysbalance der Stressverarbeitung, hohes Stressniveau (Hyperarousal), Alarmbereitschaft - Überemotionalität: verstärktes Angsterleben, Misstrauen, Schuldgefühle, Hilflosigkeit usw. - Annäherungs- / Vermeidungskonflikt kann leicht hervorgerufen werden durch Triggerreize - Risiko unkontrollierter Überlebensreaktionen: Kampf, Flucht, Erstarrung - Eingeschränkte Fähigkeit zur Reflexion (Mentalisierung): es fehlen Selbstdistanzierung, „innerer Beobachter“, Einfühlung, Urteilsvermögen - Mutter (Vater) reagieren auf kindl. Niveau Folgen für Eltern-Kind-Beziehung - Funktion der „sicheren Basis“ ist erschüttert, Intuition und Liebesfähigkeit sind beeinträchtigt - Aufhebung der Generationsgrenzen: Kind wird als „kleiner Erwachsener“ missverstanden: Geschwisterneid, Kampf gegen das „böse Kind“ … - Parentifizierung. Wenig Führung u. Versorgung. - Erziehungsverhalten ist nicht kontingent. „Führen“ und „Folgen“ der Mutter eher zufällig - Soziales Umfeld wird bedrohlich erlebt, Mobbing - Gefühle des Kindes werden als eigene G. erlebt. Das „Spiegeln“ kindlicher Gefühle unterbleibt oft - Funktionalisierung des Kindes zur Stabilisierung des eigenen Ichs, zur Affektregulation - Gefahr der seelischen Misshandlung (s. u.) Bindungs- / Explorationsverhalten des Kindes - Annäherung des Kindes: kann bei Mutter Angst auslösen Kind wird weggestoßen - Explorationsverhalten: kann bei Mutter als Abgelehntwerden missverstanden werden Im - Ergebnis ist beim Kind wahrscheinlich: desorganisierter Bindungstypus kumulierendes Stresserleben (bei Kind und Mu.) Hypervigilanz des Bindungssystems Verschiedenartige Störungen der emotionalen Steuerung, der kognitiven Verarbeitung usw., sowie beeinträchtigte Beziehungsmuster MISSBRAUCH UND ABHÄNGIGKEIT - Alkohol, Drogen, Medikamente, nicht-stoffgebundene süchtige Verhaltensweisen Bandbreite von risikoarmem Konsumverhalten und Suchterkrankung © Andreas Schrappe, Würzburg Folgen der Sucht für die Kinder - 2,6 Mio. Kinder und Jugendlicher < 18 Jahre mit einem Elternteil mit Alkoholstörung - Plus 5-6 Mio. erwachsene betroffene Kinder - Mehr als 30 % der Kinder aus suchtbelasteten Familien werden selbst suchtkrank - 6-fach erhöhtes Risiko, später selbst Alkohol zu missbrauchen oder abhängig zu werden. Ursachen der Transmission: Es interagieren … - Genetische bzw. biologische Faktoren (v. a. bei Jungen genetisch bedingte Veränderung hinsichtlich Alkoholverträglichkeit) - Persönlichkeitsmerkmale des Kindes - Umwelteinflüsse - Prozesse des Modellernens Folgen für Familie und Kinder - Sucht als Dreh- und Angelpunkt in der Familie - Tabuisierung der Suchtproblematik (anfangs) - Unklare Grenzen. Parentifizierung. Fehlen der Elternfunktion, geringe Erziehungsleistung - Familiäre Gewalt, Willkür und emotion. Kälte KINDER- UND JUGENDHILFEGESETZ „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ – § 1 (1) SGB VIII „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ – § 1 (2) SGB VIII „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere: … Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“ Hilfen zur Erziehung im SGB VIII „Eltern haben Anspruch auf HzE, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.“ (§ 27) - Erziehungsberatung (§ 28) - Soziale Gruppenarbeit (§ 29) - Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (§ 30) - Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31) - Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32) - Vollzeitpflege (Pflegefamilie) (§ 33) - Heimerziehung, betreute Wohnform (§ 34) - Intensive sozialpäd. Einzelbetreuung (§ 35) - Eingliederungshilfe bei (drohender) seelischer Behinderung des Kindes (§ 35a) PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 3 Hilfen zur Erziehung – wie? Hilfen zur Erziehung sind durch die Sorgeberechtigten (Eltern) zu beantragen. Über die Gewährung entscheidet das Jugendamt. Ausnahme: Erziehungsberatung wird direkt aufgesucht (kein Antrag beim Jugendamt erforderlich). Jugendhilfeleistungen können nicht ärztlich oder gerichtlich angeordnet werden. DIE „VERGESSENEN ANGEHÖRIGEN“ Aufmerksam auf Kinder psychisch kranker Eltern wurde die Fachöffentlichkeit erst ab Mitte der 1990er Jahre: - Wenig Beachtung in der erwachsenenpsychiatrischen Versorgung - Kaum präventive Konzepte in der Jugendhilfe – spätes, dann massives Eingreifen - Fremdheit zwischen Psychiatrie u. Jugendhilfe Zugänge zur Hochrisikogruppe Aus folgenden Bereichen kamen Impulse, die Kinder vermehrt in den Blick zu nehmen: - Studien über genetische bzw. biologische Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankung - High-Risk-Forschung - Studien aus Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe über diese Risikogruppe - Erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern Kinder in KJP und Jugendhilfe Rund ein Drittel bis die Hälfte der Kinder in kinderund jugendpsychiatrischer Behandlung haben einen psychisch kranken Elternteil, rund 12 % einen psychotischen Elternteil. In der Jugendhilfe finden sich betroffene Kinder besonders in Hilfeformen wie SPFH, Heimerziehung, Pflegefamilien usw. Erwachsene Kinder Tagung „Kinder sind auch Angehörige“ (1996) Mattejat & Lisofsky „… nicht von schlechten Eltern“ (1998, veränderte Neuauflage 2008) www.netz-und-boden.de (Katja Beeck, Berlin) Was und wie groß ist die Zielgruppe Ca. 25 % der stationär aufgenommenen psychiatrischen Patient(inn)en haben minderjährige Kinder. Diagnosen: schizophrene oder schizoaffektive Psychosen, uni- oder bipolare affektive Störungen, auch massive Ängste, Persönlichkeitsstörungen (Suchterkrankungen). Lenz (2005), Schmidt (2007), Fegert (2007) © Andreas Schrappe, Würzburg EINFLUSSFAKTOREN BEI KINDERN Wie stark ein einzelnes Kind nun belastet ist durch die psychische Erkrankung eines Elternteils, hängt von einer Vielzahl von Faktoren: - Alter des Kindes bei Erkrankung - Ausmaß der genetischen Belastung - Art u. Schweregrad der elterlichen Erkrankung - Geschlecht des Elternteils: Vater oder Mutter - Krankheitseinsicht und Behandlungsverlauf - Trennungserfahrung, Hospitalisierung - Kompensation durch den gesunden Elternteil - Alleinerziehend oder vollständige Familie - Unterstützung durch das Netzwerk - Resilienzfaktoren und Ressourcen des Kindes - Einbezug des Kindes in die Erkrankung - Aufklärung des Kindes Dem gegenüber stehen individuelle und interaktionelle protektive Faktoren: Individuelle protektive Faktoren - Kontaktfreudiges, aktives Temperament - Durchschnittliche Intelligenz - Kommunikationsfähigkeit - Leistungsorientierung - Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme - Überwiegend positives Selbstwertgefühl Kühnel & Bilke (2004), nach Wiegand-Grefe (2007) Außerdem: - Weibliches Geschlecht - Erstgeborenes Kind - Sicheres Bindungsverhalten - Positives Sozialverhalten - Aktives Bewältigungsverhalten - Internale Kontrollüberzeugungen nach: Laucht et al (2000), Schmidt & Göpel (2003), Egle & Hoffmann (1999) Interaktionelle protekt. Faktoren - Hohe Aufmerksamkeit seitens der Umwelt - Keine längeren Trennungen oder schweren elterlichen Konflikte - Keine Geschwistergeburten bis LA 2 - Hohe Aufklärung über elterliche Erkrankung Kühnel & Bilke (2004), nach Wiegand-Grefe (2007) Außerdem: - Positive Schulerfahrung - Positive Freundschaftserfahrungen - Dauerhafte Beziehung zu Bezugsperson - Offenes, unterstützendes Familienklima - Soziale Unterstützung und Förderung (außerfamiliär: Schule, Kirche, Peer) nach: Laucht et al (2000), Schmidt & Göpel (2003), Egle & Hoffmann (1999) PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 4 ZUSAMMENFASSUNG: BELASTUNGEN Die Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten, mit denen sich die betroffenen Kinder auseinander setzen müssen, liegen in folgenden fünf Bereichen: Elterliche Erziehungskompetenz - Geringe Ressourcen: materiell, psychisch, … - Unsichere Bindung - Mangel an Beziehungskontinuität - Eingeschränkte Modell- und Vorbildfunktion - Ungenügendes Setzen von Grenzen Emotionale Reaktionen der Kinder - Angst vor/um Elternteil, vor Selbsterkrankung - Wut oder Rückzug wegen Bedürfnisfrustration - Gefühle von Schuld und Verantwortlichkeit - Wechsel von Scham und Aversion - Ambivalente Gefühle. Tabuisierung Familiäre Situation - Bezugspersonen fehlen. Alleingelassen sein - Mangel an Aufklärung und emot. Unterstützung - Verantwortungsübernahme (Parentifizierung) - Überwachung der elterlichen Befindlichkeit - Verlust der eigenen Kindheit Soziale Situation - Sozialer Rückzug. Mangel an Beziehungen - Abschottung der Familie nach außen - Kaum Inanspruchnahme sozialer Ressourcen - Behinderung der Ablösung - Teilhabe an der gesellschaftlichen Stigmatisierung psychisch Kranker Netzwerk: informell, professionell - Fehlen frühzeitiger spezifischer Hilfen - Mangel an Information über Erkrankung - Mangelnder Einbezug durch Fachkräfte der (Sozial-) Psychiatrie - Vorbehalte der Kinder gegenüber der psychiatrischen Versorgung Und die Eltern? Die Ängste und Schwierigkeiten der Eltern ähneln denen der Kinder: - Belastung durch Erkrankung (und Behandlung) - Zwischen Krankheitseinsicht und -verleugnung - Angst, die Erkrankung an Kinder weiterzugeben - Ambivalente Gefühle gegenüber dem Kind - Selbstvorwürfe wegen Erziehungsdefiziten - Selbstunterschätzung oder -überschätzung - Abhängigkeit vom Kind (Rollenumkehr) - Zuwenig Kraft für Erziehung (mangelnde Grenzsetzung, wachsende Konflikte) © Andreas Schrappe, Würzburg - Angst, „die Kinder zu verlieren“ - Erfahrung sozialer Isolation - Kaum Inanspruchnahme von Erziehungshilfe Aber auch: Wunsch und Bemühen, „gute Eltern“ zu sein Kinder und Elternschaft als Quelle von Lebenssinn Einstellungen erkrankter Eltern - Über 80 % der Eltern fühlen sich durch Elternschaft deutlich belastet (Parental Stress Scale) - Ebenso viele sehen Belastungen bei den Kindern infolge der stationären Behandlung (unabhängig von Diagnose und Geschlecht der Eltern) - 40 % der Eltern sind mit Betreuungssituation der Kinder unzufrieden Holen sich die Eltern Unterstützung in der Jugendhilfe oder in der Kinder/Jugendpsychiatrie? Kaum! - 51 % meiden aktiv Kontakt mit dem Jugendamt. Zumeist negative Erfahrungen mit Jugendamt. - Präventive Angebote der Jugendhilfe werden häufig nicht angenommen. - Trotz psychischer Auffälligkeiten von Kindern (SDQ) werden kaum kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungen nachgesucht. Analyse der Ursachen: - Ängste der Eltern vor den negativen Folgen der Inanspruchnahme von Hilfe - Gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter und ihrer Familien „Fremdheit“ zwischen (Sozial-) Psychiatrie und Jugendhilfe - Spannung zwischen „Patientenwohl“ und „Kindeswohl“ Kölch & Schmid postulieren folgenden Teufelskreis (innen) zwischen psychischer Krise der Eltern und Auffälligkeiten der Kinder. Außen sind die Hilfen aufgeführt, die einen Ausweg weisen könnten. Kölch & Schmid (2008): Stichtagsuntersuchung in vier psychiatr. Kliniken. 83 Pat. mit Kindern < 18 Jahren. PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 5 6 Komplementäre Strukturen von (Sozial-) Psychiatrie und Jugendhilfe Der Erwachsene im Blick Psychiatrie, Wohnheim, psychiatrische Familienpflege, Übergangseinrichtung Tagesklinik, Tagesstätte Betreutes Wohnen, Assistenz beim Wohnen Sozialpsychiatrischer Dienst Gesundheitsamt Vormundschaftsgericht, Betreuung Ambulante Psychiatrie und Ps.therapie Selbsthilfeansätze Kooperationen Jugendhilfe - Psychiatrie In D haben sich für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen (und ihren Eltern) einerseits, und von Erwachsenen andererseits komplementäre Angebote herausgebildet, z. T. mit gleichen Namen. Die meisten erfolgreichen Projekte für Kinder und ihre psychisch erkrankten Eltern resultieren aus der Verknüpfung zwischen Angeboten / Einrichtungen beider Seiten, z. B.: - Familiensprechstunde (Würzburg) oder Kindersprechstunde (Augsburg) als Angebot einer Jugendhilfefachkraft in einer psychiatrischen Klinik - Zusammenarbeit zwischen Sozialpsychiatrischer Dienst und Erziehungs-/Familienberatungsstelle - Kombination von Ambulant Betreutem Wohnen (Eingliederungshilfeleistung) und Sozialpädagogischer Familienhilfe (Jugendhilfeleistung) - Fallkonferenzen zwischen Psychiatrie und Jugendamt (evtl. Familiengericht) zum Vorgehen - Stationäre Mutter-Kind-Einrichtung für psychisch erkrankte Frauen und ihre Kinder - Kooperation von psychiatrischer Institutsambulanz und Erziehungs-/Familienberatung oder Sozialpädagogischer Familienhilfe - usw. Fremdheit Jugendhilfe-Psychiatrie Die Kooperation scheitern oft an: - Wenig Fachkräfte-Transfer - Geringe Kenntnisse vom anderen Arbeitsfeld - Andere Finanzierung und Organisationsform - Kaum etablierte Kooperationsstrukturen - Institutionelle Sozialisation © Andreas Schrappe, Würzburg Die Kinder im Blick Heimerziehung, Pflegefamilie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kurzzeitpflege Tagesstätte, Tagesklinik Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistand, Familienpflege Erziehungs- und Familienberatung Jugendamt Familiengericht, Vormundschaft Ambulante KJP und Psychotherapie Selbsthilfeansätze Unterschiedliche Blickrichtungen auf Familie Erwachsener vs. Kind Unsicherheit der Fachkräfte über Entwicklung der Familie, der Krankheit Konfliktstellung Kindeswohl – Elternwohl Recht des Kindes auf Entwicklung und Erziehung – Recht des Erwachs. auf selbstbestimmtes Leben Elternwohl vs. Kindeswohl Ambivalenz zwischen zwei Standpunkten: - Die Perspektive des Familienmitglieds, das unter der Krankheit und unter der gesellschaftlichen Stigmatisierung leidet. - Die Perspektive des Kindes, das unter der Vernachlässigung der basalen Bedürfnisse leidet. Weder „negative Stigmatisierung“ noch „positive Stigmatisierung“ „Interinstitutionelle Kooperation“ (Lenz) Merkmale einer Kooperation, die zwischen Institutionen und nicht bloß zwischen Einzel- oder gar Privatpersonen läuft, sind: - Beteiligte Personen benötigen einen Auftrag von ihrer Organisation. Der Rückfluss der Informationen muss gesichert sein. - Alle Beteiligten brauchen ein Wissen um das Eigene, und ein Interesse fürs Andere. - Klare Benennung des Kooperationszwecks. - Verabredung von Kooperationsabläufen. - Es braucht eine Kooperation „auf Augenhöhe“ (Berücksichtigung und Bearbeitung der Statusunterschiede). PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 6 7 FACHBERATUNGSANGEBOT GZSZ (1) Einzel- und Familienberatung Aufklärung von Kindern und Eltern Tabuisierung und Stigmatisierung überwinden Das Kindeswohl im Blick Eltern in ihrer Elternaufgabe unterstützen Kontakt zu einer verlässlichen Bezugsperson Erste-Hilfe-Plan (Notfallplan) aufstellen (2) GZSZ-Gruppen, Selbsthilfe Gruppen in den Altersstufen 7 - 9 und 10 - 12 Jahre, für Jugendliche, für erwachsene Kinder Aufklärung durch Kinderbücher und Filme Erlebnisse und Gefühle einordnen lernen Solidarität erfahren, Selbstbehauptung üben (3) Sprechstunde, Angebote außerhalb Familiensprechstunde in der Uni-Nervenklinik - Wöchentliche Präsenz (Di. 14-18 Uhr) - Information – Beratung – Unterstützung – Vermittlung für Eltern in stationärer Behandlung, Angehörige und Kinder Angebote in anderen Einrichtungen Teilnahme an Beratung und Hilfeplanung Fallbezogene Kooperation (4) Öffentlichkeit, Multiplikatoren Der Unkenntnis und Ausgrenzung begegnen - Zeitung, Radio, Lesungen der Kinderfachbücher - Vorträge in Erwachsenen- und Familienbildung Bezugspersonen informieren Workshops mit Lehrkräften, ErzieherInnen Aufklärungs- und Infomaterialien Website www.verbund-gzsz.de (5) Qualifizierung Fortbildung für Fachkräfte aus Jugendhilfe, (Sozial) Psychiatrie und anderen Bereichen - Einrichtungsinterne Fortbildungen - Berufsgruppenübergreifende Tagungen (6) Vernetzung, Etablierung Interinstitutionelle Kooperation aufbauen Netzwerk der Hilfen (Kooperationsverbund) Initiativen zur Weiterentwicklung des Angebots INFOS / LITERATUR http://www.bag-kipe.de http://www.seelennot-ev.de http://www.kipsy.net Hipp, M. & Kleinz, P. (2014). Mütter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Auswir© Andreas Schrappe, Würzburg kungen auf die Mutter-Kind-Bindung und unterstützende Angebote Früher Hilfen. Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 7, S. 316-319. Homeier, S. (2005). Sonnige Traurigtage. Ein Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern. Frankfurt, Mabuse. Homeier, S. & Schrappe, A. (2008). Flaschenpost nach irgendwo. Ein Kinderfachbuch für Kinder suchtkranker Eltern. Frankfurt, Mabuse. Kölch, M. & Schmid, M. (2008). Elterliche Belastung und Einstellungen zur Jugendhilfe bei psychisch kranken Eltern: Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Hilfen. Prax. Kinderpsych. Kinderpsychiat. 57, S. 774-788. Lenz, A. (2005). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2008). Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern. Grundlagen, Diagnostik und therapeutische Maßnahmen. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2010): Ressourcen fördern. Materialien für die Arbeit mit Kindern und ihren psychisch kranken Eltern (incl. CD-Rom). Göttingen, Hogrefe. Mattejat, F. & Lisofsky, B. (Hrsg.) (2008). Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker. Bonn, Balance-Verlag. Scheuerer-Englisch, H. (2015). Bindungstheorie als Grundlage für die Arbeit mit Kindern, Eltern und Familien in der Familienbildung und Erziehungsberatung. Erziehungsberatung aktuell. Veröffentlichungen der Landesarbeitsgemeinschaft Erziehungsberatung Bayern, 1, S. 16-31. Schrappe, A. (2011). Die Leistungen der Jugendhilfe für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. In S. Wiegand-Grefe, F. Mattejat & A. Lenz (Hrsg.), Kinder mit psychisch kranken Eltern – Klinik und Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 96-121. Schrappe, A. (2013). Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 62, S. 30-46. Schrappe, A. (2014), Die vergessenen kleinen Angehörigen - Kinder psychisch erkrankter Eltern. Neurotransmitter, 25 (2), S. 22-28. Wagenblass, S. (2011). Kinder psychisch kranker Eltern. Ein Überblick über Forschungsstand und bedarf. In BAG der Kinderschutz-Zentren e.V. (Hrsg.), Kindheit mit psychisch belasteten und süchtigen Eltern. Kinderschutz durch interdisziplinäre Kooperation (S. 7-22). Köln. Wiegand-Grefe, S., Mattejat, F. & Lenz, A. (2011) (Hrsg.). Kinder mit psychisch kranken Eltern. Klinik und Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kontakt: [email protected] PIA-Tagung 2016 „Kinder psychisch kranker Eltern“ Seite 7