Studienmaterial für das Modul: Spezifische Bedarfe 2: psychische Erkrankungen Gesundheitliche und pflegerische Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen aus multidisziplinärer Perspektive Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16OH21035 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor/bei der Autorin. Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ...........................................................................................................2 Autorenprofil.................................................................................................................5 Einführung ................................................................................................................ 6 Kapitel 1 - Intelligenzminderung und Herausforderungen, Chancen und Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung ....................................9 Lernziele........................................................................................................................................9 Basistext ........................................................................................................................................9 Die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung .......................................... 9 Die ICF-Klassifikation ....................................................................................................................... 11 Problematik der Leistungsregelung durch die Sozialgesetzbücher ............................. 11 Die gesundheitliche Versorgungslandschaft .......................................................................... 12 Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Anamnese ...................................................................................... 13 Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Diagnostik ..................................................................................... 13 Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Therapie ......................................................................................... 16 Chancen und Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung ......................................................................................... 17 Zusammenfassung .............................................................................................................................. 18 Schlüsselwörter....................................................................................................................... 19 Aufgaben zur Lernkontrolle ............................................................................................... 19 Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit ....................................................................... 19 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen ........................................... 20 Kapitel 2 - Wichtige Syndrome und Besonderheiten bei Menschen mit Intelligenzminderung ................................................................................................. 21 Lernziele..................................................................................................................................... 21 Basistext ..................................................................................................................................... 21 2 Einführung - Syndrome bei Menschen mit Intelligenzminderung..................... 21 Down-Syndrom.................................................................................................................................... 25 Fetales-Alkohol-Syndrom ................................................................................................... 29 Fragiles-X-Syndrom ............................................................................................................... 32 Zusammenfassung ................................................................................................................. 35 Schlüsselwörter....................................................................................................................... 36 Aufgaben zur Lernkontrolle ............................................................................................... 36 Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit ....................................................................... 36 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen ........................................... 37 Kapitel 3 - Psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung ................................................................................................. 38 Lernziele..................................................................................................................................... 38 Basistext........................................................................................................................... 38 Einführung - Psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung ........................................................................................................... 38 Schizophrenie bei Menschen mit einer Intelligenzminderung............................ 41 Depressionen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung............................. 46 Angststörungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung ........................ 51 Phobische Störungen: ........................................................................................................... 52 Andere Angststörungen:...................................................................................................... 52 Autismus-Spektrum-Störungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung ........................................................................................................... 56 Zusammenfassung ................................................................................................................. 59 Schlüsselwörter....................................................................................................................... 61 Aufgaben zur Lernkontrolle ............................................................................................... 61 Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit ....................................................................... 61 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen ........................................... 62 Kapitel 4 - Herausforderung Alter und psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung .................................................................... 64 Lernziele..................................................................................................................................... 64 Basistext........................................................................................................................... 64 3 Einführung - Alter und psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung ........................................................................................................... 64 Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung .................................................... 68 Differentialdiagnostik der Demenz in Abgrenzung zur Depression und zum Delir.............................................................................................................................................. 72 Zusammenfassung ................................................................................................................. 73 Schlüsselwörter....................................................................................................................... 74 Aufgaben zur Lernkontrolle ............................................................................................... 74 Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit ....................................................................... 74 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen ........................................... 75 Literaturverzeichnis ............................................................................................76 Glossar .............................................................................................................................. 81 4 Autorenprofil Dr. med. Michael-Mark Theil Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Chefarzt Integrierter Gesundheitsdienst Neuerkerode Dr. med. Michael-Mark Theil ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Studium der Medizin und seine Promotion absolvierte er 2006 an der Medizinischen Hochschule Hannover. Zu den anschließenden beruflichen Stationen gehörten das Universitätsklinikum Tübingen, das Städtische Klinikum Braunschweig und der Sozialpsychiatrische Dienst Braunschweig. Seit 2013 ist er als Chefarzt des Integrierten Gesundheitsdienstes Neuerkerode der Lukas-Werk Gesundheitsdienste GmbH tätig. Der Integrierte Gesundheitsdienst Neuerkerode stellt die medizinische und therapeutische Versorgung von rund 860 Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung in Neuerkerode sicher. Zum Gesundheitsdienst gehört auch eine Institutsambulanz in Braunschweig, die Patienten anderer Einrichtungen, außerhalb der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, versorgt. Dr. med. Michael-Mark Theil ist regelmäßig als Gastdozent an der Fachschule für Heilerziehungspflege in Neuerkerode und an der Schule für Gesundheits- und Pflegeberufe des Städtischen Klinikums Braunschweig tätig. Ferner gehören Gastvorträge, unter anderem auch an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, zu seiner Tätigkeit als Dozent. Dr. med. Michael-Mark Theil verfügt über eine Mentorenqualifizierung in der Online-Lernumgebung am Center für lebenslanges Lernen (C3L). 5 Einführung Das Modul „Spezifische Bedarfe 2: psychische Erkrankungen“ betrachtet die besonderen Bedarfe von Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung aus gesundheitlicher Perspektive. Der Schwerpunkt liegt hier auf psychischen Erkrankungen. Diese spielen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung bzw. mit einer Intelligenzminderung eine wichtige Rolle. Sie treten je nach Quelle und den zugrundeliegenden Beurteilungskriterien häufig überdurchschnittlich auf. Folgt man den gängigen Annahmen besteht bei Menschen mit einer Intelligenzminderung ein ca. 3-4 mal höheres Erkrankungsrisiko psychischer Komorbiditäten1 im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (Hölscher & Schneider, 2012, S. 434). Gemäß der WHO2 Definition der ICD-103 wird in der Medizin der Begriff Intelligenzminderung anstatt des Begriffes geistige Behinderung bevorzugt. Da sich ihre Definition überwiegend deckt, können die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung zwar weitestgehend übereinstimmend verstanden werden (Seidel, 2014, S. 6), die Diskussion über Vorteile oder Nachteile einzelner Aspekte der jeweiligen Begriffe wird zum Teil jedoch kontrovers geführt (Fletcher, Loschen, Stavrakaki, & First, 2007, S. 6). Die Abgrenzung tritt insbesondere dann rasch in den Vordergrund, wenn sich die Fragen nach Zuständigkeiten oder der Finanzierung von Versorgungsleistungen bei den betroffenen Menschen stellen. Die Auslegung der jeweiligen Sozialgesetzbücher fällt dabei zum Teil unterschiedlich aus. Einzelne Aspekte dieser Diskussion werden im ersten Kapitel des Studienskripts vorgestellt und können somit an dieser Stelle ausgeklammert werden. Da sich dieses Studienskript der gesundheitlichen Versorgung der Patientengruppe widmet, wird im Folgenden, aus Gründen der Vereinfachung, der Begriff Intelligenzminderung genutzt. Er ist dabei synonym zum Begriff geistige Behinderung zu verstehen. 1 Als Komorbiditäten bezeichnet man zusätzlich zur Grunderkrankung oder zur Behinderung vorliegende, diagnostisch abgrenzbare Krankheiten oder Störungsbilder 2 WHO: World Health Organization bzw. in der deutschen Übersetzung: Weltgesundheitsorganisation 3 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme,10. Revision 6 Psychische Erkrankungen sind bei Menschen mit einer Intelligenzminderung nicht nur überdurchschnittlich häufig, sie können sich auf die Lebenswelt der betroffenen Menschen erheblich auswirken. Dabei kann das Verhalten der Betroffenen insbesondere auch im Hinblick auf die gesundheitliche und pflegerische Versorgung herausfordernd sein. Die bisherigen medizinischen Angebote der Regelversorgung sind selten ausreichend; spezifische und flächendeckende Angebote befinden sich vorerst im Aufbau (Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung, 2015). Das Bearbeiten dieses Studienmaterials bietet Ihnen daher eine Grundlage zum Verständnis häufiger psychischer Erkrankungen bei Menschen mit 4 Intelligenzminderung. Kenntnisse von Syndromen , die mit einer Intelligenzminderung einhergehen und deren jeweilige Wechselbeziehung zu psychischen Erkrankungen sind dabei ebenfalls von Bedeutung. Folglich werden auch einige der häufigsten, mit einer Intelligenzminderung einhergehende Syndrome im Studienmaterial beschrieben. Mit Blick auf die demographische Entwicklung zeigt sich bei Menschen mit einer Intelligenzminderung auch ein Anstieg und eine Annäherung an die durchschnittliche Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung. Dadurch ergibt sich bei dieser Patientengruppe auch eine Zunahme von psychischen Erkrankungen, die mit dem Alter verbunden sind. Ziel des Studienmaterials ist es, Ihnen neben den Herausforderungen, den Chancen und dem Nutzen einer guten gesundheitlichen Versorgung, das Wissen über häufige psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung zu vermitteln. Dabei soll Ihnen das Wissen in der täglichen Praxis helfen, psychische Erkrankungen als solche in Abgrenzung zu Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen, und Sie somit befähigen, den Herausforderungen in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung dieser besonderen Patientengruppe besser zu begegnen. 4 Ein Syndrom steht für ein Krankheitsbild mit ähnlichen oder einheitlichen Symptomen. Dabei kann das Syndrom, verschiedene Ursachen haben 7 Im Einzelnen sind die Kapitel wie folgt aufgebaut: zur Heranführung an das Thema widmet sich das erste Kapitel zunächst der Definition und Gegenüberstellung der Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung aus gesundheitlicher Perspektive. Es werden die Herausforderungen, Chancen und der Nutzen einer guten gesundheitlichen Versorgung dargestellt im zweiten Kapitel werden einige Syndrome, die häufig mit einer Intelligenzminderung verbunden sind, behandelt das dritte Kapitel stellt einen Teil der häufigen psychischen Erkrankungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung vor das vierte Kapitel behandelt die Herausforderungen Alter und psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung am Beispiel der Demenz Das Studienmaterial ist folgendermaßen aufgebaut: vor jedem Kapitel sind Lernziele aufgeführt, die beschreiben, welche Kompetenzen nach der Bearbeitung des Kapitels erworben werden sollten der Basistext stellt die Themenbereiche dar und versucht diese möglichst anschaulich zu vermitteln Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Kapitels im Anschluss folgen die Schlüsselwörter zur Orientierung die Aufgaben zur Selbstkontrolle sollen Ihnen helfen, Ihr Wissen zu überprüfen die Aufgaben zur Berufstätigkeit beziehen ihre berufliche Erfahrung mit ein. Diese sollen Ihnen helfen, das Gelernte auf Ihre Praxis zu übertragen die vertiefende Literatur dient Ihnen als Anreiz, sich mit dem Thema des Kapitels weiter auseinanderzusetzen das Literaturverzeichnis beinhaltet die im gesamten Skript verwendete Literatur Im Glossar finden Sie eine Liste von Wörtern und deren Erklärungen 8 Kapitel 1 - Intelligenzminderung und Herausforderungen, Chancen und Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung Lernziele Nach der Bearbeitung dieses Kapitels sollten Sie in der Lage sein die Begriffe geistige Behinderung und Intelligenzminderung aus der Perspektive der gesundheitlichen Versorgung differenziert betrachten zu können Herausforderungen in der Anamnese, der Diagnostik und der Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung zu erläutern Chancen und Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung skizzieren zu können Basistext Die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung Oberflächlich gesehen, haben die meisten Menschen ein recht konkretes Bild darüber, was einen Menschen mit Behinderung ausmacht. Fragt man genauer nach, ergeben sich oftmals Unsicherheiten bzw. eine Unschärfe in der Definition. Diese Unschärfe findet man zum Teil auch bei der Durchsicht der Fachliteratur. Je nach Haltung der Verfasser wird die Diskussion über die Richtigkeit der Begriffe geistige Behinderung und Intelligenzminderung mit unterschiedlichen Vorzeichen geführt. Seidel geht davon aus, dass die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung weitestgehend gleichbedeutend zu verstehen sind (Seidel, 2014, S. 6). Theunissen, sieht eine Definition der Beeinträchtigung, die sich, wie von der WHO in der ICD-10 vorgeschlagen, vorrangig am Intelligenzquotienten der Betroffenen orientiert, kritisch5 (Theunissen, 2013, S. 95). Schanze vertritt die Position, dass neben einer Abweichung der jeweiligen Intelligenzleistung die Fähigkeiten des adaptiven Verhaltens6 in der Beurteilung und in der Definition von Behinderung und Beeinträchtigung betrachtet werden sollen 5 6 Eine ausführliche Diskussion hierzu finden Sie im Studienmaterial „Spezifische Bedarf 2: Autonomie und Teilhabe“ Das adaptive Verhalten stellt die Fähigkeit der Betroffenen dar, sich an veränderte Situationen anzupassen 9 (Schanze, 2014, S. 21). Zur Verdeutlichung führt er das Beispiel eines Patienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung an und beschreibt, dass ein Patient mit einem Autismus einerseits kaum kognitive Einschränkungen zeige, im adaptiven Verhalten jedoch so erheblich eingeschränkt sei, dass er den Alltag nicht ohne Unterstützung bewältigen könne. Anhand dieses Fallbeispiels soll deutlich werden, wie Kognition7 und Adaptationsfähigkeit auseinander klaffen können und die jeweiligen Definitionen an ihre Grenzen stoßen. Betrachtet man die Diskussion über die Definitionen der Intelligenzminderung bzw. der geistigen Behinderung im internationalen Maßstab, so kann man feststellen, dass die definitorische Unschärfe durch Ausschluss oder Einbezug der Personengruppe der Lernbehinderten in die Gruppe der Menschen mit Intelligenzminderung zunimmt (Fletcher, Loschen, Stavrakaki, & First, 2007, S. 6). Aufgrund der definitorischen Unschärfe fand unter anderem in den USA eine intensive Diskussion statt, die schlussendlich den Begriff Intellectual Disability8 anstatt des Begriffes Mental Retardation9 zur Beschreibung von Menschen mit einer Intelligenzminderung bevorzugt. Vor allem in der Medizin wird der Begriff geistige Behinderung, vor dem Hintergrund eines differenzierten Verständnisses von Krankheit und Behinderung, als zu ungenau empfunden und daher der Begriff der Intelligenzminderung bevorzugt. Die Tragweite der Diskussion, die hier nicht in allen Aspekten vorgestellt wird, zeigt sich in den USA zum Beispiel darin, dass sich in der Folge dieser Diskussion große Verbände wie die „American Association on Mental Retardation“ (AAMR) in die „American Association on Intellectual and Developmental Disabilities“ (AAIDD) umbenannten (Fletcher, Loschen, Stavrakaki, & First, 2007, S. 6). 7 Fähigkeit der intelligenten Informationsverarbeitung Übersetzbar mit Intelligenzminderung, im Englischen auch synonym zu Mental Retardation benutzt 9 Übersetzbar mit Geistige Behinderung, im Englischen auch synonym zu Intellectual Disability benutzt 8 10 Die ICF-Klassifikation Konsens besteht bei den meisten Diskussionspartnern hingegen in der Nutzung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Diese Klassifikation bietet vielfache Vorteile in der Beschreibung von Beeinträchtigungen und Behinderungen. Mit Hilfe der ICF ist eine differenzierte Betrachtung der Einschränkungen hinsichtlich der Gesundheit, der Funktionsfähigkeit und der Behinderung möglich. Einigkeit besteht in der Diskussion auch darüber, dass die ICF nicht in dem Umfang genutzt wird, wie sie Verwendung finden sollte, obgleich sie sich als System dafür gut eignet. Vielfach gelingt aber mit Hilfe beider Systeme, also mit der ICF zusammen mit der ICD-10, eine differenzierte Beschreibung von Behinderung und Beeinträchtigung. Mit Blick auf psychische Erkrankungen und der daraus resultierenden Alltagsbeeinträchtigungen besteht allerdings noch ein weiterer Abstimmungsbedarf beider Klassifikationssysteme (Schanze, 2014, S. 22). Näheres zu den Klassifikationssystem ICD-10 und ICF wird im Studienmaterial „Autonomie und Teilhabe“ vorgestellt. Auf eine erneute Vorstellung kann daher verzichtet werden. Problematik der Leistungsregelung durch die Sozialgesetzbücher Aus Sicht der Betroffenen wird die definitorische Unschärfe der geistigen Behinderung vor allem dann relevant, wenn gesundheitliche Leistung und Leistungen der Teilhabe aus der Perspektive der jeweiligen Leistungsträgerschaft abgegrenzt werden sollen. So werden die Hilfen der Eingliederungshilfe vor allem durch das zwölfte Sozialgesetzbuch (SGB XII) und medizinische Leistungen vor allem durch das fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) definiert. Die unterschiedlichen Leistungsdefinitionen können aber dazu führen, dass Leistungen, die einen interdisziplinären und multiprofessionellen Charakter haben und auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung zugeschnitten sind, nicht ausreichend refinanziert werden. Dies kann sich unter anderem an den Schnittstellen der einzelnen Leistungsbereiche zeigen. Ein Beispiel soll die Problematik verdeutlichen: in welchen Leistungsbereich fällt das ausführliche Eingehen auf einen Patienten mit einer Intelligenzminderung, wenn dieser Patient im Zuge einer medizinischen Maßnahme, wie zum Beispiel der Ableitung eines 11 EKG10, wesentlich mehr Zeit benötigt, sich mit der Umgebung, dem Personal und der Situation vertraut zu machen, bevor diese Untersuchung möglich ist? Handelt es sich hier um eine rein medizinische Maßnahme? Je nach Kostenträgerschaft wird dies unterschiedlichen gesehen. SGB V Leistungsträger sehen ihren Verantwortungsbereich vielfach nur in der Erbringung der reinen medizinischen Leistung, in diesem Beispiel also die EKG-Ableitung und Auswertung. Die Vor- und Nachbereitung, kurzum den zusätzlichen Betreuungsmehraufwand bei dem intelligenzgeminderten Patienten aber nicht. Die umgekehrte Position wird von SGB XII Leistungsträgern vertreten. Die Folgen können also Leistungs- und Versorgungseinbußen bei Menschen mit Intelligenzminderung sein. Hinzu kommt, dass die Auslegung des Leistungsspektrums und der Zuständigkeiten in der Refinanzierung bundesweit nicht einheitlich geregelt sind und somit ein Leistungsgefälle zwischen den Bundesländern besteht (SchmidtOhlemann, 2014, S. 27-29). Die gesundheitliche Versorgungslandschaft Nach Gründung der Sozialpädiatrischen Dienste (SPZ) bestehen in Deutschland gesundheitliche Versorgungsdefizite bei Menschen mit Intelligenzminderung vor allem ab dem 18. Lebensjahr, wenn aus Altersgründen die gesundheitliche Versorgung durch diese Zentren nicht mehr möglich ist und die Transition11 in das gesundheitliche Regelversorgungssystem, das in weiten Teilen nicht auf die spezifischen Versorgungsbedarfe von Menschen mit Behinderung ausgerichtet ist, erfolgt. Diesem Missstand hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz) vom 16.07.2015 entgegengewirkt (Deutscher Bundestag, 2015, S. 1211-1229). Ziel des Gesetzes ist die Gründung von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen. Entsprechende Zentren befinden sich derzeit in Antrags- und Zulassungsverfahren. 10 Elektrokardiogramm: Aufzeichnung der summierten elektrischen Herzaktivität Geregelter Übergang von jungen Erwachsenen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung aus der sozialpädiatrischen Versorgung in die Erwachsenenmedizin 11 12 Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Anamnese Die Herausforderungen beginnen häufig bereits bei der Anamnese12 und können einen sehr unterschiedlichen Charakter haben. Bei jüngeren Patienten, die eine Versorgung in SPZ kennen, ist die Anamnese in der Regel bekannt, meist gut beschrieben und die Komplexität von Fall zu Fall unterschiedlich. Der Aufwand bleibt im Vergleich zu anderen Patienten mit einer Intelligenzminderung aber meist gleich, da in der Regel neue Fragestellungen die Vorstellung der Patienten begründen. Bei älteren Patienten, die keine Versorgung in SPZ kennen, kann die Anamneseerhebung ebenfalls sehr unterschiedlich verlaufen. Umfangreiche bis hin zu gänzlich fehlenden Vorbefunden zeichnen in der Praxis ein breites Spektrum ab. Daher ist bereits in der Anamneseerhebung ein tria- oder tetralogisches Setting13 wichtig. Durch solche Settings soll sichergestellt sein, dass zum Beispiel die Fremdanamnese aus unterschiedlichen Perspektiven erhoben wird. Die Wahrnehmung des Patienten kann nämlich, abhängig von der jeweiligen Perspektive erheblich variieren. Zur Erhebung fremdanamnestischer Angaben ist daher häufig die Beteiligung von Angehörigen, von Betreuungspersonen aus den unterschiedlichen Hilfefeldern, beginnend bei der ambulanten sozialen Betreuung, über die stationären Betreuer, bis hin zu Mitarbeitern der WfbM14 oder den gesetzlichen Betreuern, kurzum des Umfelds der Patienten, sinnvoll. Die Untersuchung durch ein interdisziplinär15 und multiprofessionell16 aufgestelltes Team, ergänzt auf Seiten des Gesundheitsdienstleisters das Angebot. Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Diagnostik Ähnlich herausfordernd kann sich auch die klinische Befunderhebung, also die Diagnostik, zeigen. Die Gründe hierfür können ebenfalls sehr unterschiedlich sein. Sie 12 Die Anamnese beschreibt den Vorgang, in dem der heilberuflich Tätige die krankheitsrelevante Vorgeschichte des Patienten aufnimmt 13 Untersuchungskonstellation unter Einbezug unterschiedlicher Akteure oder Parteien. Trialog bezieht sich dabei auf drei, Tetralog auf vier unterschiedliche Akteure oder Parteien. 14 Werkstatt für behinderte Menschen 15 Unterschiedliche Disziplinen einer Berufsgruppe, die zusammenarbeiten. Bei Ärzten zum Beispiel Fachärzte für Neurologie, Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Orthopädie, etc. 16 Unterschiedliche Berufsgruppen, die zusammenarbeiten, zum Beispiel Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, etc. 13 reichen von einer erschwerten Kommunikation bis hin zu weiteren Faktoren, die aus dem jeweiligen Behinderungsbild hervorgehen. Ein unvollständiges oder verändertes Sprachverständnis sowie Einschränkungen der aktiven Sprache machen zum Beispiel die Selbstauskunft beim intelligenzgeminderten Patienten schwierig oder verunmöglichen diese gänzlich. Bei eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit sind daher besondere Techniken der unterstützten Kommunikation, zum Beispiel das Arbeiten mit Piktogrammen oder elektronischen Hilfsmittel notwendig, um mit den Patienten in Kontakt zu treten. Ängste, Misstrauen oder aggressives Verhalten können die Befunderhebung ebenso erschweren wie eine Verweigerungshaltung oder das Fehlen kognitiver Fähigkeiten bei den Patienten. Dabei gilt, dass die Schwere der Intelligenzminderung häufig auch mit der Schwere der Befunderhebung einhergeht. Dies trifft insbesondere für psychiatrische Fragestellungen zu (Schmidt & Meir, 2014, S. 31). Die Diagnostik sollte daher ähnlich wie die Anamnese in einem tria- oder tetralogischen Setting erfolgen, am besten durch ein interdisziplinär und multiprofessionell aufgestelltes Team (Schmidt & Meir, 2014, S. 33). Dadurch kann nicht nur ein möglichst umfassendes Bild über den Patienten gewonnen werden, sondern auch vielfach die Angstschwelle abgebaut werden. Insbesondere bei Untersuchungen wie EKG- oder EEG17-Ableitungen, Blutabnahmen, etc. führt die Anwesenheit vertrauter Personen oft zu einem erheblich geringeren Stressniveau bei den Patienten. Wenngleich viele diagnostische Kriterien psychischer Erkrankungen bei leichten Formen der Intelligenzminderung ähnlich wie auch auf die Gesamtbevölkerung zutreffen, fehlt es zum Teil an geeigneten diagnostischen Instrumenten. Und für die vorhandenen Instrumente gilt außerdem, dass sie weniger messen können, je schwerer die Intelligenzminderung ist. Die Ausprägung einzelner pathognomonischer18 Merkmale kann bei Menschen mit einer Intelligenzminderung allerdings deutlich variieren und dadurch die Anwendung diagnostischer Kriterien erschweren. So kann sich beispielsweise eine Depression bei Menschen mit Intelligenzminderung dadurch unterscheiden, dass Verhaltensauffälligkeiten mit selbst- oder fremdgerichteten 17 18 Elektroenzephalografie: Aufzeichnung der summierten elektrischen Hirnaktivität Krankheitskennzeichnende Merkmale 14 aggressivem Charakter vordergründig auftreten können, die sich aber in dieser Merkmalsausprägung in den ICD-10 Kriterien der Depression so nicht wiederfinden (Charlot, et al., 2007, S. 158). Erschwerend kommt bei Menschen mit Intelligenzminderung hinzu, dass sie zum Teil Beschwerden und Symptome verstecken. Das Ziel der Betroffenen ist nicht selten, die eigene Behinderung im Sinne eines „cloak of competence“19 (Edgerton, 1993) zu verdecken. Sozial angepasstes Antworten oder Verhalten können beispielsweise dazu gehören. Auf der anderen Seite kann mit Blick auf die Psychopathologie20 die Zuordnung von Krankheitsmerkmalen zum Wesen der Intelligenzminderung dazu führen, dass psychische Erkrankungen nicht als solche erkannt werden. Das Phänomen wird „diagnostic overshadowing“ genannt und kann sich zum Beispiel dadurch zeigen, dass Rückzug beim intelligenzgeminderten Patienten nicht als ein depressives Symptom erkannt wird (Fletcher, Loschen, Stavrakaki, & First, 2007, S. 3). Zu den häufigeren diagnostisch-methodischen Herausforderungen gehören auch „baseline exaggeration“21, „underreporting“22, „psychosocial masking“23 und „cognitive disintegration“24 (Schmidt & Meir, 2014, S. 32). Erschwerend kommt hinzu, dass in der sehr heterogenen25 Patientengruppe der Menschen mit Intelligenzminderung die Verteilung von Krankheitssymptomen, Leidensdruck, psychischen Erregungsniveaus oder Bewältigungskompetenzen deutlich voneinander abweichen kann. So kann zum Beispiel ohne eine genaue Kenntnis des individuellen Verhaltens, der jeweiligen Fähigkeiten, der Stimmungslage und der Gewohnheiten vor dem Krankheitsbeginn eine psychische Erkrankung bei einem Patienten kaum adäquat eingeschätzt werden. Fehlende kommunikative Fähigkeiten können zudem leichtgradige psychische Erkrankungen maskieren (Meir & Sabellek, 2014, S. 36). Im Zuge der Diagnostik ist auch unbedingt eine Differenzierung von psychischen und körperlichen Beschwerden erforderlich, da sich bei intelligenzgeminderten Patienten Verdecken oder Verleugnen der eigenen Behinderung, wörtliche Übersetzung: „Deckmantel der Kompetenz“ Die Lehre von den psychischen Erkrankungen 21 Verstärktes Auftreten bekannter Verhaltensweisen oder -auffälligkeiten im Zuge psychischer Störungen 22 Psychopathologische Aspekte werden aufgrund einer eingeschränkten Introspektions- und Kommunikationsfähigkeit unzureichend berichtet 23 Vor dem Hintergrund der Intelligenzminderung eingeschränkte soziale Fähigkeiten einhergehend mit einer dadurch undifferenzierten Darstellung von psychischen Störungen 24 Angebotene Reize können nicht in einem sinnvollen Zusammenhang verarbeitet werden 25 Uneinheitlich bzw. verschieden 19 20 15 die Symptome ähnlich manifestieren können, zum Beispiel nur durch eine Veränderung des bekannten Verhaltens. So muss allein der Verdacht eines potentielles Schmerzgeschehen im Zusammenhang mit Verhaltensänderungen stets mit einer besonderen Aufmerksamkeit betrachtet und abgeklärt werden (Schmidt & Meir, 2014, S. 31). Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung - die Therapie Mit Blick auf therapeutische Maßnahmen sind bei Menschen mit Intelligenzminderung ebenfalls einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Therapeutische Maßnahmen umfassen meist eine Vielzahl von Möglichkeiten. Diese müssen je nach Schwere und Ausmaß des Eingriffs mit den gesetzlichen Betreuern der Patienten besprochen werden, zumal manche Maßnahmen zustimmungspflichtig sind. In einigen Fällen bedürfen die Maßnahmen auch der richterlichen Genehmigung (Schneider & Weber-Papen, 2012, S. 599). Günstig ist auch hier der Einbezug des gesamten betreuenden Umfelds der Patienten und von Angehörigen. Der Einbezug ist schon daher von Bedeutung, da durch ein vorhandenes Verständnis der Therapiemaßnahmen Drug-Holidays26, Fehl-, Unter oder Überversorgung vermieden werden können. Durch die Einbindung des Betreuungsumfeldes und der Angehörigen gewinnt aber auch die Therapieevaluation27 an Qualität, was sich unmittelbar auch auf die Therapiequalität auswirken kann. Für die Therapiequalität ist das Wissen um spezifische Syndrome, seltene Erkrankungen, Behinderungsbilder, etc. mindestens genau so entscheidend. In der psychiatrischen Behandlung ist zudem ein fundiertes Wissen über die pharmakologische Methodik, einschließlich der Wechselwirkung der Präparate, dem „therapeutischen DrugMonitoring“28, „Off-Label-Anwendungen“29, etc. ebenso wichtig, wie die Kenntnis nicht pharmakologischer Maßnahmen, wie etwa psychotherapeutischer Methoden und Interventionen oder pädagogisch-therapeutischer Fördermaßnahmen, wie zum Beispiel 26 Medikamentenpause ausgehend vom Patienten oder seinem Umfeld ohne Anordnung durch einen Arzt Therapiebeurteilung 28 Überprüfung der medikamentösen Behandlung anhand von Blutparametern und mit Hilfe apparativer Methoden, wie zum Beispiel EKG oder EEG 29 Verordnung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete 27 16 des TEACCH-Programms (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children). Chancen und Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung Je nach Fall können Gesundheitsleitungen den Gesundheitszustand des Patienten stabilisieren oder verbessern helfen und stellen so Chancen und Nutzen einer guten gesundheitlichen Versorgung dar. Es kann durchaus vorkommen, dass psychische Erkrankungen als zur Behinderung zugehörig fehlinterpretiert werden und daher über Jahre fortbestehen. Beispielsweise kann dies geschehen, wenn Patienten neben ihrer Intelligenzminderung auch an einer Psychose leiden. Eine erfolgreiche Behandlung der Psychose führt nicht zu einer Verbesserung der Intelligenzminderung, kann aber den Gesundheitszustand insofern positiv beeinflussen, als dass unter der Psychose verlorengegangene Kompetenzen im besten Fall ein Stück weit verbessert werden. Die Verbesserung kann sich dann wiederum auf die Alltagskompetenzen und somit auf die Teilhabefähigkeit des Patienten auswirken. Der Erhalt und die Verbesserung vorhandener Funktionen und Fähigkeiten ist also auch Teil einer erfolgreichen Therapie. Die im Zuge einer psychiatrischen Behandlung gewonnene Stabilität kann, je nach Fragestellung, Patienten auch zur Inanspruchnahme weiterer Hilfeleistungen, zum Beispiel von Psychotherapie oder anderer psychosozialer Angebote, befähigen. Ein weiterer Vorteil einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung liegt im Erhalt des Gesundheitszustandes und in der Durchführung vorbeugender Maßnahmen zur Vermeidung von Chronifizierung oder zur Vermeidung krankheitsbedingter Komplikationen. Dies spielt bei psychischen ebenso wie bei körperlichen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Auch kann mit Hilfe adäquater gesundheitlicher Angebote eine Fehl-, Unter-, Überversorgung von Patienten mit Intelligenzminderung vermieden werden. 17 Zusammenfassung Einführend erfolgte die Diskussion über die Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung, den zugrundeliegenden Klassifikationssystemen und der Problematik der Leistungsabgrenzung durch die Sozialgesetzbücher. Unabhängig davon bedürfen Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung neben der Regelversorgung auch einer spezialisierten gesundheitlichen Versorgung. Dabei begründet unter anderem der hohe Grad an Spezialisierung besondere Formen der gesundheitlichen Versorgung, wie zum Beispiel die noch aufzubauenden MZEB. Die Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung dieser Patientengruppe sind vielfältig und bestehen auch in der Anamnese, Diagnostik und Therapie. Eine adäquate gesundheitliche Versorgung hat, trotz der vielfältigen Herausforderungen, sowohl für die betroffenen Menschen als auch für ihr Umfeld entscheidende Vorteile. Zudem stellt sie eine Umsetzung der UN-BRK und der darin niedergeschriebenen gesundheitlichen Versorgungsansprüche von Menschen mit Behinderung dar. Der Blick dieses Skripts richtet sich auf die Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung beim Vorliegen psychischer Erkrankungen. Die dafür notwendigen Informationen in der Anamnese sind so aufzuarbeiten, dass sie eine adäquate Diagnostik und Therapie ermöglichen. In Folge ungenauer, falscher oder fehlender Diagnosen werden Menschen mit einer Intelligenzminderung häufig nicht ausreichend gut behandelt. In den USA gelten zum Beispiel ca. ein Drittel der von einer Intelligenzminderung betroffenen Menschen als nicht adäquat behandelt (Fletcher, Loschen, Stavrakaki, & First, 2007, S. 2). Die Vorteile einer guten Diagnostik und Diagnosestellung liegen dabei auf der Hand: sie sind Basis einer guten Behandlung und geben den Patienten, dem Betreuungsumfeld und den Angehörigen häufig auch Sicherheit. In der Diagnosestellung psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung sollte auch zwischen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen unterschieden werden. Allerdings gilt auch hier: je schwerer die Intelligenzminderung, desto schwerer ist auch eine Diagnosestellung gemäß der üblichen ICD-10 oder behelfsweise DSM Kataloge. 18 Die Chancen und der Nutzen einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung liegen unter andrem darin, dass Gesundheitsdienstleistungen Menschen mit Intelligenzminderung auch hinsichtlich ihrer Teilhabe nutzen und sich dadurch auf die Inklusion der Betroffenen positiv auswirken können. Das gelegentlich vorgebrachte Argument, dass spezifische gesundheitliche Angebote exkludierend sind, trifft nicht zu. Vielmehr benötigen Menschen mit einer Intelligenzminderung spezifische gesundheitliche Angebote, um aufgrund ihrer speziellen Versorgungsanforderungen nicht benachteiligt zu werden. Und dies gilt insbesondere dann, wenn in der Regelversorgung adäquate gesundheitliche Versorgungsangebote ausbleiben. Schlüsselwörter Diskussion der Begriffe Intelligenzminderung und geistige Behinderung; Herausforderungen in der Anamnese, Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung; Chancen und Nutzen der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung. Aufgaben zur Lernkontrolle Skizzieren Sie die Herausforderungen in der gesundheitlichen Behandlung und Betreuung von Menschen mit Intelligenzminderung und den Nutzen einer guten gesundheitlichen Versorgung. Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit Welche Herausforderungen kennen Sie im beruflichen Alltag, wenn es um Zuständigkeiten in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderungen geht? Welche Hürden kennen Sie aus der Praxis? Welche Erfahrungen machen Ihre KollegInnen? Vielleicht können Sie mit Ihren KollegInnen ins Gespräch gehen. Machen Sie sich Notizen! 19 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Weiterführende Informationen zur Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der 10. Revision (ICD-10) finden Sie unter (https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10- who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2016/zusatz-00-additionalinfo.htm) und zur Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO unter (https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/anwendung.htm) Fletcher R., et al. (Hrsg.), (2007): Diagnostic manual - Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability. NADD Press/National Association for the Dually Diagnosed: New York. Rahmenkonzeption Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB), Fassung vom 12.10.2015, Abgerufen am Juni, 03, 2016 von http://www.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2015-10-12Rahmenkonzeption_MZEB_2015.pdf Schanze, C. et al. (Hrsg.), (2014): Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen. Schattauer: Stuttgart. 20 Kapitel 2 - Wichtige Syndrome und Besonderheiten bei Menschen mit Intelligenzminderung Lernziele Nach dem Kapitel sollten Sie in der Lage sein wichtige Aspekte häufiger Syndrome bei Menschen mit Intelligenzminderung benennen zu können die besonderen Charakteristika des Down-Syndroms hervorheben zu können das Fetale-Alkohol-Syndrom in seinen wichtigsten Merkmalen zu erläutern das Fragile-X-Syndrom zu skizzieren Basistext Einführung - Syndrome bei Menschen mit Intelligenzminderung Aus den unterschiedlichsten Gründen ist es wichtig, bei Menschen mit einer Intelligenzminderung typische Merkmale und Besonderheiten einzelner Syndrome zu kennen. Die mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung zusammenhängenden Syndrome können verschiedene Ursachen haben. Im Folgenden werden daher unterschiedliche Syndrome vorgestellt. Die meisten Syndrome haben genetische Ursachen. Dabei wird auf das typische Erscheinungsbild, dem sogenannten Phänotyp, der einzelnen Syndrome näher eingegangen. Wichtige phänotypische Merkmale sind die morphologischen30 und physiologischen31 Eigenschaften sowie das Verhalten der Betroffenen im Zusammenhang mit dem jeweiligen Syndrom. Dem Ziel dieses Studienskriptes folgend, wird bei den exemplarisch vorgestellten Syndromen ein besonderes Augenmerk auf psychische Merkmale und Besonderheiten gelegt. Zu diesem speziellen thematischen Bereich findet sich in der aktuellen englischsprachigen Literatur eine gute und fundierte Orientierung bei Levitas, Dykens, Finucane und Kates im Kapitel Behavioral Phenotype of Genetic Disorders in dem Diagnostic manual - Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental 30 31 Bezeichnet Struktur und Form Bezeichnet physikalische und biochemische Vorgänge 21 Disorders in Persons with Intellectual Disability von R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 26-50). Im nun folgenden Kapitel des Studienskripts werden Sie daher auch mehrere Hinweise zu dieser Quelle finden. Mit Blick auf die Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome hat Sarimski ein umfangreiches Fachbuch mit einer detaillierten Darstellung von entwicklungspsychologischen Aspekten bei genetischen Syndromen verfasst (Sarimski, 2003). Dieses Werk eignet sich zur vertiefenden Literaturrecherche. Die Ursachen der Intelligenzminderung können vielfältig sein. In einer groben Unterteilung kann zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren unterschieden werden (Neuhäuser & Steinhausen, 2013, S. 21-24). Zu den biologischen Faktoren werden beispielsweise Genmutationen32 oder Chromosomenanomalien33 gezählt. Zu den psychosozialen Faktoren zählen familiäre Vorbelastungen ebenso wie ungünstige Umweltbedingung, wie zum Beispiel familiärer Alkoholismus, Mangelernährung oder unzureichende Gesundheitsversorgung mangels Inanspruchnahme. Bei Menschen mit einer schweren Intelligenzminderung spielen häufig und ursächlich biologische Faktoren eine wichtige Rolle, bei Menschen mit einer leichten Intelligenzminderung oder einer Lernbehinderung eher psychosoziale Faktoren. Die phänotypische Ausprägung scheint dabei einem komplexen Wechselspiel zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren zu folgen (Neuhäuser & Steinhausen, 2013, S. 21). Eine weitere Unterscheidung der Ursachen einer Intelligenzminderung kann auch anhand des Zeitpunkts des Eintritts der Schädigung, die zur Intelligenzminderung geführt hat, erfolgen. So kann zwischen pränatalen34, perinatalen35 und postnatalen36 Faktoren unterschieden werden. 32 Dauerhafte Veränderung des Erbgutes Veränderungen der Chromosomen. Chromosomen sind Strukturen des Erbgutes 34 Vor der Geburt 35 Um den Geburtszeitraum 36 Nach der Geburt 33 22 Zu den pränatalen Faktoren zählen unter anderem: genetische Ursachen Umweltbelastungen, beispielsweise durch: Substanzmissbrauch der Mutter, dabei insbesondere Alkohol Gifte, zum Beispiel PCB (Polychlorierte Biphenyle) als mittlerweile verbotener Weichmacher in Isoliermitteln, Kunststoffen oder Lacken etc., Strahlung, Medikamente, etc. Infektionen, zum Beispiel Toxoplasmose, Zytomegalie, Röteln oder aktuell dem Zika-Virus, etc. Zu den perinatalen Faktoren zählen unter anderem: Atem- und Kreislaufschwäche unter der Geburt, auch Asphyxie genannt, einhergehend mit einer Sauerstoffarmut, also einer Hypoxie Frühgeburtlichkeit Infektionen vor allem mit Herpes simplex oder Streptokokken Zu den postnatalen Faktoren zählen unter anderem: Infektionen Impfschäden Umweltgifte, zum Beispiel Blei, Quecksilber, PCB, etc. Schädel-Hirn-Trauma37 Allerdings bleiben vor allem bei Menschen mit einer leichten Intelligenzminderung oder Lernbehinderung die Gründe für ihre Einschränkungen häufig unklar. Die Fortschritte in der Humangenetik38 lassen aber darauf hoffen, dass künftig genetische Ursachen der Intelligenzminderung besser verstanden und erkannt werden. Für die Bedarfe von Menschen mit Intelligenzminderung bleibt unabhängig von deren Ursache die Kenntnis spezifischer Verhaltensmuster im syndromalen Zusammenhang 37 38 Schädel-Hirn-Verletzungen infolge von Unfällen oder Misshandlungen Die Humangenetik ist eine fachärztliche Spezialisierung, die sich mit dem Erbgut der Menschen beschäftigt 23 wichtig. Dieses Wissen kann beispielsweise in der Beratung von Eltern zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Patienten, aber auch im Hinblick auf die Diagnostik einen wichtigen Beitrag leisten (Sarimski, 2003, S. 17). Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 27) schlagen eine Unterscheidung von 12 wichtigen Syndrome hinsichtlich ihres jeweiligen Verhaltensphänotypus39 vor, die Menschen mit einer Intelligenzminderung betreffen. Dazu gehören folgende Syndrome40: Angelman-Syndrom Cri-du-chat-Syndrom Down-Syndrom Fetales-Alkohol-Syndrom Fragiles-X-Syndrom Phenylketonurie Prader-Willi-Syndrom Rubinstein-Taybi-Syndrom Smith-Magenis-Syndrom Tuberöse Sklerose Velo-cardio-faziales-Syndrom Williams-Beuren-Syndrom Dadurch können bestimmte Verhaltensbesonderheiten im Zusammenhang mit den Syndromen besser Verhaltensauffälligkeiten eingeordnet und davon und zwischen unabhängig Syndrom verlaufenden bedingten psychischen Erkrankungen unterschieden werden. Da angesichts des Umfang dieses Studienskriptes nicht alle Syndrome einzeln betrachtet werden können, werden aus den oben genannten, drei häufige vorkommende Syndrome exemplarisch beschrieben. 39 40 Typische Verhaltensmuster bzw. typisches Erscheinungsbild Die Schreibweise der Syndrome mit oder ohne Bindestrich variiert in der Literatur 24 Down-Syndrom ICD-10 Definition: Q90.0 Trisomie 2141, (meiotische42 Non-disjunction43) Q90.1 Trisomie 21, Mosaik (mitotische44 Non-disjunction) Q90.2 Trisomie 21, Translokation Q90.9 Down-Syndrom, nicht näher bezeichnet Das Down-Syndrom ist eines der häufigsten genetisch bedingten Syndrome, das mit einer Intelligenzminderung bei den betroffenen Menschen einhergeht. Es geht auf Langdon-Down zurück, der das Syndrom erstmal 1866 beschrieb. Die Prävalenz liegt bei einem betroffenen Kind auf 700 bis 1000 Geburten (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 30). Dabei scheint das Risiko, dass ein Kind von einer Trisomie 21 betroffenen ist, vom dem Alter der Mutter abzuhängen und mit zunehmendem Alter anzusteigen. Allerdings weisen Studien, die sich mit den pränatalen Risiken der Trisomie 21 beschäftigen, je nach Studiendesign zum Teil auch unterschiedliche Ergebnisse auf. Betrachtet man die Genetik, so werden vor allem drei Ursachen für eine Trisomie 21 beschrieben (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 31): bei ca. 92% der Betroffenen liegt in allen Zellen ein zusätzliches Chromosom 21 vor, daher auch der Name Trisomie 21. Das heißt, dass bei den Betroffenen anstatt des doppelten Chromosomensatzes, der bei gesunden Menschen vorhanden ist, ein dreifacher Chromosomensatz 21 vorliegt. (Q90.0) bei ca. 3% der betroffenen Menschen handelt es sich um eine sogenannte Mosaik-Trisomie 21, die eine besondere genetische Variante der Trisomie beschreibt. Bei diesen Menschen haben nur ein Teil der Zellen den dreifachen, anstatt des zweifachen Chromosomensatzes 21. (Q90.1) 41 Trisomie 21 bezeichnet synonym das Down-Syndrom Reifeteilung der Keimzellen 43 Fehlendes Auseinanderweichen von Chromosomen bei der Keimzellreifung oder bei der Zellkernteilung 44 Zellkernteilung bei der zwei Tochterkerne mit gleicher genetischer Information entstehen 42 25 bei weiteren 3-5% liegt eine sogenannte Translokation des Chromosom 21 vor, das heißt, dass bestimmte Chromosomenabschnitte an eine andere Position innerhalb des Chromosomenbestandes verlagert wurden. (Q90.2) weitere spezifische chromosomale Veränderungen, wie eine partielle Trisomie 21 betreffen nur eine kleine Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom, so dass sie hier nicht weiter ausgeführt werden. (Q90.9) Betroffene Kinder fallen durch typische physiognomische45 Merkmale auf. Im Folgenden werden einige Merkmale vorgestellt. Es werden aber nur postnatale Merkmale beschrieben, da die Darstellung pränataler Merkmale für das Studienskript nicht notwendig ist. Zu den morphologischen Merkmalen zählen zum Beispiel: Kleinwuchs einhergehend mit einem vergleichsweise kleinen Kopf ein vergleichsweise flaches Gesicht und Nase kleine Ohren einer vorstehenden Zunge Lidachsen mit Ausrichtung nach auswärts oben charakteristische Lidfalte ein breiter Nacken ein vergrößerter Abstand zwischen der ersten und zweiten Zehe Hinzu kommen weitere Merkmale und Risiken, die Menschen mit Down-Syndrom im unterschiedlichen Ausmaß betreffen können. Dazu gehören zum Beispiel: das Risiko eines Herzfehlers bzw. einer Herzerkrankung Verlust oder Einschränkungen des Hörvermögens Beeinträchtigung des Sehvermögens zum Beispiel durch einen Strabismus46 gastrointestinale47 Beschwerden zum Beispiel aufgrund von Darmverschlüssen 45 Äußere Erscheinungsmerkmale von Lebewesen Schielen 47 Der Gastrointestinaltrakt beschreibt synonym den Verdauungstrakt 46 26 Schilddrüsenerkrankungen, meist eine Unterfunktion Erkrankungen des Bewegungsapparates und Übergewicht Zahnprobleme Hauterkrankungen Hinsichtlich der Diagnostik kann zwischen der Pränataldiagnostik und Postnataldiagnostik unterschieden werden. Die Pränataldiagnostik reicht von Ultraschalluntersuchungen und Bluttests bis hin zu Untersuchungen des Fruchtwassers. Die Diagnostik wird je nach Fragestellung und Risikobewertung durchgeführt. Die ethische Bewertung der Testverfahren fällt allerdings nicht einheitlich aus. Postnatal fallen Neugeborene mit einem Down-Syndrom unter anderem durch eine reduzierte Muskelspannung auf, die zum Beispiel durch Schwierigkeiten beim Saugen der Muttermilch deutlich wird. Zu den weiteren Merkmalen kann eine Vierfingerfurche48 gehören. Verdachtsfälle sind humangenetisch weiter abzuklären. Hinsichtlich des Grades der Intelligenzminderung gibt es eine recht weite Streuung, die von einer leichtgradigen bis hin zu einer schweren Intelligenzminderung reicht. Gleichzeitig finden sich Schwierigkeiten vor allem im Sprachausdruck, das heißt also in der expressiven Sprache, bei vergleichsweise guten Fähigkeiten im Bereich des Sprachverständnisses, also der rezeptiven Sprache. Die Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen kann mit Hilfe der unterstützten Kommunikation verbessert werden. 48 Eine Beugefalte im Handteller, die vom Klein- bis zum Zeigefinger reicht 27 Besonderheiten im Verhalten und in der Psyche sind nach Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 32) unter anderem: eingeschränkte Fähigkeiten im sozialen und emotionalen Verhalten. Allerdings findet sich häufig das Klischee, das Menschen mit einem Down-Syndrom durch ihr freundliches und gewinnendes Auftreten, besonders ausgeprägte soziale Fähigkeiten haben zu den häufig herausfordernden Verhaltensweisen gehören auch Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Sturheit oder fehlende Gehorsamkeit bei Kindern Auffälligkeiten im Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen Rückzug oder ein niedriges Aktivitätsniveau bzw. Langsamkeit, besonders ausgeprägt bei jungen Erwachsenen es besteht ein erhöhtes Risiko früh an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken in der Kindheit kommen vor allem oppositionelles und aufsässiges Verhalten sowie Störungen im Sinne einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor bei jungen Erwachsenen besteht ein erhöhtes Risiko, an atypischen Psychosen zu erkranken im Erwachsenalter stehen vor allem Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen sowie die Alzheimer Demenz und psychische Störungen, die mit einer Schilddrüsenunterfunktion einhergehen, im Vordergrund 28 Fetales-Alkohol-Syndrom ICD-10 Definition: (Q86.0) Alkohol-Embryopathie49 (mit Dysmorphien50) Das Fetale-Alkohol-Syndrom (FAS) wurde erstmalig Ende der 1960 und Anfang der 1970 Jahre beschrieben. Das FAS wird nicht zu den genetischen Syndromen gezählt, sondern tritt als Folge einer vorgeburtlichen Schädigung des Kindes durch den Konsum von Alkohol der schwangeren Mutter auf. Dabei scheinen vor allem der Zeitpunkt und der Umfang der Konsums ebenso wie die Empfindlichkeit bzw. die Anfälligkeit des ungeborenen Kindes gegenüber der Noxe51 mit dem Schweregrad der späteren Ausprägung des FAS einherzugehen. Der psychosoziale Hintergrund der Mutter scheint ebenfalls wichtig zu sein. Fragen nach Gründen für den Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft können unterschiedliche Antworten finden: so kann der Alkoholkonsum beispielsweise mit einer gleichzeitig vorliegenden psychischen Erkrankung der Schwangeren ebenso einhergehen, wie mit einem kombinierten Substanzmissbrauch, der sich nicht allein auf Alkohol beschränkt. Familiäre und soziale Einflüsse können sich gleichermaßen auf den Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft auswirken. Der Schweregrad der alkoholbedingten Schädigungen kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen, so dass Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 32-33) hinsichtlich der Terminologie eine Spektrum-Störung vorschlagen, die sie als Fetal Alcohol Spectrum Disorders52 (FASD) bezeichnen. Mit dem Begriff FASD sollen sowohl schwächer ausgeprägte Formen wie die Fetal Alcohol Effects53 (FAE) oder andere Formen wie die Alcohol Related Birth Defects54 (ARBD) und die Alcohol Related Neurodevelopmental Disorder55(ARND) zusammenfasst werden. Im Folgenden wird allerdings aus Vereinfachungsgründen der Begriff FAS beibehalten. 49 Alkohol-bedingte Erkrankung der Leibesfrucht Fehlbildungen 51 Schädigender Stoff, in diesem Fall Alkohol 52 Fetale Alkohol Spektrum Störung 53 Fetale Alkohol Effekte 54 Alkohol bedingte Geburtsfehler 55 Alkohol bedingte Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems 50 29 Ebenfalls weit gestreut sind die Zahlen zur Inzidenz56 und Prävalenz57 der FAS, die naturgemäß vom soziokulturellen Umgang mit Alkohol und dessen Folgeschäden abhängen. Weltweite Schätzungen gehen davon aus, dass ein von 300-3000 Neugeborenen betroffen ist. Für Nordamerika und Europa gehen die Schätzungen davon aus, dass die Inzidenz bei einem von 1000 Neugeborenen liegt (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 33). Zu den charakteristischen Merkmalen des Vollbildes eines FAS zählen zum Beispiel: prä- und postnatale Wachstumsdefizite, die in einem Minderwuchs münden und zum Teil auch mit einer Mirkozephalie58 und einem Untergewicht einhergehen vergleichsweise kleine Augen mit schmalen, teils herabhängenden Augenlidern dünnes und schmales Lippenrot v.a. der Oberlippe flaches oder fehlendes Philtrum59 zwischen Nase und Oberlippe flache Oberkieferregion mit einer kurzen, flachen Nase und einem fliehenden Kinn weitere körperliche Merkmale können sich als Herzfehler, Skelettfehlbildungen oder Fehlbildungen der Finger zeigen Die Diagnostik kann unter Zuhilfenahme der oben genannten Merkmale erfolgen. Standardisierte Verfahren sind in einer fortwährenden Entwicklung60, allerdings sind sie aufgrund einer oft unvollständigen Anamnese meist nur eingeschränkt einsetzbar. Zu den wichtigsten allgemein anerkannten diagnostischen Kriterien zählen unter anderem: prä- und postnatale Wachstumsstörungen Abweichungen der Gesichtsform Entwicklungsstörungen des zentralen Nervensystems einhergehend mit einer Intelligenzminderung oder einer Lernbehinderung bestätigter Alkoholkonsum während der Schwangerschaft 56 Bezeichnet die Häufigkeit von Neuerkrankungen einer Krankheit Beschreibt wieviel Menschen einer Gruppe an einem Zeitpunkt von einer Krankheit betroffen sind 58 Ein kleiner Kopfumfang, auch mit einer Minderentwicklung des Gehirns, also einer Mikroenzephalie, einhergehend 59 Mittelrinne 60 Weiterführende Informationen unter: https://depts.washington.edu/fasdpn/, abgerufen am 25.06.2016 57 30 Mit Blick auf die Intelligenzleistung der Patienten ist, abhängig vom Schweregrad der Schädigung, eine Streuung festzustellen. Der Großteil der FAS geschädigten Menschen scheint von einer leichten Intelligenzminderung oder einer Lernbehinderung betroffen zu sein. Weitere Defizite werden hinsichtlich handlungspraktischer Fähigkeiten, Konzentrations- und Lernschwächen, dem abstrakten Denken, etc. beschrieben. Im Folgenden werden typische Merkmale des FAS mit Blick auf das Verhalten und der Psyche mit Bezug auf Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 34) beschrieben. Auf eine Beschreibung darüber hinaus gehender Merkmale, wie zum Beispiel von motorischen Koordinationsschwierigkeiten wird mit Blick auf die Zielsetzung dieses Skriptes verzichtet. Zu den typischen Merkmalen hinsichtlich Verhalten und Psyche gehören bei der FAS zum Beispiel: Einschränkungen der Aufmerksamkeit und der Konzentration Hyperaktivität Impulsivität, häufig auch mit einer niedrigen Frustrationstoleranz verbunden Schwierigkeiten hinsichtlich eines angemessenen Sozialverhalten, zum Beispiel durch eine ängstlich-besorgte und zugleich chronisch-frustrierte Einstellung Ungeduld und Spontaneität einerseits, Entscheidungsschwierigkeiten andererseits in Nichterkennen oder -einhalten von Regeln von Konsequenzen oppositionelles oder dissoziales Verhalten Unvermögen zur Ausführung von Anweisungen Selbstverletzendes Verhalten, etc. der Kindheit kommen häufig Störungen im Sinne einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und andere Störungen des Sozialverhaltens vor im Erwachsenalter stehen bei Menschen mit einem FAS vor allem Alkohol- und anderer Substanzmissbrauch, Depressionen, Bipolare affektive Störungen, Psychosen, Angst- und Essstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen im Vordergrund 31 Fragiles-X-Syndrom ICD-10 Definition: (Q99.2) Syndrom des fragilen X-Chromosoms Das Fragile-X-Syndrom (FXS) betrifft Menschen, die an einer Mutation des FMR1 Gens61 an der Stelle Xq27.3 leiden. Es ist eine der häufigsten Ursachen für eine Intelligenzminderung und wird synonym auch als Martin-Bell-Syndrom (MBS) oder Marker-X-Syndrom bezeichnet. Bei Männer wird die Prävalenz in einem Verhältnis von 1:4000 geschätzt. Die Prämutation62 wird bei Frauen in einem Verhältnis von 1:259 angenommen (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 35). Das FXS ist somit eine der häufigsten erblichen Ursachen für eine Intelligenzminderung. Entscheidend ist bei der Mutation des FMR1 Gens, dass bestimmte Nukleotide63 mit der Abfolge CGG64 häufiger als üblich in einer bestimmten Region des Gens, der sogenannten Promotor-Region auftreten. Bei 60-200 CGG-Wiederholungen spricht man von einer sogenannten Prämutation, bei über 200 CGG-Wiederholung vom Vollbild eines FXS. Im Vergleich treten bei Gesunden 6-54 CGG-Wiederholungen auf. Aufgrund dieser zusätzlichen Wiederholungen kann das FMR1 Gen nicht mehr korrekt abgelesen werden und das Fragile-X-Mental Retardation Protein (FMRP), ein Eiweißmolekül, nicht mehr korrekt produziert werden. Das FMRP besitzt als regulatorisches Protein wiederum eine Schlüsselfunktion bei der Herstellung anderer Eiweißmoleküle im Gehirn. Es hat zudem wohl auch Auswirkungen auf die Ausbildung von Synapsen65 in unterschiedlichen Regionen des Groß- und Kleinhirns sowie des Hippocampus66. 61 Ein bestimmter Abschnitt des Erbgutes Die Definition folgt im nächsten Absatz Nukleotide sind Bausteine des Erbgutes, also der DNS 64 C steht für das Nukleotid Cytosin, G für das Nukleotid Guanin 65 Verknüpfungen zwischen Nervenzellen 66 Eine besondere, evolutionär alte Gehirnstruktur 62 63 32 In der folgenden Abbildung 1 wird die FMR1 Mutation bei FXS dargestellt. Abb. 1: Darstellung der FMR1 Mutation bei FXS. Die Vererbung folgt einem X-chromosomalen Erbgang, das heißt, dass bei Frauen, die im Gegensatz zu Männern zwei X-Chromosomen besitzen, das Syndrom durch ausgleichende Effekte des gesunden X-Chromosoms meist keine Symptome aufweist, bei Männern sich das Syndrom jedoch aufgrund der fehlenden Kompensation entfalten kann. Frauen gelten daher als Konduktorinnen die Erbanlage. Allerdings sind Ausnahmen, die beide Geschlechter betreffen, möglich. Zu den charakteristischen körperlichen Merkmalen eines FXS zählen unter anderem: große, prominent abstehende Ohren schmales Gesicht weiche und elastische Haut lockerer Bänderapparat einhergehend mit einer Gelenküberdehnbarkeit Plattfüße Hodenvergrößerung bei Männern mit dem Vollbild eines FXS Die Ausprägung dieser Merkmale kann, wie oben ausgeführt, in Abhängigkeit des Mutationsgrades sehr unterschiedlich ausfallen, vom Vollbild des Syndroms bis hin zu gänzlich fehlenden körperlichen Auffälligkeiten. 33 Die Diagnostik erfolgt durch die Untersuchung des Erbgutes, also der DNS. Dabei sind anamnestische Faktoren, wie etwa eine familiäre Belastung, typische körperliche Merkmale oder Verhaltensmerkmale bei gleichzeitigem Vorliegen einer Intelligenzminderung ausschlaggebend. Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 36) empfehlen angesichts der Häufigkeit dieses Syndroms und der zum Teil sehr unterschiedlichen Merkmalsausprägung die genetische Untersuchung auf das mögliche Vorliegen eines FXS bei allen Menschen mit einer ätiologisch67 unklaren Intelligenzminderung. Der Grad der Intelligenzminderung hängt bei Menschen, die an einem FXS leiden vom Grad der Mutation ab. Im Falle einer Prämutation fallen die Patienten unter anderem durch Störungen der sogenannten exekutiven Funktionen auf. Die Störungen betreffen dann zum Beispiel die Handlungsplanung, die Koordination von Handlungen, die Aufmerksamkeits- und die Impulssteuerung, die Fähigkeit zur Priorisierung68, etc. Zu den Besonderheiten im Verhalten und in der Psyche bei einem Vollbild des Syndroms zählen nach Levitas, Dykens, Finucane und Kates (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 36) zum Beispiel: eine kurze Aufmerksamkeitsspanne Impulsivität und Hyperaktivität eine hohe Empfindlichkeit gegenüber der Umwelt Vermeiden eines direkten Blickkontaktes soziale Ängste bei gleichzeitigem Interesse am sozialen Geschehen Echolalie69, Selbstgespräche, Nachsprechen Wiederholung von Bewegungsabläufen unter anderem motorische Störungen In der Kindheit kommen bei Menschen mit einem FXS häufig Störungen im Sinne eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 67 Die Ätiologie ist die Lehre der Krankheitsentstehung Die Vorrangigkeit von Ereignissen erkennen und ordnen 69 Wiederholen von ganzen Sätzen, Teilsätzen oder Wörtern des Gesprächspartners 68 34 tiefgreifende Entwicklungsstörungen, als generalisierte Angststörungen und Panikstörungen sowie affektive Störungen vor Im Erwachsenalter können Menschen mit einem FXS von Störungen im Sinne eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Autismus-Spektrum-Störungen, dem Fragiles-X-assoziierte Tremor-/Ataxiesyndrom70 (FXTAS) oder von anderen motorischen Störungen betroffen sein Zusammenfassung Die Kenntnis der Besonderheiten einzelner Syndrome ist für die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit einer Intelligenzminderung wichtig, da Syndrome auch durch ein jeweils eigenes typisches Erscheinungsbild, dem sogenannten Phänotyp, definiert sind. Dazu können auch charakteristische Verhaltenszüge bei den Betroffenen gehören. Das Wissen um diese Besonderheiten ist für die Anamnese, Diagnostik und Therapie häufig sehr wichtig und daher von Bedeutung. Dabei können die Ursachen der Intelligenzminderung vielfältig sein. In einer groben Unterteilung kann zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren unterschieden werden, ebenso aber auch anhand des Zeitpunkts des Schädigungseintritts. Betrachtet man den Zeitpunkt der Schädigung, so kann zwischen pränatalen, perinatalen und postnatalen Faktoren unterschieden werden. Im diesem Kapitel wurden beispielhalft zwei genetische bedingte Syndrome, das DownSyndrom und das Fragile-X-Syndrom näher vorgestellt. Das Down-Syndrom, auch die Trisomie 21 genannt, ist eines der häufigsten genetisch bedingten Syndrome, das mit einer Intelligenzminderung bei den betroffenen Menschen einhergeht. Das Fragile-XSyndrom betrifft Menschen, die an einer Mutation des FMR1 Gens leiden. Aufgrund des X-chromosomalen Erbgang sind vor allem Männer klinisch vom betroffen, während Frauen meist klinisch gesund bleiben. Als weiteres, nicht genetisch, sondern alkoholtoxisch bedingtes Syndrom wurde das Fetale-Alkohol-Syndrom näher 70 Tremor bezeichnet ein unwillkürliches, rhythmisches Zittern. Ataxie bezeichnet eine Störung der Bewegungskoordination 35 besprochen. Es tritt als Folge einer vorgeburtlichen Schädigung des Kindes durch den Konsum von Alkohol der schwangeren Mutter auf. Dabei scheinen vor allem der Zeitpunkt und der Umfang der Konsums ebenso wie die Empfindlichkeit bzw. die Anfälligkeit des ungeborenen Kindes gegenüber dem Giftstoff mit dem Schweregrad der späteren Ausprägung des FAS einherzugehen. Im Zuge der Besprechung dieser Syndrome wurden auch die möglichen psychischen Besonderheiten und Erkrankungen der betroffenen Patienten ausgeführt. Dadurch sollte zu einen die Kenntnis dreier wichtiger Syndrome bei Menschen mit Intelligenzminderung vertieft und zum anderen die Bedeutung des Wissens um die Besonderheiten einzelner Syndrome unterstrichen werden. Schlüsselwörter Syndrome bei Menschen mit Intelligenzminderung, die mit besonderen Verhaltensmustern einhergehen: Allgemeine Einführung und Überblick; Vertiefende Beschreibung der Merkmale des Down-Syndroms, des Fetalen-Alkohol-Syndroms und des Fragilen-X-Syndroms. Aufgaben zur Lernkontrolle Was sind mögliche Ursachen für Syndrome, die mit einer Intelligenzminderung einhergehen? Was sind typische Verhaltensmerkmale bei einem FXS in Abgrenzung zu einem Down-Syndrom? Worin unterscheidet sich das FAS vom FXS und dem DownSyndrom? Stellen Sie Ihre Ergebnisse in einer Tabelle dar! Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit Welche Vorteile bietet Ihnen die Kenntnis von Syndromen und den damit zusammenhängenden Verhaltensmustern bei Menschen mit Intelligenzminderung in der Praxis an? Welche Erfahrungen machen Ihre KollegInnen? Vielleicht können Sie mit Ihren KollegInnen ins Gespräch gehen. Machen Sie sich Notizen! 36 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen Jones, K. L.; Jones, M. C. & Del Campo Casanelles, M. (2013): Smith's Recognizable Patterns of Human Malformation: Expert Consult - Online and Print. Elsevier. Philadelphia Sarimski, K. (2003). Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe. Weiterführende Informationen zu genetischen Syndromen finden Sie unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim. Abgerufen am 19.06.2016 Weiterführende Informationen zum Down-Syndrom finden Sie unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/027-051.html. Abgerufen am 15.08.2016 Weiterführende Informationen zu diagnostischen Instrumenten der FAS finden Sie unter: https://depts.washington.edu/fasdpn/. Abgerufen am 25.06.2016 Weiterführende Informationen zu diagnostischen Instrumenten der FAS finden Sie auch unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html. Abgerufen am 15.08.2016 Weiterführende Informationen zur molekulargenetische Diagnostik des Fragiles-X und Fragiles-X assoziiertes Tremor/Ataxie Syndrom finden Sie unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/078-007.html. Abgerufen am 15.08.2016 37 Kapitel 3 - Psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung Lernziele Nach dem Kapitel sollten Sie in der Lage sein ein Grundverständnis über häufig vorkommende psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung zu entwickeln die besonderen Charakteristika einer Schizophrenie hervorheben zu können eine Depression in seinen wichtigsten Merkmalen zu erläutern eine Angststörung zu skizzieren die Merkmale einer Autismus-Spektrum-Störung benennen zu können Basistext Einführung - Psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung Auf die Herausforderungen und Besonderheiten der Anamnese, Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung ist im ersten Kapitel ebenso wie auf die Chancen und den Nutzen einer guten Behandlung eingegangen worden. Das zweite Kapitel hat Besonderheiten von Syndromen bei Menschen mit Intelligenzminderung beschrieben und exemplarisch das Down-Syndrom, das Fetale-Alkohol-Syndrom und das Fragile-X-Syndrom vorgestellt. In dritten Kapitel geht es darum, häufig vorkommende psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung vorzustellen. Der Schwerpunkt dieses Kapitels ist auf die Symptome psychischer Erkrankungen gelegt, da das Erkennen von Symptomen psychischer Erkrankungen oftmals der erste und damit auch entscheidende Schritt für deren Behandlung ist. Fehlt es an dieser Kompetenz im betreuenden Umfeld, können notwendige medizinische Vorstellungen und Untersuchungen ausbleiben. Auch für die spätere Verlaufsbewertung der Erkrankungen sind eine gute Kenntnis und eine gute Beurteilungsfähigkeit der Symptome entscheidend. Schließlich können Menschen mit einer Intelligenzminderung 38 abhängig vom Grad ihrer Intelligenzminderung nur eingeschränkt über ihre Beschwerden berichten. Hinzu kommen spezifische Phänomene, wie etwa ein „cloak of competence“71, die eine fundierte Diagnostik erschweren können. So gesehen trägt das betreuende Umfeld eine besondere Verantwortung hinsichtlich der gesundheitlichen Fürsorge von Menschen mit Intelligenzminderung. Dabei ist die Kenntnis von Krankheitssymptomen für eine qualitativ gute Fremdanamnese wichtig und daher auch für eine erfolgreiche gesundheitliche Behandlung und Betreuung von Menschen mit Intelligenzminderung entscheidend. Um die Diagnose einer psychischen Erkrankung stellen zu können, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Diese Kriterien orientieren sich naturgemäß an den Symptomen der jeweiligen Erkrankungen. Allerdings können Symptome psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung in ihrem Charakter zum Teil erheblich von der Norm abweichen. Die Kenntnis dieser speziell ausgeprägten Symptome ist für die Diagnostik und für die Bewertung des Krankheitsverlaufes bei Menschen mit einer Intelligenzminderung wichtig. Der Einbezug des betreuenden Umfeldes hat sich, eingebettet in einem interdisziplinären und multiprofessionellen Behandlungsansatz, in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung bewährt und ist daher für eine erfolgreiche Therapie unerlässlich. Daher wird der Fokus dieses Kapitels vor allem auf den Kernsymptomen der ausgewählten psychischen Erkrankungen liegen. Auf die Darstellung von diagnostischen Algorithmen72 oder von Therapiestrategien kann jedoch verzichtet werden. Aufgrund der großen Anzahl psychischer Erkrankungen ist eine Vorstellung aller in Frage kommenden Erkrankungen in diesem Skript nicht möglich. Daher wird eine Auswahl wichtiger und häufig vorkommender psychischer Erkrankungen getroffen und gemäß der ICD-10 Systematik vorgestellt. Zur besseren inhaltlichen Orientierung werden die hier ausgewählten psychischen Erkrankungen im Zusammenhang zum jeweiligen inhaltlichen Abschnittes des ICD-10 Kataloges vorgestellt. Der Fokus wird 71 Vgl. Seite 14 des Skriptes Der diagnostische Algorithmus ist eine diagnostische Handlungsempfehlung unter anderem auch anhand von festgelegten Kriterien 72 39 dabei auf den Symptomen der ausgewählten Erkrankungen liegen. Bevor die speziellen Symptome der jeweiligen Erkrankung bei Menschen mit einer Intelligenzminderung beschrieben werden, wird die allgemeine Definition der Erkrankung gemäß der ICD-10 angeführt. So sind Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in der Symptomatologie73 besser nachvollziehbar. Zum Verständnis der ICD-10 Systematik muss diese zunächst selbst vorgestellt werden. Psychische Erkrankungen werden in der ICD-10 im Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen zusammenfasst. Jede Erkrankung erhält dabei einen Code. Die Kodierung beinhaltet einen Buchstaben, bei psychischen Erkrankungen den Buchstaben F. Der Code wir mit einer zweistelligen Ziffernkombination fortgesetzt. Diese Ziffern stehen für die einzelnen Erkrankungen. Durch einen Punkt getrennt folgen dann die Unterkategorien der jeweiligen Erkrankungen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: der Code F32.1 zeigt durch den Buchstaben F an, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, die Zifferkombination 32 steht dabei für eine depressive Episode und die Ziffer 1 nach dem Punkt für den Schweregrad der Depression, in diesem Beispiel also für eine mittelgradige Depression. Anderes ausgedrückt handelt es sich bei der Diagnose F32.1 um eine mittelgradige depressive Episode. Die Auswahl der hier vorgestellten psychischen Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung umfasst die Schizophrenie (F20), die Depression (F32), Angststörungen (F41) und Autismus-Spektrum-Störungen (F84). Die Darstellung der Symptomatologie dieser Erkrankungen steht dabei im Vordergrund. Zur groben Einordnung werden zunächst alle psychischen Erkrankungen gemäß des ICD-10 Katalogs auf der Ebene der einzelnen Kapitel aufgeführt. Fett hervorgehoben sind die Kapitel aus denen im Weiteren die einzelnen Erkrankungen vorgestellt werden. 73 (F00-F09) Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F10-F19) Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F20-F29) Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Bezeichnet die Lehre von Krankheitszeichen 40 (F30-F39) Affektive Störungen (F40-F48) Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F50-F59) Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F60-F69) Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F70-F79) Intelligenzminderung (F80-F89) Entwicklungsstörungen (F90-F98) Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F99-F99) Nicht näher bezeichnete psychische Störungen Schizophrenie bei Menschen mit einer Intelligenzminderung Der Begriff Psychose wird häufig synonym mit der Erkrankung Schizophrenie benutzt. Als Oberbegriff umfasst der Begriff Psychose aber auch andere psychische Erkrankungen bzw. Merkmale psychischer Erkrankungen, wie etwa im Fall affektiver oder organischer Psychosen oder bestimmter Zustände im Rahmen von schweren depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen. Eine Gleichstellung der Begriffe Schizophrenie und Psychose ist daher aus fachlicher Sicht ungünstig. Zur inhaltlichen Einordnung werden zunächst alle Erkrankungen des Kapitels „Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20-F29)“ in der ICD-10 Systematik vorgestellt. Anschließend werden einzelne Symptome der Schizophrenie (F20) genauer beschrieben. Die nachfolgend hervorgehobenen und fett gedruckten Begriffe sind Hauptkategorien, die übrigen Unterkategorien. Schizophrenie (F20) Paranoide Schizophrenie (F20.0) Hebephrene Schizophrenie (F20.1) Katatone Schizophrenie (F20.2) Undifferenzierte Schizophrenie (F20.3) Postschizophrene Depression (F20.4) Schizophrenes Residuum (F20.5) 41 Schizophrenia simplex (F20.6) Sonstige Schizophrenie (F20.8) Schizophrenie, nicht näher bezeichnet (F20.9) Schizotype Störung (F21) Anhaltende wahnhafte Störungen (F22) Akute vorübergehende psychotische Störungen (F23) Induzierte wahnhafte Störung (F24) Schizoaffektive Störungen (F25) Sonstige nichtorganische psychotische Störungen (F28) Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose (F29) Aufgrund der oftmals erschwerten diagnostischen Einordnung und selten eindeutigen Symptomatik von Schizophrenien bei Menschen mit Intelligenzminderung ist die Nutzung von Unterkategorien nur vereinzelt hilfreich. Smith, Haut und Fleischer empfehlen daher in der diagnostischen Betrachtung der Schizophrenie, Unterkategorien lediglich auf diagnostisch eindeutige Fälle zu beschränken und ansonsten die Hauptkategorien zu nutzen. (Smith, Haut, & Fleischer, 2007, S. 148). Die Definition der Schizophrenie gemäß ICD-10 lautet dabei wie folgt (Das DIMDI Medizinwissen online, www.dimdi.de): „Die schizophrenen Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome. Der Verlauf der schizophrenen Störungen kann entweder kontinuierlich episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten sein, oder es können eine oder mehrere Episoden mit vollständiger oder unvollständiger Remission auftreten. 42 Die Diagnose Schizophrenie soll bei ausgeprägten depressiven oder manischen Symptomen nicht gestellt werden, es sei denn, schizophrene Symptome wären der affektiven Störung vorausgegangen. Ebenso wenig ist eine Schizophrenie bei eindeutiger Gehirnerkrankung, während einer Intoxikation oder während eines Entzugssyndroms zu diagnostizieren. Ähnliche Störungen bei Epilepsie oder anderen Hirnerkrankungen sollen unter F06.2 kodiert werden, die durch psychotrope Substanzen bedingten psychotischen Störungen unter F10-F19, vierte Stelle .5.“ Zu den Kernsymptomen von Schizophrenien gehören also Wahn, Halluzinationen sowie formale Denkstörungen74, inadäquate Affekte75 und Ich-Störungen76. Man unterschiedet zudem sogenannte Positiv- oder Plussymptome meist zu Beginn einer Psychose, zu denen produktive neuartige Leistungen wie zum Beispiel Wahn, Halluzinationen, innere Spannung und Unruhe oder motorische Erregung gehören, von sogenannten Minussymptomen oder Negativsymptomen, die eher Defizite im Verlauf der Erkrankung kennzeichnen. Zur Minussymptomatik gehören zum Beispiel Apathie oder eine Affektarmut ebenso wie eine zunehmende Interessenlosigkeit (Hoffmann, 2014, S. 108). Da sie weniger spezifisch sind und daher klinisch weniger deutlich auffallen, werden Negativsymptome seltener als Plussymptome erkannt, gelegentlich sogar übersehen. Es ist daher besonders wichtig, das mögliche Vorliegen von Negativsymptomen aktiv zu prüfen. Die Symptome einer Schizophrenie können in unterschiedlicher Kombination auftreten. Bei Menschen mit Intelligenzminderung ist für die Diagnostik eine ausreichend gute Kommunikationsfähigkeit von Bedeutung. Sollte diese nicht geben sein, wird die Diagnostik erschwert. Diese Erschwernis geht dabei häufig mit der Schwere der Intelligenzminderung einher. Daher können bei eingeschränkten oder fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten Verhaltensbeobachtungen hilfreich sein, zumal sich bei Menschen mit einer Intelligenzminderung die Symptome einer Schizophrenie vordergründig auch nur als Verhaltensauffälligkeiten zeigen können. Hinsichtlich ihrer 74 Formale Denkstörungen sind Störungen des Denkablaufs und können zum Beispiel die Denkgeschwindigkeit betreffen Inadäquate Affekte können zum Beispiel im Fall einer Parathymie bedeuten, dass der Patient lacht, wenn Weinen als Affekt angebracht wäre 76 Zu den Ich-Störungen gehören u.a. Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung 75 43 Form und Ausprägung Intelligenzminderung können deutlich sich von Schizophrenien Schizophrenien bei bei Menschen Menschen mit ohne Intelligenzminderung unterscheiden. Die Kriterien des psychiatrisch-diagnostischen Algorithmus, zu denen zum Beispiel der zeitliche Verlauf gehört, unterscheiden sich aber nicht (Smith, Haut, & Fleischer, 2007, S. 143). Geht man auf die Form und Ausprägung der Symptome einer Schizophrenie bei Menschen mit Intelligenzminderung genauer ein, so wird man feststellen, dass für die Diagnostik häufig bestimmte Voraussetzungen oder Fähigkeiten der Patienten hilfreich wären. In der folgenden Aufzählung werden daher die Kernsymptome der Schizophrenie in Bezug zu den Ressourcen der Patienten gestellt: So ist es beispielsweise für die Beurteilung der Wahnsymptomatik wichtig, dass ein ausreichendes Sprachverständnis besteht und eine ausreichende aktive Sprachproduktion oder eine anders gelagerte aktive Kommunikation gegeben sind. Ist ein ausreichendes Sprachverständnis gegeben, müssen mögliche Wahninhalte jeweils individuell betrachtet werden. Die Inhalte fallen nämlich häufig einfach aus und können daher übersehen werden. Zudem lässt sich bei Patienten mit Intelligenzminderung das Wahnerleben manchmal kurzfristig korrigieren. Dies tritt insbesondere dann auf, wenn sich die Patienten sozial erwünscht verhalten wollen. Das wiederum erschwert die Diagnostik, da eine Wahnsymptomatik auch durch eine fehlende Korrigierbarkeit des Wahnthemas definiert ist. Halluzinationen treten meist als akustische Halluzinationen, selten auch als optische Halluzinationen auf. Dabei sind sie häufig leichter als bei Menschen ohne Intelligenzminderung zu erkennen, da die Patienten mit Intelligenzminderung weniger bemüht sind, ihre Halluzinationen zu verdecken. Patienten fallen zum Beispiel dadurch auf, dass sie Dialoge führen oder aktiv zuhören, ohne einen Gesprächspartner vor oder neben sich zu haben. Schwierig ist allerdings die differentialdiagnostische Unterscheidung von Halluzinationen 44 bei Menschen mit schweren Formen der Intelligenzminderung oder tiefgreifenden Entwicklungsstörung, da Selbstgespräche sowohl im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen als auch mit Halluzinationen auftreten können. Zu den Auffälligkeiten der Psychomotorik77 gehören Katatonien78, die bei besonders schweren Formen der schizophrenen Psychosen auftreten können. Diese Auffälligkeiten sind zwar gut erkennbar, müssen aber sorgfältig beobachtet und eingeordnet werden, um nicht als motorische Besonderheit oder Verhaltensauffälligkeit missdeutet zu werden. Eine Einordnung dieser Symptome im zeitlichen und situativen Kontext kann dabei hilfreich sein. Schwieriger stellt sich bei Menschen mit Intelligenzminderung die richtige Einordnung von sogenannten formalen Denkstörungen dar. Zu diesen Störungen des Denkablaufs gehören zum Beispiel Denkhemmungen, Gedankenrasen, Vorbeireden, Ideenflüchtigkeit, etc. Eine fehlende oder mangelhafte Kenntnis Erkrankungsbeginn, kann des die intelligenzgeminderten diagnostische Patienten Einschätzung vor formaler Denkstörungen erschweren, weil der Vergleich zum gesunden Zustand des Patienten fehlt. Des Weiteren ist es für die Beurteilung von formalen Denkstörungen wichtig, dass ein ausreichendes Sprachverständnis und eine ausreichende, aktive Sprachproduktion oder eine anders gelagerte aktive Kommunikation vorhanden sind. Bestehen allerdings Unsicherheiten in der Symptomatologie, helfen erfahrungsgemäß eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Beobachtung und Bewertung der Symptome im Längsschnitt, das heißt über einen längeren Zeitraum. 77 Damit ist der Einfluss psychischer Vorgänge auf die Motorik gemeint Eine Katatonie kann bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen auftreten und zeigt sich als unnatürliche erregte, meist aber auch verkrampfte Haltung des Körpers 78 45 Rasche, unbegründete oder bizarre Verhaltensänderungen, desorganisiertes Verhalten, Aggression oder Selbstverletzung sollten in jedem Fall das betreuende Umfeld alarmieren. Zur fachlichen Einordnung dieser Symptome sollte dann eine medizinische und psychiatrische Abklärung erfolgen (Smith, Haut, & Fleischer, 2007, S. 148). Depressionen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung Depressionen gehören zu den sogenannten affektiven Störungen79, die eine Veränderungen der Stimmungslage nach sich ziehen. In der Systematik der ICD-10 werden neben Depressionen weitere affektive Störungen unterschieden. Die Darstellung dieses ICD-10 Abschnittes erfolgt in Hauptkategorien und Unterkategorien, wobei aus Gründen der Übersichtlichkeit nur für depressive Erkrankungen die Unterkategorien aufgelistet sind. Die Hauptkategorien sind zur Unterscheidung von Unterkategorien hervorgehoben und fett gedruckt: Manische Episode (F30) Bipolare affektive Störung (F31) Depressive Episode (F32) Leichte depressive Episode (F32.0) Mittelgradige depressive Episode (F32.1) Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2) Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3) Sonstige depressive Episoden (F32.8) Depressive Episode, nicht näher bezeichnet (F32.9) Rezidivierende depressive Störung (F33) Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (F33.0) Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F33.1) 79 Störungen des Affektes sind von schwerwiegenden Veränderung der Stimmungslage gekennzeichnet. Im Falle psychischer Störungen erlangen sie Krankheitswert. 46 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2) Rezidivierende vitale Depression, ohne psychotische Symptome Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen (F33.3) Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F33.4) Sonstige rezidivierende depressive Störungen (F33.8) Rezidivierende depressive Störung, nicht näher bezeichnet (F33.9) Anhaltende affektive Störungen (F34) Andere affektive Störungen (F38) Nicht näher bezeichnete affektive Störung (F39) Die ICD-10 Definition der Depression lautet wie folgt (Das DIMDI - Medizinwissen online, www.dimdi.de): „Bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.“ Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, weisen Charlot, Fox, Silka, Hurley, Lowry und Pary im Fall affektiver Störungen darauf hin, dass es vor einer Diagnosestellung wichtig ist, die Patienten und ihre Fähigkeiten möglichst auch vor 47 dem Erkrankungsbeginn zu kennen und das Vorliegen von körperlicher Krankheiten auszuschließen. Zugleich warnen sie auch vor einer leichtfertigen Gleichstellung von psychischen Erkrankungen mit einzelnen Krankheitssymptomen affektiver Störungen. So können beispielsweise Aggressionen bei Menschen mit Intelligenzminderung sowohl im Kontext psychischer Erkrankungen auftreten, als auch davon losgelöst lediglich unspezifische Stresssymptome sein (Charlot, et al., 2007, S. 157-158). Für die Diagnostik einer affektiven Störung ist eine gute Kommunikationsfähigkeit wichtig. Sollte diese nicht gegeben sein, kann die Diagnostik erschwert sein. Die diagnostischen Herausforderungen gehen auch mit der Schwere der Intelligenzminderung einher. Sofern eine ausreichende Kommunikation möglich ist, kann eine entwicklungspsychologische Beurteilung80 helfen, die Fähigkeiten der Patienten zur Symptomausbildung einzuschätzen. Befindet sich ein Patient beispielsweise auf einer frühkindlichen Entwicklungsstufe, wird dieser möglicherweise Schwierigkeiten haben, komplexere Gefühle wie Zukunfts- oder Versagensängste im Rahmen einer Depression zu äußern (Charlot, et al., 2007, S. 160). Zu unterstreichen ist ferner, dass im Zusammenhang mit affektiven Störungen auch unspezifische Symptome wie Unruhe, Anspannung, Ängste und Zwänge auftreten können. Zur diagnostischen Unterscheidung und Zuordnung einzelner Symptome können interdisziplinäre und multiprofessionelle Längsschnittuntersuchungen hilfreich sein. Im Fall depressiver Erkrankungen treten viele Symptomen in ähnlicher Weise wie bei Menschen ohne Intelligenzminderung auf. Zu diesen Symptomen zählen eine gedrückte Stimmungslage, Rückzug, Konzentrationsstörungen, Interessenlosigkeit, Erschöpfbarkeit und Müdigkeit, Lustlosigkeit, gelegentlich eine auch innere Unruhe. Hinzu kommen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung Symptome wie Streitlust und psychomotorische Anspannungszustände. Sofern die Patienten über ausreichende kognitive und kommunikative Fähigkeiten verfügen und eine entsprechende 80 Die Entwicklungspsychologie erläutert Veränderungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens in der lebenszeitlichen Entwicklung. Diese Entwicklung kann bei Menschen mit Intelligenzminderung unterschiedlich ausfallen und auch durchaus vom Intelligenzquotienten abweichen. 48 Erkrankungsschwere vorliegt, entwickeln und benennen sie Schuldgefühle, sinnlose Gedanken, den Wunsch zu sterben oder Suizidgedanken. Ein gestörter, meist reduzierter Appetit sowie Ein- oder Durchschlafstörungen können ebenfalls mit auftreten. Zur Fremdbeobachtung und -beurteilung einer depressiven Episode bei Menschen mit einer Intelligenzminderung können folgende, spezifische Symptome helfen: trauriger Gesichtsausdruck, Affektarmut81, Weinen, kein oder kaum Lachen Schimpfen, Selbstverletzung, zerstörerische Affekte Zunahme der Stereotypien oder der Umsetzungsfrequenz von Ritualen Ablehnung von beliebten Aktivitäten, Rückzug, Alleinsein, keine Teilnahme an der Gemeinschaft Aggressivität bei zuvor positiv empfundenen Aktivitäten oder Unternehmungen verändertes, vermehrtes oder obsessives Essen Gewichtszunahme oder Gewichtsabnahme Ein- und Durchschlafstörungen, verringertes oder vermehrtes Schlafbedürfnis, Früherwachen, Änderungen des Tag-Nacht-Rhythmus motorische Unruhe, Mutismus82, etc. vermehrte Erschöpfbarkeit, Antriebsarmut, vermehrtes Sitzen vermehrte negative Aussagen, negatives Selbstbild, Schulderleben Angst vor dem Pflegepersonal, unbegründete Ängste, häufige Rückversicherungen hinsichtlich der eigenen Akzeptanz verringerte Leistungsfähigkeit verschlechterte Kognition und handlungspraktische Fertigkeiten Angst vor dem Tod, häufiges Auseinandersetzen mit dem Tod, Patienten machen Aussagen zur Selbst- oder Fremdgefährdung 81 82 Reduzierte Gemütsregung Schweigen im Zusammenhang mit psychischen Störungen ohne Schädigung der Sprechorgane 49 Der aktuelle Forschungsstand geht bei Depressionen von einem multifaktoriellen83 Geschehen aus. Die Einteilung in reaktive84 und endogene85 Depressionen ist daher im klinischen Alltag meist verlassen. Bei Menschen mit Intelligenzminderung ist es dennoch lohnenswert angesichts der ihnen zur Verfügung stehenden psychischen Ressourcen, Kompensationsmechanismen und einer ohnehin häufig gegebenen psychischen Vulnerabilität86, an mögliche Auslöser einer depressiven Episode zu denken. Diese müssen für das Umfeld nicht unbedingt vordergründig erkennbar sein, können aber bei den Patienten eine depressive Entwicklung unterstützen. Dazu gehören einfache Betreuer- oder Personalwechsel innerhalb des sozialen Umfelds, wie zum Beispiel der Wohngruppe oder der Werkstatt. Solche Veränderungen können sich dann bei entsprechender Vulnerabilität massiv auf das psychische Befinden der Patienten auswirken. Des Weiteren können Depressionen rezidivierend87 auftreten. Diese Verläufe sind dadurch gekennzeichnet, dass es eine Aneinanderreihung mehrerer voneinander unabhängiger depressiver Episoden ohne intermittierende88 manische Episoden gibt. Die Symptome der einzelnen depressiven Episoden unterscheiden sich nicht von Depressionen ohne rezidivierenden Charakter. Rezidivierende depressive Störungen können auch mit belastenden Ereignissen zum Beispiel im Umfeld der Patienten in Zusammenhang gebracht werden (Meinert & Wilking, 2014, S. 118). 83 Aufgrund unterschiedlicher Einflüsse, Faktoren oder Ursachen Depression als Reaktion auf belastende Lebensereignisse Depression ohne erkennbare äußere Ursache, zum Beispiel in Folge einer Störung des Hirnstoffwechsels 86 Verwundbarkeit, hier im Sinne der Psyche gemeint 87 Wiederholt auftretend 88 Mit Unterbrechungen 84 85 50 Angststörungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung Im diesem Abschnitt des dritten Kapitels werden Angststörungen vorgestellt. Sie gehören gemäß ICD-10 zu den sogenannten „Neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen“. Angststörungen sind eine heterogene89 Erkrankungsgruppe und reichen von phobischen Störungen bis hin zu generalisierten Störungen. Zur besseren inhaltlichen Einordnung innerhalb des ICD-10 Kataloges erfolgt auch für die Angststörungen zunächst eine Vorstellung des ICD-10 Abschnittes, in dem sie kodiert werden. Eine Unterscheidung zwischen Hauptkategorien und Unterkategorien erfolgt analog zu den bereits vorgestellten Erkrankungen. Dabei sind die Hauptkategorien in Abgrenzung zu den Unterkategorien hervorgehoben und fett gedruckt: Phobische Störungen (F40) Agoraphobie (F40.0) Soziale Phobien (F40.1) Spezifische (isolierte) Phobien (F40.2) Sonstige phobische Störungen (F40.8) Phobische Störung, nicht näher bezeichnet (F40.9) Andere Angststörungen F41 Panikstörung (F41.0) Generalisierte Angststörung (F41.1) Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2) Andere gemischte Angststörungen (F41.3) Sonstige spezifische Angststörungen (F41.8) Angststörung, nicht näher bezeichnet (F41.9) Zu diesem ICD-10 Kapitel gehören auch die folgenden, weiteren psychischen Erkrankungen, die sich von Angststörungen unterscheiden und daher hier nicht näher beleuchtet werden: 89 Zwangsstörung (F42) Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) uneinheitliche 51 Dissoziative Störungen (F44) Somatoforme Störungen (F45) Andere neurotische Störungen (F48) Die ICD-10 Definition der Angststörungen unterscheidet zwischen phobischen Störungen, also Ängste vor bestimmten umschriebenen Situationen wie etwa im Fall der Höhenangst, und anderen Angststörungen, zu denen die Panikstörung oder die generalisierten Angststörungen gehören. Im Einzelnen lauten die Definitionen gemäß ICD-10 wie folgt (Das DIMDI Medizinwissen online, www.dimdi.de): Phobische Störungen: „Eine Gruppe von Störungen, bei der Angst ausschließlich oder überwiegend durch eindeutig definierte, eigentlich ungefährliche Situationen hervorgerufen wird. In der Folge werden diese Situationen typischerweise vermieden oder mit Furcht ertragen. Die Befürchtungen des Patienten können sich auf Einzelsymptome wie Herzklopfen oder Schwächegefühl beziehen, häufig gemeinsam mit sekundären Ängsten vor dem Sterben, Kontrollverlust oder dem Gefühl, wahnsinnig zu werden. Allein die Vorstellung, dass die phobische Situation eintreten könnte, erzeugt meist schon Erwartungsangst. Phobische Angst tritt häufig gleichzeitig mit Depression auf. Ob zwei Diagnosen, phobische Störung und depressive Episode, erforderlich sind, richtet sich nach dem zeitlichen Verlauf beider Zustandsbilder und nach therapeutischen Erwägungen zum Zeitpunkt der Konsultation.“ Andere Angststörungen: „Bei diesen Störungen stellen Manifestationen der Angst die Hauptsymptome dar, ohne auf eine bestimmte Umgebungssituation bezogen zu sein. Depressive und Zwangssymptome, sogar einige Elemente phobischer Angst können vorhanden sein, vorausgesetzt, sie sind eindeutig sekundär oder weniger ausgeprägt.“ 52 Die Bewertung von Angstzuständen bei Menschen mit Intelligenzminderung setzt meist eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit bei den Patienten voraus, daher gilt auch hier, dass die diagnostischen Herausforderungen mit der Schwere der geistigen Behinderung einhergehen. In der Fremdbeobachtung und -beurteilung können folgende Symptome auf das Vorliegen von Angststörungen hinweisen: Zittern Übelkeit Bauchschmerzen Herzrasen Atemnot Schwitzen Erröten und Unruhe Die Beobachtung und Bewertung eines weiteren wichtigen Angstsymptoms, nämlich des Vermeidungsverhaltens, kann bei Menschen mit Intelligenzminderung schwierig ausfallen. Zum einen besteht in der Ausprägung dieses Symptoms eine Abhängigkeit zum Grad der Intelligenzminderung, zum anderen kann ein mögliches Vermeidungsverhalten durch behinderungsbedingte Besonderheiten, Assistenzleistungen oder flankierende Hilfen maskiert werden. Ein Beispiel soll die problematische Einordnung verdeutlichen: Patienten mit sozialen Phobien meiden häufig den Kontakt zu anderen Menschen aus Angst vor einer prüfenden Betrachtung (Elstner & Eckhart, 2014, S. 132). Im Falle eines immobilen Patienten mit sozialen Phobien stellt sich die Ausgangslage anders dar. So kann es sein, dass er aufgrund seiner Immobilität eine angstbesetzte Situation in Begleitung einer betreuenden vertrauten Person erlebt und dadurch weniger Ängste erfährt bzw. das Vermeidungsverhalten zum Teil in den Hintergrund tritt. Trifft der Patient aber ohne Begleitung auf die angstauslösende Situation, treten seine Ängste im vollen Umfang auf und der Patient zeigt ein Vermeidungsverhalten, dass unter Umständen mit Verhaltensauffälligkeiten, wie Rückzug einhergeht. Ohne eine gute Kenntnis des Patienten, können diese Verhaltensauffälligkeiten dann nur schwer einzuordnen sein. 53 Bei eingeschränkten oder fehlenden kommunikativen Fähigkeiten kann die Schilderung anderer typischer Angstsymptome wie zum Beispiel von Derealisations- oder Depersonalisationserleben90, der Angst vor Kontrollverlust oder Todesängsten ausbleiben oder nur unvollständig und damit ggf. nicht nachvollziehbar berichtet werden. Sind die Angststimuli91 bekannt, kann aus diagnostischer Sicht zur Klärung unsicherer Symptome eine Exposition92 der Patienten gegenüber diesen Stimuli, insbesondere beim Fehlen einer aktiven Sprachproduktion, helfen. Nach Coory, Gabriel und Gaus scheint die Prävalenz der Angststörungen bei Menschen mit Intelligenzminderung höher oder zumindest ähnlich wie in der übrigen Bevölkerung auszufallen. Allerdings scheint es aufgrund von Phänomenen wie dem „diagnostic overshadowing“93 eine Diskrepanz94 zwischen der Studienlage und einer gleichzeitig höher vermuteten Dunkelziffer zu geben. Wie bei anderen psychischen Erkrankungen besteht also auch bei Angststörungen das Problem, dass die Symptome als behinderungsimmanente95 Verhaltensauffälligkeiten verkannt werden können. Des Weiteren können bestehende psychopharmakologische Behandlungen, zum Beispiel aufgrund von sedierenden Effekten, das Vorliegen von Ängsten verschleiern oder gänzlich maskieren (Cooray, Gabriel, & Gaus, 2007, S. 188). Da aus psychiatrischer Sicht die Symptomatik der Angststörungen, abgesehen von Derealisations- oder Depersonalisationserleben und den Ängsten selbst, eher unspezifisch ist, hat die richtige Einordnung der Symptome in Abgrenzung zu anderen psychischen Erkrankungen eine wichtige differentialdiagnostische Bedeutung. Ähnliche Symptome wie die einer Angststörung können nämlich auch bei Suchterkrankungen, Schizophrenien, Depressionen oder Manien auftreten. 90 Derealisation und Depersonalisation bezeichnen eine veränderte, meist verfremdete Wahrnehmung der Umwelt bzw. der eigenen Person 91 Angst auslösende Reize oder Situationen 92 Das Aussetzen, hier gegenüber den Angststimuli 93 Vgl. Seite 14 des Skriptes 94 Missverhältnis 95 Zum Behinderungsbild dazugehörig 54 Da Ängste häufig auch mit einer körperlichen Stressreaktion einhergehen, sind die nachfolgend genannten Stresssymptome sorgfältig zu betrachten und von körperlichen Beschwerden abzugrenzen (Cooray, Gabriel, & Gaus, 2007, S. 188). Zu den unspezifischen Stresssymptomen gehören nämlich auch Reaktionen wie zum Beispiel: Übelkeit Bauchschmerzen Herzrasen Atemnot oder Schwitzen Diese Symptome können zum Teil auch bei anderen Stressreaktionen, wie zum Beispiel bei Schmerzgeschehen auftreten. Eine gute Diagnostik ist also wichtig, damit nicht aufgrund der Ähnlichkeit der Symptome therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden, die wenig Einfluss auf die Ursache der Beschwerden haben, und somit dem Patienten nicht helfen. Zu ergänzen bleibt auch, dass es eine häufige Komorbidität96 von Depressionen und Angststörungen gibt. Beim Verdacht einer Angststörung sollte daher auch das Vorliegen einer Depression geprüft werden. Der engen wechselseitigen Beziehung beider Erkrankungen trägt auch die ICD-10 mit einer eigenen Diagnose Rechnung. Sollten nämlich beide Erkrankungen nicht in der vollen Ausprägung diagnostizierbar sein, sieht die ICD-10 eine kombinierte Diagnose als sogenannte gemischte Angst und depressive Störung (F41.2) vor. Auch im Falle älterer Menschen mit einer Intelligenzminderung ist es wichtig, an das gemeinsame und gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher psychischer Erkrankungen zu denken. Dieser gerontopsychiatrische Aspekt betrifft besonders Patienten mit einer beginnenden dementiellen Entwicklung, die nicht selten neben ihrer Demenz auch Ängste und depressive Symptome entwickeln. Die alleinige Zuschreibung der Symptome zum Krankheitsbild Demenz ist oft unzureichend und stellt daher häufig keinen ausreichenden Ansatz für eine adäquate Behandlung dar. 96 Begleiterkrankung zusätzlich zur Grunderkrankung, in diesem Fall kann die Grunderkrankung sowohl die Angststörung als auch die Depression sein 55 Autismus-Spektrum-Störungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung Die Störungen aus dem autistischen Spektrum werden in der ICD-10 den so genannten Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen97 zugeordnet. Der Abschnitt Tiefgreifende Entwicklungsstörungen wird in der nachfolgenden ICD-10 Systematik zusammenfasst und beinhaltet folgende unterschiedliche Krankheitsbilder: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) Frühkindlicher Autismus (F84.0) Atypischer Autismus (F84.1) Rett-Syndrom (F84.2) Andere desintegrative Störung des Kindesalters (F84.3) Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) Asperger-Syndrom (F84.5) Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.8) Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet (F84.9) Die ICD-10 Definition der tiefgreifenden Entwicklungsstörung lautet wie folgt (Das DIMDI - Medizinwissen online, www.dimdi.de): „Diese Gruppe von Störungen ist gekennzeichnet durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Diese qualitativen Auffälligkeiten sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal des betroffenen Kindes.“ Abweichend von der ICD-10 Systematik geht man derzeit bei autistischen Störungen von einer sogenannten Spektrum-Störung aus. Damit ist eine breite Verteilung der Störungsbilder in einem Spektrum, abhängig von der jeweiligen Symptomatik, gemeint. Die Störungen reichen von den schweren Erkrankungsbildern des frühkindlichen Autismus, die nicht selten auch mit schweren Intelligenzminderungen einhergehen, bis 97 Je nach Quelle findet sich auch diese Schreibweise: „Tief greifende Entwicklungsstörungen“ 56 hin zum Asperger-Syndrom, bei dem eine Intelligenzminderung in der Regel nicht vorliegt. Außerdem wird derzeit davon ausgegangen, dass Erkrankungen aus den Autismus-Spektrum-Störungen eher unterdiagnostiziert sind. Nach Bonfardin, Zimmerman und Gaus treten die ersten Symptome meist im Alter von 18 Monaten auf. Häufig werden die Betroffenen aufgrund eines verzögerten Spracherwerbs auffällig. Dabei werden nicht selten Störungen des Hörens vermutet (Bonfardin, Zimmerman, & Gaus, 2007, S. 75-76). In der kindlichen Entwicklung folgen oftmals Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion, zum Beispiel beim Spielen oder beim Augenkontakt, im Spracherwerb, in der Kommunikation und im Verhalten. Störungen der sozialen Interaktion bestehen in vielen Fällen ein Leben lang fort. Längsschnittbetrachtungen sind daher auch für die Diagnose einer Autismus-SpektrumStörung sehr wichtig. Dabei ist auch hier eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Vorgehensweise empfohlen. Zu den fremdanamnestisch gut beobachtbaren Symptomen der Autismus-SpektrumStörungen gehören: Defizite in der Kommunikationsfähigkeit Stereotypien98 Rituale Echolalie Inselbegabungen Ungeschicklichkeit soziale Ängste und sensorische Überempfindlichkeit Insbesondere aufgrund der sensorischen Überempfindlichkeit bevorzugen viele Patienten reizarme Umgebungen oder isolieren sich bewusst von der Umwelt. Viele Patienten geben an, dass sie sich bereits von leichten Umgebungsgeräuschen, wie etwa dem Flimmern einer Neonröhre oder von Geräuschen der Mitbewohner in den 98 Wiederholung gleicher oder ähnlicher Handlungen 57 Wohngemeinschaften oder der Lautstärke in den Werkstätten gestört fühlen. Oberflächliche leichte körperliche Berührungen, werden zum Teil als unangenehm erlebt oder sogar als schmerzhaft empfunden. Gleiches gilt auch für andere Sinneseindrücke. Was der Einzelne als unangenehm, belastend oder störend empfindet, kann individuell variieren. Die Ursache autistischer Störungen ist zu 75 % unbekannt, also idiopathisch und zu 25% mit genetischen Syndromen verbunden (Sappok, 2014, S. 264). Autistische Störungen unterschiedlicher Schwere treten auch bei einer Reihe von genetischen Syndromen auf. Dazu gehören zum Beispiel: Angelman-Syndrom Velo-kardio-faziales-Syndrom Down-Syndrom Fragiles-X-Syndrom Rett-Syndrom Smith-Magenis-Syndrom Tuberöse Sklerose Williams-Beuren-Syndrom Je nach Grad der Intelligenzminderung und der zugrundeliegenden genetischen Syndrome können bei den Patienten parallel weitere Erkrankungen, Defizite oder Störungen auftreten, zum Beispiel Epilepsien, motorische Störungen, Blindheit, etc. Auch hier gilt, dass meist eine Beziehung zwischen der Schwere der Intelligenzminderung und den begleitenden Defiziten und Störungen gegeben ist. In der täglichen Begegnung mit Menschen, die von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen sind, kommt es durchaus regelmäßig vor, dass eine diagnostische Einordnung ihrer Symptome noch nicht erfolgt ist. Von daher ist die Kenntnis dieser Symptome sowohl für die Qualität der Diagnostik als auch für die Qualität der Behandlung und Betreuung unerlässlich. 58 Zusammenfassung Zusammenfassend beschreibt dieses Kapitels die Symptome häufiger psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung. Methodisch erfolgte zunächst eine Einordung der psychischen Erkrankungen in die ICD-10 Systematik, bevor dann die Besonderheiten der Symptomatik bei Menschen mit Intelligenzminderung besprochen wurden. Zu den besprochenen psychischen Erkrankungen gehören die Schizophrenie (F20), die Depression (F32), Angststörungen (F41) und AutismusSpektrum-Störungen (F84). Das Erkennen von Symptomen psychischer Erkrankungen ist oftmals der erste und damit auch entscheidende Schritt für deren Behandlung. Fehlt diese Kompetenz im betreuenden Umfeld, können notwendige medizinische Vorstellungen und Untersuchungen ausbleiben. Auch für die spätere Verlaufsbewertung der Erkrankungen sind diese Kenntnisse entscheidend. Die Symptome einer Schizophrenie können bei Menschen mit Intelligenzminderung in mit einer recht unterschiedlichen Prägung auftreten. Für die Diagnostik ist, wie bei anderen psychischen Kommunikationsfähigkeit Erkrankungen von auch, Bedeutung, eine wobei ausreichend der Verlust gute der Kommunikationsfähigkeit häufig mit der Schwere der Intelligenzminderung einhergeht. Bei Einschränkungen Verhaltensbeobachtungen oder hilfreich einer sein. fehlenden Kommunikation Aufgrund der oftmals können erschwerten diagnostischen Einordnung von Psychosen bei Menschen mit Intelligenzminderung ist die Nutzung von Unterkategorien nur vereinzelt hilfreich und sollte daher lediglich auf diagnostisch eindeutige Fälle beschränkt werden. Ansonsten die ist die Nutzung von Hauptkategorien zielführend. Zu den wichtigen Symptomen einer Schizophrenie gehören auch bei Menschen mit Intelligenzminderung Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen, inadäquate Affekte und Ich-Störungen. Depressionen gehören zu den sogenannten affektiven Störungen, die eine Veränderungen der Stimmungslage nach sich ziehen. Neben Depressionen gibt es zwar auch andere affektive Störungen, diese sind aber nicht Gegenstand des Skriptes. Depressionen werden sowohl in ihrem Schweregrad als auch in ihrem Verlauf unterschieden. Für Depressionen gilt, wie für andere psychische Erkrankungen auch, 59 dass vor einer Diagnosestellung die Kenntnis der Fähigkeiten der Patienten vor dem Erkrankungsbeginn wichtig ist, und dass das Vorliegen von körperlicher Krankheiten auszuschließen ist. Neben den gängigen Symptomen können sich Depressionen bei Menschen mit Intelligenzminderung auch durch Symptome wie Schimpfen, Selbstverletzung, zerstörerische Affekte, Zunahme von Stereotypien, Ablehnung von beliebten Aktivitäten, Rückzug, Alleinsein, keine Teilnahme an der Gemeinschaft, Aggressivität bei zuvor positiv empfundenen Aktivitäten oder Unternehmungen zeigen. Betrachtet man Angststörungen so wird zwischen phobischen Störungen, also Ängste vor bestimmten umschriebenen Situationen wie etwa im Fall der Höhenangst, und anderen Angststörungen, zu denen die Panikstörung oder die generalisierten Angststörungen gehören, unterschieden. Wie bei anderen psychischen Erkrankungen besteht also auch bei Angststörungen das Problem, dass die Symptome als behinderungsimmanent eingeschätzt und somit verkannt werden können. Des Weiteren können bestehende Behandlungen mit Psychopharmaka das Vorliegen von Ängsten verschleiern. Neben Stresssymptomen wie Herzrasen, Zittern, Übelkeit, Atemnot, Schwitzen, Erröten oder Unruhe ist das Vermeiden der angstauslösenden Situationen typisch für Angsterkrankungen. Zudem kann ein Derealisations- oder Depersonalisationserleben im Zuge von Angststörungen auftreten. Bei autistischen Störungen geht man derzeit von einer sogenannten Spektrum-Störung aus. Die Störungen reichen innerhalb des Spektrums vom frühkindlichen Autismus, bis zum Asperger-Syndrom. Je nach Schwere des zugrundeliegenden Autismus gehören zu den typischen Symptomen dieser Erkrankung zum Beispiel Defizite in der Kommunikationsfähigkeit, Stereotypien, Rituale, Echolalie, Inselbegabungen, Ungeschicklichkeit, soziale Ängste und eine sensorische Überempfindlichkeit. Insgesamt geht man zurzeit davon aus, dass Erkrankungen aus den Autismus-SpektrumStörungen eher unterdiagnostiziert sind. 60 Schlüsselwörter Einführung, Überblick und Besonderheiten häufiger psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung auf der Symptomebene. Zu den ausgewählten Erkrankungen gehören die Schizophrenie, die Depression, Angststörungen und Autismus-Spektrum-Störungen. Aufgaben zur Lernkontrolle Was sind die besonderen Symptommerkmale der Schizophrenie, der Depression, von Angststörungen und Autismus-Spektrum-Störungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung? Was sind typische Merkmale der Schizophrenie in Abgrenzung zu einer Autismus-Spektrum-Störung? Welche Symptome lassen eine Unterscheidung von Angststörungen und Depressionen zu? Stellen Sie Ihre Ergebnisse in einer Tabelle dar! Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit Welche Vorteile bietet Ihnen die spezialisierte Kenntnis von Symptomen psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung in der Praxis an? Welche Erfahrungen machen Ihre KollegInnen? Gehen Sie mit Ihren KollegInnen ins Gespräch. Machen Sie sich Notizen! 61 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen Smith, A. H., Haut, F., & Fleischer, M. H. (2007). Schizophernia and Other Psychotic Disorders. In R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First, Diagnostic manual Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability (S. 143-156). New York: NADD Press/National Association for the Dually Diagnosed. Charlot, L., Fox, S., Silka, V. R., Hurley, A., Lowry, M. A., & Pary, R. (2007). Mood Disorders. In R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First, Diagnostic manual Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability (pp. 157-186). New York: NADD Press/National Association for the Dually Diagnosed. Cooray, S., Gabriel, S., & Gaus, V. (2007). Anxiety Disorders. In R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First, Diagnostic manual - Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability (S. 187-207). New York: NADD Press/National Association for the Dually Diagnosed. Bonfardin, B., Zimmerman, A. W., & Gaus, V. (2007). Pervasive Developmental Disorders. In R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First, Diagnostic manual Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability (S. 75-82). New York. Hoffmann, K. (2014). Schizophrenie. In C. Schanze, Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen (pp. 106-116). Stuttgart: Schattauer. 62 Meinert, T., Wilking, E. (2014). Affektive Störungen. In C. Schanze, Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen (pp. 117128). Stuttgart: Schattauer. Elstner, S., Salzmann, E. (2014). Angst- und Zwangsstörungen, Belastungs-, dissoziative und somatoforme Störungen. In C. Schanze, Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen (pp. 129-146). Stuttgart: Schattauer. Sappok, T. (2014). Autismusspektrumstörungen. In C. Schanze, Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen (pp. 257278). Stuttgart: Schattauer. 63 Kapitel 4 - Herausforderung Alter und psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung Lernziele Nach dem Kapitel sollten Sie in der Lage sein gesundheitliche Herausforderungen des Alters bei Menschen mit Intelligenzminderung benennen zu können die besonderen Charakteristika der Demenz hervorheben zu können die Symptome der Demenz von denen einer Depression und eines Delirs abzugrenzen zu können Basistext Einführung - Alter und psychische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung Die Lebenserwartung von Menschen mit Intelligenzminderung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen und gleicht sich der Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung an. Zudem schließt sich in Deutschland die sogenannte „Generationenlücke“, die sich im Zusammenhang mit der Ermordung geistig behinderter Menschen in der Diktatur des Nationalsozialismus entwickelt hatte. (Hasseler, 2014, S. 2030). In Folge der gestiegenen Lebenserwartung treten daher bei Menschen mit Intelligenzminderung gerontologische99 Fragestellungen immer mehr in den Vordergrund. Da Menschen mit einer Intelligenzminderung ähnlich wie auch die Gesamt-bevölkerung von psychischen Erkrankungen im Alter betroffen sind, ergeben sich für diese Patientengruppe zum Teil neue gerontopsychiatrische Fragestellungen. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschieden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zu beachten. Diese beginnen bereits bei der Einordnung des Begriffes Alter. 99 Alterswissenschaftliche 64 So variiert100 bei Menschen mit Intelligenzminderung häufig allein schon der Erkrankungsbeginn sogenannter Alterskrankheiten, abhängig von der zugrunde liegenden Ursache der Intelligenzminderung. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: bei Menschen mit einem Down-Syndrom tritt die Alzheimer-Demenz abweichend von der Gesamtbevölkerung häufig im 5. Lebensjahrzehnt, gelegentlich auch früher, auf (Schupf, 2002, S. 405). Das bedeutet, dass bei Menschen, die von einem DownSyndrom betroffen sind, die Demenz früher beginnt und daher rechtzeitig an eine entsprechende Diagnostik gedacht werden muss, um diesen Patienten eine adäquate Therapie und flankierende Hilfen zu ermöglichen. Solche Besonderheiten gibt es aber nicht nur bei Menschen mit einem Down-Syndrom, sondern auch bei anderen Syndromen von denen Menschen mit Intelligenzminderung betroffene sind. An diesem Beispiel wird also rasch deutlich, dass es für die Bewertung von sogenannten Alterskrankheiten bei Menschen mit Intelligenzminderung wichtig ist, krankheitsrelevante Veränderungen im Alter, wie zum Beispiel die Symptome einer Demenz, zu kennen und zugleich die natürliche und spezifische Altersentwicklung unterschiedlicher Syndrome im Blick zu haben. Eine besonders häufige Erkrankung des Alters ist die Demenz. Das gilt sowohl für Menschen mit als auch ohne Intelligenzminderung. Und das Risiko an einer Demenz zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Die Demenz wird in der ICD-10 Systematik den Psychischen und Verhaltensstörungen zugerechnet. Demenzen können dabei alleine oder auch zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auftreten. So können in den Frühstadien einer Demenz Depressionen auftreten, im späteren Verlauf Angststörungen, wahnhafte Störungen, Aggressionen oder andere Symptome wie motorische Unruhe oder Apathie101. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung können sich bei den Demenzpatienten neurologische Störungen entwickeln (Frölich, Hausner, & Schneider, 2012, S. 214). Bei Menschen mit Intelligenzminderung können Demenzen ebenfalls zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, Angststörungen, 100 101 Abgestuft unterschiedlich sein Teilnahmslosigkeit 65 wahnhafte Störungen, Delir102 etc. auftreten. Die psychischen Begleiterkrankungen können vor allem bei Patienten mit leichteren Formen der Intelligenzminderung, wenn eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit erhalten ist, noch gut erkannt und behandelt werden. Mit zunehmendem Grad der Intelligenzminderung wird eine eindeutige diagnostische Zuordnung der Symptome schwerer. Dies gilt bei Menschen mit Intelligenzminderung auch für die Symptome der Demenz. Weitere Erschwernisse in der Diagnostik können auch aus abweichenden oder anderes gelagerten Erst- oder Folgesymptomen der Demenz resultieren. So können bei Menschen mit Intelligenzminderung zu Beginn einer Demenz der Verlust handlungspraktischer Fähigkeiten und nicht unbedingt kognitiver Einbußen im Vordergrund der Beschwerden stehen. (Poindexter, Pary, Martin, & Vicari, 2007, S. 120). In diesem Skript sind psychische Erkrankungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung bereits aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet worden. Dies gilt auch für einige psychische Erkrankungen, die zusammen oder unabhängig von der Demenz im Alter auftreten können. Dazu zählen Krankheitsbilder wie Depressionen und Angststörungen oder Wahn. Auf eine erneute Vorstellung dieser Erkrankungen und Symptome kann daher im Weiteren verzichtet werden. Die Demenz hingegen, als eine wichtige psychische Erkrankung des Alters, ist in diesem Skript noch nicht vorgestellt worden. Von daher wird in diesem Kapitel auf die Besonderheiten der Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung eingegangen. Bei Menschen mit Intelligenzminderung spielen im Alter neben der Demenz auch körperliche Erkrankungen eine wichtige Rolle. Diese werden im Weiteren zwar nicht näher besprochen, durch eine stichwortartige Übersicht einzelner Aspekte soll aber die Komplexität der gesundheitlichen Fragestellungen dieser Patientengruppe vermittelt werden. Nach Seidel sind folgende Beeinträchtigungen, Störungen und Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung im Alter besonders wichtig (Seidel, 2016, S. 122-125): 102 Ein Syndrom, dass mit Störungen des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung einhergeht und neben einem akuten Beginn einen wechselhaften Verlauf zeigt 66 Sinnesbehinderungen, zum Beispiel Sehen und Hören Beeinträchtigungen der Beweglichkeit und Motorik Erkrankungen des Alters, die den Bewegungsapparat, die inneren Organe, den Stoffwechsel etc. betreffen Osteoporose103 und Arthrose104 Verlust an Muskelmasse Polypharmazie105 ungünstige Medikamenteninteraktion106 Da das Thema Alter bei Menschen mit Intelligenzminderung allein aufgrund des beschränkten Umfangs dieses Skript nicht umfassend, sondern nur für den Schwerpunkt Demenz besprochen werden kann, eignet sich zum weiterführenden Studium psychischer Erkrankungen sowie der geistigen Behinderung im Alter unter dem Aspekt Lebensqualität das kürzlich erschienene Werk von Müller und Gärtner „Lebensqualität im Alter - Perspektiven für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen“(Müller & Gärtner, 2016). Das Thema Altern mit geistiger Behinderung wird auch in dem Werk von Havemann und Stöppler behandelt. Darin werden neben Grundlagen zum Thema Altern die Lebensperspektive und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung angesprochen (Havemann & Stöppler, 2010). Ziel dieses Kapitels bleibt also, in Analogie zum dritten Kapitel, die Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung, vorzustellen. Da die Demenz zwar ein eigenständiges Syndrom107 ist, jedoch durch unterschiedliche Erkrankungen hervorgerufen werden kann, soll auch ein Überblick über die verschiedenen Ursachen einer Demenz vermittelt werden. Zudem wird die Abgrenzung einer Demenz zu den Erkrankungen Depression und Delir besprochen. 103 Verlust an Knochensubstanz Gelenkverschleiß Gleichzeitige Gabe unterschiedlicher Medikamente 106 Wechselwirkung von Medikamenten. Diese können zum Teil schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben 107 Ein Syndrom steht für ein Krankheitsbild mit ähnlichen oder einheitlichen Symptomen. Dabei kann das Syndrom, hier die Demenz, verschiedene Ursachen haben 104 105 67 Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung Demenzen werden gemäß ICD-10 den sogenannten „Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen“ zugerechnet. Zur besseren inhaltlichen Einordnung innerhalb des ICD-10 Kataloges erfolgt auch für die Demenzen eine Vorstellung des ICD-10 Abschnittes, in dem sie kodiert werden. Dabei sind die Hauptkategorien in Abgrenzung zu den Unterkategorien hervorgehoben und fett gedruckt: Demenz bei Alzheimer-Krankheit (F00) Demenz bei Alzheimer-Krankheit, mit frühem Beginn (Typ 2) (F00.0) Demenz bei Alzheimer-Krankheit, mit spätem Beginn (Typ 1) (F00.1) Demenz bei Alzheimer-Krankheit, atypische oder gemischte Form (F00.2) Demenz bei Alzheimer-Krankheit, nicht näher bezeichnet (F00.9) Vaskuläre Demenz (F01) Vaskuläre Demenz mit akutem Beginn (F01.0) Multiinfarkt-Demenz (F01.1) Subkortikale vaskuläre Demenz (F01.2) Gemischte kortikale und subkortikale vaskuläre Demenz (F01.3) Sonstige vaskuläre Demenz (F01.8) Vaskuläre Demenz, nicht näher bezeichnet (F01.9) Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (F02) Demenz bei Pick-Krankheit (F02.0) Demenz bei Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (F02.1) Demenz bei Chorea Huntington (F02.2) Demenz bei primärem Parkinson-Syndrom (F02.3) Demenz bei HIV-Krankheit [Humane Immundefizienz- Viruskrankheit] (F02.4) Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheitsbildern (F02.8). Dazu gehören Demenzen bei: Epilepsie, hepatolentikulärer Degeneration, Hyperkalziämie, Hypothyreose, Intoxikationen, Lewy- 68 Körper-Krankheit, Multipler Sklerose, Neurosyphilis, Pellagra, Panarteriitis nodosa, Trypanosomiasis, systemischem Urämie, Lupus erythematodes, Vitamin-B12-Mangel, zerebraler Lipidstoffwechselstörung, Nicht näher bezeichnete Demenz (F03) Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt (F04) Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt (F05) Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit (F06) Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F07) Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung (F09) Die ICD-10 Definition der Demenz lautet wie folgt (Das DIMDI - Medizinwissen online, www.dimdi.de): „Demenz ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf. Dieses Syndrom kommt bei Alzheimer-Krankheit, bei zerebrovaskulären Störungen und bei anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn betreffen.“ Schon anhand des ICD-10 Kataloges wird deutlich, wie vielfältig die Ursachen der Demenz sein können. Dabei können Demenzen abweichend von der ICD-10 Systematik in unterschiedliche ätiologischen108 Kategorien geordnet werden. Gängig ist 108 Die Ätiologie ist die Lehre der Krankheitsentstehung 69 beispielsweise eine Einteilung der Demenz nach primären und sekundären Ursachen. Zu den primären Ursachen zählen Erkrankungen, deren eigentlicher Verlauf eine Erkrankung des Gehirns ist. Zu den sekundären Ursachen werden Erkrankungen gezählt, in deren Folge sich nachgeordnet eine Demenz entwickelt, so zum Beispiel bei Infektionen, Tumorerkrankungen oder Hormonstörungen. Ordnet man die Demenzen nach ihrer Ätiologie so ergibt sich folgende Einteilung (Frölich, Hausner, & Schneider, 2012, S. 209): Neurodegenerative Demenzen: diese Demenzen sind durch einen fortschreitenden Verlust von Nervenzellen charakterisiert. Dazu zählen zum Beispiel: die Alzheimer-Demenz die Lewy-Körperchen Demenz Demenz bei Pick-Krankheit etc. Vaskuläre Demenzen: diese Demenzen sind hauptsächlich durch gefäßbedingte Störungen der Hirnfunktion, wie Hirninfarkte, etc. bedingt Gemischte Demenzen: die sowohl neurodegenerative Ursachen als auch vaskuläre Ursachen haben können Sekundäre Demenzen: die Ursache dieser Demenzen kann vielfältig sein. Dazu gehören zum Beispiel: Infektionen, wie HIV oder Syphilis Tumorerkrankungen Hormonstörungen Störungen der Blutsalze Toxische Ursachen etc. Betrachtet man die Symptome, die letztlich das Syndrom Demenz kennzeichnen, unabhängig von den Ursachen, so gibt es zwischen den einzelnen charakteristischen Symptomen der Demenz bei Menschen mit und ohne Intelligenzminderung kaum 70 Unterschiede (Poindexter, Pary, Martin, & Vicari, 2007, S. 123). Daher ist es bei Menschen mit Intelligenzminderung wichtig, ihre Fähigkeiten vor einer dementiellen Erkrankung zu kennen. Das betreuende Umfeld kann hierbei entscheidend unterstützen. Für die Diagnose einer Demenz sind folgende Symptome wichtig: Abbau von Kognition109 und Mnestik110, Aphasie111, Apraxie112, Agnosie113, Störungen der Exekutivfunktionen114, etc. Abbau der Selbstversorgungsfähigkeiten bei zunehmendem Hilfebedarf es ergeben sich Beeinträchtigungen bei der Arbeit, den sozialen Aktivitäten oder im zwischenmenschlichen Bereich es können Veränderung der Persönlichkeit, wie zum Beispiel sozialer Rückzug, Apathie115 oder Feindseligkeit auftreten für die Diagnose Demenz ist es wichtig, dass es keinen Anhalt für das Vorliegen einer akuten organischen Psychose, einer somatischen Störung116 oder einer anderen Erkrankung, zum Beispiel einer Depression oder einem Delir gibt, die ansonsten die Symptomatik auch erklären könnte. Dabei ist die differentialdiagnostische Abgrenzung eines Delirs besonders wichtig im Zuge einer Demenz können epileptische Anfälle auftreten In der Diagnostik einer Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung gilt auch, dass die Symptome in der Reihenfolge ihres Auftretens durchaus variieren können. Daher sollten für diese Patientengruppe, auch wenn es kaum methodisch befriedigende Instrumente gibt, Veränderungen der Kognition und Mnestik, soweit möglich, erfasst werden, um zumindest einen Ausgangspunkt für die weitere Verlaufsbeurteilung zu haben. Dabei können die Beobachtungen des unmittelbaren Umfelds hilfreich sein. Die 109 Fähigkeit der intelligenten Informationsverarbeitung, siehe auch Seite 8 des Skriptes Fähigkeit zur Erinnerung gespeicherter Informationen 111 Eine Störung der Sprache oder Teilen der aktiven Sprache nach dem Spracherwerb. Die Aphasie kann die Spontansprache, das Nachsprechen, das Sprachverständnis und die Wortfindung betreffen 112 Apraxie ist eine Störung der Ausführung willkürlicher, zielgerichteter Handlungen und der Benutzung von Werkzeugen bei intakter motorischer Funktion 113 Eine Störung des Erkennens und des Benennens von Dingen bei nicht gestörten Sinnen 114 Eine Störung der willentlichen Handlung im Bezug zur Umwelt 115 Teilnahmslosigkeit, siehe auch Seite 69 des Skriptes 116 Eine Störung der körperlichen Funktionen 110 71 Beobachtungen des Umfeldes sind auch dann wichtig, wenn zwischen einer Demenz und dem Vorliegen anderer psychischer Erkrankungen unterschieden werden soll. Differentialdiagnostik der Demenz in Abgrenzung zur Depression und zum Delir Da es vor allem mit Blick auf die Therapie von besonderer Bedeutung ist, wird im Folgenden auf die differential-diagnostische Unterscheidung der Demenz in Abgrenzung zur Depression und zum Delir ausführlich eingegangen. Zur diagnostischen Abgrenzung einer Demenz von einer Depression kann man einige gängige Merkmale der allgemeinen psychiatrischen Diagnostik nutzen. In diesem Fall können das Gedächtnis, der Beginn und Verlauf der Symptome, der Charakter der Beschwerden, der begleitende Affekt und die Befindlichkeit der Patienten herangezogen werden. Die Beurteilung der Orientierung, der Alltagskompetenzen und das Vorliegen weiterer Störungen kann die differentialdiagnostische Unterscheidung von Demenzen und Depressionen ebenfalls erleichtern. Betrachtet man die Merkmale im Einzelnen so lässt sich häufig feststellen, dass bei Patienten mit einer Demenz das Gedächtnis stärker gestört ist als bei Patienten mit einer Depression. Der Beginn einer Demenz ist schleichend, im Vergleich dazu der Verlauf einer Depression eher rasch. Der Verlauf einer Depression ist meist episodisch117, der einer Demenz nicht. Depressive Patienten aggravieren118 ihre Beschwerden und zeigen dabei kaum Affekte119, demente Patienten zeigen ausgeprägte Affekte, neigen aber dazu, ihre Beschwerden zu bagatellisieren120. Demente Patienten befinden sich in einem Leistungstief mit schlechter Orientierung und Einschränkungen der Alltagskompetenzen, depressive Patienten in einem Stimmungstief mit einer meist ungestörten Orientierung und vergleichsweise wenig eingeschränkten Alltagskompetenzen. Bei dementen Patienten können im Rahmen der Störung zudem weitere neurologische Defizite auftreten, bei depressiven Patienten nicht. 117 zeitweise, vorübergehend Gesundheitliche Beschwerden werden stark betont 119 Gemütsregung 120 Gesundheitliche Beschwerden werden wenig betont 118 72 Betrachtet man Demenzen nun in Abgrenzung zu einem Delir können folgende differentialdiagnostische Merkmale hilfreich sein: Bewusstsein, Orientierung, Sprache, Halluzinationen, Wahn, Symptombeginn und Tagesverlauf. Bei dementen Patienten zeigen sich im Gegensatz zu deliranten Patienten keine wesentlichen Störungen des Bewusstseins. Störungen in der Orientierung und in der Sprache sind beim dementen Patienten im Vergleich zum deliranten Patienten meist weniger ausgeprägt und zeigen einen langsameren Symptomverlauf. Beim dementen Patienten sind Halluzinationen und Wahnsymptome selten, beim deliranten Patienten gehäuft zu sehen. Dabei entwickeln delirante Patienten eher optische Halluzinationen. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist der Verlauf: ein Delir beginnt meist akut, wobei die Symptome im Tagesverlauf stark schwanken können, eine Demenz entwickelt sich hingegen langsam und vergleichsweise beständig. Die Gegenüberstellung der Demenz einerseits und der Depression und des Delirs andererseits betrifft Menschen mit Intelligenzminderung gleichermaßen wie Menschen ohne Intelligenzminderung. Wichtig ist dabei, dass bei Menschen mit Intelligenzminderung die Symptome stets vor dem Hintergrund der individuellen Fähigkeiten der Patienten vor dem Erkrankungsbeginn betrachtet und bewertet werden. Nur so kann eine aussagekräftige diagnostische Einschätzung gelingen. Zusammenfassung Laut Poindexter, Pary, Martin und Vicari liegen bei Menschen mit Intelligenzminderung im Vergleich zu Menschen ohne Intelligenzminderung keine zusätzlichen oder anderen Kriterien in der Diagnostik der Demenz vor (Poindexter, Pary, Martin, & Vicari, 2007, S. 123). Entscheidend ist vielmehr die Erfassung erster Symptome und die Beobachtung des Verlaufs. Zu den allgemeinen Symptomen einer Demenz gehören unter andrem ein Abbau von Kognition und Mnestik, Aphasie, Apraxie, Agnosie, Störungen der Exekutivfunktionen, Veränderung der Persönlichkeit, wie zum Beispiel sozialer Rückzug, Apathie oder Feindseligkeit. Der Fremdbeobachtung wird in der Diagnostik eine wichtige Rolle zugeordnet. Des Weiteren ist für die Diagnostik und Therapie die Unterscheidung der Demenz in 73 Abgrenzung zur Depression und zum Delir wichtig und daher in diesem Kapitel beschrieben. Somit gilt für die Demenz ebenso wie für die meisten psychischen Erkrankungen, dass erst die Kenntnis der spezifischen Krankheitssymptome eine aussagekräftige Fremdbeobachtung ermöglicht. Bestehen diagnostische Zweifel so kann auch im Falle der Demenz eine Verlaufsbeobachtung im Längsschnitt helfen. Darüber hinaus kann ein interdisziplinärer und multiprofessioneller Behandlungsansatz hilfreich sein. Das betreuende Umfeld, egal ob Zuhause, in der Wohnstätte oder Werkstatt, trägt also zusammen mit den medizinischen und therapeutischen Leistungsanbietern eine besondere Verantwortung in der komplexen gesundheitlichen Fürsorge von Menschen mit Intelligenzminderung während der gesamten Lebensspanne und nicht nur im Alter. Schlüsselwörter Einführung, Überblick und Besonderheiten des Alters und der Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung. Aufgaben zur Lernkontrolle Was sind Merkmale der Demenz? Welche Demenzformen gibt es? Was sind mögliche Differentialdiagnosen einer Demenz? Welche Symptome lassen die Unterscheidung einer Demenz von einer Depression zu? Welche Symptome lassen die Unterscheidung einer Demenz von einem Delir zu? Stellen Sie Ihre Ergebnisse in einer Tabelle dar! Aufgaben mit Bezug zur Berufstätigkeit Welche Vorteile bietet Ihnen die spezialisierte Kenntnis von Symptomen der Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung in der Praxis an? Welche Erfahrungen machen Ihre KollegInnen? Gehen Sie mit Ihren KollegInnen ins Gespräch. Machen Sie sich Notizen! 74 Weiterführende Literaturhinweise, Internetadressen Müller, S. V., & Gärtner, C. (2016). Lebensqualität im Alter, Perspektiven für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen. Wiesbaden: Springer VS. Havemann, M., & Stöppler, R. (2010). Altern mit geistiger Behinderung, Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation. Stuttgart: Kohlhammer. Seidel, M. (2002). Altersbedingte psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB 26.04.2002 in Kassel. Berlin: Materialien der DGSGB. Klauß, T. (2008). Älterwerden und seelische Gesundheit - Perspektiven für Menschen mit geistiger Behinderung. Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB 07.03.2008 in Kassel. Berlin: Materialien der DGSGB. 75 Literaturverzeichnis Bonfardin, B., Zimmerman, A. W., & Gaus, V. (2007). Pervasive Developmental Disorders. In R. Fletcher, E. Loschen, C. Stavrakaki, & M. First, Diagnostic manual - Intellectual Disability: A Clinical Guide for Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability (S. 75-82). New York. Charlot, L., Fox, S., Silka, V. R., Hurley, A., Lowry, M. A., & Pary, R. (2007). Mood Disorders. In R. 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Freiburg: Lambertus Verlag. 80 Glossar Adaptives Verhalten Fähigkeit, sich an veränderte Situationen anzupassen Affekt Gemütsregung Affektarmut Reduzierte Gemütsregung Affektive Störungen Psychische Erkrankungen, die eine Veränderung der Stimmungslage nach sich ziehen Aggravieren Inhalte werden stark betont Agnosie Eine Störung des Erkennens und des Benennens von Dingen bei nicht gestörten Sinnen Algorithmen Der diagnostische Algorithmus ist eine diagnostische Handlungsempfehlung unter anderem auch anhand von festgelegten Kriterien Alkohol-Embryopathie Alkoholbedingte Erkrankung der Leibesfrucht Anamnese Erhebung der krankheitsrelevanten Patientengeschichte Angelman-Syndrom Ist Folge einer seltenen Genveränderung auf Chromosom 15, die unter anderem mit einer Intelligenzminderung, motorischen und psychischen Entwicklungsverzögerungen, einer stark reduzierten Lautsprachentwicklung, Epilepsie und Hyperaktivität einhergeht (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 27-29) Angststimuli Angstauslösende Reize oder Situationen Apathie Teilnahmslosigkeit Aphasie Eine Störung der Sprache oder von Teilen der aktiven Sprache nach dem Spracherwerb. Die Aphasie kann die Spontansprache, das Nachsprechen, das Sprachverständnis und die Wortfindung betreffen Apraxie Apraxie ist eine Störung der Ausführung willkürlicher, zielgerichteter Handlungen und der Benutzung von Werkzeugen bei intakter motorischer Funktion 81 Arthrose Gelenkverschleiß Asperger-Syndrom Eine Erkrankung aus dem Autismus-Spektrum, einhergehend mit Schwächen in der sozialen Interaktion und Kommunikation, stereotypen Aktivitäten und gelegentlich auch Insel- oder Hochbegabungen Ataxie Ist eine Störung der Bewegungskoordination Ätiologie Lehre der Krankheitsentstehung Autismus-Spektrum-Störung Tiefgreifende Entwicklungsstörung mit Störungen in der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung und Schwächen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie auch häufig mit stereotypen Verhaltensweisen einhergehend Bagatellisieren Inhalte werden wenig betont Baseline exaggeration Zunehmendes bzw. verstärktes Auftreten bekannter Verhaltensweisen oder -auffälligkeiten im Zuge psychischer Erkrankungen Behinderungsimmanent Zum Behinderungsbild dazugehörig Chromosomenanomalien Veränderungen der Chromosomen. Chromosomen sind Strukturen des Erbgutes Chronifizierung Übergang einer Erkrankung oder eines Symptoms in einen dauerhaften Zustand Cloak of competence Verdecken oder Verleugnen der eigenen Behinderung, wörtliche Übersetzung: „Deckmantel der Kompetenz“ Cognitive disintegration Angebotene Reize können nicht in einem sinnvollen Zusammenhang verarbeitet werden Cri-du-chat-Syndrom Ist Folge einer Genveränderung auf Chromosom 5. Es geht unter anderem mit einer Intelligenzminderung, charakteristischen körperlichen Merkmalen und psychischen Erkrankungen einher und ist nach dem katzenähnlichen Schreien der betroffenen Kinder 82 benannt (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 29-30) Defizit Mangel Delir Ein Syndrom, dass mit Störungen des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung einhergeht und neben einem akuten Beginn einen wechselhaften Verlauf zeigt Depersonalisationserleben Bezeichnet eine veränderte, meist verfremdete meist verfremdete Wahrnehmung der eigenen Person Derealisationserleben Bezeichnet eine veränderte, Wahrnehmung der Umwelt Diagnostic overshadowing Zuordnung von Krankheitsmerkmalen zum Wesen der Intelligenzminderung oder zur Behinderung Diagnostik Erhebung und Beurteilung von Befunden zum Zwecke der Einordung der Beschwerden zu einer Krankheit Diskrepanz Missverhältnis DNS Desoxyribonukleinsäure, im Englischen DNA, ist ein molekularer Träger der Erbinformation Down-Syndrom Synonym Trisomie 21, siehe Seite 25 ff. des Skriptes Drug-Holidays Medikamentenpause ausgehend vom Patienten oder seinem Umfeld ohne Anordnung durch einen Arzt DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, ein in den USA eingesetzter, diagnostischer und statistischer Leitfaden bei psychischen Störungen Dysmorphie Fehlbildung Echolalie Wiederholen von ganzen Sätzen, Teilsätzen oder Wörtern des Gesprächspartners Elektroenzephalografie Aufzeichnung der summierten elektrischen der summierten elektrischen Hirnaktivität Elektrokardiogramm Aufzeichnung Herzaktivität 83 Entwicklungspsychologie Erklärt aufeinander aufbauende Veränderungen des menschlichen Erlebens und Verhaltens Epilepsie Zerebrales Krampfleiden einhergehend mit Krampfanfällen in eine Folge anfallsartiger synchroner Entladungen von Nervenzellen des Gehirns Episodisch Zeitweise bzw. vorübergehend Exekutivfunktion Ist die willentliche Handlung im Bezug zur Umwelt Exposition Das Aussetzen zum Beispiel gegenüber den angstauslösenden Situationen oder Reizen Fetales-Alkohol-Syndrom Siehe Seite 29 ff. des Skriptes Formale Denkstörungen Formale Denkstörungen Denkablaufs und sind können zum Störungen des Beispiel die Denkgeschwindigkeit betreffen Fragiles-X-Syndrom Siehe Seite 33 ff. des Skriptes Fremdanamnese Aspekte der Krankengeschichte, die sich aus der Befragung des Umfeld des Patienten ergeben Gastrointestinaltrakt Verdauungstrakt Genmutationen Dauerhafte Veränderung des Erbgutes Gerontologie Alterswissenschaft GKV-Versorgungs- Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen stärkungsgesetz Krankenversicherung. Es regelt unter anderem die Ermächtigung von Medizinischen Behandlungszentren für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung Halluzinationen Akustische oder optische Wahrnehmungen ohne entsprechende Reize Herpes simplex Virusinfektion hervorgerufen durch Herpes-simplexViren Heterogen Unterschiedlich bzw. verschieden 84 Humangenetik Die Humangenetik ist eine fachärztliche Spezialisierung, die sich mit dem Erbgut der Menschen beschäftigt ICD-10 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit Ich-Störungen Zu den Ich-Störungen Gedankenlautwerden, gehören unter Gedankeneingebung anderem oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung Inadäquate Affekte Inadäquate Affekte können zum Beispiel im Fall einer Parathymie bedeuten, dass der Patient lacht, wenn Weinen als Gemütsregung angebracht wäre Interdisziplinarität Unterschiedliche Disziplinen einer Berufsgruppe, die zusammenarbeiten. Bei Ärzten zum Beispiel Fachärzte für Neurologie, Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Orthopädie, etc. Intermittierend Mit Unterbrechungen auftretend Inzidenz Bezeichnet die Häufigkeit des Neuauftretens einer Krankheit Katatonien Eine Katatonie kann bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen auftreten und zeigt sich als unnatürliche erregte, meist aber auch verkrampfte Haltung des Körpers Kognition Fähigkeit der intelligenten Informationsverarbeitung Komorbidität Eine zusätzlich zur Grunderkrankung oder zur Behinderung vorliegende, diagnostisch abgrenzbare Krankheit oder Störungsbild Konduktor Überträger einer Erbanlage, ohne dass der Überträger selbst diese Eigenschaft besitzt Libido Sexuelles Begehren 85 Medikamenteninteraktion Wechselwirkung von Medikamenten. Diese können zum Teil schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben Meiose Reifeteilung der Keimzellen, also der Spermien und der Eizellen Minussymptomatik Synonym auch Negativsymptomatik, bezeichnet eine krankheitsbedingte Apathie oder eine Affektarmut ebenso wie eine zunehmende Interessenlosigkeit Mirkozephalie Ein kleiner Kopfumfang, Minderentwicklung des auch mit einer Gehirns, also einer Mikroenzephalie, einhergehend Mitose Zellkernteilung bei der zwei Tochterkerne mit gleicher genetischer Information entstehen Mnestik Fähigkeit zur Erinnerung gespeicherter Informationen Morphologie Bezeichnet Struktur und Form Multifaktoriell Aufgrund unterschiedlicher Einflüsse, Faktoren oder Ursachen Multiprofessionalität Unterschiedliche Berufsgruppen, die zusammenarbeiten, zum Beispiel Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, etc. Mutismus Schweigen im Zusammenhang mit psychischen Störungen ohne Schädigung der Sprechorgane MZEB Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen Non-disjunction Fehlendes Auseinanderweichen von Chromosomen bei der Keimzellreifung oder bei der Zellkernteilung Noxe Giftstoff bzw. schädigender Stoff Nukleotide Bausteine des Erbgutes, also der DNS Off-Label-Anwendungen Verordnung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete 86 Osteoporose Verlust an Knochensubstanz Parathymie Ist eine Störung der Affektivität. Die Störung ist dadurch gekennzeichnet, dass Erleben und Gefühlsausdruck auseinanderklaffen, zum Beispiel unpassendes Weinen anstatt Lachen oder umgekehrt Pathognomonisch Krankheitskennzeichnend, gemeint sind krankheitskennzeichnende, typische Symptome einer Erkrankung PCB Polychlorierte Biphenyle als mittlerweile verbotener Weichmacher in Isoliermitteln, Kunststoffen oder Lacken Perinatal Um den Geburtszeitraum Phänotyp Erscheinungsbild unter Einbezug morphologischer und physiologischer Merkmale Phenylketonurie Ist eine Stoffwechselerkrankung und tritt in Folge einer Genveränderung auf dem Chromosom 12 auf. Unbehandelt führt sie neben einer Intelligenzminderung zu motorischen Störungen, psychischen Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten und Epilepsien (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 36-39) Philtrum Mittelrinne zwischen Nase und Oberlippe Physiognomie Äußere Erscheinungsmerkmale von Lebewesen Physiologie Bezeichnet physikalische und biochemische Vorgänge Piktogramm Vereinfachte grafische Darstellung einer Information zum Beispiel durch ein Symbol Plussymptome Synonym auch Symptome wie Positivsymptomatik, Wahn, bezeichnet Halluzinationen, innere Spannung und Unruhe oder motorische Erregung Polypharmazie Gleichzeitige Gabe unterschiedlicher Medikamente Postnatal Nach der Geburt Prader-Willi-Syndrom Ist Folge einer Genveränderung auf Chromosom 15. Neben einer Intelligenzminderung, muskulären 87 Schwäche und Fütterungsproblemen im Kleinkindalter kommt es im weiteren Verlauf zu einer starken Gewichtszunahme und übermäßigem Appetit. Kleinwuchs, typische Gesichtsform, Unterfunktion der Keimdrüsen und Schlafstörungen sowie Entwicklungsverzögerung gehören zu den weiteren Merkmalen des Syndroms. Darüber hinaus treten auch Verhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen auf (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 39-41) Pränatal Vor der Geburt Prävalenz Beschreibt wieviel Menschen einer Gruppe an einem Zeitpunkt von einer Krankheit betroffen sind Priorisierung Die Vorrangigkeit von Ereignissen erkennen und ordnen Psychomotorik Damit ist der Einfluss psychischer Vorgänge auf die Motorik gemeint Psychopathologie Lehre der psychischen Erkrankungen Psychose Der Begriff Psychose wird häufig synonym mit der Erkrankung Schizophrenie benutzt. Als Oberbegriff umfasst der Begriff Psychose aber auch andere psychische Erkrankungen bzw. Merkmale psychischer Erkrankungen, wie etwa im Fall affektiver oder organischer Psychosen oder bestimmter Zustände im Rahmen von schweren depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen. Eine Gleichsetzung ist daher nicht korrekt. Psychosocial masking Im Zusammenhang mit der Intelligenzminderung eingeschränkte soziale Fähigkeit einhergehend mit einer dadurch undifferenzierten Darstellung von psychischen Störungen 88 Ressourcen Mittel, die jemandem zur Bewältigung einer Handlung oder Aufgabe zur Verfügung stehen Rezidivierend Wiederholt auftretend Rubinstein-Taybi-Syndrom Ist eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung in Folge einer Mutation des Chromosoms 16, unter anderem einhergehend mit einer Intelligenzminderung, charakteristischer Gesichtsform, Augenfehlstellungen, breite Daumen, Kleinwuchs und weiteren körperlichen Merkmalen, Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 40-41) Schädel-Hirn-Trauma Schädel-Hirn-Verletzung Schizophrenie Schizophrene Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet (Das DIMDI Medizinwissen online, www.dimdi.de) Smith-Magenis-Syndrom Ist Folge einer Genveränderung auf Chromosom 17, zum Beispiel einhergehend Intelligenzminderung und mit einer charakteristischen Gesichtszügen, Schielen, kurzen Finger, Herzfehlern, Nieren-, Harnleiter- und Blasenproblemen sowie Kleinwuchs und weiteren körperlichen Merkmalen, Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 42-43) Somatische Störung Eine Störung der körperlichen Funktionen SPZ Sozialpädiatrisches Zentrum, beauftragt mit der Versorgung von Kindern mit Entwicklungsstörungen, vorhandener oder drohender Behinderung Stereotypien Wiederholung gleicher oder ähnlicher Handlungen 89 Strabismus Schielen Streptokokken Bakterien der Streptococcus-Gattung Symptomatologie Lehre der Krankheitszeichen bzw. Symptome Symptom Zeichen oder Merkmal einer Erkrankung Synapsen Verknüpfungen zwischen Nervenzellen Syndrom Krankheitsbild mit ähnlichen oder einheitlichen Symptomen. Dabei kann das Syndrom verschiedene Ursachen haben TEACCH Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children Teilhabefähigkeit Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft Tetralog Untersuchungskonstellation unter Einbezug von vier unterschiedlichen Akteure oder Parteien Therapeutisches Monitoring Drug- Überprüfung der medikamentösen Behandlung anhand von Blutparametern und mit Hilfe anderer apparativer Methoden, wie zum Beispiel EKG oder EEG Therapie Behandlung von Erkrankungen Therapieevaluation Beurteilung des Therapieverlaufes Transition Übergang von jungen Erwachsenen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung aus der sozial- pädiatrischen Versorgung in die Erwachsenenmedizin Tremor Ist ein unwillkürliches, rhythmisches Zittern. Trialog Untersuchungskonstellation unter Einbezug von drei unterschiedlichen Akteure oder Parteien Tuberöse Sklerose Ist Folge einer Genveränderung auf Chromosom 9 oder 16, unter anderem einhergehend mit einer Intelligenzminderung, Fehlbildungen und Tumoren des Gehirns, Hautveränderungen, Organsystemen, Tumoren epileptischen Verhaltensauffälligkeiten und anderer Anfällen, psychischen 90 Erkrankungen (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 43-45) UN-BRK UN-Behindertenrechtskonvention Underreporting Psychopathologische Aspekte werden aufgrund einer eingeschränkten Introspektions- und Kommunikationsfähigkeit unzureichend berichtet Unterstützte Kommunikation Hilfsmittel, die eine fehlende Lautsprache ergänzen oder ersetzen können Variieren Abgestuft unterschiedlich sein Velo-cardio-faziales-Syndrom Ist eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung in Folge einer Mutation des Chromosoms 22, unter anderem einhergehend mit einer Intelligenzminderung, Herzfehlern, Gesichtsfehlbildungen, Entwicklungsstörungen Gaumenspalte, einem des Thymusgewebes, Kalziummangel Verhaltensauffälligkeiten und im Blut psychischen Erkrankungen (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 46-47) Verhaltensphänotypus Typische Verhaltensmuster bzw. typisches Erscheinungsbild Vierfingerfurche Eine Beugefalte im Handteller, die vom Klein- bis zum Zeigefinger reicht Vulnerabilität Verwundbarkeit, hier im Sinne der Psyche gemeint Wahn Nicht korrigierbare Überzeugung ohne Realitätsbezug WfbM Werkstatt für behinderte Menschen WHO World Health Organization bzw. in der deutschen Übersetzung: Weltgesundheitsorganisation Williams-Beuren-Syndrom Ist Folge einer Genveränderung auf Chromosom 7, zum Beispiel einhergehend mit einer Intelligenzminderung, charakteristischen Gesichtszügen, lockigem Haar, Minderwuchs, Fehlsichtigkeit, kardiovaskuläre 91 Veränderungen, Herzfehler, Nierenfehlbildungen und ein gutes Gehör. Verhaltensauffälligkeiten Zudem und treten auch psychischen Erkrankungen auf (Levitas, Dykens, Finucane, & Kates, 2007, S. 48-50) X-chromosomaler Erbgang Männer und Frauen haben unterschiedliche Geschlechtschromosomenpaarungen. Männer haben eine Paarung der Geschlechtschromosomen XY und somit das X-Chromosom nur einfach, Frauen dagegen zwei X-Chromosomen. Bei Krankheiten, die auf eine Mutation des X-chromosomalen Gens zurückzuführen sind, erkranken Männer, während die Frauen nicht oder nur leicht betroffen sind. Da Frauen meist klinisch gesund bleiben, werden sie als Konduktorinnen bezeichnet. 92