Psychische Auffälligkeiten und Intelligenzminderung Irsee, 08.07.2013 Christian Schanze Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie MA: Pädagogik, Psychologie und Soziologie Curriculum: Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderungen Autismus-Diagnostik Landsberg am Lech Intelligenzminderung Beeinträchtigung der Entwicklung geistiger Fähigkeiten: Allgemein Umschrieben ­ ­ • Allgemeines Zurückbleiben der Lernmöglichkeiten • sowie der Fähigkeiten Gelerntes bei der Lösung neuer Aufgaben und bei der Anpassung an neue Situationen zu nutzen. • Umschriebenes Zurückbleiben einzelner Fähigkeiten, von deren spezieller Bedeutung es dann abhängt, welche Auswirkungen dies auf die gesamte Entwicklung und das Verhalten hat. (Teilleistungsstörungen) • eingeschränkte Kognitive Leistungsfähigkeit mit verringerter Lernmöglichkeit und • geringerer Adaptionsfähigkeit 68,3% 2,25% 15,85% 2σ 1σ 15,85% σ 1σ 2,25% 2σ Intelligenzminderung bzw. Intelligenzstörung σ = Standardabweichung Normalverteilungskurve der Intelligenz • Neuropsychologische Teilleistungsstörungen ohne Intelligenzminderung ð • Dissoziierte Intelligenz ð F74 • Lernbehinderung (F81.9) IQ 70-84 • leichte Intelligenzminderung (F70) IQ 50-69 • mittelgradige Intelligenzminderung (F71) IQ 35-49 • schwere Intelligenzminderung (F72) IQ 20-34 • schwerste Intelligenzminderung (F73) IQ < 20 ICD-11 ð Unterteilung der IM entfällt vermutlich, da keine valide Testung möglich! Intelligenzbegriff • Intelligenz ð wählen zwischen (wörtlich) • Kognitive Leistungsfähigkeit normalverteilt • Keine eindeutige und einheitliche Definition • Generalfaktor (g) der Intelligenz nach Spearman (stabiler Prädiktor für Berufsprestige und Einkommen) Intelligenzbegriff • Intelligenztests • Aufgaben aus verschiedenen Bereichen der Kognition; Unterteilung in Verbal-IQ und Handlungs-IQ • Fluide und kristalline Intelligenz • Inzwischen Einigkeit: Vererbung (biologischer Faktor) und Umwelt (psychosozialer Faktor) spielen eine Rolle! • Welcher Faktor mehr, welcher weniger ð Uneinigkeit! • Kulturelle Faktoren • Entwicklungsdimension! Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren • Letztlich vereinfacht: Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst! Lernbehinderung ICD-10 F 81.9 nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten • Intelligenzquotient zwischen 70 und 84 • Begriff ð 60er Jahren • Definition: lang andauerndes, schwerwiegendes und umfängliches Schulversagen (Kanter) 1. Leistungsrückstand mehr als 2-3 Schuljahre 2. mehrere Unterrichtsfächer sind betroffen 3. über mehrere Jahre andauernd 4. nicht Folge unzureichender Bildungsangebote • ICD-10 ð Kapitel F81: umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten • z.B. Lese- und Rechtschreibstörung, nur Rechtschreibstörung, Rechenstörung, kombinierte Störung 1 Mittelgradige Intelligenzminderung F 71 Leichte Intelligenzminderung F 70 in Anlehnung an das Schema der American Association of Mental Deficiency • Intelligenzquotient zwischen 35 und 49 • Intelligenzquotient zwischen 50 und 69 Vorschulalter: Entwicklung von Laufen, Sprechen, selbständigem Essen verzögert. Schulalter: Kulturtechniken können nur teilweise und mit Verzögerung erlernt werden. Erwachsenenalter: Soziale und berufliche Selbständigkeit nur teilweise und nur unter besonders günstigen sozialen Bedingungen möglich. Schwere Intelligenzminderung F 72 Schulalter: einfache GewöhErwachsenenalter: erforderlich. erhebliche Verzögerung der motorischen Entwicklung; kaum Verständigungsmöglichkeiten; Anleitung nur zu allereinfachsten Selbsthilfe (z.B. Nahrungsaufnahme) möglich. Fortbewegung möglich; Sprachverständnis und Ausdrucksmöglichkeit können sich sehr begrenzt ausbilden; nungsvorgänge möglich. einfache Gewohnheiten bei der Selbstversorgung; ständige alltägliche Anleitung und Beaufsichtigung Einteilung der Intelligenzminderung/Lernbehinderung 1 nach den Kriterien der AAIDD (American Association on Intellectual and Developmental Disabilities früher AAMR): Classification Manual 10. Edition (Luckasson et al. 2002) Lernbehinderung ICD-10 F81.9 IQ 70-84 Sprache Lesen, Schreiben und Rechnen Aktivitäten des täglichen Lebens (Essen und eigenständige Essensvorbereitun g, Anziehen, Aufsuchen der Toilette,Telefonieren, Umgang mit Geld etc.) Leichte Intelligenzmindrg. ICD-10 F70 Mittelgradige Intelligenzmindrg. ICD-10 F71 Schwere Intelligenzmindrg. ICD-10 F72 Schwerste Intelligenzmindrg. ICD-10 F73 IQ 50-69 IQ 35-49 IQ 20-34 IQ <20 Kaum Sprachentwicklungsstörungen Verzögerter Spracherwerb; gut alltagstaugliche passive und aktive Sprachkompetenz Deutlich verlangsamte Entwicklung von Sprache, begrenzte aktive und passive Sprachkompetenz Eingeschränkter Spracherwerb, geringerer Sprachgebrauch, geringeres Sprachverständnis (im Vergleich zu F71) Höchstens Erwerb weniger, einfacher Worte; minimales Sprachverständnis Lesen und Schreiben erlernt; Rechnen: Kenntnis aller Grundrechenarten; Erlenen: verzögert Anwendung: fehlerhaft; für Regelschule meist nicht ausreichend Hauptschwierigkeit in der Schule; Probleme beim flüssigen Lesen, Schreiben fehlerhaft; Rechnen: Addieren und einfaches Subtrahieren Grundkenntnisse evtl. vorhanden; Lesen sehr langsam, Schreiben sehr fehlerhaft, einzelne Worte; Rechnen: allenfalls im Zehnerraum mit Fingerhilfe Evtl. verlangsamtes Entwicklungstempo, aber volle Unabhängigkeit wird erreicht Verzögertes Erlernen und verzögerte motorische Entwicklung; kontinuierlicher Bedarf an Unterstützung in Teilbereichen erforderlich Keine Probleme (wenn keine zusätzliche körperliche Behinderung besteht!) Schulalter: GefahrenHandfertigkeiten Erwachsenenalter: deutliche Verzögerung der motorischen und besonders der sprachlichen Entwicklung; Anleitung zu begrenzter alltäglicher Selbständigkeit aber möglich. Aneignung einfacher Mitteilungsformen, Grundformen der Körperpflege, vermeidung, einfache möglich. einfache Tätigkeiten bei Anleitung und Überforderungsschutz. Schwerste Intelligenzminderung F 73 • Intelligenzquotient zwischen 20 und 34 Vorschulalter: Vorschulalter: fehlen fehlen Verzögertes Erlernen; verzögerte motorische Entwicklung; kontinuierlicher Hilfebedarf in fast allen Bereichen; häufig motorische Ausfälle und zusätzliche körperliche Behinderungen Oft immobil oder stark eingeschränkte Beweglichkeit; komplette Inkontinenz; ständige Hilfe und Überwachung erforderlich • Intelligenzquotient unter 20 Vorschulalter: allereinfachste sensomotorische Funktionen vorhanden; benötigt ein Säugling. einfache emotionale Reaktionen vorhanden; Anleitung zur Nahrungsaufnahme und einfachsten Hantierungen möglich; fortwährende Beaufsichtigung erforderlich. Erwachsenenalter: Fortbewegung und teilweise allereinfachste Ausdrucksformen möglich; völlig unselbständig; ständige pflegende Versorgung und Beaufsichtigung notwendig. Pflege wie Schulalter: Einteilung der Intelligenzminderung/Lernbehinderung 2 nach den Kriterien der AAIDD (American Association on Intellectual and Developmental früher AAMR): Classification Manual 10. Edition (Luckasson et al. 2002) Disabilities Lernbehinderung ICD-10 F81.9 IQ 70-84 Leichte Intelligenzmindrg. ICD-10 F70 Mittelgradige Intelligenzmindrg. ICD-10 F71 Schwere Intelligenzmindrg. ICD-10 F72 Schwerste Intelligenzmindrg. ICD-10 F73 IQ 50-69 IQ 35-49 IQ 20-34 IQ <20 Schulausbildung Förderschule L; evtl Hauptschule Förderschule G; evtl Förderschule L Förderschule G Förderschule G; evtl. nicht beschult Häufig nicht beschult Berufliche Fertigkeiten Fachhelferausbildung; evtl. reguläre Lehre evtl. WfbM Anlernbar, eher praktische Fertigkeiten, Handarbeiten; WfbM evtl. Hilfsarbeiten Einfache praktische Tätigkeiten, strukturiert, evtl. unter Aufsicht möglich Grundlegendste, einfachste Sortierarbeiten möglich Einfachste Hantierungen evtl. möglich Klassische Ausschlusskriterien Qualifizierter Hauptschulabschluss (evtl. möglich); Mittlere Reife; Gymnasium Hauptschule; Führerschein; reguläre Berufsausbildung (Lehre etc.) und wie F81.9 Förderschule L; flüssiges Schreiben und/oder Lesen (und wie F70); differenzierte Computerspiele Fließende Sprache; Grundbegriffe des Lesens und Schreibens Über einfache Worte hinausgehendes aktives und passives Sprachverständnis Normalintelligenz 2 Bereiche der Teilleistungsstörungen nach F. Specht 2000 • Aufmerksamkeit (Anspannung, Fixierung, Daueraufmerksamkeit) • Wahrnehmung (Genauigkeit, Geschwindigkeit, Wiedererkennung, wesentlich/unwesentlich, Zuordnung und Entschlüsselung è Mimik, Gestik, Lautsprache, Zeichen, Schriftsprache) • Koordination von Wahrnehmung und Bewegung (visuomotorisch, akustomotorisch, sensumotorische Koordination) • Ausdruck und Motorik (Anwendung von Symbolfunktionen, Sprachmotorik, Gliederung und Koordination von Bewegungsabfolgen, Aneignung uns Steuerung komplexer Bewegungsvorgänge) • Ausgleich von Erregungszuständen (Frustrationsschwellen, Angst- und Schutzreaktionen, Stabilisierung der Grundstimmung) • Kontrolle der Aktivität ( Angemessenheit der Reizbeantwortung, Auswahl und Steuerung von Impulsen) Intelligenztestung bei Menschen mit IM • • • • • • Schwierig!!! Sprachverständnis Verhaltensauffälligkeiten Sinnesbeeinträchtigungen Autismus-Spektrumsstörungen Keine Eichung der Leistungstests unter 2 Standardabweichungen • Keine Eichung von Tests für Kinder und Jugendliche für Erwachsene mit IM • Neu: Werdenfelser Testbatterie (WBT) (Messung kognitiv-intelletueller Fähigkeiten bei Menschen mit Behinderungen) Einflußfaktoren auf die Struktur, Reifung und Funktion des Zentralnervensystem WHO in ICD-10 Kapitel F 7 • Abweichungen der Erbinformation (heriditär) • Abweichung der Chromosomen ­ numerisch (z.B. Down-Syndrom, Turner-Syndrom) ­ strukturell (z.B. fragiles X-Syndrom) • Vorgeburtliche Schädigung vor der pränatal Organentfaltung (Embryopathie) (Röteln- oder Alkoholembryopathie) • Vorgeburtliche Schädigung nach der Organentfaltung (Fetopathie) Psychische Störungen treten bei Menschen mit Intelligenzminderung 3-4 mal häufiger auf als in der Normalbevölkerung (z.B. Morbus haemolyticus fetalis) • Schädigung im Zusammenhang mit der Geburt perinatal • Schädigung während der ersten 2-3 Lebensjahre postnatal Prävalenzrate von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit Intelligenzminderung psychische Störung 100% 80% 60% deutlich auffälliges Verhalten auffälliges Verhalten 40% 20% 0% unauffälliges Verhalten Psychische Störungen • Erkrankung versus Störung (ICD-10) • Die großen Störungsgruppen - organisch bedingte psychische Störungen - schizophrener Formenkreis - affektive Störungen • Konzept der Persönlichkeitsstörung 3 Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) • F 0 organische einschließlich symptomatischer psychischer Störungen • F 1 psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen • F 2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen • F 3 affektive Störungen • F 4 neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen • F 5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren • F 6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen • F 7 Intelligenzminderung • F 8 Entwicklungsstörungen • F 9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend • F 99 nicht näher bezeichnete psychische Störungen Vulnerabilitätskonzept • Vulnerabilität = Verletzbarkeit • Alter psychiatrischer Begriff; Synonym oder ergänzend zum Begriff der Krankheitsdisposition • Durch Zubin und Spring reaktualisiert (1977); Risikofaktoren/Prädiktoren für schizophrene Psychosen (siehe heute K.Klosterkötter) • Geeignetes Erklärungsmodell psychischer Störungen allgemein (v.a. geistig Behinderte). Vulnerabilitätskonzept Auf der Basis des jeweiligen soziokulturellen Kontextes mit spezifischen: • sozialen Ressourcen • Wertesystemen • medizinisch-pädagogischen Versorgungsstrukturen Psychosoziale Einflüsse Biologisch-genetische Einflüsse • • • wirken ineinander Vererbung Genmutationen (spontan, vererbt), Chromosomenanomalien prä-, peri-, postnatale Schädigungen • • Moderatorvariablen Vulnerabilität veränderbar durch: • Kompetenz, Coping • Gestaltung des sozialen Umfelds • individuelle Resilienz (Widerstandsfähigkeit) • • • frühkindliche Traumatisierung familiäre Kommunikationsstile Erwerb von Assoziations-und Bewertungssystemen Erlernen von Kompetenzen Erlernen von Copingstrategien (Bewältigungsstrategien) Intelligenzminderung und Vulnerabilität Biologisch-genetische Einflüsse Moderatorvariablen Psychosoziale Einflüsse Prämorbide Vulnerabilität Überforderung durch unspezifischen Streß Expressed Emotion Life-events Moderatorvariablen führen zu … prämorbider Vulnerabilität mit individueller Beeinflussung der: • Informationsverarbeitung • Ich-Stärke • internalisierten Bezugssysteme Vulnerabilität veränderbar durch: akute psychische Dekompensation • Kompetenz, Coping • Gestaltung des sozialen Umfelds • individuelle Resilienz (Widerstandsfähigkeit) Expressed Emotion Rückfallrate einer Gruppe 125 schizophrenen Patienten innerhalb von neun Monaten nach Entlassung aus stationärer Behandlung in Bezug auf das Familienklima (nach H.J. Möller) Life Events Belastungspunkte nach Rahe und Holmes Ereignisse Alle Niedriger EE-Wert 13% Hoher EE-Wert 51% Unter 35 Std. Gesichtskontakt pro Woche 28% Dauermed. 15% Dauermed. 12% Ohne Dauermed. 15% Moderatorvariablen 35 und mehr Std. Gesichtskontakt pro Woche 71% Ohne Dauermed. 42% Dauermed. 55% Ohne Dauermed. 92% • • • • • • • • • • • • • Tod des ... Ehepartners < leibliches Kind Scheidung Tod eines nahestehenden Familienmitglied Arbeitslosigkeit Verletzungen oder Krankheit Heirat Schwangerschaft Sexuelle Probleme Außergewöhnlicher persönlicher Erfolg Ärger mit Vorgesetzten Wohnsitzwechsel Urlaub Weihnachten Belastungspunkte 100 73 63 58 53 50 40 39 28 23 20 13 12 4 Intelligenzminderung und Vulnerabilität Biologisch-genetische Einflüsse Psychosoziale Einflüsse Der Einfluß von Streßreduktion und den Moderatorvariablen auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Intelligenzminderung Streß Moderatorvariablen Prämorbide Vulnerabilität Moderatorvariablen Life-events Überforderung Expressed Emotion durch unspezifischen Streß krank Streßreduktion: akute psychotische Dekompensation Moderatorvariablen Moderatorvariablen zunehmende volle Heilung schwerste chronische Streßbilanz • Verbesserung der Filterfunktion z.B. durch Psychopharmaka prämorbide Vulnerabilität Moderatorvar. : Kompetenz, Coping, soz. Umfeld Residualzustände Potentialeinbuße • Milieugestaltung Schanze 2001 Psychopharmaka : z.B. Phasenprophylaxe, neuroleptische Langzeitbehandlung 5