Positive Verhaltensunterstützung bei geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten Klaus Sarimski München / Heidelberg Störungen der intellektuellen Entwicklung (nach ICD-10) Prävalenz: 0.6 % pro Geburtsjahrgang d.h. 4800 Kinder pro Geburtsjahrgang 85000 Kinder (in BRD) Störungen der intellektuellen Entwicklung (nach ICD-10) IQ % Leichte Intelligenzminderung 50-70 80 Mittelgrad Intelligenzminderung Schwere Intelligenzminderung Schwerste Intelligenzminderung 35-49 12 20-34 7 < 20 <1 Positive Verhaltensunterstützung - - - Prävalenz von psychischen Störungen Bedingungsgefüge Beurteilungsverfahren und Verhaltensanalyse Interventionsplanung präventiv: Veränderung von Auslösebedingungen; Berücksichtigung biologischer Vulnerabilität mehrdimensional: Anpassung der Umwelt an Hilfebedarf und Förderung adaptiver Fähigkeiten realisierbar: Kooperation mit Eltern und Pädagogen Prävalenz von emotionalen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten Psychiatrische Diagnosen bei Schulkindern mit geistiger Behinderung 30 25 20 15 10 5 0 us m Au tis Hy pe ra kti vit ät lve rh alt en ss tö ru ng n So zia De pr es sio tö ru ng mental behindert nicht behindert An gs ts % (n=264, 5-15 Jahre; Emerson, 2003) Prozentualer Anteil von emotionalen Störungen und Verhaltensproblemen bei intellektueller Behinderung (CBCL; Dekker et al., 2002; n=968) Sozialer Rückzug Körperl. Beschwerden Ängste/Depressive Stimmung Soziale Probleme Denkstörungen Aufmerksamkeitsprobleme Dissoziales Verhalten Aggressives Verhalten IQ 60-80 17.5 12.0 16.8 IQ 30-60 22.5 8.3 8.3 35.5 8.8 30.7 18.0 21.0 51.7 12.3 38.0 11.0 19.7 Zwischenresümee 30-50% der Kinder mit geistiger Behinderung zeigen emotionale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten (klassifikatorische und dimensionale Diagnosen) Risiko um 3-4mal erhöht Bedingungsgefüge von emotionalen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung Emotionale Selbstregulation u. Kommunikation Sozial-kognitive Defizite Syndromspez. Dispositionen Erziehungsunsicherheit Über-/Unterforderung Misserfolge in sozialen Beziehungen Wenig befried. Peer-Beziehungen Hyperaktivität/Aufmerksamkeitsstörung Oppos.-aggr. Verhaltensstörung Emotionale Störung Soziale Probleme mit Gleichaltrigen Autistische Verhaltensmerkmale Konsequenz für die Diagnostik: Verknüpfung von Fähigkeits- und Verhaltensdiagnostik Kognitive Funktionen Kommunikation Praktische Selbständigkeit Soziale Kompetenzen Störungen von Emotionen und Verhalten Elterliche Belastung Qualität der Lebensumwelt Verhaltensdiagnostik (in interdisziplinärer Kooperation) Standardisierte Fragebögen CBCL, VFE, NCBRF Funktionale Verhaltensanalyse Verhaltensfragebogen für Kinder mit Entwicklungsstörungen (VFE, Einfeld, Tonge & Steinhausen, 2008; Sarimski & Steinhausen, 2006) 96 Items (dreistufige Bewertung) Skala: - Disruptives, antisoziales Verhalten - selbst-absorbiertes Verhalten - Kommunikationsstörung - Angst - Soziale Beziehungsstörung Verhaltensfragebogen für Kinder mit Entwicklungsstörungen (Steinhausen & Winkler Metzke, 2005) Interne Konsistenz: .93 Retest-Reliabilität: .83-.89 Interkorrelationen: <.60 Replikation einer 5-faktoriellen Struktur Zusammenhänge mit Schweregrad Normierung an 721 Kindern und Jugendlichen (drei Schweregrade) Nisonger Beurteilungsbogen für das Verhalten von behinderten Kindern (NCBRF; Aman et al., 1996; dt. in Sarimski & Steinhausen, 2006) Isoliert sich von anderen Greift andere an 0 1 2 3 0 1 2 3 Beißt sich wiederholt 0 1 2 3 Zappelt, rutscht hin/her Zu wenig aktiv, langsam 0 1 2 3 0 1 2 3 Verhaltensanalyse: Analyse der sozialen Anforderungen und Umgebungsbedingungen Vulnerabilität für soziale Anforderungen und Umgebungsbedingungen („Setting events“) Reizvielfalt und Bewegungsfreiraum Angebot von Beschäftigungen Tagesstruktur, Überschaubarkeit von Übergängen Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung Schmerzen, Störungen des Wohlbefindens, Diät, Schlafstörungen Eindeutigkeit und Stabilität von Betreuungspersonen Konflikte im sozialen System Befragung von Bezugspersonen und Verhaltensprotokolle Bei welchen Aktivitäten tritt es typischerweise auf? Was geschieht in der Regel, wenn es auftritt? Gibt es bestimmte Ereignisse, die unmittelbar vorher geschehen? Gibt es Bedingungen, unter denen das Verhalten nie auftritt? Gibt es einen Zusammenhang zu körperlichem Befinden? Spielen äußere Faktoren für das Auftreten eine Rolle? Haben Sie eine Vorstellung, was das Kind damit mitteilen möchte? Diagnostische Arbeitshypothese Ereignisse, die ihm unmittelbar vorausgehen Rahmenbedingungen, die sein Auftreten wahrscheinlicher machen Konsequenzen, die das Verhalten aufrechterhalten Einschränkungen von sozial-kognitiven Fähigkeiten, die zum Problem beitragen (Verstehen von Anforderungen und Zusammenhängen) genetische Dispositionen (Einschränkungen der Selbstregulation) Einschränkungen der Lebensqualität (Beziehungen und Selbstbestimmung) Interventionsplanung Interventionsplanung traditionell Analyse von Kontingenzen und Veränderung von Konsequenzen Time-Out, Überkorrektur, ResponseCost, aversive Reize Einleitung der Therapie unter klinischen Bedingungen mit anschließendem Bemühen um Generalisierung und Stabilisierung Interventionsplanung – „Positive Verhaltensunterstützung“ Veränderung von antezedenten Bedingungen in Kombination mit differentieller Verstärkung adaptiver Kompetenzen „changing problem context, not problem behavior“ Anpassung der Umwelt an Kompetenz und Hilfebedarf des Kindes („goodness of fit“) Förderung von Lebens- und Beziehungsqualität vs. soziale Anpassung Positive Verhaltensunterstützung: Konzeptionelle Wurzeln Verhaltensanalyse (ABA): Vulnerabilität für soziale Anforderungen („setting events“); problematisches Verhalten als Schutz vor Überforderung Verhaltensphänotypen: biologische Vulnerabilität bei spezifischen Syndromen Normalisierung, Inklusion und Autonomie (Assistenz zur sozialen Partizipation und Selbstbestimmung) Interventionselemente (Auswahl) Veränderung von sozialen Anforderungen Reduzierung der Aufgabenschwierigkeit Rhythmisierung und Gliederung von Aufgaben Tagesstrukturierung und Visualisierungshilfen Individuelle Assistenzen Veränderung von Konsequenzen Verhaltensverträge (kontingenter Zugang zu bevorzugten Tätigkeiten) Veränderung dysfunktionaler Interaktionsmuster Training adaptiver Verhaltensformen Selbständige Beschäftigung Alternative Kommunikation Ärger-(Selbst-)Management Soziales Kompetenztraining Visualisierungshilfen Veranschaulichung von Tagesstrukturen, Handlungsplänen u.ä. Selbständige Beschäftigung Aufbau von Spielfähigkeiten und lebenspraktischen Fertigkeiten zur Alltagsbeteiligung Ärger- (Selbst-) Management Förderung von Fähigkeiten der Selbstregulation in Konfliktsituationen Alternative Kommunikation Gebrauch von BigMack, Go-Talk, Alpha-Talker u.a. Anleitung zum Gebrauch von Gebärden Sozialkompetenztraining Kontaktaufnahme mit anderen Kindern soziale Wahrnehmung Erkennen und Emotionen und Absichten Konfliktlösungen Systematische Förderung sozialer Kompetenzen Direkte Anleitung behinderter Kinder („Coaching“, Scriptraining) Anleitung von nicht-behinderten Spielpartnern („peer-mediated“) Kognitivverhaltensorientierte Trainingsprogramme zur Förderung sozialer Kompetenzen Beteiligung an gemeinsamen Gruppen mit nicht behinderten Kindern Vorbereitung der Umgebung zur Förderung von Gelegenheiten zu sozialem Spiel Kooperation mit Eltern oder Pädagogen Hindernisse für ein Arbeitsbündnis mit Eltern oder Pädagogen Vorbehalte gegen „mechanistisches Weltbild“ Divergenzen über Interventionsansätze (Delegation an Psychotherapie vs. Modifikation des Problemkontextes) Fehlende Erfahrung im Umgang mit Fragebögen und Beobachtungsprotokollen Zielkonflikte zwischen Förderung schulischer Fertigkeiten vs. sozialer Beziehungen Unzureichende personelle und räumliche Rahmenbedingungen Psychische Überforderung und Konflikte im System Kooperationsnetz Verhaltenstherapie bei geistiger Behinderung Sozialpädiatrisches oder Kinderpsychiatrisches Zentrum Frühförderung Kindergarten Schule/Tagesstätte niedergelassene Psychotherapeuten Medizinische Versorgung: Kinderärzte Kinder- und Jugendpsychiater Resümee Hoher Versorgungsbedarf Anpassung an Hilfebedarf und biologische Disposition „Positive Verhaltensunterstützung“ zur Prävention von emotionalen und Verhaltensstörungen Kooperation mit Eltern, Pädagogen und Ärzten Und für unermüdliche ...