Wie viel Ethik enthält die Bioethik?

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Wie viel Ethik enthält die Bioethik?
Rudolf Kötter, Erlangen
1 Einleitung
In seiner Berliner Rede vom 18. Mai 2001 „Wird alles gut? - Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß” hat Bundespräsident Johannes Rau zu aktuellen Fragen der Bioethik Stellung
genommen und in einer für Politiker ungewöhnlich deutlichen Weise die Stellen markiert, an
denen seiner Meinung nach dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt Grenzen zu ziehen
seien. Dies hat weithin Beachtung gefunden und einer Diskussion neuen Auftrieb gegeben, die
nun schon eine Weile in den großen Tageszeitungen und Magazinen, auf Tagungen und Versammlungen geführt wird und auf die zu reagieren sich inzwischen sowohl Bundes- wie
Landesregierungen durch die Einrichtung von Ethik-Kommissionen und Ethik-Räten gezwungen sahen.1
Raus Rede verdient aber nicht nur deshalb Beachtung, weil in ihr mutig Stellung genommen
wurde, sondern auch, weil sie neben dieser Stärke in geradezu typischer Weise einige Schwächen des gegenwärtigen bioethischen Diskurses zum Ausdruck bringt. Diese Schwächen liegen
vor allem in einer undeutlichen Positionierung und Adressierung der Argumente. So werden
moralische Überzeugungen, Klugheitserwägungen und rechtliche Aspekte manchmal parallel,
sich gegenseitig ergänzend und stützend geführt, dann wieder gegeneinander gesetzt; und oft
verschwinden hinter angesprochenen Abstrakta wie „Gesellschaft”, „Wissenschaft” oder
„Wirtschaft” die eigentlich gemeinten Adressaten der Botschaft: Ist jedermann angesprochen,
der sich unter allen Umständen ein gesundes Kind oder Heilung von schwerer Krankheit
wünscht, darf nur der Arzt solchen Wünschen nicht mit allen an sich tauglichen Mitteln nachkommen oder gilt es letztlich nur, einem bestimmten denkbaren sozialen Druck auf Wünsche
und Erwartungen der Menschen entgegen zu wirken? Sollen die Wissenschaftler darauf verzichten, ihre Forschungsprogramme in jede ihnen interessant erscheinende Richtung weiter zu
entwickeln oder sind sie dabei nur in der Wahl der Mittel bestimmten Einschränkungen unterworfen? Ergeben sich solche Einschränkungen als Ergebnis einer zweckrationalen Überlegung,
dienen sie der Wahrung des Rechtsfriedens oder lassen sie sich ethisch begründen?
1
Einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland gibt Moser (2001).
2
Gerade bezüglich der letzten Frage lassen sich große Unsicherheiten erkennen, was sich z.B.
schon an der Zusammensetzung der diversen Ethik-Kommissionen ablesen lässt. Diese Kommissionen, wie etwa der Nationale Ethikrat der Bundesregierung oder die Bioethik-Kommission
der Bayerischen Staatsregierung haben die Aufgabe, die politischen Entscheidungsträger in den
anstehenden bioethischen Fragen zu beraten. Merkwürdigerweise sind aber in diesen Gremien
Ethik-Fachleute, z.B. Philosophen mit dem Spezialgebiet „Ethik”, kaum oder gar nicht vertreten. Dafür hat man überwiegend Vertreter so genannter gesellschaftlicher Gruppen (der
Kirchen, der Gewerkschaften, der Unternehmer, der Ärzte, der Behinderten usw.) versammelt
und man versteht offensichtlich unter „ethischer Beratung” die Vermittlung eines moralischen
Stimmungsbildes aus der Bevölkerung.
Vor allem aber zeigt sich die Unsicherheit im Umgang mit ethischen Fragen bei der Wahl der
Argumente selbst und der Art, sie zu gebrauchen. Man sucht Sicherheit zu gewinnen, indem
man entweder die ethischen Gefilde überhaupt meidet und sich auf rechtliche Aspekte konzentriert oder sich auf den Gebrauch von Formeln zurückzieht, die immer wieder gebetsmühlenartig
wiederholt und gleichsam als Wertaxiome gebraucht werden.
Aus dem Umstand, dass die Ethik Begründungen für Wertentscheidungen liefert, folgt nicht,
dass jede Wertentscheidung ethisch begründbar sein muss. Im Folgenden möchte ich deshalb
zeigen, wie sich ethische Begründungen von anderen Formen der praktischen Begründung
unterscheiden und wie diese Unterscheidung nutzbar gemacht werden kann, um den Diskurs der
anstehenden Fragen durchsichtiger und effektiver zu gestalten. Dazu werde ich in einem ersten
Teil versuchen, wesentliche Aufgabenstellung der Ethik herauszuarbeiten; im zweiten Teil
sollen dann zwei aktuelle bioethische Fragekomplexe im Lichte dieser Darstellung exemplarisch
behandelt werden.
2
Moral und Ethik
2.1
Moralität und soziale Klugheit
Die Frage, was eine moralische Handlung sei, wird heute üblicherweise im Kontext der Begründung für diese Handlung gestellt und beantwortet: Jemand tut etwas und auf die Frage, warum
er das tue, antwortet er, dass er es unter den gegebenen Umständen für moralisch geboten halte.
3
Der Verweis auf ein moralisches Gebot stellt also für den Handelnden einen guten Grund zum
Handeln dar. Im Bereich des Praktischen nimmt man für eine Handlung dann einen „guten”
Grund an, wenn er (a) von jedermann eingesehen werden kann (Universalisierungsgrundsatz)
und (b) alle rivalisierenden Handlungsgründe schlägt (Ausschließlichkeitsgrundsatz).2 Spätestens seit Thomas Hobbes hat sich in der praktischen Philosophie der Gedanke festgesetzt,
dass der Universalisierungsgrundsatz eng mit einer anthropologischen Bedingung zusammenhängt. Für den Menschen gilt nämlich, dass sein Überleben von der Fähigkeit abhängt,
zweckrational zu handeln. Hieraus folgert man, dass ein guter (im Sinne von universeller)
Grund für eine Handlung insbesondere dann gegeben ist, wenn sie sich als effizientes, zumindest taugliches Mittel für einen Zweck ausweisen lässt.
Bei dieser Argumentation ist das „Moralische” zunächst einmal verschwunden: Handlungen,
welcher Sorte auch immer, sind gut begründet, wenn sie zweckrational begründet sind. Auch der
Ausschließlichkeitsgrundsatz hilft zunächst nicht weiter, da er in formaler Hinsicht nur eine
recht schwache Forderung darstellt. Denn wenn man davon spricht, dass man sich für eine
Handlung entschieden hat, dann hat man eben einen bestimmten Grund als den tragenden für die
Entscheidung ausgemacht. Lässt man eine Münze über die Ausführung einer Handlung entscheiden, dann handelt man jedenfalls nicht aus gutem Grund. Um das „Moralische” wieder zu
gewinnen, muss man den Blick von den formalen Begründungsaspekten abwenden und dem
eigentlichen Begründungsgegenstand zuwenden, um dort nach einem Unterschied zwischen
moralischen Vorschriften und anderen Regeln, etwa Verwaltungsvorschriften, Spielregeln,
Kochrezepten und Gebrauchsanweisungen, die man ebenfalls zur Handlungsbegründung
heranziehen kann, zu suchen. Diesen Unterschied können wir in einem ersten Schritt durch die
Angabe von notwendigen Bedingungen für das Vorliegen einer moralischen Vorschrift markieren. Als solche werden im Alltagsleben wie in der Philosophie die folgenden Kriterien angesehen:
2
Peter Koller hat in diesem Zusammenhang noch gefordert, dass man sich einer solchen Begründung
autonom, d.h. aus freiem Willen anschließen können muss, siehe Koller (1994) S. 283. Das ist sicherlich richtig, ich
würde allerdings sagen, dass dort, wo nicht aufgrund von Einsicht in Gründen gehandelt werden kann, gar kein
Handeln mehr vorliegt, sondern nur noch bloßes Verhalten. Die Einsicht in die Handlungsgründe muss natürlich
nicht immer im Augenblick des Handelns explizit gegeben sein, auch Gewohnheiten können wir kraft Einsicht
aufgeben oder ändern, insoweit sind sie zu Handlungen zu zählen. Können wir das allerdings nicht mehr, dann liegt
kein Fall von argumentationszugänglichem Handeln vor, sondern ein u.U. therapiebedürftiges Verhalten.
4
(1)
Es handelt sich um ein Gebot oder Verbot mit Anspruch auf allgemeine Geltung, das die
Handlungs- und Zwecksetzungsfreiheit des Einzelnen einschränkt, wobei
(2)
die Folgen der Einschränkung für den Akteur einen unmittelbaren Nachteil, für andere
in der Regel aber einen Vorteil bedeuten; in gewissen Fällen (bei den sog. Pflichten sich
selbst gegenüber) kann der Vorteil auch dem Handelnden selbst zukommen, allerdings
zu einem unbestimmt späteren Zeitpunkt.
Während Kriterium (1) auch von technischen Normen wie Gebrauchsanweisungen oder Kochrezepten erfüllt wird („Man nehme...“), ist das Kriterium (2) der eigentliche Grund dafür, dass
man sich über solche Normen überhaupt unterhalten oder gar streiten will. Normen, die den
Kriterien (1) und (2) genügen, sollen als „Normen mit Selbstbeschränkungscharakter” bezeichnet werden.
Das große Problem der praktischen Philosophie liegt nun darin, dass der Selbstbeschränkungscharakter allein nicht hinreichend ist für die Feststellung der moralischen Qualität einer Handlung bzw einer Handlungsregel. Wer z.B. am Wochenende auf den Besuch eines Fußballspiels
seines Lieblingsvereins verzichtet und statt dessen mit seiner alten Tante eine Kaffeefahrt
unternimmt, kann dies aus moralischer Gesinnung, aus Gutmütigkeit, Mitleid oder kalter
Berechnung mit Blick auf eine mögliche Erbschaft machen. Insbesondere der letzte Punkt ist
von besonderer Bedeutung, da er den Verdacht nährt, dass auch so genannte „moralische”
Normen letztlich nur eine Teilklasse der allgemeinen Zweck-Mittel-Urteile sind, zu deren
Begründung lediglich spezielle Verfahren eingesetzt werden müssen. Und in der Tat haben
Philosophen und Ökonomen gezeigt, dass mit Hilfe von Techniken der Spieltheorie und der
rational-choice-theory fast jede selbstbeschränkende Norm - und damit jede potentiell moralische Norm - zweckrational oder ökonomisch im weiteren Sinne begründet werden kann
(Gauthier (1986), Axelrod (1987), Hegselmann u.a. (1986), Hegselmann (1988), Harsanyi
(1991); vgl. auch den Überblicksaufsatz von Nida-Rümelin (1991)). Dabei argumentiert man
entweder,
dass eine momentane Nutzeneinbuße zu einem späteren Zeitpunkt einen Nutzenzuwachs
zur Folge haben wird, der die Einbuße mehr als kompensiert (hier wird zwischen
kurzfristigen und langfristigen Zielsetzungen abgewogen), oder
dass eine individuelle Nutzeneinbuße einen kollektiven Nutzengewinn erzeugen wird,
5
der vom Individuum allein nicht realisiert werden kann, d.h. dass durch kooperatives
Handeln ein so genannter „Kooperationsgewinn” erzielt werden kann.
Das Leben in einer Welt der knappen Ressourcen erzwingt es, dass man sein Nutzenbudget über
die Zeit hinweg bewirtschaften muss. Deshalb muss man manchmal eine Zeit lang Verzicht
leisten, um später einen größeren Nutzengewinn erreichen zu können. Solche „Opfer” erbringt
man z.B., wenn man für eine größere Anschaffung spart oder Zeit und Geld (auch im Sinne von
entgangenem Einkommen) in eine Ausbildung steckt. In diesem Sinne können auch Umweltschutzmaßnahmen zweckrational begründet werden, etwa wenn man zeigt, dass dadurch
zukünftige größere Aufwendungen vermieden werden können. Und schließlich bedeutet gerade
sozialverträgliches Handeln nicht nur Opfer und Verzicht zugunsten Dritter, sondern zugleich
Schaffung individueller Vorteile: Sozialer Frieden schafft Sicherheit und diese Sicherheit
gewährt Handlungsspielraum und erspart Aufwendungen. D.h. wer wie ein „guter” Mensch
handelt, kann auch ein rationaler, insbesondere weitblickender Egoist sein.
Werden die Regeln für den Umgang mit den Mitmenschen in dem gerade skizzierten Sinne
zweckrational begründet, so sprechen wir von sozialen Klugheitsnormen. Als notwendige und
hinreichende Bedingungen für deren Vorliegen können wir festhalten:
Eine Norm ist eine soziale Klugheitsnorm, wenn sie den Kriterien (1) und (2) genügt
(Norm mit Selbstbeschränkungscharakter) und ein zweckrationales, d.h. im weiteren
Sinne ökonomisches oder technisches Begründungsverfahren erfolgreich durchlaufen
hat.
Hat man für eine Norm eine zweckrationale Begründung gefunden, dann ist damit die Frage
nach einer ethischen Begründung allerdings noch nicht als überflüssig erwiesen. J. NidaRümelin hat in diesem Zusammenhang einmal pointiert formuliert, dass die angemessene
philosophische Antwort auf die Frage „Warum moralisch sein?” mit einer Theorie praktischer
Rationalität gegeben werde, die zeigt, dass das, was moralisch ist, auch rational sei (NidaRümelin (1993), S. 60). Dieses Programm hätte allerdings nur dann Sinn, wenn nicht über lang
oder kurz Rationalität doch wieder auf Zweckrationalität reduziert würde. Sollten sich also
ethische Begründungen überhaupt geben lassen, dann müssen sie eigenständig, d.h. in Begründungsziel und -verfahren anders strukturiert sein als zweckrationale Begründungen. Damit
können wir in formaler Analogie zu dem soeben Ausgeführten als notwendige und hinreichen-
6
de Bedingungen für das Vorliegen einer moralischen Norm festhalten:
Eine Norm ist eine moralische Norm, wenn sie den Kriterien (1) und (2) genügt (Norm
mit Selbstbeschränkungscharakter) und ein ethisches Begründungsverfahren erfolgreich
durchlaufen hat.
Der Sinn einer zweckrationalen Begründung liegt auf der Hand: wir haben Zwecke und wollen
diese effektiv realisieren; dazu müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein und Mittel organisiert werden. Um was geht es aber bei einer ethischen Begründung und was genau soll ein
ethisches Begründungsverfahren leisten?
2.2. Ethische Begründungen
Die Ethik hat eine lange Geschichte und es ist durchaus nicht so, dass ihre Aufgaben seit den
Zeiten eines Sokrates oder Aristoteles immer in gleicher Weise gesehen wurden. Gehörte früher
zur „Ethik” allgemein jede Reflexion auf moralische Belange, so hat sich vor allem im Verlaufe
der Neuzeit der Begriff „Ethik” auf Begründungsfragen moralischer Normen verengt, d.h. die
Ethik tritt heute hauptsächlich als eine Methodenlehre der moralischen Argumentation in
Erscheinung, mit deren Hilfe es möglich sein soll, in einem moralischen Disput einschlägige von
abwegigen Argumenten zu trennen. Diese Verengung des Verständnisses brachte gewisse
Probleme mit sich, da man nicht alle Themen der traditionellen Ethik unter Begründungsaspekten betrachten und behandeln kann.
Es ist eben nicht allein damit getan, eine Handlung als moralisch korrekt zu begründen. Darüber
hinaus ist es erforderlich, dass man eine Situation überhaupt erst als eine erkannt haben muss,
die eine moralische Entscheidung fordert. Man muss also über moralische Urteilskraft verfügen
und dies ist wiederum nicht nur eine Frage kognitiver Fähigkeiten, sondern vielmehr der
Ausbildung und Bildung bestimmter emotionaler Grundhaltungen (Sympathie, Empathie),
worauf Autoren von Aristoteles bis Adam Smith immer wieder aufmerksam gemacht haben.
Wenn man dann des weiteren eine Situation richtig erkannt und sich zum richtigen Handeln
entschlossen hat, dann bedarf es noch der Kraft, diesen Entschluss auch gegen innere und äußere
Widerstände durchzusetzen. Dieser Aspekt ist früher (insbesondere in aristotelischer Tradition)
unter dem Begriff „Tugend” behandelt worden. Wenn man heute von „Tugend-Ethik” spricht,
7
dann denkt man in erster Linie an ein besonderes Begründungskonzept für moralische Entscheidungen (daher auch die etwas unglückliche Gegenüberstellung von „Tugend-Ethik” und
„Pflicht-Ethik”) und es macht erhebliche Schwierigkeiten, die umfangreichen Überlegungen, die
etwa bei Aristoteles oder Thomas v. Aquin mit diesem Begriff verbunden sind, mit einzubeziehen.3 Vor allem aber muss dieses ganze komplexe Zusammenspiel von Begründung, Urteilskraft
und Durchsetzungskraft noch einen bestimmten Ort im Leben besitzen, d.h. es muss einen
„Sinn” machen.
Bezüglich des letzteren Problems lässt sich dann doch ein Grundanliegen ausmachen, das in den
Ethik-Entwürfen von der Antike bis in die jüngere Zeit immer wieder anklingt. Danach soll die
Ethik zu einer anerkannten Gestaltung des Lebens verhelfen. Es geht also nicht darum, bestimmte Ziele und Mittel effizient aufeinander abzustimmen oder ein soziales Konfliktmanagement zu betreiben, sondern die Lebensziele eines Menschen insgesamt so zu organisieren, dass
ein stimmiger Lebensentwurf entsteht, d.h. ein Lebensentwurf, den der Einzelne sowohl aktual
in jedem Lebensabschnitt wie auch im Rückblick und in der Vorausschau als gut und gelungen
beurteilen kann. Und da der Mensch immer zusammen mit anderen in dieser Welt leben muss,
geht es auch darum, dass sein Lebensentwurf nicht nur von ihm selbst, sondern auch von
anderen Anerkennung findet.
Die Begriffe, die hier seit der Antike eine Rolle spielen und auf die sich letztlich auch die
großen Ethik-Entwürfe der Neuzeit beziehen, heißen „gutes” oder „gelungenes” Leben, „Glück“
oder „Autonomie“ (vgl. Forschner (1993b)). Sie bezeichnen keine besonderen Zustände, die sich
als Zwecke im Sinne von Handlungsfolgen beschreiben ließen, sondern vielmehr einen allgemeinen Zusammenhang, in dem alle Handlungen, Handlungsfolgen bzw. Handlungsregeln
stehen müssen; der Mensch muss sein Leben insgesamt als einen gelungenen Entwurf begreifen
können. Dieser Zusammenhang kann also nicht durch zweckrationale Begründungen hergestellt
werden, sondern bedarf eigener Begründungsverfahren. Die Suche nach solchen Verfahren ist,
3
Solche Fragen könnten heute unter dem allgemeineren Komplex „Moralphilosophie” erörtert werden, vgl.
Anscombe (1974). Dass unter dem Begriff „Tugend” schon immer recht unterschiedliche Themen behandelt
worden sind, wird vor allem bei der Tugend der Gerechtigkeit deutlich, die ja schon bei Aristoteles weniger eine
Haltung als vielmehr einen Bewertungsmaßstab bezeichnet hat. E. Tugendhat macht zu recht darauf aufmerksam,
dass unter „Tugend” sowohl Aspekte des Begründens wie der moralischen Urteilkraft oder der Durchsetzungskraft
behandelt worden sind, vgl. Tugendhat (1993)Vorlesung 11.
8
wie schon ausgeführt, ein besonderes Thema in der neuzeitlichen Ethik und die wichtigesten
Beiträge dazu stammen bekanntlich von Immanuel Kant und John Stuart Mill.4
Kant ist bei der Erörterung seines Kategorischen Imperativs davon ausgegangen, dass die
Menschen bestrebt sind, ein selbstbestimmtes, autonomes Leben zu führen. Wer dieses Streben
teilt, sucht unkontrollierte Beeinflussungen möglichst zu vermeiden (seien es solche, die ihren
Ursprung in der eigenen Natur haben, seien es solche, die aus dem sozialen Umfeld kommen);
er möchte in gewisser Weise Herr über sein eigenes Leben, oder wie Kant es ausdrückt: sein
eigener Gesetzgeber sein. Insbesondere verbietet der Gedanke einer selbstbestimmten Lebensführung den bloß instrumentalistischen Umgang mit sich selbst oder mit anderen Menschen.5
Das Bewusstsein, sein Leben zu meistern und den Anforderungen, die es stellt, gerecht zu
werden, vermittelt für Kant ein ganz eigenes moralisches Selbstwertgefühl.6
Der Kategorische Imperativ darf nun nicht als eine oberste moralische Norm7 gelesen werden,
aus der sich im Wege der Konkretisierung weitere moralische Urteile ableiten ließen. Er legt nur
fest, was es heißen soll, eine Maxime ethisch zu begründen. Um die Zustimmung aller zu
erreichen (wodurch die Maxime eine universelle, gesetzesähnliche Geltung erhalten würde),
muss man zeigen, dass die fragliche Maxime entweder solche Normen weiter konkretisiert, die
schon gerechtfertigt und akzeptiert sind oder zumindest zu diesen nicht in Widerspruch steht.
4
Man kann hier nicht davon sprechen, dass sich durch die Trennung von zweckrationaler und ethischer
Begründung ein „Begründungsdilemma” eröffnen würde, wie J. Nida-Rümelin, a.a.O., S.60f meint. Dies wäre nur
dann gegeben, wenn auch die Begründungsaufgaben und -ziele die gleichen wären.
5
Dies wird besonders in der zweiten Fassung des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebracht:
„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.”, I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kant
(1968) Band 6, S. 61.
6
In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” führt Kant aus:”Hat man aber nicht ein Wort, welches
nicht einen Genuss, wie das der Glückseligkeit bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein
Analogon der Glückseligkeit, welches das Bewusstsein der Tugend notwendig begleiten muß, anzeigte? Ja! dieses
Wort ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an
seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu bedürfen sich bewusst ist.” , I. Kant, a.a.O., S. 247. Vgl. auch
die bekannte Stelle aus den Reflexionen: „Das moralische Gefühl ist kein ursprünglich Gefühl. Es beruhet auf
einem nothwendigen inneren Gesetze, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu
empfinden. Gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im allgemeinen fühlt und sein individuum
als ein Zufellig subiect wie ein accidens des allgemeinen ansieht.” in: Kants gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. XIX, Berlin/Leipzig 1934, S. 103, R. 6598; hierzu auch Forschner (1993a).
7
Diese müßte sich ja auf bestimmte Handlungsweisen oder Haltungen beziehen.
9
Dies bedeutet aber in jedem Fall, dass man bei einer ethischen Begründung immer auf einen
Fundus von inhaltlichen Normen zurückgreifen können muss, d.h. ohne eine inhaltliche Begründungsbasis kann das Begründungsgeschäft nicht gelingen.
Neben dem Kategorischen Imperativ ist für die neuzeitliche Ethik (vor allem im angelsächsischen Bereich) das Utilitaristische Prinzip von Bedeutung, das zwar ausführlich von John Stuart
Mill abgehandelt worden ist (Siehe insbesondere die kleine Schrift Mill (1976)), für das er aber
merkwürdiger Weise keine griffige Formulierung gegeben hat. Sinngemäß lässt es sich vielleicht
am besten wie folgt formulieren: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung das eigene
Glück wie das aller von der Handlung Betroffenen befördern.“
Während Kant von einem Streben des Menschen nach Autonomie ausgegangen ist, stellt Mill
das Streben des Menschen nach Glück in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, d.h. er geht
davon aus, dass die Menschen nach einem glücklichen Leben streben, dieses Streben aber nur
erfolgreich sein kann, wenn alle dieses Streben bei sich wie bei den anderen auch anerkennen.
Dabei ist zu beachten, dass „Glück“ bei J. St. Mill nicht - wie etwa bei seinem Vorgänger
Bentham und bei vielen seinen Nachfolgern - einfach durch eine Nutzenkalkulation ermittelt
werden kann, bei der Handlungen dann erstrebenswert sind, wenn sie einen optimalen aggregierten Netto-Nutzen erzielen. Im Anschluss an antike Traditionen verweist „Glück“ vielmehr auf eine anspruchsvolle Lebensform, in deren Rahmen man als umfassend gebildeter,
verständiger und selbstbewusster Mensch die Herausforderungen, die das Leben so mit sich
bringt, annehmen und bewältigen kann (vgl. hierzu Kötter (1984), Forschner (1998a)). Auch bei
einer ethischen Begründung nach dem utilitaristischen Prinzip muss man auf inhaltliche Gemeinsamkeiten zurückgreifen können, die hier eben die Vorstellungen davon betreffen, was zu
einem glücklichen Leben alles gehören muss beziehungsweise kann. Der viel diskutierten Frage,
ob und in wie weit der Kantische wie der utilitaristische Ansatz zu gleichen Ergebnissen
kommen, soll hier nicht näher nachgegangen werden.8 Festzuhalten ist nur noch einmal, dass
beide Prinzipien ein Streben nach Autonomie bzw. Glück voraussetzen und sich allein hieraus
8
Meist wird hier der Umstand problematisiert, dass beim Kategorischen Imperativ auf den Prozess der
Maximenbildung abgestellt wird, beim Utilitaristischen Prinzip dagegen die potenziellen Handlungsfolgen ins
Visier genommen werden. Allerdings zeigen schon die von Kant selbst gegebenen Beispiele, dass bei der
Begründung einer Maxime gemäß des Kategorischen Imperativs auch und gerade die Folgen ihrer Beachtung zu
thematisieren sind, vgl. hierzu E. Tugendhat, a.a.O., 5. und 16. Vorlesung.
10
die besonderen ethischen Begründungsaufgaben ergeben. Schließlich sei noch auf zwei allgemeine Aspekte der Ethik hingewiesen.
(1) Die Ethik liefert streng genommen nur Begründungen für personales Handeln. Auch wenn
die moralischen Normen allgemeine Geltung beanspruchen, so ist ihr Adressat immer der
einzelne handelnde Mensch. Für Institutionen wie den Staat, die Universität oder das Unternehmen gibt es genau genommen keine Moral. Da man Institutionen als organisatorische Mittel zur
Erreichung bestimmter Zwecke verstehen kann, sind sie zunächst nach den Regeln der sozialen
Klugheit zu begründen und zu kritisieren. Allerdings gibt es hier zweierlei zu berücksichtigen.
Einmal handeln Institutionen immer durch Menschen und der einzelne muss für sich entscheiden, ob das von ihm institutionell Geforderte mit seinen ethischen Maßstäben verträglich
ist. Sodann können institutionelle Regelungen (Staatsverfassungen, Gesetze, Wirtschaftsordnung) die Ausprägung ethischer Lebensformen erschweren oder fördern. D.h. indirekt
können auch institutionelle Regelungen moralisch-ethische Relevanz bekommen.9
(2) Wie wir gesehen haben, steht der Anspruch der Allgemeinheit, der mit moralischen Normen
verbunden ist, unter einer schwerwiegenden Bedingung: Nur wer nach einem gelungenen,
glücklichen oder autonomen Leben strebt, wird auf Probleme stoßen, zu deren Bewältigung die
Ethik Beiträge liefern kann. Und das ist genau der Punkt, an dem so viele Missverständnisse
entstehen.
Zweckrationale Begründungsverfahren stehen zwar auch unter einer pragmatischen Bedingung:
Nur wer überleben will, muss sich zweckrational verhalten. Aber es gilt natürlich, dass nicht
jeder, der überleben will, auch nach einem glücklichen Leben streben muss. Vielen Menschen
ist dieses Konzept einer glücklichen oder autonomen Lebensform höchst gleichgültig, ihnen
genügt es (oder muss es den Umständen gemäß genügen), so einigermaßen über die Runden zu
kommen. Und deshalb findet man häufig auf die Frage, warum man moralisch sein solle, nur
eine zweckrationale Begründung, die auf den Nutzen sozialverträglichen Verhaltens abstellt
9
Hierauf hat J. St. Mill in seiner Schrift: Über die Freiheit, Mill (1965) aufmerksam gemacht. Auch J.
Rawls hat diesem Aspekt eine zentrale Stellung eingeräumt, vgl. Rawls (1979), insbes. Teil III.
11
(d.h. man spricht zwar von Moral, meint aber genau genommen nur soziale Klugheitsregeln).10
Wir wollen nun versuchen, diese Rekapitulation praktisch-philosophischen Grundwissens zur
Behandlung zweier aktueller bioethischer Probleme, nämlich dem des therapeutischen Klonierens und dem der Präimplantations-Diagnostik, nutzbar zu machen. Dabei soll insbesondere
deutlich werden, dass das, was unter dem Titel „Bioethik” verhandelt wird, vielfach gar nicht
als Anwendung ethischer Ansätze auf Fragen der Biologie oder Medizin verstanden werden
kann, sondern einem weiten Feld praktisch-philosophischer, rechtlicher und anthropologischer
Fragestellungen zugerechnet werden muss.
3
Bioethische Fallstudien
3.1
Therapeutisches Klonieren
Der Ausdruck „therapeutisches Klonieren” ist insoweit etwas unglücklich, als damit keine
bestimmte Form des Klonierens bezeichnet wird, als vielmehr sein Zweck. Mit diesem Verfahren soll menschliches Funktionsgewebe gezüchtet werden, das hinsichtlich seiner genetischen
Struktur identisch ist mit dem Gewebe eines bestimmten Menschen. Dazu wird zunächst eine
menschliche Eizelle entkernt und ihr dann der Zellkern aus einer somatischen Zelle eines
bestimmten Menschen eingesetzt. Nach einer künstlichen Aktivierung der Eizelle beginnen dann
die ersten Zellteilungen. Diese Entwicklung wird dann über das anfängliche Stadium der
Totipotenz bis zur Ausbildung fötaler Stammzellen geführt und dann abgebrochen. Die fötalen
Stammzellen werden als „pluripotent” bezeichnet, d.h. aus ihnen lassen sich unter Laborbedingungen ganz verschieden Zelltypen entwickeln. Die durch Zellkerntransfer erzeugten Stammzellen sind über die im Zellkern enthaltene Erbinformation genetisch weitgehend identisch mit
den Zellen des Spenders, von dem der Zellkern stammt (lediglich der Teil der Erbinformation,
der in den Mitochondrien gebunden ist, stammt von der Trägerin der Eizelle). Durch eine
Grundlagenforschung mit solchen Klonierungs-Experimente erwartet man sich Aufschlüsse über
bislang unbeantwortete zellbiologische und entwicklungsbiologische Fragen. Hätte man diese
10
Man kann sich eine Gesellschaft denken, die so pluralistisch ist, dass sich hinsichtlich der Vorstellungen
von einem guten und autonomen Leben keine Gemeinsamkeiten mehr feststellen lassen. In einer solchen
Gesellschaft würde der moralische Diskurs verstummen, ethische Begründungen wären weder nachgefragt, noch
könnten sie gegeben werden. Gleichwohl könnten rational eingestellte Menschen in einer solchen Gesellschaft ihr
Leben relativ konfliktfrei und sozialverträglich einrichten.
12
Antworten, dann ließe sich unter Umständen das oben angesprochene therapeutische Ziel
erreichen.
Wir können hier die Fragen außer Acht lassen, ob dieses Verfahren auch wirklich das beste ist,
um die angestrebten Zwecke zu realisieren und ob der erforderliche Forschungsaufwand nicht an
anderer Stelle (z.B. in der AIDS-Forschung) nützlichere Erträge bringen würde. Denn diese
Überlegungen wären ersichtlich zweckrationaler beziehungsweise wissenschaftspolitischer Art,
geht es doch weniger um das Handeln des einzelnen Wissenschaftlers, als vielmehr um die
Schaffung von Kriterien, nach denen eine institutionalisierte Wissenschaftsförderung ihre
Forschungsprogramme auszulegen habe. In einer Stellungnahme der Berlin-Brandenburgischen
Akademie zum reproduktiven Klonieren (Pressemitteilung v. 5.7.01) wird ausgeführt, dass
grundsätzlich das Klonieren von den damit verbundenen Zwecksetzungen abhängt. Das ist so
allgemein formuliert nur bedingt richtig, denn selbst dann, wenn der Zweck des Klonierens als
gerechtfertigt unterstellt wird - was beim therapeutischen Klonieren im Gegensatz zum reproduktiven wohl leichter fallen sollte - , kann das Klonieren selbst moralischen Vorbehalten
unterliegen (der Zweck heiligt eben nicht immer die Mittel). Es ist deshalb auch völlig verfehlt,
die Aussichten auf Heilung schwerer Krankheiten mit einer Instrumentalisierung menschlichen
Lebens zu „verrechnen”, wie dies Vulgär-Utilitaristen tun. Menschenversuche sind weder nach
dem Kategorischen Imperativ noch nach dem Utilitaristischen Prinzip zu rechtfertigen, wie viel
Nutzen und Gewinn sie auch bringen möchten. Als ethische Kernfrage bleibt also: Unterstellt,
das therapeutische Klonieren sei ein wissenschaftlich sinnvolles Verfahren, welches anerkannten
therapeutischen Zwecken folgt - darf ein Wissenschaftler das Verfahren entwickeln und einsetzen oder wäre es verwerflichen Menschenversuchen gleichzusetzen?
Auf diese ethische Frage sollte nun keine juristische Antwort gegeben werden. Die allgemeine
Rechtslage und insbesondere die nach dem Embryonenschutzgesetz ist zwar von praktischer
Relevanz für das alltägliche Handeln des Wissenschaftlers im Labor, aus ihrer Analyse wird
man aber nur zufällig Argumente für einen ethischen Diskurs gewinnen können. Das Recht hat
nicht die Aufgabe, ethisch gerechtfertigte Normen zu legalisieren. Zwar sollte in einem demokratischen Rechtsstaat die Rechtsordnung auf faktische Wertorientierungen Rücksicht nehmen
(solche müssen nicht immer in einem ethisch anspruchsvollen Sinne begründet sein) und sie
sollte auch die Ausbildung ethischer Lebensformen gewährleisten. Dennoch gilt, dass das Recht
13
in erster Linie auf die Wahrung des sozialen Friedens verpflichtet ist, die Ethik dagegen auf
Wahrung von Autonomie oder Glück im Leben des einzelnen Individuums. Dies ist auch und
gerade bei der Interpretation der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu beachten.
Die ethische Brisanz dieser Frage rührt daher, dass eine befruchtete menschliche Eizelle eine
notwendige Bedingung für die Entwicklung menschlichen Lebens darstellt. Eine durch Zellkerntransfer teilungsfähig gemachte Eizelle ist zwar nicht „befruchtet”, aber auch aus ihr kann u.U.11
ein voll entwickelter Mensch entstehen. Dieser Umstand könnte Grund sein für moralische
Bedenken. Das entwickelte menschliche Leben, insbesondere der zur Person herangereifte
Mensch, ist sowohl moralisches Subjekt wie Objekt der Ethik. Ihm sind die oben skizzierten
moralischen Entscheidungsaufgaben zugeordnet und er hat bei seinen Entscheidungen zu
beachten, dass dadurch seines Gleichen betroffen wird wie er danach zu trachten hat, dass er die
Zustimmung seines Gleichen erfährt. Der Kern der Ethik (gleich welchen Typs) ist also durch
die Symmetriebeziehung wechselweiser Anerkennung charakterisiert. Allerdings ist die Ethik
nicht auf diesen Kern beschränkt. Sowohl nach dem Kategorischen Imperativ wie nach dem
Utilitaristischen Prinzip (im Sinne Mills) lässt sich, ohne dies hier näher auszuführen, zeigen,
dass auch und gerade solche Menschen besondere Aufmerksamkeit verdienen, die selbst den
Ansprüche an eine moralisch relevante Personenhaftigkeit nicht oder nicht in vollem Umfang
genügen. So ist es insbesondere moralische Pflicht, einem kleinen Menschen die Fürsorge
zukommen zu lassen, die er braucht, um zu einer Person heranreifen zu können, wie es auch
geboten ist, bei einem Menschen, der durch Alter oder Krankheit nicht mehr selbst entscheiden
kann, die Fähigkeit und den Willen zur Lebensgestaltung zu achten, die den Menschen bis zu
diesem Stadium begleitet haben.
In diesen Fällen setzt man an die Stelle von artikulierten und diskursfähigen Interessen so
genannte „wohlverstandene Interessen”, von denen man nach allgemeiner Lebenserfahrung
annehmen darf, dass sie im Wohle des betroffenen Menschen liegen. Eine solche Zuordnung ist
11
Der Vorbehalt rührt daher, dass unmittelbar nach einer Befruchtung der so genannte Methylierungscode
entlang der Chromosomen eingerichtet wird (also das Programm, nach dem Gene im Laufe der Entwicklung
geschaltet werden). Dies Einrichtung verläuft für die mütterlichen und väterlichen Anteile unterschiedlich, deshalb
müssen diese auch ihrer Herkunft nach in der Eizelle identifiziert werden können. Wird nun in eine Eizelle ein
Zellkern aus einer somatischen Zelle eingesetzt, so ist eine fundamentale Neueinrichtung des Methylierungscodes
zumindest erschwert.
14
allerdings kein rein intellektuelles Geschäft, vielmehr benötigt man hier die schon erwähnte
moralische Urteilskraft, mit deren Hilfe die Bedürfnislage des Betroffenen richtig interpretiert
werden kann. Aber auch das feinst gebildete Einfühlungsvermögen bedarf gewisser Zeichen und
interpretationsfähiger Regungen. Haben wir es z.B. mit einem tief komatösen Patienten zu tun,
dessen Welt uns völlig verschlossen ist und von dem wir nicht die geringsten Zeichen erfahren,
welche unser Handeln lenken und leiten könnten, dann wird es ausgesprochen schwierig: Hat
man keine Hoffnung, dass dieser Patient jemals wieder erwachen wird, dann tritt an die Stelle
der Zuschreibung wohlverstandener Interessen ein Vorsichtsprinzip, d.h. da man nicht genau
weiß, was ein solcher Mensch wahrnimmt und empfindet, fingiert man, dass er noch bestimmte
Wahrnehmungs- und Empfindungsreste besässe und richtet danach das Handeln aus. Hätte man
allerdings ein positives Wissen darüber, dass jegliche Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit verloren ist, dann hätte eine solche Fiktion natürlich keinen Sinn mehr.12
Jede Ethik besitzt bestimmte anthropologische Implikationen, d.h. sowohl der Handelnde selbst
wie die von der Handlung Betroffenen müssen über bestimmte menschliche Qualitäten verfügen,
die die Bedingung der Möglichkeit von Moralität darstellen. Deshalb impliziert die Rede von
der Würde des Menschen im ethischen Sinne stets, dass der Mensch Interessen ausbilden, in
gewissen Umfang frei (also nach Argumenten) entscheiden kann und der Lebensplanung fähig
ist (wie bescheiden auch immer). Die Würde eines Menschen achtet man, indem man diese
menschlichen Fähigkeiten in ihren konkreten wie potenziellen Ausprägungen respektiert und ihn
insbesondere nicht zu bestimmten Zwecken instrumentalisiert; sucht man dieser Haltung gerecht
zu werden, dann verleiht man dadurch dem eigenen Tun eine besondere, moralische Würde.13
Wenn die Ethik auch anthropologische Implikationen hat, so hat sie damit noch lange keine
definitorische Kraft für anthropologische Fragen, insbesondere für solche des Beginns und Ende
12
Mit dieser Feststellung wäre allerdings kein Freibrief für den Umgang mit solchen Menschen gegeben,
nur würden jetzt andere Betroffene und Fragen in den Vordergrund rücken. Man müßte z.B. Rücksicht auf die
Gefühle der Angehörigen nehmen oder hätte im Kantischen Sinne die Frage zu prüfen, ob nicht in Ansehung eines
solchen Menschen gewisse Pflichten sich selbst gegenüber bestünden, vgl. zu diesem Komplex die gründliche
Darstellung von Birnbacher (1996).
13
Dem Begriff „Menschenwürde” aus dem GG fehlt diese doppelte Bedeutung eines ethischen WürdeBegriffs. Hier geht es nur darum, dass der Staat bei der Verfolgung legitimer Interessen Menschen nicht willkürlich
instrumentalisieren darf. Dies bedeutet nicht, dass der Verfassungsbegriff ohne moralische Relevanz ist, vielmehr
werden durch ihn gesellschaftliche Bedingungen gesichert, die für die Ausbildung moralischer Lebensformen
wesentlich sind; zum Begriff der „Menschenwürde” in diesem Zusammenhang Baumgartner u.a. (1997).
15
des menschlichen Lebens erhalten: Wenn wir es mit Menschen als Personen zu tun haben, dann
sind wir an Moral und ethische Begründungen gebunden; aber die Ethik sagt nicht, welchen
Lebensformen wir den Status einer Person zuweisen sollen. Will man also den Schutz der
Frühform menschlichen Lebens erreichen, dann muss man zeigen, dass wenigstens einige der
ethischen Gründe, die für den Umgang mit unseres Gleichen ausschlaggebend sind, auf diese
Lebensform übertragen werden können (Mieth (1999)).
Das in diesem Zusammenhang häufig benutzte, von Reinhardt Merkel so genannte „SpeciesArgument” (Merkel (2001)), leistet z.B. eine solche Begründung genau nicht. Nach diesem
Argument muss man einem Lebewesen allein dann Würde zusprechen, wenn es der Species
„Mensch” zugeordnet werden kann. Da beim geborenen Menschen eine solche Zuordnung aus
den oben skizzierten Gründen gerechtfertigt ist, überträgt das Species-Argument insbesondere
die Würde auch auf die befruchtete Eizelle, da diese ebenfalls der Species „Mensch” zugerechnet werden muss (so insbesondere Spaemann (2000)).
Gegen dieses Argument ist zunächst kritisch festzuhalten, dass eine biologische Species eine
abstrakte Bestimmung gemäß einer Reihe von festen Merkmalen darstellt. Zu diesen Merkmalen
gehören anatomische-morphologische, genetische, verhaltensbiologische und auch entwicklungsbiologische. Will man entscheiden, ob ein bestimmtes Lebewesen in eine Species-Klasse
fällt, so wird das Vorliegen der definierenden Merkmale überprüft, wobei für ein positives Urteil
natürlich nicht alle Merkmale immer zugleich vorliegen müssen. Ein juveniler Spatz (Passer
domesticus) ist eben ein Spatz, bei dem alle artspezifischen Merkmale gegeben sind bis auf
solche (z.B. Gefieder, Verhalten), die den Unterschied zwischen dem juvenilen und adulten Tier
markieren. Es lassen sich bei einem Lebewesen immer unterschiedliche Entwicklungsstufen
festhalten, was aber nicht die Einführung von entsprechenden Unterarten erzwingt (so bezeichnet ein Egerling lediglich das Larvenstadiums eines Maikäfers und keine eigene Art oder
Unterart). Wenn man also feststellt, dass die befruchtete Eizelle das früheste Stadium der
menschlichen Entwicklung darstellt, dann hat man damit gar nichts erreicht für die Frage, ob
denn dieses Stadium in moralischer Hinsicht als ununterscheidbar mit allen folgenden Stadien
der Entwicklung des Menschenangesehen werden muss.
Man kann nun versuchen, diese moralische Ununterscheidbarkeit durch ein anderes, etwas
komplexeres Argument herzustellen. Dabei wird durchaus anerkannt, dass das moralische
16
Kriterium der Würde an Eigenschaften wie Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein gebunden
wird, Eigenschaften die sich ja zunächst nur an dem zur Person entwickelten Menschen zeigen
und nicht schon an der befruchteten Eizelle. Dann aber wird behauptet, dass diese moralisch
relevanten Eigenschaften sämtlich in der befruchteten Eizelle schon angelegt seien, diese
gewissermaßen das Programm zur Person schon besässe, welches sich nur noch im Wege der
biologischen Entwicklung entfalten müsse, wobei dieser Entwicklungsprozess kontinuierlich
verlaufe und jede Trennung in qualitativ unterschiedliche Stadien reine Willkür bedeute.14 Bei
dieser Argumentation wird also versucht, zwischen dem selbstbewussten und selbstbestimmten
Menschen und der befruchteten Eizelle eine biologische Brücke herzustellen, welche das
Argument der moralischen Gleichbehandlung tragen soll. Dieses Vorgehen bedeutet noch
keinen naturalistischen Fehlschluss, da ja die moralische Entscheidung selbst nicht als biologische Notwendigkeit dargestellt wird, gezeigt werden soll nur, dass eine moralische Ungleichbehandlung nicht mit biologischen Unterschieden gerechtfertigt werden kann. Aber auch dies ist
nicht richtig.
Zwar ist in einer befruchteten Eizelle das genetische Programm eines Menschen enthalten, aber
dieser Umstand reicht noch nicht aus, um von der Eizelle als potentieller Person sprechen zu
können. Denn schließlich ist dieses Programm auch in den meisten Körperzellen enthalten und
gerade die Technik des Klonierens zeigt, dass dieses Programm kaum qualitative Unterschiede
aufweist zu dem Programm, das durch Befruchtung entstanden ist; trotzdem ziehen wir daraus
keine moralischen Konsequenzen für den Umgang mit unseren Körperzellen. Um dem Potenzialitätsargument überhaupt eine gewisse Kraft zu verleihen, müssen seine Anhänger es „kontextualisieren”: Man meint dann nicht das Programm als solches, sondern das entwicklungsfähige Programm, welches als Erbinformation in einer teilungsfähigen Eizelle vorliegt. Allerdings ist dieser Kontext zu knapp umrissen.
Gerade die moderne Gentechnik zeigt, dass die erste Phasen der Entwicklung relativ unbestimmt
sind, d.h. dass hier noch keine selbsttragende Entwicklung zum Menschen in Gang gekommen
14
Baumgartner e.a. führen dazu aus:„So bilden Ei- und Samenzelle nach der Vereinigung ein neues
Lebewesen, das - wenn bestimmte Rahmenbedingungen vorliegen und äußere Störungen ausbleiben - aufgrund der
ihm eigenen, im Genom codierten Anlagen eine bestimmte Entwicklung nimmt, dem also ein Sein im Modus realen
Werdens zukommt.”, Baumgartner e.a.(1997) S. 230; vgl. auch Spaemann, a.a.O; Höffe (2001).
17
ist. Deshalb ist es nur möglich, die totipotenten Zellen nicht zur Entwicklung eines Menschen zu
führen, sondern zur Entwicklung von bestimmtem Funktionsgewebe. R. Merkel hat darauf
hingewiesen (Merkel, a.a.O.), dass das Potenzialitätsargument zu ausgesprochen skurrilen
Konsequenzen führt: Angenommen, ein Genetiker entfernt aus einem Präembryo im 4-ZellStadium eine Zelle und fügt sie anschließend sofort wieder dem Zellverband zu. Da die Zellen
in diesem Stadium noch totipotent sind, hat der Forscher mit der Entfernung einer Zelle neues
Leben geschaffen, nämlich einen natürlichen Klon. Nach dem Potenzialitätsargument würde es
sich hierbei um eine potentielle Person handeln, welche durch die anschließende Rückübertragung der Zelle in ihren „Heimatverband” als zerstört angesehen werden müsste, obwohl
überhaupt keine physische Zerstörung vorliegt. Gegen das Potenzialitätsargument spricht auch
die Möglichkeit, dass man einen Zellkern aus einer menschlichen Zelle in eine entkernte Eizelle
eines Primaten einpflanzen und diese so behandelte Eizelle zur Teilung anregen könnte. Es kann
bezweifelt werden, ob sich hieraus ein Mensch würde entwickeln können, aber es spricht doch
einiges dafür, dass sich im Labor zumindest die ersten Entwicklungsstadien herstellen ließen.
Das schlagende Gegenargument scheint mir aber zu sein, dass die Entscheidung, ob eine einmal
befruchtete Eizelle zum Menschen heranreifen wird oder nicht, erst in der Phase der Adplantation bzw. Implantation fällt, also in einem Stadium, in dem die Zellen die Eigenschaft, totipotent
zu sein, schon längst verloren haben. Die Schritte auf diesem Weg sind einer bis heute noch
nicht ganz durchschauten Selektion unterworfen, klar ist bislang nur, dass erst bestimmte
Bedingungen erfüllt sein müssen (was wohl ziemlich häufig nicht der Fall ist), damit es zur
Einnistung kommt. In diesem Sinne habe ich oben davon gesprochen, dass das befruchtete Ei
lediglich eine notwendige Bedingung zur Menschwerdung darstellt, als hinreichend hinzu
kommen muss noch eine geglückte Interaktion zwischen der befruchteten Eizelle und dem
Uterus der Mutter. Mit der Einnistung nimmt die Entwicklung zum Menschen ihren „natürlichen” Gang, da jetzt äußere Eingriffe diese Entwicklung zwar unterbrechen und zerstören, sie
aber nicht mehr in eine andere Richtung lenken können (ein paar Wochen alter Embryo lässt
sich eben nicht mehr in ein einheitliches Funktionsgewebe umbilden).15
15
Insbesondere zu den Konsequenzen dieser Position für die Gesetzgebung vgl. K.-M. Seel, Inwieweit sind
menschliche Embryonen schützenswert?, erscheint demnächst.
18
An dieser Stelle wird gerne darauf verwiesen, dass der Weg von der teilungsfähigen Eizelle bis
zum voll entwickelten Menschen kontinuierlich verlaufe und es deshalb willkürlich sei, bestimmten Entwicklungsstadien eine besondere moralische Relevanz zuzuweisen (vgl. Rager
(1996), Spaemann (2000), Höffe (2001); auch das Bundesverfassungsgericht teilt bislang diese
Position, BverfGE 39, S. 41). Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass jede Unterscheidung
willkürlich in dem Sinne ist, dass sie uns nicht von der Natur aufgezwungen wird, sondern aus
freien Stücken erfolgt. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie willkürlich im Sinne von
„grundlos” sein muss. Und nur auf diesen Aspekt kommt es an. Die Entwicklung durch Zellteilung ist ja selbst ein diskreter Vorgang und die Einteilung in verschiedene Stadien folgt
gerade allgemein anerkannten Gründen. Dass es manchmal noch nicht gelingt, zwischen
einzelnen Stadien weitere mit wissenschaftlich gewünschten Genauigkeit zu etablieren - nicht
zuletzt, weil eine entsprechende Forschung bislang nicht gestattet ist - berechtigt nicht zu der
Annahme, dass die Entwicklung zwischen diesen Stadien „kontinuierlich” verlaufe. Angesichts
der eben erörterten Beispiele spricht also mehr dagegen, die Potenzialität des personalen Lebens
schon mit der Befruchtung einer menschlichen Eizelle beginnen zu lassen als dafür.
Die Frage, ob man den potenziellen Beginn des personalen Lebens auf den Zeitpunkt der
Einnistung legen soll oder besser in den Zeitraum der Entwicklung der neuronalen Strukturen,
welche voll entwickelt dann die biologischen Träger personaler Eigenschaften sein werden,
möchte ich hier nicht mehr weiter verfolgen. Jedenfalls liefern die frühesten Stadien der
menschlichen Entwicklung keine brauchbaren Anhaltspunkte für eine ethisch relevante Wertzuweisung. Der Diskurs um diese Frage ist zwar ethisch motiviert, aber nicht mit den Mittel der
Ethik zu entscheiden. Hier müssen in erster Linie kulturell vermittelte und traditionell überkommene anthropologische Vorstellungen mit den Erkenntnissen der modernen Biologie und
Medizin konfrontiert und abgeglichen werden. Im Lichte solcher Überlegungen wird aber
deutlich, worin der für die ethische Beurteilung entscheidende Unterschied zwischen therapeutischen und reproduktiven Klonieren besteht: Wird beim ersteren Verfahren die Schwelle gar
nicht erreicht, an der man von einer selbsttragenden Entwicklung zur Person sprechen kann, so
ist es gerade Sinn des zweiten Verfahrens, diese Schwelle zu überwinden. Deshalb stehen dem
reproduktiven Klonieren zu Recht schwere ethische Bedenken entgegen, denn einen Menschen
klonieren bedeutet, einen hoch riskanten Menschenversuch auszuführen, bei dem kein Interesse
19
auszumachen ist, das dieses Risiko rechtfertigen könnte.
3.2. Präimplantationsdiagnostik
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist ein diagnostisches Verfahren, welches nur im Zusammenhang mit einer In-vitro-Fertilisation angewandt werden kann mit dem Ziel, bei genetisch
belasteten Eltern nur solche befruchteten Eier einzupflanzen, die keine Gendefekte aufweisen.
In technischer Hinsicht werden dazu mehrere Eizellen der Mutter zur Reifung gebracht und
extrakorporal befruchtet. Im 4- bis 10-Zellstadium wird dann eine Zelle aus dem jeweiligen
Verband gelöst und genetisch untersucht. Liegt kein Gendefekt vor, so wird der zugehörige
Präembryo eingepflanzt, andernfalls wird er verworfen.
Nach dem Embryonenschutzgesetz ist dieses Verfahren zur Zeit in Deutschland verboten. Wir
wollen hier aber nicht auf die Rechtslage und auf die mit ihr verbundenen merkwürdigen
Konsequenzen eingehen (vgl. Merkel, a.a.O.), sondern uns auf die Diskussion der ethischen
Probleme beschränken, von denen uns vor allem die drei folgenden besonders wichtig erscheinen:
(1) Darf an embryonalen Frühformen eine verbrauchende Manipulation durchgeführt werden?
(2) Wie rechtfertigt sich die Selektion eines genetisch unauffälligen Präembryos zur Einpflanzung in den Uterus?
(3) Bedeutet die Entscheidung für ein „gesundes” Kind eine Diskriminierung von behinderten
Menschen?
ad (1) Nach den Ausführungen im vorhergehenden Abschnitt sind grundsätzliche Bedenken, die
sich auf den potenziell personalen Status der zu analysierenden Zellen beziehen, nicht plausibel.
D.h. die Entnahme einer Zelle zum Zwecke einer genetischen Analyse stellt selbst keinen
Angriff auf die Würde und das Leben einer potenziellen Person dar, bleibt also zu überlegen, ob
die damit verbundenen Zwecke ethischen Bedenken ausgesetzt sind.
ad (2) Der Wunsch nach einem gesunden Kind ist wohl universell akzeptiert und ihm haftet
auch nach strengsten ethischen Maßstäben nichts Anstößiges an. Selbst in der Kirche darf um
ein gesundes Kind gebetet und um seinetwillen eine Kerze gestiftet werden. Wenn aber der
Wunsch selbst nicht ethisch bedenklich ist und seine Verfolgung mit ethisch zwar unbedenk-
20
lichen aber technisch untauglichen Mitteln (Gebet und Opfer) gestattet ist, wieso soll dann seine
Erfüllung mit ethisch unbedenklichen und zugleich technisch tauglichen Mitteln ein Problem
darstellen?
Eine interessante Position vertritt hier M. Düwell (Düwell (1999)). Er geht davon aus - und
darin ist ihm sicherlich zuzustimmen -, dass durch die Verneinung eines potenziell personalen
Status des Präembryo dieser keineswegs für einen völlig willkürlichen Umgang freigegeben sei.
Immerhin handele es sich ja selbst bei den frühsten Entwicklungsstadien um lebensbedeutsame
Strukturen, für deren Zerstörung man deshalb einer Rechtfertigung bedarf. Der Art nach sieht
Düwell mögliche Rechtfertigungsgründe z.B. bei der Pränataldiagnostik (PND), die einem
Schwangerschaftsabbruch aus genetischen Gründen vorausgehen muss, da hier ein Konflikt
zwischen den Interessen der Schwangeren und den wohlverstandenen Interessen des Embryos
bestehe, der durch eine ethische Güterabwägung zu entscheiden sei. Er führt dann aus: „Bei der
PID ist die Entscheidungssituation nun allerdings anders. Sofern man davon ausgeht, dass
bereits die befruchtete Eizelle eine Schutzwürdigkeit besitzt, wenn auch evtl. in recht geringem
Ausmaß, so wäre eine Konfliktsituation nicht in der Weise gegeben, wie bei der PND. ... Im Fall
der PND kann mit den Rechten der Frau argumentiert werden, sich auf Grund der besonderen
Belastung gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Bei der PID hingegen müßte man
begründen, dass das Paar ein Recht auf ein gesundes Kind hat.” (Düwell (1999) S.13)
Diese Konsequenz scheint mir allerdings überzogen zu sein. Sicher hätte man überhaupt kein
Problem mit der PID, wenn sich ein moralisches Recht auf gesunden Nachwuchs begründen
ließe. Aber genau so sicher ist ein solcher Begründungsversuch aussichtslos: Was sollte genau
der Inhalt des Rechts sein und wer auf der anderen Seite der Verpflichtete? Es ist allerdings auch
ein Irrtum anzunehmen, dass moralische Pflichten nur dort bestehen, wo ihnen symmetrisch
Rechte entsprechen. Hier sei an Kants Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten erinnert (vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kant (1968)
Band 6, S.52f; ders., Metaphysik der Sitten, Tugendlehre. In: Kant (1968), Band 7, S. 520 ff.).
Für Kant sind (moralische) Pflichten vollkommen, wenn ihnen symmetrisch ein Anspruch, ein
Recht korrespondiert: Habe ich mir Geld entliehen, so muss ich es zurückzahlen und zwar an
genau denjenigen, der das Forderungsrecht besitzt. Die Argumentationslage sieht allerdings
schon bei der Maxime, anderen in Not zu helfen, anders aus. Diese lässt sich rechtfertigen, ohne
21
dass erst ein anderer als Rechtsträger identifiziert sein muss. Zwar setzt die Maxime voraus, dass
es Menschen gibt, die der Hilfe bedürfen, aber diese Lage gibt ihnen noch keinen Rechtsanspruch gegen bestimmte Personen an die Hand und deshalb ist man bei der Frage, wem
gegenüber die Maxime zu konkretisieren sei, nicht fixiert. Genau diese Argumentation findet
sich übrigens auch bei J. St. Mill (Mill (1976) S. 86f), d.h. in diesem Punkt unterscheiden sich
Kantische und utilitaristische Ethik nicht. Auf unseren Fall übertragen bedeutet dies, dass zwar
ein Paar kein moralisches Recht besitzt, ihren Wunsch nach einem gesunden Kind einzufordern,
dass es aber andererseits ethisch gerechtfertigt ist, diesem legitimen Wunsch ärztlicherseits
nachzukommen.
An dieser Stelle könnte man nun noch ein so genanntes „Dammbruch-Argument” anführen.
Danach könnten Maximen oder Handlungen als solche ethisch gerechtfertigt sein, sie müßten
dennoch verworfen werden, wenn zu befürchten wäre, dass sie Anlass zu ethisch bedenklichen
Entwicklungen geben könnten. In diesem Sinne argumentiert z.B. Regine Kollek: „Bei fortschreitender Kenntnis des menschlichen Genoms wird die Versuchung steigen, nicht nur
Embryonen mit pathologischem Genbefund auszusondern, sondern sie auch bewusst nach
gewünschten phänotypischen oder ggf. auch verhaltensrelevanten Merkmalen zu selektieren.
Insofern ist die PGD (= PID, Verf.) von ihrem Ansatz her ein Instrument, das sich dem Embryo
wie einem Konsumobjekt nähert, dessen Akzeptanz jeweils gültigen Selektionskriterien unterliegt.
Ein Verfahren, in dessen Zusammenhang potenzielle menschliche Wesen bewusst auf Probe
erzeugt und von den zukünftigen Eltern erst nach einer genetischen Untersuchung für existenzund entwicklungswürdig befunden werden, ist mit der Würde menschlichen Lebens nicht
vereinbar.”(Kollek (1999) S.124)
Wie man sieht, leben Dammbruch-Argumente in hohem Maße von empirischen Annahmen über
mögliche gesellschaftliche Entwicklungen. Streng genommen sind sie für eine ethische Beurteilung ohne Bedeutung, da derjenige, der recht handelt nicht den Missbrauch der Handlungsoptionen durch andere zu verantworten hat. Jedoch können solche Argumente für eine juristische Betrachtungsweise Bedeutung haben, da das Recht gesellschaftliche Tendenzen zu beachten und auf ihre Auswirkungen auf den Rechtsfrieden und die Wahrung moralischer Handlungsspielräume zu beurteilen hat. D.h. prinzipiell ist es möglich, dass mit einem Dammbruch-
22
Argument eine rechtliche Regelung begründet werden kann, selbst wenn aus ethischer Sicht
keine Bedenken bestünden. Da ein Dammbruch-Argument immer Handlungsverbote rechtfertigen soll, muss es allerdings sehr sorgfältig begründet sein und sich insbesondere auf eine
gründliche Analyse gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen berufen können. Die in unserem
Zusammenhang üblicherweise vorgebrachten pauschalen Verweise auf die Geschichte und die
Natur des Menschen stellen insoweit keine ernsthaften Begründungsversuche dar.
ad (3) Ein Mensch wird diskriminiert, wenn er in ungerechtfertigter Weise benachteiligt und an
der Realisierung gerechtfertigter Lebensziele gehindert wird. Bei einem behinderten Menschen
würde man insbesondere dann von Diskriminierung sprechen, wenn man ihn daran hindern
würde, am gesellschaftlichen Leben seinen Fähigkeiten entsprechend teilzunehmen. Dass eine
solche Diskriminierung ethisch verwerflich ist, liegt auf der Hand, es ist auch nicht schwer
einzusehen, dass es sowohl nach dem Kategorischen Imperativ wie nach dem Utilitaristischen
Prinzip geboten ist, behinderten Menschen nach Kräften zu helfen und sie in ihrem Streben nach
Autonomie und Glück zu unterstützen. Allerdings muss auch festgehalten werden, dass es noch
nicht diskriminierend ist, wenn man eine Behinderung als Behinderung anspricht und versucht,
ihre Entstehung zu vermeiden, soweit es eben geht. Und wenn es auch manchmal ein tröstlicher
Gedanke für behinderte Menschen sein mag, nicht als einzige ein schweres Schicksal zu tragen,
so lässt sich daraus doch kein Recht ableiten, dass sich ihre Behinderung im Menschengeschlecht fortsetzen müsse.16
Schon im Rahmen der epikureischen und stoischen Ethik wurde gelehrt, dass es ein besonderes
Element im Streben nach Glück sei, mit unangenehmen und schmerzlichen Widerfahrnissen
souverän umzugehen. Man muss lernen, mit dem zu leben, was nicht zu ändern ist. In diesem
Sinne konkretisiert sich das Glück des behinderten Menschen wie das Glück derjenigen, die mit
ihm zusammenleben unter anderem auch darin, wie man mit der Behinderung fertig wird.
Allerdings wurde auch schon in der Antike davor gewarnt, sich absichtlich in extreme Situationen zu begeben, nur um in ihrer Beherrschung besondere moralische Tüchtigkeit beweisen zu
können. Dies sei falsch, weil in dem sich Aussetzen keine Anerkennung natürlicher Gegebenhei-
16
Dies ist übrigens kein eugenisches Argument, da es hier nur um die Respektierung individueller
Wünsche geht und nicht um die biologische Gestaltung der menschlichen Art!
23
ten liegt, sondern ein bewusster Akt der Selbstdarstellung. So wie es ethisch geboten ist,
Widerfahrnisse hinzunehmen, so ist es ethisch bedenklich, absichtlich Pseudo-Widerfahrnissen
herbeizuführen.
Was als Widerfahrnis gelten kann, hängt entscheidend von unserem Wissen und Vermögen ab.
Musste man früher mit vielen Krankheiten leben und konnte im Umgang damit moralische
Würde beweisen, so lässt sich dies in gleicher Weise nicht auf die Fälle übertragen, bei denen
jemand heute bewusst auf die Behandlung einer heilbaren Krankheit verzichtet. Man sollte
deshalb nicht glauben, das „Natürliche” an sich und ohne Bezug auf den Stand der menschlichen
Kultur feststellen zu können, vielmehr muss das als natürlich hingenommen werden, was noch
nicht beherrscht werden kann. Deshalb verfallen Autoren wie R. Spaemann in einen ideologischen Naturalismus, wenn sie als „Natur” feiern, was sich bei näherem Hinsehen lediglich als
ein Stück archaischer Kultur erweist (Spaemann a.a.O,). Eigentlich ist ja schon im Mythos von
der Vertreibung aus dem Paradies die Einsicht zum Ausdruck gebracht, dass mit der Erkenntnis
die Last des Entscheidens verbunden ist: Wissen schafft Verantwortung. Dieser Prozess ist
irreversibel und man kann ihm nicht entkommen, indem man die Augen schließt und sich nach
Zeiten sehnt, in denen als unabänderlich hinzunehmen war, was heute als abänderlich zu
verantworten ist.
Wenn ein Paar in einer Situation, in der die PID medizinisch angezeigt ist, auf ihren Einsatz
verzichtet, um dann später die PND in Anspruch zu nehmen und bei einem positiven Ergebnis
abzutreiben, dann liegt kein Notstand vor, der die Tötung des Fötus rechtfertigen könnte. Denn
die Konfliktsituation, die als Rechtfertigungsbasis herangezogen werden soll, ist eben keine, in
die das Paar auf natürliche und tragische Weise hineingeraten ist, sondern eine, die durch die
vorgängige Entscheidung bewusst provoziert wurde. Der Mensch aber ist ethisch verpflichtet,
alles Vertretbare zu tun, um Situationen zu verhindern, in denen ein Menschenleben auf dem
Spiel steht. Da das der PID zugrunde liegende Verfahren selbst als ethisch vertretbar zu beurteilen ist, sprechen auch keine ethische Bedenken gegen die indizierten Zwecke.
4
Schluss
Die vorgestellten Argumentationsskizzen sollten zeigen, auf welch diffizile Weise bei den
24
aktuellen bioethischen Problemen ethische, rechtliche und anthropologische Argumente verknüpft sind. Man kann gegen diese Darstellung einwenden, dass es nicht klug sei, in eine so
aufgeregte und engagierte öffentliche Debatte mit den etwas strengeren begrifflichen Mitteln der
praktischen Philosophie einzugreifen, sondern man statt dessen besser versuchen solle, sich mit
rhetorischem Geschick in der kasuistischen Vorstellungswelt des common sense zu bewegen.
Wollte man seine Mitmenschen nur zur Annahme bestimmter inhaltlicher Positionen bewegen,
dann wäre dies zweckrational gesehen sicher das richtige Verfahren. Aber aus philosophischer
Sicht kann es genau darum nicht gehen. Was wir angesichts der weitreichenden Probleme
brauchen, sind nicht gefällige Überzeugungen, sondern kritische Einsichten. Und diesen könnte
gerade die bald zweieinhalb tausend Jahre alte Argumentationskultur der praktischen Philosophie den Weg bereiten.
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