Voigt Keimbahntherapie_Ein Antwort auf R Anselm

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Friedemann Voigt
Keimbahntherapie durch Gentechnik. Eine Antwort auf Reiner Anselm
Mit seinem auch in der Dezember-Ausgabe 2015 von „TTN-Info“ erschienen Vortrag hat
sich Reiner Anselm mit neuen Entwicklungen im Bereich der Keimbahntherapie beschäftigt. Er fordert, die diesbezüglichen Erwägungen aus der letzten Auflage des sog. „Stufenmodells zur ethischen Bewertung von Gen- und Zelltherapie“ aus dem Jahr 2009 bedürften einer Neubewertung und Überarbeitung. Grund dafür sei zum einen eine veränderte
Forschungslage, zum anderen seien die ethischen Kriterien der Bewertung der Keimbahntherapie im Stufenmodell unzulänglich. Die Einstufung der Keimbahntherapie im
Stufenmodell als „derzeit unverantwortbar“ sei ungenügend. Die Keimbahntherapie, so
Anselm, erfordere auch und gerade aus Sicht einer Ethik christlicher Freiheit ein unbedingtes Verbot. Im Folgenden sollen diese Argumentation Anselms geprüft und einer ‚Antikritik’ unterzogen werden.
1. Genügt das Stufenmodell dem gegenwärtigen Stand der Keimbahnforschung?
Vorab ist festzuhalten, dass das Stufenmodell sich als „zeitlich befristete Momentaufnahme“ versteht (49)1. Damit wird der Dynamik der lebenswissenschaftlichen Forschung
und der mit ihr verbundenen medizinischen Anwendungsmöglichkeiten Rechnung getragen. Es kann gelingen, bislang unbeherrschbare Risiken von Therapien zu kontrollieren,
wodurch Anwendungen möglich werden, die bislang unvertretbar waren. Es kann aber
auch der Fall eintreten, dass die fortgeschrittene Forschung auf neue Problemzusammenhänge stößt, die bereits etablierte oder unmittelbar bevorstehende therapeutische Anwendungen in Frage stellt. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Stufen werden
daher als „fließend“ angesehen (49). Es ist also ganz im Sinne der Zielsetzung des Stufenmodells, wenn aufgrund neuer wissenschaftlicher Entwicklungen seine Darstellungen
und Bewertungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Reiner Anselm hat seine Erwägungen an einem in der Tat gegenüber 2009 fortgeschrittenen Stand in der Gen- und Zelltherapie aufgenommen. Das sog. „Genome-Editing“
durch welches es möglich ist, in eine bestehende DNA einzugreifen, bestimmte Abschnitte
Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf: Jörg Hacker u. a., Biomedizinische Eingriffe am
Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zelltherapie, Berlin/New York 2009.
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der DNA herauszuschneiden bzw. einzufügen, hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Das Verfahren weckt auch zur Behandlung von Krankheiten hohe Erwartungen und
Hoffnungen. Therapien befinden sich zum Teil schon in der klinischen Entwicklung. Mit
dem 2012 entdeckten sog. CRISPR/Cas-9-Verfahren ist nun ein weiterer Schritt im Genome-Editing getan. Die Eingriffe in das Genom sind damit nicht nur einfacher und günstiger, sondern zudem auch noch präziser möglich. Die Anwendungsmöglichkeiten des
Verfahrens erstrecken sich über genetisch bedingte Erberkrankungen über die Beseitigung des Genoms von Viren (z. B. HIV) bis hin zur Erforschung von Mechanismen bestimmter Krebserkrankungen. Und noch mehr: Da dieses Verfahren auch auf die DNA von
menschlichen Embryonen anwendbar ist, sind seine Vorzüge auch für die sog. „Keimbahntherapie“ von Interesse.
Verändert hat sich durch diese Entwicklungen seit 2009 also nicht die Idee der
Keimbahntherapie, aber ihre gentechnische Umsetzung wurde besonders durch das
CRISPR/Cas-9-Verfahren in der Präzision und Effektivität des Zugriffs sowie den Kosten
erheblich verbessert. Wie sind die Überlegungen des Stufenmodells zur Keimbahntherapie davon betroffen?
Zu konstatieren ist zunächst, dass Eingriffe in die Keimbahn in Deutschland rechtlich verboten sind. Weder 2009 noch heute werden ernsthafte Vorstöße unternommen
dies zu ändern. Darüber hinaus werden im Stufenmodell folgende ethische Bedenken gegen die Keimbahntherapie genannt: Zum ersten bedarf die Erforschung keimbahntherapeutischer Verfahren einer hohen Anzahl menschlicher Embryonen, die dabei verbraucht
werden. Das Stufenmodell vertritt keine absolute Schutzwürdigkeit extrakorporaler
menschlicher Embryonen im Frühstadium, sondern die „Position des abgestuften Schutzes“ (84). Sie macht aber deutlich, dass die Beforschung von Frühembryonen nur denkbar
ist, wenn sie alternativlos ist und „keine unabsehbaren experimentellen Wege“ beschreitet (85). Das Verhältnis von Embryonenverbrauch zu therapeutischer Erfolgschance wird
vom Stufenmodell als derzeit nicht vertretbar betrachtet (89). Zum zweiten ist für die Ermittlung des Therapieerfolges ein weiteres Ausreifen des Embryos notwendig. Selbst
wenn auf eine Implantation des modifizierten Embryos usw. verzichtet wird, was einen
rechtlich verbotenen und ethisch inakzeptablen Menschenversuch darstellte (89f.), muss
der Therapieerfolg dann mittels der Präimplantationsdiagnostik überprüft werden. Damit ist eine Abwägung der Keimbahntherapie gegenüber der PID angezeigt (97f.). Das
Stufenmodell optiert für die PID als dem „risikoärmeren Eingriff“ (98). Schließlich ist fraglich, ob die mit der Modifikation der DNA angestoßene Veränderung tatsächlich auf die
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gewünschte Wirkung begrenzbar ist oder ob die neu integrierten Informationen mit ihrer
genomischen und zellulären Umgebung – erst recht über den Verlauf mehrerer Generationen – nicht unerwünschte Folgen hervorbringt (90).
Anselm sieht besonders diese letzte Überlegung durch das CRISPR/Cas-9-Verfahren erschüttert, denn die fehlende Präzision des Eingriffs stelle „nun nicht mehr ein konstitutives Merkmal der Keimbahntherapie als solcher“ dar (Anselm, 5)2. Zwar könne die
gegenwärtig erreichbare Präzision unbeabsichtigte Modifikationen nicht ausschließen
und sei daher „in jedem Fall bei einem klinischen Einsatz inakzeptabel. Diese ungewollten
Veränderungen seien aber „als nicht notwendig mit dem Verfahren gegebene und damit
als vorläufige Probleme“ anzusehen (Anselm, 5). Die weiteren vom Stufenmodell genannten Vorbehalte erkennt Anselm an.
In den entsprechenden Abschnitten des Stufenmodells ist allerdings nicht davon
die Rede, dass die mangelnde Präzision der Keimbahntherapie notwendig mit dem Verfahren verknüpft ist, wie Anselm behauptet. Vielmehr wird festgestellt, dass eingefügte
genetische Informationen „momentan im Kontext der neuen genomischen Umgebung
nicht steuerbar“ sind (90, Hervorhebung von mir, F. V.). Die Autoren des Stufenmodells
hielten es für nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass diese Schwierigkeit eines Tages überwunden sein könnte, auch wenn etwa die Entwicklung des CRISPR/Cas-9-Verfahrens damals noch nicht absehbar war. Die selbstverständliche Annahme des Stufenmodells ist,
dass erst, wenn alle genannten Probleme der Keimbahntherapie überwunden sein sollten,
eine erneute Abwägung erfolgen kann, ob die Keimbahntherapie als ethisch verantwortbar eingestuft werden kann. Dass dies nicht für prinzipiell ausgeschlossen erachtet
wurde, hat damit zu tun, dass das Stufenmodell, anders als Anselm, auch die grundsätzlichen therapeutischen Chancen der Keimbahntherapie in Betracht zieht: Zum einen ist sie
in der Lage, einem Paar auch dann gesunde Kinder zu ermöglichen, wenn die vorliegenden genetischen Voraussetzungen dies nicht ermöglichen (die PID ist als Diagnose nicht
zur Therapie eines Gendefekts geeignet, 98) oder die Gefahr einer Vererbung einer Krankheit sehr hoch ist (als Beispiel wird die Cystische Fibrose genannt, 91). Zum zweiten ist die
Seitenzahlen mit der Angabe „Anselm“ beziehen sich auf: Reiner Anselm, Keimbahntherapie durch Gentechnik. Zur Achtung vor Grenzen in einer ethischen Kultur, abrufbar unter: http://www.ttn-institut.de/sites/www.ttn-institut.de/files/Anselm%20Vortrag%20Keimbahntherapie%20durch%20Gentechnik.pdf
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Keimbahntherapie in der Lage, den Organismus an Stellen zu erreichen, die für eine somatische Gentherapie schwer zugänglich sind. Als Beispiele werden Brustkrebs und die
degenerative Gehirnerkrankung Chorea Huntington aufgeführt (91).
Es ist unzweifelhaft, dass die Argumentation des Stufenmodells auch für den gegenwärtigen Stand der Keimbahntherapie unter Berücksichtigung des CRISPR/Cas-9Verfahrens eindeutig zur Einstufung als „derzeit nicht verantwortbar“ führt. Dem widerspricht Anselm auch nicht. Seine prinzipielle Ablehnung der Keimbahntherapie hängt damit zusammen, dass er offensichtlich die vom Stufenmodell angeführten therapeutischen
Chancen einer Keimbahntherapie für nicht relevant genug erachtet, dass sie überhaupt
eine Abwägung eines Eingriffs erlauben, der nicht nur dieses eine genetisch modifizierte
Individuum, sondern auch seine Nachkommenschaft betrifft. Und in der Tat ist der eigentlich entscheidende Kritikpunkt Anselms auch der, dass dieser reproduktionsmedizinische
Aspekt im Stufenmodell nicht genügend Beachtung findet.
2. Genügen die ethischen Kriterien des Stufenmodells?
Dieser zweite Aspekt der Kritik Anselms ist von einer anderen Qualität als der Verweis
auf die veränderte Forschungslage. Die Kriterien ethischer Urteile sind nicht in demselben dynamischen Wandel begriffen wie die lebenswissenschaftliche Forschung. Insofern
betrifft dieser Kritikpunkt Anselms die Anlage und das ethische Selbstverständnis des
Stufenmodells insgesamt.
Anselm bemängelt, dass Stufenmodell sei darin „uneindeutig“, dass es „keine deutliche Abgrenzung zwischen Krankheitskorrektur und Veränderung des Erbguts vornimmt“ (Anselm, 6). Dies wiederum sei Folge eines nicht hinreichend präzise gefassten
Krankheitsbegriffs, der Krankheit „primär und vor allem dominant von ihren biologischen
Faktoren her“ definiere, psychische und soziale Faktoren aber außer Betracht lasse (Anselm, 6). Relevant werde dies, weil die Keimbahntherapie ihren Ort in der Reproduktionsmedizin hat. Sie käme im Zusammenhang der medizinisch unterstützten Fortpflanzung
zum Einsatz. Sofern Eltern aufgrund einer genetischen Disposition Schädigungen bei ihrem Kind befürchten, wäre im Rahmen einer in-vitro-Fertilisation die Keimbahntherapie
eine Möglichkeit hier Abhilfe zu schaffen. Zu ergänzen ist allerdings: Vorausgesetzt, die
medizinischen Voraussetzungen und rechtlichen Rahmenbedingungen dafür würden
existieren, was gegenwärtig eindeutig nicht der Fall ist. Wenn Anselm unter diesen – hypothetischen – Bedingungen die Berücksichtigung der psychischen und sozialen Dimen-
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sion des Krankheitsverständnisses einfordert, dann geschieht dies, weil bei einer reproduktionsmedizinischen Maßnahme „alle Handlungen kommunikativ immer ü ber die Eltern vermittelt sind“ (Anselm, 7). Eltern würden, so die Annahme, dazu neigen, alle möglichen Faktoren als Krankheit anzusehen, welche das zukünftige Kindeswohl beeinträchtigen, wobei unter Kindeswohl nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern auch weitere Faktoren verstanden werden könne, die ein gutes Leben mitbestimmen. Und weiter
Anselm: In der Frage nach den „zukünftigen Lebensmöglichkeiten“ des Kindes, „verschwimmt in diesem Bereich konstitutiv die Frage von Therapie und Enhancement und
damit auch die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen beiden Szenarien“ (Anselm,
7). Ethisch Verwerfliche daran ist nach Anselm vor allem, dass mit einem Eingriff in die
Keimbahn dem Leben nicht nur des Kindes, sondern auch folgender Generationen Gesundheitsvorstellungen oder sogar Vorstellungen des guten Lebens eingeprägt werden,
wie sie für seine Eltern gelten. D. h. die Selbstbestimmung des Kindes (und folgender Generationen) wird von den Eltern eingeschränkt und die Lebensführung in einer unverantwortbaren Weise vorbestimmt. Gerade also unter den normativen Voraussetzungen einer
an Selbstbestimmung ausgerichteten Ethik hält Anselm deshalb die Keimbahntherapie
für prinzipiell unverantwortbar. Und insofern für Anselm die Selbstbestimmung für ein
zentrales Merkmal auch einer Ethik christlicher Freiheit hält, sieht er die Keimbahntherapie also auch gegen den Geist christlicher Freiheit verstoßen (Anselm, 3).
Das Stufenmodell hat sich in der Tat nicht an einer Definition von „Krankheit“ versucht. Da es ihm um die ethische Bewertung von therapeutischen Maßnahmen im Zusammenhang ärztlichen Handelns geht, ist der Satz entscheidend: „Ärztliches Handeln bezieht
sich auf die Konstellationen, die als Krankheit bekannt und anerkannt sind“ (23). Dieser
Satz beschreibt zutreffend einen Ist-Zustand. Dass ärztliches Handeln durch Krankheit indiziert ist, bildet seine Rechtsgrundlage und soll davor schützen, dass ärztliches Handeln
zu einer unbegrenzbaren Dienstleistung wird. Es ist eines der Gegenwartsthemen, dass
das klassische Verständnis der kurativen Medizin, also die Behandlung bestehender
Krankheiten, durch das prädiktive und präventive Verständnis erweitert wird. Dass
Krankheitsfrüherkennung durch entsprechende Diagnostik, zu denken ist hier etwa an
Krebsvorsorge, zur definierten ärztlichen Tätigkeit gehört, ist anerkannt und unbestritten. Die genetische Diagnostik erweitert dieses Feld ärztlichen Handelns. Dazu gehört
auch, dass diese genetische Diagnostik schon an Frühembryonen durchgeführt werden
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kann. Etwa die Präimplantationsdiagnostik (PID) nutzt diese Möglichkeit. Die Keimbahntherapie soll darüber hinaus die Möglichkeit einer mit dieser Frühdiagnose verbundenen
therapeutischen Behandlung von Embryonen eröffnen.
In der Tat widmet das Stufenmodell dieser Ausweitung des ärztlichen Handels auf
die prädiktiven und präventiven Aspekte keine eigenen Überlegungen. Da es bezogen ist
auf die Gen- und Zelltherapie, setzt es die diagnostischen und präventiven Aspekte voraus.
Es geht dabei davon aus, dass es möglich ist, zwischen einem auf Krankheit bezogenen
Handeln und Eingriffen in verbessernder Absicht (Enhancement) zu unterscheiden
(102ff.). Hier wurden in der Tat keine substanziellen Vorschläge gemacht, sondern die
Referenz ist die jeweilige Rechtslage.
Nun will aber auch Anselm mit dem Verweis auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung von krankheitsbezogenem und verbesserndem Handeln nicht grundsätzlich die
Möglichkeit von genomischer Diagnose und Therapie in Zweifel ziehen. Während er ihre
Anwendung auf somatischer Ebene nicht in Frage stellt (Anselm, 2), hält er die Anwendung der Keimbahntherapie unter allen Umständen für verwerflich. Es ist noch einmal zu
wiederholen, dass dies auch für den im Moment noch sehr hypothetischen Fall gelten soll,
dass die keimbahntherapeutischen Eingriffe so etabliert, sicher und präzise wären, dass
ungewollte Nebenfolgen ausgeschlossen werden könnten!
Es ist aber nicht plausibel, weshalb im Falle der somatischen Therapie Eingriffe
gegenüber dem Enhancement abgrenzbar sein sollen, im Falle einer sicheren (!) Keimbahntherapie aber nicht. Das Argument der ungewünschten Nebenfolgen hat Anselm
selbst für diesen hypothetischen Fall einer entsprechend entwickelten Keimbahntherapie
für unwirksam erklärt. Aber auch sein Argument, hier würden künftigen Generationen
genetische Merkmale eingeprägt, die ihrer Selbstbestimmung widersprechen, kann an
dieser Stelle nicht überzeugen. Erstens ist es unter diesen höchst hypothetischen Bedingungen einer perfektionierten Keimbahntherapie dann auch denkbar, dass entsprechende neue genetische Merkmal genauso wieder entfernt oder zugefügt werden können.
Das zeigt letztendlich nur, wie fruchtlos ein Spiel mit hypothetischen Zukünften für ethische Fragen der Gegenwart in der Regel ist. Das Stufenmodell hat gut daran getan, darauf
zu verzichten. Selbst wenn dieser zukunftshermeneutische Aspekt beiseitegelassen wird,
ist, zweitens, immer noch nicht nachvollziehbar, weshalb ein entsprechend präziser Eingriff in die Keimbahn mit dem Ziel, eine schwere genetisch bedingte Krankheit wie Cystische Fibrose oder Chorea Huntington zu vermeiden, ein ethisch unvertretbarer Eingriff in
die Selbstbestimmung zukünftiger Menschen sein soll. Im Gegenteil könnte argumentiert
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werden, dass die Vermeidung von lebenslangen, zeitaufwändigen und höchst kostenintensiven kurativen Therapien im Falle der Cystischen Fibrose, und die Verhinderung einer
degenerativen Erkrankung des Gehirns mit den entsprechenden Verlusten an Selbstbestimmung im Falle von Chorea Huntington, gerade im Namen einer an Selbstbestimmung
und Würde des Menschen orientierten Ethik erfolgen. Auch dass dies nicht nur für eine
individuelle Person, sondern für alle künftigen Generationen gelten soll, kann hier nicht
als Gegenargument in Betracht kommen. Es gibt eine Anzahl von schweren Krankheiten,
die auf konventionellem Weg praktisch ausgerottet wurden und niemand wird etwa
ernsthaft fordern können, dass die Kinderlähmung für künftige Generationen erhalten
bleiben müsse.
Die Argumentation Anselms wird letztlich alleine von der Annahme getragen, dass
im Rahmen reproduktionsmedizinischer Maßnahmen die Grenze zwischen Therapie und
Enhancement verschwimme. Mit anderen Worten: Vielleicht nicht in der Theorie des
Rechts, jedenfalls aber in der Praxis der Reproduktionsmedizin sei die Keimbahntherapie
nicht auf Krankheitsprävention zu begrenzen und führe daher zu Eingriffen in verbessernder Absicht. Das ist selbstverständlich von der Struktur her ein Dammbruchargument, dass auch dann eines bleibt, wenn behauptet wird, es sei keines (Anselm, 7). Es
entspricht darüber hinaus nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich einem der wesentlichen Vorbehalte, die gegenüber der PID geäußert wurden. Auch hier hieß es, eine
zur Bestimmung eines genetisch unvorbelasteten Embryos eingesetzte Diagnose würde
zu Ausweitungen der PID auf Geschlecht oder gewünschte Eigenschaften führen. Nicht
selten wurde in der Vorwurf, die PID sei kein krankheitsbezogenes ärztliches Handeln,
sondern Lifestyle-Medizin, die zum „Designerbaby“ führe, auf die ärztliche unterstütze
Fortpflanzungsmedizin insgesamt ausgeweitet. Diese Debatte ist, auch innerhalb der protestantischen Ethik, höchst kontrovers gewesen. Die Argumente sind hier nicht zu wiederholen.
Wenn ich recht sehe, hat Anselm zu den Befürwortern einer begrenzten Zulassung
der PID gezählt. Das auch, weil die Dammbruchargumentation auf äußerst schwachen
Beinen steht. Die befürchtete Ausweitung der PID erscheint nämlich durchaus als rechtlich kontrollierbar, wie die Erfahrung ihrer begrenzten Zulassung in anderen europäischen Ländern belegt. Wieso soll im Falle der Keimbahntherapie - wohlgemerkt eines Tages, nicht auf dem Stand der Forschung heute! – eine entsprechende rechtliche Regelung
und Kontrolle nicht möglich sein?
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Den Vorwurf, die ethischen Kriterien des Stufenmodells seien defizitär, kann Anselm nicht überzeugend begründen. Den ethischen Wert, das Dammbruchargument, welches von den Autoren des Stufenmodells absichtsvoll vermieden wurde, in das Stufenmodell einzuführen, vermag ich nicht zu erkennen. Das ist natürlich nicht verboten, stellt
aber in der Tat einen tiefen Eingriff in die DNA des Stufenmodells und des TTN dar. Anselm selbst sieht die Gefahr, dass die von ihm vorgeschlagene „Erweiterung“ des Eskalationsmodells „unerwünschte Nebeneffekte“ erzeugen könne (Anselm, 9). Es bleibt unverständlich, warum ein für gewöhnlich so umsichtiger Ethiker wie Anselm ausgerechnet an
dieser Stelle dieses Risiko eingeht.
3. Schlussbemerkung: Zur Hermeneutik des Stufenmodells
Die Anwendung einer Keimbahntherapie im Zuge reproduktionsmedizinischer Verfahren
liegt in einer hypothetischen Zukunft. Die derzeit offenbar an menschlichen Embryonen
vorgenommenen Keimbahneingriffe finden nicht in reproduktionsmedizinischer Absicht
statt, sondern werden zu Forschungszwecken unternommen. Dies findet auch innerhalb
der Genforschung deutliche Kritik.3 Die Argumentation des Stufenmodells von 2009 führt
eindeutig zu dem Ergebnis, dass eine solche Forschung auf dem derzeitigen Stand ethisch
unvertretbar ist. Die Argumentation des Stufenmodells ist dabei wesentlich profunder als
die vor allem forschungspragmatischen Erwägungen der Wissenschaftler, die von der Beforschung von Embryonen einen negativen Effekt für Akzeptanz und Förderung der eigenen somatischen Forschung befürchten.
Es mag zukünftig Anlass geben, die Keimbahntherapie in reproduktionsmedizinischer Absicht gegenüber dem Stufenmodell einer ethischen Neubewertung zu unterziehen. Dafür hat Reiner Anselm mit seinem Kriterium einer der Selbstbestimmung des künftigen Lebens verpflichteten Konzeption verantwortlicher Elternschaft ein leistungsfähiges Kriterium genannt.4 Ich habe hier allerdings argumentiert, dass dies gerade nicht zu
einer apodiktischen Ablehnung der Keimbahntherapie führen muss, sondern durchaus
eine begrenzte Zulassung ethisch verantwortbar erscheinen lässt. Es gibt jedenfalls keinen Grund, dass eine Überarbeitung des Stufenmodells sich heute schon den Weg zu einer
zukünftigen Abwägung in dieser Sache abschneidet. Erst recht erscheint es unangebracht,
Edward Lanphier u.a., Don’t edit the human germ line, Nature 519 (March 2015), 410f. Vgl. auch Anselm,
2.
4 Vgl. auch Friedemann Voigt, Mitten im Leben. Eine protestantische Position, in: Rupert M. Scheule (Hg.),
Ethik des Lebensbeginns. Ein interkonfessioneller Diskurs, Regensburg 2015, 88-106.
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die Dynamik der Forschung in das Prokrustesbett dogmatischer Ewigkeitsurteile zu zwingen, und die Zulassung der Keimbahntherapie „mit der Charakteristik und dem Ziel christlich-ethischer Lebensfü hrung als einer Lebensfü hrung aus Freiheit unvereinbar“ zu erklären (Anselm, 3). Die christliche Freiheit, zumal in ihrem protestantischen Begriff, realisiert sich jedenfalls nicht durch moralische Exkommunizierung.
Die Spekulation über hypothetische Anwendungen der Gen- und Zelltherapie hat
das Stufenmodell programmatisch vermieden, weil diese Art der Diskussion „eine Polarisierung zwischen prinzipieller Ablehnung und uneingeschränkter Bejahung“ befördert
(3). Die deskriptive Arbeit des Stufenmodells, eine möglichst exakte Darlegung der therapeutischen Eingriffe und Therapieziele zu geben, steht im normativen Interesse, die ethische Betrachtung der Biomedizin auf die tatsächlich zu verhandelnden Problembestände
einzugrenzen und somit „das Feld konkreter Bewertungen und Entscheidungen“ zu betreten (3). Es ist gerade dieser Askese gegenüber hypothetischen Szenarien und apodiktischen Verdikten geschuldet, dass das Stufenmodell bis heute gut gealtert ist. Für eine
Überarbeitung des Stufenmodells ist es wünschenswert, an dieser Zurückhaltung festzuhalten.
Prof. Dr. Friedemann Voigt
Philipps-Universität Marburg
Fachbereich Evangelische Theologie
Sozialethik mit Schwerpunkt Bioethik
Lahntor 3
35032 Marburg
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