Seite 1 von 20 Stellungnahme des DIÄTVERBANDes zur Beschluss-Empfehlung des G-BA vom 15.02.2005 zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinien Abschnitt E: Verordnungsfähigkeit von Aminosäuremischungen, Eiweißhydolysaten, Elementardiäten und Sondennahrung (Enterale Ernährung) (zusammenfassend im Folgenden enterale Ernährung genannt) Bundesverband der Hersteller von Lebensmitteln für besondere Ernährungszwecke e.V. Godesberger Allee 142-148 D-53175 Bonn - Telefon (02 28) 3 08 51-40 - Telefax (02 28) 3 08 51-50 [email protected] - www.diaetverband.de PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 2 von 20 Vorbemerkung Am 15.02.2005 entschied der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) abschließend über die Beschluss-Empfehlung zur Änderung der Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung – Arzneimittelrichtlinien Abschnitt E: Verordnungsfähigkeit von Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysaten, Elementardiäten und Sondennahrung (Enterale Ernährung), die voraussichtlich in den nächsten Tagen dem Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) als aufsichtführende Behörde übermittelt werden wird. Der G-BA beabsichtigt bereits seit etwa 3 Jahren, eine Änderung der bisherigen Festlegung zu verabschieden. Das BMGS hat die ihm vorgelegt neue Richtline bislang zwei Mal beanstandet. Die erste Beanstandung bemängelte die nicht ersichtliche eingehende Auseinandersetzung mit der Literatur. Gründe für die zweiten Beanstandung im Februar 2004 waren § die fehlende “Durchführung der Anhörung nach § 92 Abs. 3a SGB V zur aktuellen Beschlussvorlage.“ „Das … durchgeführte Anhörungsverfahren war nicht ausreichend.“ „Eine erneute Anhörung auf der Grundlage der aktuellen, umfassend begründeten Beschlussvorlage ist rechtlich geboten.“ § aufgeworfene „ethische Fragen (z.B. Sondennahrung bei Sterbenden oder bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz), die einer breiten fachlichen Diskussion auf der Basis aktueller Erkenntnisse bedürfen.“ § die Frage „nach der ausnahmsweisen Verordnungsfähigkeit bei seltenen, nicht im Indikationsindex aufgeführten Krankheiten“, die im Rahmen der erneuten Anhörung erörtert werden sollte. § der Wunsch nach „einer für den Normanwender klareren Vorgabe als der bloße Verweis auf die Heranziehung entsprechender Konstellationen zur Entscheidungsfindung. … Eine Anhörung externer Sachverständiger kann hier Anhaltspunkte für eine Präzisierung liefern.“ Nach unserer Auffassung unterscheidet sich die jetzt vorgelegte Beschluss-Empfehlung des G-BA inhaltlich nur marginal von der beanstandeten Fassung. Im Kern ist es bei den problematischen und beanstandeten Inhalten geblieben. Die breite fachliche Diskussion ist nicht zustande gekommen. Die betroffenen Verbände wurden in einem formalisierten schriftlichen Verfahren angehört. Eine mehrfach erbetene mündliche Anhörung fand nicht statt. Möglicherweise hat es vereinzelte nicht-öffentliche Gespräche gegeben. Im Ergebnis wurden u. E. die Beanstandungsgründe nicht ausreichend ausgeräumt. Sie bestehen weiter und sind geeignet, eine erneute Beanstandung auszusprechen. Zur vorgenannten grundsätzlichen Kritik kommen erhebliche weitere Bedenken hinzu, die der vorliegenden Stellungnahme des DIÄTVERBANDes zur Beschluss-Empfehlung des GBA zu entnehmen sind. I N H A L T: I. II. III. Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung Ethische Aspekte der AMR-Neufassung Praktikabilität der AMR-Neufassung IV. Gegen-Vorschlag für eine Anpassung der AMR nach § 92 SGB V auf der Basis des § 31 Abs.1 Satz 2 SGB V PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 3 von 20 Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung I. Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung Ein Zustand der Mangelernährung kann aufgrund vielfältiger Erkrankungen auftreten. Krankheitsbedingte Mangelernährung ist objektiv erkennbar an messbarem erheblichem Gewichtsverlust und den damit verbundenen pathologisch veränderten Laborparametern. Bei ambulanter Versorgung eines Patienten kann zur Bekämpfung der Mangelernährung nicht stets zu Lasten der Krankenkassen enterale Nahrung verordnet werden; das Gesetz sieht dies nur vor, wenn die enterale Ernährung „medizinisch notwendig“ ist, § 31 SGB V. Bei der Frage, wann enterale Nahrung medizinisch notwendig ist, liegt es nahe, sich an dem zu orientieren, was der Zweck von Nahrung bzw. von enteraler Ernährungstherapie eigentlich ist, denn am Zweck einer Therapie muss sich automatisch deren medizinische Notwendigkeit orientieren. Zweckbestimmung enteraler Nahrung Zum Zweck von Nahrung und auch von enteraler Nahrung gibt es Bestimmungen im Gesetz. Dieser hat Eingang gefunden in gesetzliche Definitionen im Zusammenhang mit der wichtigen Abgrenzung zwischen Nahrung und Medikamenten. Nach allgemeiner Ansicht und ständiger Rechtsprechung1 kommt es dabei darauf an, ob ein betrachteter Stoff zur Heilung oder Linderung einer Krankheit bestimmt ist (dann ist es ein Arzneimittel) oder zum Verzehr (dann ist es ein Nahrungsmittel). Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut und Zusammenhang des AMG und des LMBG2. Den Zweck enteraler Nahrung bzw. allgemein bilanzierter Diäten beschreibt § 1 Abs. 4 a) DiätVO3 weiter: „Bilanzierte Diäten dienen der … Ernährung von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechselung ... gewöhnlicher Lebensmittel.“ Der Zweck der enteralen Nahrung liegt also auch nach Ansicht des Gesetzgebers in der Ernährung bzw. der Behandlung eines Zustandes der Mangelernährung. Er darf auch nur darin liegen: Wäre die enterale Nahrung ein Mittel zur Behandlung einer Krankheit, würde es sich um ein Arzneimittel – mit grundlegend anderen Zulassungs- und Wirksamkeitsanforderungen – handeln. Wie besprochen, ist der ausdrückliche Hinweis hierauf veranlasst, weil der G-BA in der vorgelegten Richtlinie von einer anderen Auffassung ausgeht und dies massive Auswirkungen auf den Inhalt der Richtlinie hat (s. u.). 1 Vgl. etwa das Urteil OLG Hamburg vom 31. Mai 2001, Az: 3 U 013/01, LRE 41, 355-368 m. w. N. Auf die Eigenschaft der enteralen Nahrung als Nahrung im Gegensatz zu Medikamenten und Hilfsmitteln hat auch das BSG in der Entscheidung, die zur Ergänzung des § 31 SGB V führte, abgestellt. 2 § 2 Abs. 1 AMG lautet: „Arzneimittel sind ... dazu bestimmt, Krankheiten zu heilen, lindern oder vorzubeugen... § 2 Abs. 3 AMG lautet: „Arzneimittel sind nicht …Lebensmittel im Sinne des § 1 LMBG“. Nach § 1 LMBG sind Lebensmittel „Stoffe, die dazu bestimmt sind, von Menschen ... zum Zwecke der Ernährung verzehrt zu werden“. 3 Die DiätVO wurde aufgrund der §§ 12 ,16, 49 LMBG erlassen. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 4 von 20 Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung Die Antwort auf die Frage nach der medizinischen Notwendigkeit von enteraler Nahrung kann sich sinnvoll nur an ihrem gesetzlich definierten Zweck orientieren. Enterale Nahrung ist – grob gesagt - medizinisch notwendig (für den Zweck der Ernährung des Patienten!), wenn dem von Mangelernährung bedrohten oder betroffenen Patienten nicht mehr anders geholfen werden kann, als gerade durch die Zufuhr enteraler Nahrung. Indikation für die Verordnung von enteraler Nahrung ist damit die bestehende oder die drohende krankheitsbedingte Mangelernährung, die Voraussetzung „medizinische Notwendigkeit“ ist bei der Unumgänglichkeit dieser Versorgungsform erfüllt. Welche Krankheit dagegen den Zustand der Mangelernährung hervorgerufen hat, ist für die Frage der medizinischen Notwendigkeit unerheblich. Die Feststellung einer bestimmten Krankheit als Bedingung für die Verordnungsfähigkeit von enteraler Nahrung kann nach dem Vorstehenden ebenfalls nicht sachgerecht sein. Wenn im Einzelfall bei einem Patienten die medizinische Notwendigkeit für künstliche Ernährung festgestellt wird, besteht immer akuter Handlungs- bzw. Behandlungsbedarf. Die Erhaltung eines ausreichenden Ernährungszustandes durch enterale Nahrung bei Personen, denen anders nicht mehr geholfen werden kann, ist zunächst unabhängig von einer Krankheit ein Gebot der Menschenwürde. Ohne einen ausreichenden Ernährungszustand überstehen Patienten die Strapazen ihrer Krankheit und der erforderlichen Therapiemaßnahmen schlecht und in machen Fällen auch gar nicht4. Daher ist die krankheitsbedingte Mangelernährung bei gesetzlich versicherten Patienten nicht etwa nur „ausnahmsweise“ zu behandeln, sondern – bei medizinischer Notwendigkeit – regelmäßig5. Der Begriff „ausnahmsweise“ im Sozialgesetz Eine Richtlinie, wonach Patienten trotz festgestellter medizinischer Notwendigkeit nur „ausnahmsweise“ zu versorgen sind, verstößt gegen den sozialrechtlichen Grundsatz menschenwürdiger Krankenbehandlung und ist unethisch. Für den Arzt besteht die Entscheidungsmöglichkeit zwischen enteraler und parenteraler Nahrung. Parenterale Ernährung (die über einen Zugang in den Blutkreislauf des Patienten geleitet wird), ist mit einem Vielfachen der Kosten enteraler Ernährung und mit schwereren Komplikationen verbunden. Sie ist nur in der Minderheit der Fälle erforderlich. 4 Der G-BA hat im übrigen auch in seinem Richtlinienentwurf hierzu nichts anderes behauptet oder nachgewiesen. Er hat jedoch die Behauptung aufgestellt, die „medizinische Notwendigkeit“ enteraler Ernährung müsse über ihren nachweislichen Nutzen hinsichtlich eines Einflusses auf eine Krankheit nachgewiesen werden – s. dazu näher den Text bei 7. 5 Die Formulierung „ausnahmsweise“ in § 31 SGB V ist im Sinne eines Hinweises auf die Verortung im Gesetz „ausnahmsweise wie ein Arzneimittel“ zu verstehen wozu näheres in der Arzneimittel-Richtlinie festzulegen ist. Diese Auslegung wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, ihren Zweck und die Systematik des Gesetzes (vgl. dazu ausführlich die Stellungnahme der Verbände im Anhörungsverfahren, S. 11-15 ) PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 5 von 20 Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung Bei der enteralen Ernährung gibt es hinsichtlich der Art und Weise der Zuführung die Auswahl zwischen Trink- und Sondennahrung; beide Nahrungsarten sind bilanzierte Diäten bzw. „Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“. Die Zusammensetzung der Trink- und Sondennahrung definiert sich nach Vorgabe der DiätVO. Danach haben die Hersteller den Stand der ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse umzusetzen. Ballaststoffe beispielsweise werden ernährungswissenschaftlich als Standardvorgabe betrachtet - die Nahrung Gesunder und selbstverständlich auch die Nahrung Kranker muss aus ernährungswissenschaftlicher Sicht grundsätzlich Ballaststoffe enthalten6. Die bisher geltende Fassung der AMR berücksichtigt die vorstehenden Grundsätze und bestimmt, dass enterale Nahrung verordnet werden darf, wenn dies „medizinisch indiziert“ ist, 20 1) i AMR. In der vom G-BA geplanten neuen Richtlinie wird von völlig anderen und grundlegend neuen Ansätzen ausgegangen; insbesondere wird in sehr vielen Fällen die Verordnung bindend7 ausgeschlossen. Die Vorgehensweise des G-BA bei den Ausschlüssen ist rechtlich nicht nachvollziehbar und führt zu ethisch unvertretbaren Ergebnissen: Nutzenbetrachtung Enteraler Ernährung und Krankheitsausschlüsse Zunächst wird aufgrund eines anderen Verständnisses des Wortes „ausnahmsweise“ in § 31 SGB V davon ausgegangen, dass die Versorgung Versicherter mit enteraler Nahrung auch in medizinisch notwendigen Fällen eine Ausnahme ist8. Weiter wird vom G-BA die Frage der medizinischen Notwendigkeit von enteraler Nahrung in fast allen Fällen9 davon abhängig gemacht, ob nachgewiesen ist, dass enterale Nahrung eine bestimmte Krankheit heilt oder lindert. Und: Sind solche Nachweise nicht erbracht (was durchweg der Fall ist und auch der Fall sein muss, da Nahrung ganz andere Zwecke hat und daher nicht auf die o. g. Fragestellungen hin untersucht wird), sieht der G-BA dies als Legitimation an, die Verordnungsfähigkeit enteraler Nahrung über § 92 SGB V auszuschließen. Dass die geplante Richtlinie tatsächlich auf diesen Grundüberlegungen beruht, ergibt sich aus der Anlage 7 zu Kapitel E, wo es unter Nr. 3 heißt: „Das Vorliegen einer Mangelernährung alleine begründet keine ausnahmsweise Verordnungsfähigkeit von enteraler Ernährung, da die medizinische Notwendigkeit einer Verordnung von Produkten des Kapitels E nur besteht, wenn für die jeweilige Indikation [Anm.: gemeint ist hier Krankheit] ein Nutzen anhand relevanter Parameter (Krankheitsverlauf, Lebensqualität, Mortalität, nicht jedoch alleinige Beeinflussung des Körpergewichts oder von Laborparametern) belegt ist“. Dass die unrichtigen Grundsätze vom G-BA auch ganz konkret umgesetzt werden, ergibt sich aus den zahlreichen Ausschlüssen (bei 16 von 23 aufgezählten Krankheiten wird die Verordnungsfähigkeit für die Normalfälle ausgeschlossen) in Verbindung mit den begründenden Anmerkungen in den Tabellen: 6 Problematisch ist daher der Verordnungsausschluss für enterale Nahrung, die „speziell mit Ballaststoffen angereichert ist“, vgl. dazu unten im Text. 7 Die Richtlinie ist für Ärzte und Versicherte bindend gem. § 92 Abs. 8 SGB V. 8 Dies zeigt sich in der geplanten Richtlinie an verschiedenen Stellen, etwa an der Formulierung in der Überschrift zur Anlage 7, wo von „ausnahmsweiser Versorgung“ die Rede ist. 9 Eine Ausnahme gibt es bei Patienten mit Mukoviszidose, vgl. dazu unten den Text. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 6 von 20 Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung Beispielsweise heißt es zunächst in den ergänzenden Verordnungshinweisen zur „Indikation Tumorkachexie“: „Der Nutzen einer enteralen Ernährung bei Tumorkachexie im Hinblick auf Überlebenszeit und Lebensqualität ist nicht belegt“. Und weiter: „Es gibt keine spezifische „Krebsdiät“ zur gezielten Beeinflussung des Tumorwachstums“. Beide Hinweise dienen offenbar zur Begründung dafür, dass bei allen ambulanten Patienten mit Tumorkachexie die Verordnung von enteraler Nahrung so lange ausgeschlossen werden soll, wie bei ihnen noch kein BMI von unter 21 kg/m² vorliegt10. Auf die Unrichtigkeit und Unvertretbarkeit dieser Ansätze haben wir unter Beifügung von wissenschaftlichen Belegen in unserer Stellungnahme hingewiesen11. Die Unrichtigkeit ist nach unserer Überzeugung offensichtlich – die Sichtweise des G-BA führt zu ethisch unvertretbaren Ergebnissen: Der behandelnde Arzt müsste nach der geplanten Richtlinie zunächst seine Tumorpatienten auf einen bestimmten BMI-Wert abmagern lassen, bevor er ihnen enterale Nahrung verordnen darf. Wie viel allerdings der Patient durch die Ernährungstherapie zunehmen darf, ist unklar. Muss die Nahrung jeweils wieder abgesetzt werden, wenn der jeweils festgelegte kritische BMI-Wert überschritten ist? Soll auf diese Weise der Patient zwangsweise auf einem bestimmten BMI-Wert gehalten werden? Der Konflikt der geplanten Richtlinie mit der ärztlichen Ethik und den Grundrechten der Patienten ist bereits bei diesem Beispiel evident. Weitere Beispiele mit ethisch bedenklichen Inhalten der Richtlinie sind etwa: Liegt die Krankheit „Chronische terminale, nicht dialysepflichtige Niereninsuffizienz“ vor, sind die betroffenen Patienten ebenfalls häufig mangelernährt. Hier soll die Verordnungsfähigkeit von enteraler Nahrung vom G-BA jedoch grundsätzlich ausgeschlossen werden. Bei den ergänzenden Hinweisen in der Tabelle heißt es dazu: „Der Nutzen einer enteralen Ernährung im Hinblick auf Krankheitsverlauf und Mortalität ist nicht belegt“. Dasselbe wurde für die dialysepflichtigen Patienten vorgesehen (folgende Tabelle im Richtlinienentwurf). Die Beispiele für derartige Ausschlüsse können beliebig fortgesetzt werden. Allerdings sind nicht alle Patienten durch diese rigiden Ausschlüsse betroffen: Leidet ein Patient unter Mukoviszidose (letzte Tabelle im Entwurf), kann ihm enterale Nahrung verordnet werden, obwohl es auch hier keine Studien zum Nachweis der 10 Dieser (für den Arzt verbindliche !) Leistungsausschluss bis zu diesem Abmagerungsgrad ergibt sich aus den „Voraussetzungen der Verordnung“ zum Punkt: „Es besteht ein klinisch relevanter Gewichtsverlust und der BMI beträgt ≤ 21“. 11 Bis zu 80% aller Krebspatienten -abhängig von der Tumorart- haben erheblichen Gewichtsverlust. Aber schon dann, wenn es sich nur um einen geringen Gewichtsverlust handelt, bedingt dies ein schlechteres Ansprechen auf Therapien, vermindert die Lebensqualität und verkürzt die Überlebenszeiten. In 30 bis 50% aller Todesfälle spielt der massive Gewichtsverlust eine direkte Rolle. Es gibt eingehende Untersuchungen, die belegen, dass Krebspatienten, bei denen der Gewichtsverlust aufgehalten werden kann, zum Teil doppelt so lange leben wie jene, bei denen das nicht gelingt. Hinzu kommt, dass Tumorkachexien mit verlängerten Liegezeiten und einer höheren Inzidenz von Komplikationen und Infektionen verbunden sind. Eine Reihe von Studien sowie die DGEM Leitlinien belegen diesen Zusammenhang statistisch signifikant – vgl. näher unsere Stellungnahme mit umfangreichen Belegen S. 31 und Anlage 6 zur Stellungnahme. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 7 von 20 Rechtliche Aspekte der AMR-Neufassung medizinischen Notwendigkeit nach dem Verständnis des G-BA gibt. In den ergänzenden Hinweisen der Tabelle heißt es (allerdings nur hier !) zur Behandlung mit enteraler Nahrung: „Ziel ist es, ein Längensollgewicht (Gewichtsindex) von 100% zu erreichen und zu halten, da Untergewicht mit einem ungünstigen Verlauf von Lungenfunktion und Überlebenskurven einhergeht. Besondere Vorteile einer enteralen Ernährung (orale Zusatznahrung oder über Sonde oder PEG) sind durch Studien nicht belegt.“ Die offensichtliche Ungleichbehandlung der Patienten mit Mukoviszidose etwa gegenüber den Patienten mit einer Tumorkachexie ist nicht nachvollziehbar. Die massiven ethischen Bedenken gegen die Ansätze der geplanten Richtlinie werden hier noch weiter verstärkt. Zusammenfassung der rechtlichen Aspekte Die zahlreichen Ausschlüsse in der Richtlinie erfolgen, ohne dass der G-BA die Voraussetzungen der gesetzlichen Ermächtigung des § 92 Abs. 1 SGB V nachgewiesen hätte. Der Nachweis für die Notwendigkeit von enteraler Nahrung darf nicht auf die Beeinflussung von Krankheiten bezogen werden – das Fehlen eines solchen Nachweises kann daher keine Ausschlussermächtigung begründen. Ein Katalog von „Indikationen für die Verordnungsfähigkeit von enteraler Nahrung“, der an der Feststellung bestimmter Krankheiten anknüpft, ist unübersichtlich und geht an der Sache vorbei. Es kommt auf die Bekämpfung eines Mangelernährungszustandes an, wenn dem Patienten nicht anders geholfen werden kann. Die Feststellung bestimmter Krankheiten hat damit nichts zu tun. Dieser Einwand wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass der Katalog der festzustellenden ausdrücklich nicht abschließend sein soll. Die Richtlinie ist in der Form, wie sie bisher vom G-BA erstellt worden ist (40 Seiten Gesamtumfang mit zahlreichen Tabellen) außerordentlich kompliziert und für die praktische Anwendung durch den Vertragsarzt ungeeignet. Ihre fehlende Praktikabilität zeigt sich an zahlreichen Stellen. Beispielsweise wird die Verordnungsfähigkeit von Produkten, die „speziell mit Ballaststoffen angereichert sind“ in der Richtlinie ganz generell ausgeschlossen, da ihr Nutzen angeblich nicht nachgewiesen sein soll12. Sie sollen jedoch verordnungsfähig bleiben, „ soweit damit keine Mehrkosten verbunden sind“13. Woran jedoch soll ein Vertragsarzt erkennen, ob ein Produkt „speziell angereichert“ ist und wie soll er die Frage nach „Mehrkosten“ klären? 12 Diese Behauptung beruht auf einem fehlerhaften Verständnis des Zwecks von enteraler Nahrung, vgl. dazu auch oben Anm. 5. 13 Ziff. 8 der „Allgemeinen Verordnungsgrundsätze“ in der Anlage 7 zur Richtlinie. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 8 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung II. Ethische Aspekte zu Änderungen der Arzneimittel-Richtlinien Nr. 20.1.i Nachfolgend werden folgende als kritische zu beurteilende ethische Aspekte behandelt: 1. Es ist unethisch, von Diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke eine pharmakologische Wirkungsweise zu fordern, die diese naturgemäß aufgrund ihrer Zweckbestimmung niemals haben dürfen – und daran die Verordnungsfähigkeit zu knüpfen. 2. Es ist unethisch, Studien höchster Evidenzstufe für die Versorgung krankheitsbedingten Mangelernährung mit Künstlicher Ernährung zu fordern. der 3. Es ist unethisch, wenn die neue Richtlinie eine Ungleichbehandlung von vergleichbaren krankheitsbedingten „Mangelernährten“ vorschreibt oder ohne sachlichen Grund verschiedene Maßstäbe angelegt werden. 4. Es ist unethisch, wenn die geplante Richtlinie Ärzte mit denen von ihnen zu beachtenden medizinethischen Grundsätzen in Konflikt bringt. 5. Es ist unethisch, Säuglinge einem Neugeborenenscreening auf seltene erbliche Enzymmangelkrankheiten zu unterziehen und dann den diagnostizierten Patienten die für die Therapie notwendige Spezialnahrung zu verweigern. Im Einzelnen: 1. Es ist unethisch, von Diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke eine pharmakologische Wirkungsweise zu fordern, die diese naturgemäß aufgrund ihrer Zweckbestimmung niemals haben dürfen – und daran die Verordnungsfähigkeit zu knüpfen. Der Zweck einer Künstlichen Ernährung in medizinisch notwendigen Fällen ist die Behandlung einer vorliegenden krankheitsbedingten Mangelernährung, nämlich der Ernährung von Patienten und dies ist zunächst unabhängig vom Applikationsweg. Eine Enterale Ernährung kann die diätetische Behandlung eines medizinisch bedingten Nährstoffbedarfes dann gewährleisten wenn: a) Eine Modifizierung der normalen Ernährung nicht ausreicht b) Andere Lebensmittel für eine besondere Ernährung oder eine Kombination aus beiden nicht ausreichen Die Enterale Ernährung kann Gewichtsverluste ausgleichen, Gewicht halten und die damit verbundenen Laborparameter beeinflussen. Die Enterale Ernährung kann aber keine Krankheiten heilen. Enterale Ernährung beeinflusst eben nicht den Krankheitsverlauf einer bestimmten Krankheit in direkter Weise, sondern sie unterstützt die zielgerichtete medizinische Behandlung durch einen ausreichenden Ernährungszustand. Dadurch können z. B. Medikamente besser wirken oder eine notwendige medikamentöse Therapie erst ermöglicht werden. Dies bedeutet, dass nur die krankheitsbedingte Mangelernährung an sich die maßgebliche Indikation darstellen kann. Hier liegt eine der zentralen Unstimmigkeiten der Richtlinie. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 9 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung Der G-BA fordert in seiner Richtlinie den Nachweis von Nutzen. Danach sind die Parameter der Nutzenbewertung: a) Krankheitsverlauf b) Mortalität c) Nicht jedoch alleinige Laborparametern Beeinflussung des Körpergewichtes oder von Der Nutzen wird also krankheitsbezogen betrachtet. Dem zur Folge müsste die Enterale Ernährung Krankheiten beeinflussen, lindern oder heilen, ähnlich einem Arzneimittel (z. B. Blutdruck senkende Arzneimittel). Der Zweck der Enteralen Ernährung ist aber ausschließlich die Ernährung und nicht die pharmakologische Behandlung von Krankheiten. Es ist im hohen Maße unethisch die Frage der Verordnungsfähigkeit an Vorraussetzungen zu knüpfen, die unerfüllbar sind. Nur weil der G-BA die falschen Nutzenkriterien ausgewählt hat, dürfen Patienten nicht in eine Versorgungslücke fallen, obwohl die Versorgung der Patienten medizinisch notwendig ist. 2. Es ist unethisch, Studien höchster Evidenzstufe für die Versorgung der krankheitsbedingten Mangelernährung mit Künstlicher Ernährung zu fordern. Jede Forschung am Menschen hat vorab Risiken und Nutzen der Forschung zu bestimmen, zu gewichten und die Vertretbarkeit einzuschätzen. Wie gestaltet sich dieses Verhältnis im Falle der Enteralen Ernährung? Sobald sich Patienten in einem sehr schlechten Ernährungszustand befinden (aufgrund einer krankheitsbedingten Mangelernährung), dürfte ein prospektiver, randomisierter Vergleich gegen ein Placebo (sofern es sich überhaupt herstellen lässt) oder gegen ein Unterlassen der Therapie auf erhebliche ethische Bedenken stoßen. Enterale Ernährung mit Placebo oder Unterlassen zu vergleichen, kommt einem ethisch nicht vertretbaren Hungerversuch gleich. Außerdem sind Null-Diäten nur ausnahmsweise, kurzfristig und bei massiv übergewichtigen Patienten und nur unter ärztlicher Kontrolle medizinisch vertretbar. Als praktische Schwierigkeit bliebe ergänzend anzuführen, dass die Rekrutierung von Teilnehmern schwer fallen dürfte. Nach allen einschlägigen Richtlinien, insbesondere nach der revidierten Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes14, sind die Patienten bei einem klinischen Versuch vor ihrer Zustimmung ausführlich aufzuklären. Das bedeutet im konkreten Fall: Sie müssten informiert werden, dass sie unter einer erheblichen krankheitsbedingten Mangelernährung leiden, dass alle therapeutischen Prinzipien und zahlreiche Richtlinien eine Enterale Ernährung empfehlen, dass aber wegen des Fehlens von verblindeten, randomisierten Studien in der Vergleichsgruppe keine Enterale Ernährung durchgeführt werden soll. Es ist äußerst fraglich, ob bei korrekter Aufklärung Patienten einer derartigen Studie zustimmen würden. Eine eindeutige Evidenzlage im vom G-BA gewünschten Sinne ist im vorliegenden Falle der Enteralen Ernährung nicht gegeben, da es aus historischen und ethischen Gründen keine Studienlage gibt, bei der alle Fragestellungen mit höchster Evidenz eindeutig beantwortet oder beantwortbar wären. Es ist evident, dass ein Mangelernährter ernährt werden muss. Dazu braucht es ebenso wenig eines kontrollierten Versuches wie bei einem Fallschirmspringer, der auch ohne Nachweis mittels einer kontrollierten Studie bei einem Sprung aus großer Höhe nicht auf einen Fallschirm verzichten kann. Alle ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen jedoch auch, dass die der Diätverordnung entsprechenden diätetischen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (enterale Nahrung) alle 14 http://www.bundesaerztekammer.de/20/05Rechte/DeklHelsinki.pdf PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 10 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung Voraussetzungen erfüllen, die an eine vollwertige Ernährung gestellt werden. Die enterale Nahrung setzt alle ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Niveau der enteralen Nahrung um – dies trifft besonders auf krankheitsadaptierte Spezialnahrungen zu. So evident es ist, dass ein krankheitsbedingt Mangelernährter ernährt werden muss, so selbstverständlich ist es, dass die künstliche Ernährung von den gesetzlichen Krankenkassen zu bezahlen ist, wenn die Betroffenen sich aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr ausreichend auf ‚normalem Wege’ ernähren können. Es gehört zum alltäglichen ärztlichen Handeln, dass man Entscheidungen auch anhand eines niedrigen Evidenzniveaus fällen muss. So besteht sicherlich kein Zweifel daran, dass Patienten mit einer krankheitsbedingten Mangelernährung aus medizinisch notwendigen Gründen ernährt werden müssen. Aufgrund der individuellen Patientenvorgaben entscheidet der Arzt, ob eine Künstliche Ernährung erforderlich ist. Es gilt festzustellen, ob eine Parenterale oder eine Enterale Ernährung zur Anwendung kommt. Eine Alternative außer den genannten therapeutischen Interventionen steht nicht zur Diskussion. Die Forderung des Nachweises höchster Evidenz, ob künstliche Ernährung in den Fällen eingesetzt werden soll oder nicht, in denen die medizinische Notwendigkeit festgestellt wurde, ist ethisch völlig unhaltbar – das Ergebnis wäre innerhalb kurzer Zeit mit dem Leben nicht vereinbar. 3. Es ist unethisch, wenn die neue Richtlinie eine Ungleichbehandlung von vergleichbaren krankheitsbedingten „Mangelernährten“ vorschreibt oder ohne sachlichen Grund verschiedene Maßstäbe angelegt werden. Am Beispiel der krankheitsbedingten Mangelernährung wird die Ungleichbehandlung deutlich. Generell verneint der G-BA die Notwendigkeit in der Richtlinie, die „Mangelernährung“ als eigenständige Indikation anzuerkennen. Auch das von der DGEM geforderte Stufenschema zur Bekämpfung der Mangelernährung wird abgelehnt. Der G-BA fordert innerhalb der Indikationsliste Evidenz der höchsten Stufe für Mortalität und Morbidität der jeweiligen Krankheiten. Nicht bewertet wird der Nutzen der Enteralen Ernährung auf die krankheitsbedingte Mangelernährung. Der G-BA weicht aber innerhalb der Richtlinie von dieser Forderung ab. Bei bestimmten Indikationen (AIDS, Mukoviszidose, Präfinale Stadien) weist er ausdrücklich darauf hin, dass die Forderung nach Evidenz der höchsten Stufe nicht erforderlich ist. Damit ist die Richtlinie in sich widersprüchlich bezüglich der erreichbaren und der geforderten Evidenz. Der G-BA kann bestimmte Maßnahmen, wie z.B. enterale Nahrung nur dann von der Verordnung ausschließen, wenn eine Mehrheit der für dieses Gebiet zuständigen Ernährungswissenschaftler festgestellt hätte, dass die Versorgung mit Enteraler Nahrung nicht notwendig oder nicht zweckmäßig oder nicht wirtschaftlich sei. Diesen Nachweis bleibt der G-BA aber schuldig. Schließlich ist unter Ernährungswissenschaftlern unstrittig, dass bei krankheitsbedingter Unterernährung der Erkrankte ernährt werden muss, weil es dazu keine Alternative gibt. Aufgrund des aus seiner Sicht fehlenden Nutzens der Enteralen Ernährung schließt der G-BA den Einsatz der Enteralen Ernährung bei krankheitsbedingter Mangelernährung generell bis auf 3 Ausnahmen (Nutzen auch nicht nachgewiesen) aus. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 11 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung Des weiteren bestimmt er die Verordnungsvoraussetzungen für die Enterale Ernährung: Keine Enterale Ernährung auch bei vorliegenden Zeichen einer krankheitsbedingten Mangelernährung für: Ø Patienten mit Colitis ulcerosa Ø Patienten mit Chemo/Strahlentherapie z. B. Brust-, Darm, Prostata, Lungenkrebs, bei Leukämie und weiteren Krebsformen Ø Patienten mit Magen- und Darmkrebs Ø Patienten mit chronischer, dialysepflichtiger und nicht-dialysepflichtiger Niereninsuffizienz Ø Kinder mit Tumorkachexie Ø Patienten mit Lebererkrankungen Ø Patienten mit pulmonaler oder kardialer Kachexie Ø Patienten mit dementiellen Sydromen ohne Differenzierung des Schweregrades Ø Patienten mit Dekubitalulcera Ø Patienten mit Phenylketonurie über 10 Jahren Enterale Ernährung bei Zeichen einer krankheitsbedingten Mangelernährung wird aber ohne Nutzennachweis akzeptiert für: Ø Patienten mit Mukovizidose Ø Patienten mit AIDS Ø Patienten mit präfinalen Krankheitsstadien Bei den Indikationen „Mukoviszidose, AIDS und präfinale Krankheitsstadien“ ist zu bemerken, dass die Verordnungsvoraussetzungen in diesen Fällen zugestehen, dass „neben medizinischen Fragen auch ethische „Aspekte“ zu berücksichtigen seien. Dies ist zweifellos richtig, nur ist zu fragen, warum dies nicht auch für andere Indikationen gilt. Es wäre doch ein Irrtum zu glauben, dass es bei den anderen Indikationen keine ethischen und medizinische Aspekte gäbe oder dass diese bei den anderen Indikationen nicht zu berücksichtigen seien. Zudem konstatiert die Richtlinie innerhalb dieser Indikationen, dass die „Entscheidung für eine Enterale Ernährung bei Vorliegen einer krankheitsbedingten Mangelernährung auch ohne Nutzennachweis verordnungsfähig sei. Es stellt sich die Frage, warum der Ausschuss dies nur bei drei Krankheiten anmerkt und warum er bei diesen Indikationen trotz fehlender hochgradiger Evidenz für eine individuelle Verschreibung enteraler Ernährung plädiert, obwohl er gleichzeitig klarstellt, dass es nicht belegt ist, dass die Enterale Ernährung eine Verbesserung der Lebensqualität bewirkt. Dies ist in gewisser Weise paradox: In den genannten Indikationen, wenn mit einer Heilung nicht und mit einer Besserung kaum mehr gerechnet werden darf, wird für eine individuelle Entscheidung für enterale Ernährung trotz fehlender Evidenz plädiert; in anderen Fällen, in denen noch mit Nutzen oder gar Heilung gerechnet werden darf – wenn auch ohne vorliegende hochgradige Evidenz – entschied der Ausschuss sich dagegen. 4. Es ist unethisch, wenn die geplante Richtlinie Ärzte mit denen von ihnen zu beachtenden medizinethischen Grundsätzen in Konflikt bringt. Die Neufassung der Richtlinie verstößt massiv gegen weithin unumstrittene Prinzipien ärztlichen Handelns Die Richtlinie führt Ärzte in einen unlösbaren ethischen Konflikt: Was soll der Arzt bei einem Patienten unternehmen, bei dem er weiß, dass der Patient nicht in der Lage sein wird, sich angemessene Nahrung zuzuführen oder bereits krankheitsbedingt PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 12 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung mangelernährt ist, der aber nicht an einer der vom Bundesausschuss genannten Krankheiten leidet? Soll er wissentlich zusehen, wie der Patient inadäquat ernährt ist, und zuwarten, bis im Laufe des Krankheitsgeschehens zusätzlich eine der genannten Generalindikationen: Ø schwere Bewusstseinsstörungen (Koma, Sopor) Ø vollständige Störungen der Schluckfunktion Ø tracheoösophageale Fisteln und Ø Passage- und motilitätsbedingte Störungen der normalen Nahrungsaufnahme (z. B. bei Tumoren in Mund, Rachen oder Ösophagus) beim Patienten festzustellen sind - oder soll er zuwarten bis der Patient auf Grund seiner krankheitsbedingten Mangelernährung in ein Krankenhaus eingewiesen werden muss, da er ansonsten verhungern müsste. Der G-BA stellt fest, dass der Nutzen einer Enteralen Ernährungstherapie bzgl. Überlebenszeit und Lebensqualität nicht belegt ist. “Weder die frühe, späte oder keine Intervention durch Gabe von Trink- und Sondennahrung beeinflusst den Krankheitsverlauf.“ Beispiel: Ein 60-jähriger Patient mit einem Lungenkarzinom weist aufgrund seines Krankheitsverlaufes (Chemotherapie) einen fortschreitenden, abnehmenden Gewichtsverlauf auf. Er hatte vor der Erkrankung ein Gewicht von 80 kg bei einer Körpergröße von 170 cm und damit einen für Deutschland durchschnittlichen BMI seiner Altersgruppe von 27,8 kg/m². Er verliert ca. 20 kg Körpergewicht. Muss dieser Patient nun erst den Beweis bringen, dass eine Enterale Ernährung seine Lebensqualität und Überlebenszeit verbessert, bevor er enteral ernährt werden kann? Der G-BA ignoriert nationale und internationale Empfehlungen, enterale Nahrung frühzeitig bei ungewolltem Gewichtsverlust einzusetzen. Menschen mit einem BMI von 35 kg/m² (Durchschnitt liegt zwischen 25-30 BMI kg/m²) erhalten bei den vom G-BA festgelegten Voraussetzungen niemals Enterale Ernährung, da sie nicht auf den geforderten BMI 21 kg/m² abmagern werden. Die Patienten werden vor dem Erreichen des kritischen Parameters versterben. Somit geht es „Dicken“ schlechter. Der Arzt muss Sorge dafür tragen, dass der Patient auch auf Dauer seiner Krebserkrankung sein niedriges Gewicht hält, um den Vorgaben des geforderten BMI von 21 kg/m² zu entsprechen. Ein BMI von 21,5 kg/m² ließe eine Enterale Ernährung nicht mehr zu. Die Alternative zum grundsätzlichen Vorgehen des G-BA ist offensichtlich und von Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und den Verbänden in ihrer Stellungnahme (Anhörungsverfahren) als Antwort auf die Entscheidung des G-BA auch gefordert worden. Eine Orientierung am Ernährungszustand, der durchaus objektiviert werden kann, wäre hier sinnvoller, würde den praktizierenden Ärzten eine patientenorientierte Therapie ermöglichen und nicht in Konflikt mit ihrem ärztlichen Ethos bringen. Zudem könnten sie auf individuelle Entwicklungen (Gewichtsverlust pro Zeit) eingehen, wie es auch von den Fachgesellschaften gefordert wird. Die künstliche Ernährungstherapie hat im Falle der medizinischen Notwendigkeit einem Stufenschema zu folgen. Nachdem zunächst die natürliche Nahrung und die Vermeidung von Ursachen für eine krankheitsbedingte Mangelernährung im Vordergrund stehen und erst bei Erfolglosigkeit auf Enterale Ernährung zurückgegriffen werden soll (gemäß der DGEM - Leitlinie Enterale Ernährung und der Resolution des Europarates 2003/315). 15 DEGM-Leitlinie Enterale Ernährung. Aktuelle Ernährungsmedizin 28 (2003), Suppl. 1. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 13 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung 5. Es ist unethisch, Säuglinge einem Neugeborenenscreening auf seltene erbliche Enzymmangelkrankheiten zu unterziehen und dann den diagnostizierten Patienten die für die Therapie notwendige Spezialnahrung zu verweigern. Seltene erbliche Enzymmangelkrankheiten werden über das deutschlandweit durchgeführte Neugeborenenscreening erfasst und führen unbehandelt zu schwerer geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung. Enterale Ernährung, insbesondere in Form von spezifisch an Enzymdefekt und Alter angepassten Aminosäurenmischungen, stellt einen Hauptbestandteil der lebenslangen Therapie dar. Es ist unethisch und nicht nachvollziehbar, einerseits Säuglinge dem aufwändigen und teuren Neugeborenenscreening zu unterziehen und dann den diagnostizierten Patienten die für die Therapie notwendige Spezialnahrung zu verweigern. Nach der neuen geplanten Richtlinie wäre dies der Fall, da z.B. in der Definition des Begriffes „Aminosäurenmischungen“ Fett als möglicher Bestandteil nicht genannt ist und bei der Indikation Phenylketonurie (PKU) eine Routineverordnung auf die ersten 10 Lebensjahre beschränkt wird. Diese Beispiele sollen nachfolgend näher erläutert werden. Eiweißmodifizierte Spezialflaschennahrungen zur diätetischen Behandlung von PKU im ersten Lebensjahr müssen z.B. notwendigerweise, wie für jede Säuglingsanfangsnahrung gesetzlich vorgeschrieben, Fett, insbesondere lebensnotwendige ungesättigte langkettige Fettsäuren, enthalten16,17. Impliziert die neue geplante Richtlinie eine häusliche Selbstmischung und -zubereitung einer PKU-Flaschennahrung mit vielen Einzelkomponenten, die der aktuellen Empfehlung der European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) zur Zubereitung von Säuglingsflaschennahrungen vollkommen entgegenläuft18? Denn diese Empfehlung lautet eindeutig, bei Säuglingsflaschennahrungen aus mikrobiologischen Gründen jede Mahlzeit frisch zuzubereiten und dieser Empfehlung kann mit einer häuslichen Mischung vieler Einzelkomponenten, ganz zu Schweigen von dem dabei ebenfalls bestehenden medizinisch-therapeutischen Risiko der fehlerhaften Zusammensetzung und Dosierung der Einzelkomponenten, nicht Rechnung getragen werden. Welche verheerenden Auswirkungen eine einmalige Zubereitung der Tagesration einer Flaschennahrung haben kann, zeigen die zwei Todesfälle im April 2001 in den USA und im Mai 2003 in Belgien, ausgelöst durch Enterobacter Sakazakii, einem ubiquitär vorkommenden Keim, der sich durch Lagerung der zubereiteten Flaschennahrung vermehrt hatte. Sollen PKUSäuglinge in Zukunft diesem Risiko ausgesetzt werden? Auch ist es im Falle von seltenen erblichen Störungen im Aminosäurenstoffwechsel durch häusliche Selbstmischung und –zubereitung einer PKU-Flaschennahrung aufgrund der Diätrestriktionen z.B. nicht möglich, den Bedarf an bestimmten lebensnotwendigen, für das Wachstum und die Entwicklung des Säuglings wichtigen Fettsäuren wie Docosahexaensäure und Arachidonsäure zu decken. Diese Fettsäuren liefern z.B. einen wichtigen Beitrag zur postnatalen Sehschärfeentwicklung bei Früh- und Neugeborenen 16 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften: Richtlinie der Kommission vom 14. Mai 1991 über Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung (91/321/EWG) und Richtlinie 96/4/EG der Kommission vom 16. Februar 1996 zur Änderung der Richtlinie 91/321/EWG. 17 Konsensus-Konferenz: Koletzko B. et al.: Long chain polyunsaturated fatty acids (LC-PUFA) and perinatal development. Acta Paediatr. 90 (2001) 460-464. 18 Agostoni C. et al.: Preparation and Handling of Powdered Infant Formula: A Commentary by the ESPGHAN Committee on Nutrition, J Pediatr Gastroenterol Nutr, Vol. 39, No. 4, October 2004, 320-322. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 14 von 20 Ethische Aspekte der AMR-Neufassung und zur kognitiven Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter19,20. Die Wichtigkeit der Bereitstellung von phenylalaninfreien Säuglingsflaschennahrungen wird von Experten in der Behandlung von PKU betont21. All die genannten Gründe verdeutlichen exemplarisch, warum Aminosäurenmischungen, die unter anderem Fett enthalten, ein unumstrittener notwendiger Bestandteil der PKU-Diät in den Stoffwechselzentren Deutschlands sind. Das zweite eingangs erwähnte Beispiel in der neuen geplanten Richtlinie ist die Beschränkung der Routineverordnung für die Indikation PKU auf die ersten 10 Lebensjahre. Dem steht entgegen, dass von Experten in der Behandlung von PKU eine lebenslange Diät mit Aminosäurenmischungen als notwendig erachtet wird. Weltweit führende Experten in der Behandlung von PKU mit zum Teil mehr als 20 Jahren persönlicher Erfahrung sprechen sich für eine lebenslange Diät mit Aminosäurenmischungen aus. Ihre Stellungnahme findet sich in Form des NIH Consensus Statement22. In dieses Consensuspapier sind mehrere große kollaborative PKU-Studien eingeflossen. Die Qualität dieses Statements wird durch den Absender „National Institutes of Health“ (NIH) deutlich. Laut Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft pädiatrischer Stoffwechselstörungen (APS), der ärztlichen Fachgesellschaft für den Bereich der seltenen erblichen Stoffwechselstörungen, soll bei Behandlung von PKU-Patienten im 11.-16. Lebensjahr eine Serum-Phenylalaninkonzentration von 0,7 bis 15 mg/dl nicht überschritten werden und ab dem 16. Lebensjahr unter 20 mg/dl liegen23. Diese Werte lassen sich nur bei fortgesetzter Einnahme von Aminosäurenmischungen erzielen24. Die bei Abbruch einer phenylalaninrestriktiven Diät im Erwachsenenalter beobachteten negativen Effekte sind vielfältig (z.B. intellektuelle und medizinische Probleme, Verhaltensprobleme, abnorme neurologische Befunde) 25,26. Abschließend kann festgehalten werden: Seltene erbliche Enzymangelkrankheiten treten mit sehr niedrigen Inzidenzen auf (z.B. jährlich 70 Säuglinge mit Phenylketonurie, 3 Säuglinge mit Ahornsirupkrankheit) und können sehr erfolgreich behandelt werden, d.h. gesundheitsökonomisch betrachtet sind sie außerordentlich wirtschaftlich. Um diese Situation auch in Zukunft zu gewährleisten, müssen im Zuge der Neufassung der Arzneimittelrichtlinie alle bisher vorhandenen erstattungsfähigen Behandlungsmöglichkeiten ohne Alterslimitierung erhalten bleiben. 19 20 Makrides M. et al.: Are long chain polyunsaturated fatty acids essential nutrients in infancy? Lancet 345 (1995) 1463-1468. Willatts P. et al.: Effect of long-chain polyunsaturated fatty acids in infant formula on problem solving at 10 months of age, Lancet 352 (1998) 688-691. 21 z.B. Koletzko B. et al.: Diätumstellung teilgestillter Säuglinge mit Phenylketonurie auf eine gebrauchsfertige Phenylalanin-freie Säuglingsnahrung, Monatszeitschr. Kinderheilkd. 144 (1996) 1248-1251. 22 National Institutes of Health Consensus Development Panel: National Institutes of Health Consensus Development Conference Statemente: Phenylketonuria: Screeing and Management, October 16-18, 2000, Pediatrics Vol. 108 No. 4 October 2001, 972-982. 23 APS: Therapie von Patienten mit Phenylketonurie, Monatszeitschrift Kinderheilkunde, 9/97, 961-962. 24 Wachtel U. : Phenylketonurie – ein Modellfall für die Entwicklung der Kinderheilkunde. Schattauer Verlag, 2004, S. 72. 25 Koch R. et al. : Phenylketonuria in adulthood: A collaborative study. J. Inherit. Metab. Dis. 25 (2002) 333-346. 26 Cerone R. et al. : Phenylketonuria: diet for life or not? Acta Paediatr 88: 664-6. 1999. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 15 von 20 Praktikabilität der AMR-Neufassung III. Praktikabilität der AMR-Neufassung Die Richtlinie ist in der Form, wie sie bisher vom G-BA erstellt worden ist, mit ca. 40 Seiten Gesamtumfang und zahlreichen Tabellen nicht nur umfangreich, sondern auch außerordentlich kompliziert gegliedert und damit für die praktische Anwendung durch den Vertragsarzt ungeeignet. Ihre fehlende Praktikabilität zeigt sich zudem an weiteren Stellen. Zahlreiche Begriffe sind unbestimmt bzw. werden in der Richtlinie nicht definiert. Beispielsweise wird die Verordnungsfähigkeit von Produkten, die „speziell mit Ballaststoffen angereichert sind“ in der Richtlinie ganz generell ausgeschlossen, da ihr Nutzen angeblich nicht nachgewiesen sein soll27. Sie sollen jedoch verordnungsfähig bleiben, „soweit damit keine Mehrkosten verbunden sind“28. Woran jedoch soll ein Vertragsarzt erkennen, ob ein Produkt „speziell angereichert“ ist und wie soll er die Frage nach „Mehrkosten“ klären? Es kommt hinzu, dass einige Voraussetzungen für die Verordnung von enteraler Nahrung aus grundsätzlichen Erwägungen nicht erfüllbar sind, so dass der Arzt das Vorliegen der Verordnungsfähigkeit nicht feststellen kann. Hierzu zählen der nicht oder nur schwer nachvollziehbare Verweis auf andere gesetzliche Vorgaben sowie die Pflicht zur Prüfung, ob z.B. bei seltenen Stoffwechseldefekten die Behandlung mit enteraler Ernährung „ausreichend erprobt“ ist. Schließlich werden dem Arzt z.T. so weitreichende Dokumentationspflichten zum Nachweis des „Misserfolgs“ aller anderen „ärztlichen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen“ auferlegt, bevor er enterale Nahrung verordnen darf, dass der Arzt die Verordnung enteraler Nahrung angesichts dieser formalen Hürden ggf. vermeidet, selbst wenn eine ausreichende Indikation vorliegt. 1. Unbestimmte bzw. in Richtlinie nicht definierte Begriffe Beispielhaft seien die Begriffe „speziell mit Ballaststoffen angereichert“ und „MCTangereichert“ (vgl. S. 5, Pkt 15d), „krankheitsadaptierte Spezialnahrung“ (vgl. S. 4, Pkt. 15d), „individuell gewählte Zusammensetzung“ (S. 2; Def. Von Sondennahrung) und „Semi-Elementardiäten“ (vgl. S.10, II.5) genannt. Die Begriffe stehen jeweils in Zusammenhang mit Verordnungsvoraussetzungen oder Verordnungsausschlüssen. Als Folge der fehlenden Bestimmtheit kann der Arzt das Vorliegen der Verordnungsfähigkeit nicht feststellen. Im Falle von angeborenen, seltenen Defekten im Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel wird ferner gefordert, dass jeden Defekttyp geprüft werden muss, ob „eine Behandlung durch diese Produkte medizinisch notwendig und ausreichend erprobt ist“, oder ob symptomatische Maßnahmen Priorität haben. Auch diese Vorgabe dürfte aus 2 Gründen nur schwer erfüllbar sein. Der erste Grund besteht in der Unbestimmtheit des Begriffes ‚ausreichend erprobt’. Insoweit trifft das zuvor ausgeführte auch auf diesen Sachverhalt zu. Der zweite Grund besteht darin, dass die seltenen Stoffwechselerkrankungen mit einer so geringfügigen Inzidenz auftreten, dass eine ausreichende Erprobung im Sinne evidenzbasierter Studien bereits mangels der erforderlichen Probandenanzahl ausgeschlossen ist. 27 Diese Behauptung beruht auf einem fehlerhaften Verständnis des Zwecks von enteraler Nahrung, vgl. dazu auch oben Anm. 5. 28 Ziff. 8 der „Allgemeinen Verordnungsgrundsätze“ in der Anlage 7 zur Richtlinie. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 16 von 20 Praktikabilität der AMR-Neufassung 2. Komplexe Voraussetzungen für die Verordnung enteraler Ernährung Die durch den Arzt zu erfüllenden Anforderungen sind vergleichsweise komplex und mangels Nachvollziehbarkeit in der ärztlichen Praxis schwer umsetzbar. Die komplexe Gliederung der Richtlinie geht aus den Tabellen 1 und 2 hervor, in welchen ein Teil der für die Verordnung relevanten Kriterien zusammengestellt. Aus den Tabellen geht hervor, dass zwar eine Reihe konkreter und individueller Verordnungsausschlüsse29 (z.B. keine Hydrolysat- und Semielementarnahrungen sowie hypokalorische Produkte; krankheitsadaptierte Spezialprodukte für best. Indikationen) und -einschränkungen genannt sind, insbesondere innerhalb der Kategorie ‚Produktspezifikationen’. Darüber hinaus sind jedoch keine transparenten Prinzipien erkennbar sind, nach der G-BA über die Verordnungsfähigkeit oder den Ausschluss entschieden hat. Es kommt erschwerend hinzu, dass die Richtlinie vorgibt, bei seltenen und nicht in Anl. 7 aufgeführten Indikationen „entsprechende Konstellationen zur Entscheidungsfindung“ heranzuziehen, wie sie in der Anlage 7 zur Anwendung gekommen sind. 3. Unbestimmter bzw. falscher Verweis auf gesetzliche Obergrenzen Die Richtlinie gibt vor, dass enterale Nahrung nur verordnungsfähig ist, wenn sie ‚innerhalb der gesetzlichen Grenzen‘ mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen angereichert ist. Hier stellt sich die Frage, welche gesetzlichen Vorgaben gemeint sind. Im Bereich der Lebensmittel des allgemeinen Verzehrs, darunter Nahrungsergänzungsmittel, bestehen derzeit noch keine rechtsverbindlichen Dosierungsobergrenzen für die vorgenannten Stoffe. Die DiätVO gibt zwar gewisse Mindest- und Obergrenzen für einige Vitamin- und Mineralstoffverbindungen (nicht aber für Spurenelemente) vor, sieht jedoch ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass von diesen Vorgaben abgewichen werden kann, wenn dies aus ernährungsphysiologischen Gründen erforderlich ist. 4. Prinzip der Ultima Ratio und Dokumentationspflichten zu dessen Erfüllung Der Arzt wird zur Ausschöpfung sämtlicher anderer verfügbarer ärztlicher und pflegerischer Maßnahmen verpflichtet, bevor er enterale Nahrung verordnen darf. Enterale Nahrung ist demzufolge als Ultima Ratio in der Versorgung von Patienten anzusehen. Die Einhaltung des Ultima-Ratio-Prinzips wird an eine lückenlose Dokumentation über den Mißerfolg aller vorgenannten Maßnahmen geknüpft. Mit Beginn der Versorgung des Patienten mit enteraler Nahrung ist dessen Ernährungszustand in geeigneter Weise fortlaufend zu überwachen und zu dokumentieren. Dies stellt eine hohe Hürde für die praktische Umsetzung dar. 5. Pflicht zu Monitoring der Preise Die Neuregelungen verpflichten den Arzt indirekt dazu, bei ballaststoffangereicherten und MCT-haltigen Produkten Marktrecherchen durchzuführen und Preisvergleiche anzustellen. So darf der Arzt keine speziell ballaststoffhaltigen Produkten verordnen, „wenn damit Mehrkosten verbunden sind“. Bei MCT-haltigen Produkten ist die Verordnungsfähigkeit auf bestimmte Krankheitsbilder aus dem Formenkreis Fettverwertungsstörungen beschränkt, „wenn der MCT-Zusatz zu höheren Kosten führt“. Die Entscheidung für hochkalorische Produkte in Verbindung mit zusätzlicher Flüssigkeitsgabe gegenüber normkalorischen Produkten ist „unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu treffen“. Dem Arzt werden in AMR-Entwurf jedoch keine Instrumente an die Hand gegeben, die geforderten Preisvergleiche durchzuführen oder wirtschaftliche Gesichtspunkte heranzuziehen. Die im Bereich Arzneimittel etablierte Lauertaxe und rote Liste greifen nicht für enterale Nahrung nicht. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Apotheke nur ein Vertriebskanal von mehreren ist, über den die Produkte üblicherweise 29 Die Richtlinie ist für Ärzte und Versicherte bindend gem. § 92 Abs. 8 SGB V. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 17 von 20 Praktikabilität der AMR-Neufassung in den Verkehr gebracht werden. Zudem unterliegen die Produkte – im Gegensatz zu Arzneimitteln - nicht der AM-PreisVO, sondern freien Preisbildung. Der Verordnende Arzt wäre daher gehalten, eigenständig objektive Preisvergleiche anzustellen und das Marktgeschehen über ein geeignetes Monitoring zu verfolgen. Tab. 1: Aufbau der AMR-Neufassung (Stand: 15.02.2005) im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Verordnung von Trink- und Sondennahrung (TN & SN) [‚HÜRDENPRINZIP’] Kriterium I. Allg. Indikationen II. Indikationen mit spez. VerordnungsVoraussetzungen (Gemäß Anl. 7) III. Seltene Erkrankungen in bes. Konstellationen Beurteilung durch den Arzt nach Art der Indikation Nur In den nachfolgenden Fallkonstellationen ist eine Verordnung durch den Arzt ohne weitere Voraussetzung zulässig (4 Indikationen): Bei Fallkonstellationen der Anlage 7 (kombinierte PositivNegativ-Liste) sind durch den Arzt folgende Aspekte zu prüfen: Bei diesen Fallkonstellationen sind durch den Arzt folgende Aspekte zu prüfen: § § § § Schwere Bewusstseinsstörungen (Koma, Sopor) vollständige Störungen der Schluckfunktion Tracheoösophageale Fisteln mechanisch bedingte Störungen der normalen Nahrungsaufnahme (z.B. bei Tumoren in Mund, Rachen oder Ösophagus) ‚Weitere’ Ausschlüsse Produktspezifikationen § § § § § Indikationen VO-Voraussetzungen VO-fähige Produkte Applikationswege Ergänzende VOHinweise § § § § Prüfung durch Arzt Beachtung der allg. VOGrundsätze gemäß Nr. 15 b) und d) Keine abschließende Aufzählung ‚den Indikationen der Anl. 7 entsprechende Konstellationen sind zur Entscheidungsfindung heranzuziehen’ Mangelernährung allein Verordnungsfähig sind: a. norm- oder hochkalorischen Standardprodukte b. wie a. zusätzlich ggf. MCT-angereichert c. wie a. zusätzlich ggf. für Niereninsuffiziente angepasst d. wie a. zusätzlich ggf. für Säuglinge und Kleinkinder altersangepasst Nicht verordnungsfähig sind: a. krankheitsadaptierte Spezialprodukte: I. chronische Herz-Kreislauf- oder Ateminsuffizienz II. Dekubitusbehandlung III. Diabetes mellitus IV. Geriatrie V. Stützung des Immunsystems VI. Tumorpatienten b. Hydrolysatnahrungen c. Semielementarnahrungen d. Über die gesetzliche Norm mit Vit. u. Min. angereicherte TN & SN e. Ballaststoffangereicherte Produkte soweit Mehrkosten f. MCT-haltige Produkte soweit Mehrkosten g. Hypokalorische Produkte Tab. 2: Allgemeine Verordnungsgrundsätze für die Verordnung von Trink- und Sondennahrung (TN & SN) gemäß AMR-Neufassung (Stand: 14.02.2005) 1. dokumentierter, erfolgloser oder krankheitsbedingt unmöglicher Einsatz von prophylaktischen sowie ärztlichen, pflegerischen und ernährungstherapeutischen Maßnahmen 2. Allgemeine Ausschlüsse: 2.1. Mangelernährung allein 2.2. Krankheitsadaptierte Produkte für best. Indikationen (vgl. Tab. 1) 2.3. Best. Produktspezifikationen (vgl. Tab. 1) PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 18 von 20 Gegen-Vorschlag für eine Anpassung der AMR V. Vorschlag für eine Anpassung der AMR nach § 92 SGB V auf der Basis des § 31 Abs.1 Satz 2 SGB V Der G-BA hat nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V festzulegen, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung ausnahmsweise in die Versorgung mit Arzneimitteln einbezogen werden. Vorbemerkung: Der Council of Europe stellt in seiner Resolution ResAP (2003)3 fest, dass der Zugang zu einer sicheren und gesunden Auswahl von Nahrung ein fundamentales Menschenrecht darstellt. Die Ernährung ist ein Grundbedürfnis des Menschen und integraler Bestandteil einer angemessenen medizinischen Behandlung. Wenn ein Patient nicht ausreichend essen kann, ein erheblicher ungewollter Gewichtsverlust eingetreten ist oder eine Mangel-/ Fehlernährung vorliegt oder aufgrund einer Enzymmangelkrankheit einer spezifisch angepassten Ernährungstherapie bedarf, sind nach Maßgabe ärztlicher Verordnung ernährungstherapeutische Maßnahmen zu ergreifen. Der Einsatz von enteraler Nahrung hat stets auf der Basis eines medizinisch begründeten Behandlungszieles zu erfolgen. Eine Ernährungssonde darf nicht allein zum Zweck der Reduktion des Pflegeaufwands gelegt werden. Auch bei liegender Sonde sind weiterhin alle Möglichkeiten einer natürlichen Nahrungszufuhr auszuschöpfen. Gegenvorschlag für eine Anpassung der Arzneimittel-Richtlinien Nach Kapitel D wird folgendes neue Kapitel E eingeführt: „E. Verordnungsfähigkeit von Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysaten, Elementardiäten und Sondennahrung (Enterale Ernährung). Enterale Ernährung ist verordnungsfähig, wenn eine der unten beschriebenen Indikationen festgestellt ist und bei der Mangelernährung die Stufe 2 oder 3 des unten aufgeführten Therapiestufenschemas erreicht ist. 15.a Indikationen für enterale Ernährung Enterale Ernährungstherapie ist indiziert, wenn ein ambulant versorgter Patient eine klinisch relevante, behandlungsbedürftige Mangelernährung mit Krankheitswert aufweist oder entwickelt. Grundsätzlich muss die Mangelernährung mit Hilfe geeigneter Methoden diagnostiziert werden. Zur Identifikation eignen sich z.B. die anerkannten Fragebögen Mini Nutritional Asssessment (MNA), Subjective Global Assessment (SGA), Malnutrition Universal Screening Test (MUST) oder der Nutritional Risk Score (NRS 2002). Eine klinisch relevante und behandlungsbedürftige Mangelernährung liegt in der Regel vor, wenn ein ungewollter Gewichtsverlust von 10 % in den letzten 6 Monaten oder 5 % in 3 Monaten festgestellt wird. Für die Feststellung des aktuellen Ernährungszustands ist grundsätzlich die Ermittlung des BMI sinnvoll. Ein BMI unter 21 kg/m² ist ein Zeichen von Unterernährung, die unabhängig von anderen Faktoren und Erkrankungen abgeklärt und PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 19 von 20 Gegen-Vorschlag für eine Anpassung der AMR behandelt werden muss. Ein weiterer wichtiger Indikator für eine Mangelernährung kann ein erniedrigter Serumalbuminspiegel sein, der auch bei vielen Erkrankungen mit einer schlechteren Prognose korreliert. Unabhängig davon ist eine spezifisch angepasste enterale Ernährung bei Vorliegen einer seltenen erblichen Enzymmangelkrankheit, die unbehandelt zu schwerer geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung führt, indiziert. 15.b Allgemeine Verordnungsgrundsätze und Therapiestufenschema Die Therapie ist stets an einem Behandlungsziel ausgerichtet, das im Therapieverlauf mit geeigneten Maßnahmen kontrolliert wird. Die Durchführung der Therapie und deren Dokumentation folgen allgemeinen medizinischen und pflegerischen Standards oder Leitlinien. Ziele der Ernährungstherapie: • Verbesserung / Erhalt des Ernährungszustandes • Reduktion funktioneller Folgen der Mangelernährung • Erhöhung der Verträglichkeit einer medikamentösen Therapie • Reduktion gastrointestinaler Symptome (Übelkeit, Diarrhoe, Völlegefühl) Generelle Voraussetzung für eine Verordnung von Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysaten, Elementardiäten und Sondennahrung ist der dokumentierte, erfolglose oder krankheitsbedingt unmögliche Einsatz anderer ärztlicher, pflegerischer und ernährungstherapeutischer Maßnahmen. Bei allen Formen der Intervention sind zuvor alle Möglichkeiten einer natürlichen Ernährung und erforderliche unterstützende Maßnahmen der Ernährungsberatung, Logopädie, Ergotherapie oder auch Psychotherapie sowie Maßnahmen der sozialen Unterstützung auszuschöpfen. Eine regelmäßige klinische Einschätzung des Ernährungszustandes hat zu erfolgen und muss dokumentiert werden. Therapiestufenschema Bei vorliegender behandlungsbedürftiger Mangelernährung und erhaltener Fähigkeit zur oralen Nahrungsaufnahme sollten abgestufte ernährungstherapeutische Interventionen erfolgen. Jede Stufe soll grundsätzlich hinsichtlich ihrer Anwendungsmöglichkeit im Hinblick auf das Therapieziel und für einen im Einzelfall zu bestimmenden, ausreichenden Zeitraum auf ihre Wirksamkeit überprüft werden, bevor die nächste Stufe zum Einsatz kommt: 1. 2. 3. 4. Individuelle Ernährungsberatung und ggf. Anreicherung normaler Lebensmittel mit Energie und Nährstoffen Orale Zusatznahrung (z.B. mit Elementardiäten) zusätzlich zur normalen Nahrung Sondenernährung Parenterale Ernährung Auf der Basis der individuellen Patientensituation und des Ernährungsstatus entscheidet der behandelnde Arzt, welche Stufe(n) der Ernährungstherapie indiziert sind. Zum Beispiel kann beim Fehlen der Schluckfunktion unmittelbar die Stufe „Sondenernährung“ anzuwenden sein. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de Seite 20 von 20 Gegen-Vorschlag für eine Anpassung der AMR Die Auswahl der Art der Nahrung trifft der behandelnde Arzt. Sie orientiert sich an den Grundsätzen der Ernährungswissenschaften sowie der individuellen Krankheitssituation und Stoffwechsellage des Patienten. Die Therapiedauer richtet sich nach dem Behandlungsziel und der Schwere der Mangel/Fehlernährung sowie deren Ursachen. 15.c Definitionen: Bei allen verordnungsfähigen Produktgruppen handelt es sich um diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (Bilanzierte Diäten), die sich rechtmäßig auf dem deutschen Markt befinden müssen und die die gültigen europäischen (EU-Richtlinien) und deutschen Rechtsnormen (Diätverordnung) erfüllen müssen. Dies beinhaltet, dass sie entsprechend ihrer diätetischen Indikation die erforderlichen Inhaltsstoffe, wie Hauptnährstoffe und Mikronährstoffe, zu enthalten haben. Produkte, die nicht den genannten Definitionen entsprechen, sind keine Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung im Sinne dieser Richtlinie und des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V und sind demnach nicht verordnungsfähig. Aminosäuremischungen enthalten als wesentliche, wertgebende Bestandteile qualitativ und quantitativ definierte Gemische von Aminosäuren, die in ihrer Zusammensetzung speziell auf die Bedürfnisse von Patienten mit seltenen erblichen Enzymmangelkrankheiten, wie z.B. Phenylketonurie, abgestimmt sind. Eiweißhydrolysate enthalten als wesentliche, wertgebende Bestandteile gespaltene (hydrolysierte) Proteine (niedermolekulare Proteinkomponenten in Form von freien Aminosäuren, Oligopeptiden [2-10 Aminosäuren] und Peptiden). Sie dienen der Ernährungstherapie von Patienten, die nicht in der Lage sind, komplexe (nicht hydrolysierte) Proteine zu verdauen oder zu verstoffwechseln oder die an einer definierten Nahrungseiweißallergie leiden. Unter dem Begriff Elementardiäten werden im Rahmen dieser Richtlinie Trinknahrungen verstanden. Diese dienen der Ernährungstherapie von Patienten, die das Nährstoffdefizit nicht durch herkömmliche Ernährung decken können aber noch keine Sonde benötigen oder zur Therapie von Patienten mit seltenen erblichen Enzymmangelkrankheiten. Sondennahrungen sind diätetische Lebensmittel, mit denen Patienten dauerhaft und ausschließlich über transnasale oder perkutane Sondensysteme ernährt werden können. Unter dem Begriff „Standardnahrung“ ist eine Sonden- oder Trinknahrung zu verstehen, die - vergleichbar mit einer gesunden, von den Fachgesellschaften empfohlenen Ernährung alle Haupt- und Mikronährstoffe in Aufbereitung und ausreichender Menge enthält. Sie muss geeignet sein, einen Patienten mit durchschnittlicher Verdauungsleistung ausschließlich und bedarfsdeckend zu ernähren und mit allen notwendigen Nährstoffen wie z.B. Mineralien, Vitaminen und Ballaststoffen zu versorgen. Eine solche Standardnahrung kann allen Patienten verabreicht werden, deren Krankheit nicht zwingend eine andere Zusammensetzung erfordert (z.B. Restriktionen aufgrund Enzymmangel, Organinsuffizienzen oder diagnostizierten Allergien) und die keine Unverträglichkeiten zeigen (z.B. Resorptions-, Digestions- oder Stoffwechselstörungen, allergische Reaktionen). Bonn, im Februar 2005 DIÄTVERBAND e.V. PDF wurde mit pdfFactory-Prüfversion erstellt. www.context-gmbh.de