Momentum 13: Fortschritt Abstract für den Track #9: Soziale Bewegungen als Motoren des Fortschritts (Zweitwahl: Track #10: Europa ± ein Fortschritt1) Titel: Transnationales, paneuropäisches Gewerkschaftshandeln ± Utopie oder reale Option? Referentin: Julia Hofmann Institut für Soziologie, Abteilung Wirtschafts- und Organisationssoziologie JKU Linz Altenbergerstraße 69 4040 Linz Email: [email protected] I Einleitung und Überblick des Beitrags Die Koordination und Abstimmung unterschiedlichster Interessen ist wohl das größte Problem sozialer Bewegungen und kollektiver AkteurInnen, die sich für Äsozialen Fortschritt³ einsetzen. Insbesondere Gewerkschaften sind mit einer Reihe von Hemmnissen konfrontiert, wenn sie über Grenzen hinweg für Solidarität und soziale Gerechtigkeit kämpfen wollen. Der Wunsch nach der Herstellung von internationaler bzw. transnationaler Solidarität lässt sich zwar bis zur Entstehung der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung zurückverfolgen (van der Linden 2009) ± angesichts der ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen der letzten 30 Jahre hat er auch nichts an seiner Dringlichkeit eingebüßt ±, dennoch bleiben transnationale Gewerkschaftsaktivitäten bis heute vereinzelt. Im Folgenden (und in meinem Beitrag bei Momentum) möchte ich die verschiedenen, postulierten Hemmnisse transnationalen, paneuropäischen Gewerkschaftshandelns thematisieren sowie Einblick in einige erfolgreiche transnationale gewerkschaftliche Mobilisierungen (die vom EGB ausgerufenen ÄEuropean Days of Action³, der Widerstand gegen die Dienstleistungsrichtlinie (Bolkestein directive) der EU sowie die Streiks bei General Motors zwischen 2001-2007) geben. Ziel meines Beitrags ist es zu einem besseren Verständnis hinsichtlich der Frage beizutragen, ob und wie nationale Gewerkschaften ihre unterschiedlichen Interessen sinnvoll koordinieren können, um sich nicht spalten zu lassen und grenzüberschreitend für sozialen Fortschritt (in meinem Fall innerhalb der EU) eintreten können. II Hemmnisse transnationalen Gewerkschaftshandelns In der Literatur werden meist drei zentrale Hemmnisse transnationalen, paneuropäischen Gewerkschaftshandelns thematisiert: (1) die Rolle der EU als Äembedded neoliberalism³Projekt (van Apeldoorn 2002), (2) die Bedeutsamkeit von Nationalstaaten und nationalstaatlich organisierten institutionellen Arrangements, (3) die großen sozialen und regionalen Unterschiede innerhalb des EU-Projektes und die allgemeine ÄKrise der Gewerkschaften³ in einer scheinbar postmodern organisierten Gesellschaft: (1) Globale, politökonomische Entwicklungen spielten auch bei der Herausbildung der EU eine zentrale Rolle (Streek 1998; Bieler, Lindberg 2011). Das europäische Integrationsprojekt wird demnach oft als ÄHPEHGGHG-QHROLEHUDOLVP³-Projekt (van Apeldoorn 2002) beschrieben, bei dem sich die politischen Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals und zuungunsten der ArbeitnehmerInnenseite entwickelt haben (Jakopovich 2011; Pernicka, Glassner 2012). Beispiele hierfür wären die Implementierung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die Maastricht-Konvergenzkriterien, der Stabilitäts- und Wachstumspakt oder der Vertrag von Lissabon, bei denen die ökonomische Entwicklung als wichtiger 1 Für Track#10 müsste der Abstract allerdings noch leicht adaptiert & übersetzt werden; das wäre an sich aber kein Problem. erachtet wurde als soziale Fragen (Scharpf 2010; Hyman 2005). Dieses Ä8QJOHLFKJHZicht³ zwischen Arbeit und Kapital wirkt sich, so die Annahme, hemmend auf die Möglichkeiten transnationalen Gewerkschaftshandelns. (2) Gleichzeitig haben die Nationalstaaten in der EU keineswegs an Bedeutung verloren. Zwar werden grobe Entwicklungstrends auf europäischer (bzw. globaler) Ebene ausverhandelt und forciert, die Übersetzung und Implementierung dieser Trends erfolgt allerdings im nationalen Kontext (Kelly, Frege 2004). Darüber hinaus erfüllt der Staat in Zeiten von Liberalisierung, Deregulierung und Globalisierung die Rolle des Ä6WDQGRUWVLFKHUHUV³ +LUVFK 'HPHQWVSUHFKHQG RULHQWLHUHQ VLFK Gewerkschaften in ihren Handlungen auch weiterhin vorwiegend an nationalstaatlichen Strukturen, Institutionen und AkteurInnHQ XQG VLQG RIW DXFK JHIDQJHQ LQ HLQHP ÄVWDQGRUWQDWLRQDOLVWLVFKHQ 'HQNHQ³ (Dörre 1997). Einige nationale Gewerkschaften (u.a. der ÖGB) sind auf Grund ihrer Einbettung in das nationale Institutionengefüge auch weiterhin recht erfolgreich bei der Durchsetzung ihrer Interessen ± dementsprechend gilt in diesen Ländern die strukturelle Bereitschaft sich über Grenzen hinweg zu engagieren als beschränkt (Gajewska 2008). (3) Zu der relativen Stärke von Kapitalinteressen innerhalb des EU-Projektes gesellt sich auch die relative Schwäche von Gewerkschaften hinzu. Die Macht von Gewerkschaften wird in der Literatur angesichts vielfältiger Neuzusammensetzungs- bzw. Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse und regionaler Disparitäten als geschwächt betrachtet (Pernicka 2006; Vester et al. 2001; Beck 1983; Castel 2000). Das gemeinsame Interesse bzw. die Basis einer gemeinsamen Identität von ArbeitnehmerInnen in Europa gilt als schwer bis kaum definierbar $XFK GDV SURNODPLHUWH Ä(QGHGHU *HVFKLFKWH³ )XNX\DPD XQG GHU großen Erzählungen sowie die schwierige Lage am europäischen Arbeitsmarkt und die damit verbundenen sozialen und regionalen Spaltungen (Stichwort: Massenarbeitslosigkeit, Prekarisierung, sinkende Lohnquoten, Ost- versus Westeuropa, Nord- vs. Südeuropa) (Frege, Kelly 2004; Gajewska 2008) würden zur Schwächung von ArbeitnehmerInnenbewegungen und ±vertretungen beitragen. III Erfolgreiches transnationales Gewerkschaftshandeln und Perspektivenverschiebung Trotz dieser Hemmnisse lassen sich in der jüngeren Geschichte Europas zumindest drei (mehr oder weniger) erfolgreiche gewerkschaftliche Mobilisierungen ausmachen: Die vom EGB ausgerufenen ÄEuropean Days of Action³, der Widerstand gegen die Dienstleistungsrichtlinie (Bolkestein directive) der EU sowie die Streiks bei General Motors zwischen 2001-2007.2 Wie ist diese Divergenz zwischen den großen, scheinbar unüberwindbaren Hemmnissen und den konkreten Fallbeispielen zu erklären? Ich würde in meinem Momentum-Beitrag argumentieren, dass für eine Erklärung dieser Fallbeispiele eine zweifache Perspektivenverschiebung vorgenommen werden muss: (1) Sollte der Prozess der Etablierung transnationaler Solidarität nicht als ÄWRS GRZQ³ sondern als bottom up³-Prozess verstanden werden. Dadurch kann die Herausbildung eines grenzüberschreitenden gemeinsamen Erfahrungsraums als Chance für transnationales Handeln in den Blick genommen werden. (2) Sollte die (Über-)Betonung von strukturellen Hemmnissen mit einer Analyse der Bedeutung von politischen Werten und Ideologien als Handlungsmotivation kombiniert werden. Nur durch diese Kombination können Formen Äorganischer Solidarität³ im Sinne Durkheims erklärt werden. Mit Hilfe dieser (im Beitrag genauer ausgeführten) Perspektivenverschiebung ist es m.E. nach möglich aus den oben erwähnten Fallbeispielen handlungsleitende Schlüsse zur Überwindung konfligierender Interessen und zur Herausbildung transnationalen Gewerkschaftshandelns zu ziehen. 2 Hier ist nicht genügend Platz näher auf diese Mobilisierungen einzugehen ± dies würde in dem Paper/Beitrag folgen. IV Literatur Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In Reinhard Kreckel (Ed.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2). Göttingen: Schwartz, pp. 35±74. Bieler, Andreas; Lindberg, Ingemar (Eds.) (2011): Global restructuring, labour, and the challenges for transnational solidarity. Milton Park, Abingdon, Oxon, New York: Routledge. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK. Della Porta, Donatella; Caiani, Manuela (2009): Social Movements & Europeanization. Oxford: Oxford University Press. Dörre, Klaus (1997): Modernisierung der Ökonomie - Ethnisierung der Arbeit. Ein Versuch über Arbeitsteilung, Anomie und deren Bedeutung für interkulturelle Konfikte. In Wilhelm Heitmeyer (Ed.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, pp. 69±119. Fukuyama, Francis (1992): The End of History and the Last Man. 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