Ein nachdenkliches Selbstgespräch Geschrieben von: Vanessa Engelmann Vor drei Wochen hat Susanne Goldmann erfahren, dass ihre Mutter an Alzheimer erkrank ist. Laut ihres Arztes Doktor Friedrich Stein ist es nicht möglich ihr medizinisch zu helfen. Der Prozess könne lediglich hinausgezögert werden. Seitdem durchforstet Susanne in jeder freien Minute das Internet, um zu erfahren, ob nicht doch ein Weg existiert, um den geistigen Zustand ihrer Mutter wieder herzustellen. Bei der Recherche stößt sie nach einiger Zeit auf einen Artikel über Stammzellenforschung und die ethischen Fragen, die diese aufwirft. Doch um die Zusammenhänge genauer zu verstehen, fragt sie bei Ihrem Arzt nach. Ein fiktives Gespräch Susanne Goldmann: Ich habe einen Artikel über Stammzellenforschung gelesen und dass mit diesen Stammzellen in naher Zukunft vielleicht sogar Alzheimerkranke geheilt werden können. Das klingt doch erst einmal ziemlich gut. Warum genau haben so viele Menschen dabei ethische Bedenken, Herr Doktor Stein? Dr. Stein: Die ethischen Bedenken beziehen sich zunächst einmal nicht auf das, was die Stammzellen ausrichten können, sondern auf die Art und Weise, wie diese gewonnen werden, Frau Goldmann. Nämlich durch Klonen. S.G.: Klonen? Aber was wird genau geklont? Und woher bekommen die Forscher ihr Material? Dr.S.: Genau das ist der springende Punkt. Dazu müssen wir zuerst klären, was der Begriff Klonen in unserem Fall bedeutet. Klonen ist zunächst immer ein reproduktiver Prozess, soll also etwas verdoppeln. Die Wissenschaft macht hier aber einen kleinen Schlenker und nennt Klonen aus medizinischen Zwecken therapeutisches Klonen. Der Prozess des Klonens dient hier nicht zur Schaffung eines erbgleichen Menschen, sondern zur Verdoppelung von Stammzellen, die 1/5 Ein nachdenkliches Selbstgespräch Geschrieben von: Vanessa Engelmann zu bestimmten Gewebeproben herangezüchtet werden können. S.G.: Aber woher stammen die Zellen denn nun? Dr.S.: Dazu komme ich jetzt. Die Forscher nutzen Embryonen, die beispielsweise bei künstlichen Befruchtungen übrig bleiben. Diese werden nach wenigen Zellteilungen abgetötet. Ihre einzelnen Zellen werden dann zu dem gewünschten Gewebe weitergezüchtet. So eine Stammzelle könnte so gut wie jeden Gewebe- und Organtyp produzieren, sie sind also totipotent, was so viel wie „zu allem fähig“ bedeutet. Das Klonen zu Forschungszwecken ist in Deutschland aber eigentlich durch das Embryonenschutzgesetz untersagt. Es dürfen keine Embryonen geklont werden und auch die Gewinnung embryonaler Stammzellen ist verboten. Trotz all dem können Stammzellen aus anderen Ländern importiert werden, in denen die Forschung erlaubt ist. In Israel zum Beispiel sollen vier Stammzelllinien gezogen worden sein. Das alles ist aber nur möglich, weil im Judentum ein Embryo mit Spermien gleichgesetzt wird. Und von einem „Spermienschutzgesetz“ war auch bei uns bisher noch nie die Rede. Sie sehen also, dass die ethischen Bedenken auch viel mit der Sozialisierung zu tun haben. Bei uns wird oft mit dem ersten und zweiten Artikel des Grundgesetztes argumentiert. S.G.: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dr.S.: Haargenau. Doch daraus folgt auch wieder die Frage, ab wann menschliches Leben existiert. Ist es sofort nach der Verbindung von Eizelle und Samen vorhanden? Oder ist das Bewusstsein des Individuums entscheidend? Und aus unserer Perspektive ist es natürlich schwer, einer sechs- oder achtmal geteilten Eizelle das gleiche Bewusstsein zuzugestehen, wie es bei uns vorhanden ist. Viele Wissenschaftler wundern sich auch darüber, dass es illegal ist, einen Embryo zu töten, eine Abtreibung durchzuführen aber nicht. Allerdings würde es zu weit führen dies nun zu erörtern, denn die Gründe für eine Abtreibung und das Abtöten eines Embryos, um Stammzellen zu produzieren sind nicht die gleichen. S.G.: Aber wenn wir annehmen, dass Embryonen kein Bewusstsein haben, ist es dann nicht akzeptabel sie dazu zu nutzen, um zum Beispiel Alzheimerkranken zu helfen? Dr.S.: Bei diesem Punkt kommen wir zum Utilitarismus. 2/5 Ein nachdenkliches Selbstgespräch Geschrieben von: Vanessa Engelmann S.G.: U-ti-li-was? Dr.S.: Der Utilitarismus ist eine Form der Ethik, die man kurz auf die Maxime: „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ zusammenfassen könnte. Man nennt diesen Ausspruch auch das Maximum-Happiness-Principle. In unserem Falle müssten wir also gucken, von welcher Handlung die meisten Menschen profitieren, sprich: ob es gerechtfertigt ist, die Embryonen zu töten, um Menschen zu helfen. Viele Wissenschaftler halten es deshalb sogar für ihre Pflicht Stammzellen zu klonen, um das Leid neurologisch Erkrankter zu lindern. Laut ihnen sind genug befruchtete Eizellen eingelagert, um die Forschung voranzutreiben. S.G.: Aber wird denn der Embryo dann nicht zur Ware? Zum Ding, das nur noch einen Zweck hat. Nämlich geklont zu werden? Dr.S.: Dem wird oft entgegengehalten, dass der Embryo zwar vielleicht im biologischen Sinne „verzweckt“ wird, aber nicht im moralischen. Solange wir davon ausgehen, dass noch kein ausgebildetes Bewusstsein beim Embryo vorhanden ist. Allerdings kommt hinzu, dass bisher noch keine bahnbrechenden Fortschritte registriert wurden. Lediglich die Frage der Ethik hält das Thema in den Medien, nicht die Menschen, die mit einer Stammzellentherapie geheilt wurden. Ist es also tatsächlich nützlich, um auf den Utilitarismus zurückzukommen, potenzielles menschliches Leben zu „verzwecken“, wenn die Erfolgsrate doch so niedrig ist?“ S.G.: Hm, das ist schwer zu sagen. Die Forschungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, vielleicht gäbe es Erfolge bei mehr wissenschaftlichem Freiraum? Dr.S.: Der ist in anderen Ländern vorhanden. Großbritannien sieht sich sogar „moralisch dazu verpflichtet“ diese Forschung voranzutreiben. Aber abgesehen davon gibt es auch noch andere Möglichkeiten. S.G.: Stimmt. Ich meine mich zu erinnern, etwas von adulten Stammzellen gelesen zu haben. Aber wie genau unterscheiden sich diese denn von den embryonalen Stammzellen? 3/5 Ein nachdenkliches Selbstgespräch Geschrieben von: Vanessa Engelmann Dr.S.: Adulte Stammzellen sind überall in unserem Körper vorhanden. Sie tragen die Informationen in sich, die für diesen notwendig sind, um neue Zellen zu produzieren. Sie sind also zu vielem fähig, aber nicht zu allem, deshalb nennt man sie pluripotent. Bereits 2007 gelang es Forschergruppen unabhängig voneinander adulte Stammzellen so umzuprogrammieren, dass aus ihnen neues Gewebe entstehen konnte. Allerdings mussten sie dafür Viren und Gene hinzufügen, die ein hohes Krebsrisiko bargen. Aber Anfang 2009 konnten „embryonale“ Stammzellen aus Hautzellen hergestellt werden, ohne dass künstlich Gene hinzugefügt wurden. Bei einer Transplantation neuen Gewebes wäre zum einen keine Immunreaktion des Körpers zu erwarten und zum anderen wäre auch das Krebsrisiko enorm gesunken. Sie sehen also, es gibt Fortschritte auf dem Gebiet der Stammzellenforschung. Es muss jedoch beachtet werden, dass zum einen viele Erfahrungen, die mit embryonalen Stammzellen gemacht wurden in die Arbeit mit adulten einflossen. Genauso ist es auch wichtig zu sehen, dass dies lediglich der Anfang einer Alternative zu embryonalen Stammzellen ist. S.G.: Also ist die Behandlung mit adulten Stammzellen die geschickte Lösung der Wissenschaft, das ethische Problem mit den Embryonen zu umgehen. Dann wäre es doch ratsam, mehr auf diesen Zweig zu setzen als noch in embryonale Stammzellen zu investieren. Oder, Herr Doktor Stein? Dr.S.: Sicherlich ist das der moralisch unbedenkliche Weg. Und utilitaristisch abgewogen wird damit wahrscheinlich mehr Glück geschaffen, als mit der embryonalen Stammzellenforschung. Doch genauso könnte man wieder mit dem Utilitarismus Begründungen für diesen Bereich finden. Schließlich gab es auch hier gewisse Erfolge, die nicht geleugnet werden können. S.G.: Die Stammzellenforschung ist anscheinend vielseitiger, als ich bisher dachte. Dennoch wird sie wohl erst einmal keine Hilfe für meine Mutter bieten, auch wenn so große Fortschritte gemacht werden. Außerdem bleibt die embryonale Stammzellenforschung, auch wenn man sie utilitaristisch abwägen könnte, sehr zwiespältig. Aber vielen Dank , Doktor Stein, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben und mir einen Einblick in das Thema gegeben haben. Nach dem Gespräch geht Susanne Goldmann nicht direkt nach Hause. Stattdessen macht sie einen kleinen Umweg und besucht ihr Mutter. (26/20.06.2009) Das hier wiedergegebene Gespräch ist rein fiktiv, die Sachinformationen sind hingegen korrekt. Es enstand als Teil einer Aufgabe im Fach Werte und Normen. Vanessa Engelmann, Jg. 12, ist NGO-Onlinemagazin-Redakteurin. 4/5 Ein nachdenkliches Selbstgespräch Geschrieben von: Vanessa Engelmann Zu diesem Thema im NGO-Onlinemagazin - Forschung mit Nebenwirkung – Bundestag verschiebt Stichtag für Stammzellnutzung (12.04.2008) 5/5