Freges Philosophie nach Frege

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Bastian Reichardt,
Alexander Samans (Hrsg.)
Freges Philosophie
nach Frege
mentis
MÜNSTER
Einbandabbildung: Alexander Samans – Frege in Bonn
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Bastian Reichardt
FREGE
Eine ganz kurze Wirkungsgeschichte
zur Einführung
Das Werk Gottlob Freges (1848–1925) erlebt im 20. wie im 21. Jahrhundert ein kaum nachlassendes Interesse. Sowohl historisch als auch systematisch präsentieren sich seine Arbeiten immer wieder als bedeutsam. Einer der
Hauptgründe dafür ist sicherlich, dass Freges Werk – wie das jedes Klassikers – Einfluss auf unterschiedlichste Bereiche der Philosophie nimmt. Frege
entwickelt seine Grundlegungsgedanken zur Philosophie der Mathematik
auf eine Weise, die Einflüsse auf die meisten Disziplinen der theoretischen
Philosophie nach sich zieht. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Implikationen seiner mathematischen Grundlegungsversuche bis in die Ontologie,
Epistemologie und Sprachphilosophie reichen und die modernen Debatten in
diesen Feldern essentiell prägen. Freges Bemühungen geschehen in einem historischen Umfeld, welches ihn in Verbindung mit weiteren Vätern der analytischen Philosophie – wie etwa Bertrand Russell, George Edward Moore oder
Ludwig Wittgenstein – bringt. 1 Die systematischen Verflechtungen in dieser
Frühphase der analytischen Philosophie bilden gleichsam den Kreißsaal der
idealsprachlichen Philosophie und werden philosophiehistorisch zunächst
zu einem der systematischen Stützpfeiler des logischen Empirismus, der sich
im Wiener Kreis etablierte. So nehmen die in der Begriffsschrift entwickelte
formale Sprache und die daraufhin entstandenen Versuche, das logizistische
Programm durchzuführen – also die Rückkopplung der Arithmetik an die
Logik – welche zunächst in den Grundlagen der Arithmetik vorbereitet und
schließlich in den beiden Bänden der Grundgesetze der Arithmetik versucht
wird, eine zentrale Rolle in den philosophischen Entwicklungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein, indem sie ebenso wesentlich auf die Philosophie der Mathematik wie auf die Sprachphilosophie
wirken. Detaillierte Ausführungen zur Wirkungsgeschichte, die vom Werk
dieses Mathematikers und Philosophen ausgeht, können und sollen an dieser
1
Dieses Umfeld ist natürlich noch sehr viel dichter besiedelt. Im vorliegenden Band stellt Gottfried Gabriels Beitrag dar, aus welch reichhaltigen Quellen die frühe analytische Philosophie
schöpfen kann.
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Bastian Reichardt
Stelle nicht geschehen. Einleitend lassen sich jedoch die Impulse, die Frege
dem weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte gab, andeuten, indem man
grundlegende Stationen seiner Arbeit nachzeichnet. 2
Das Entstehen der Begriffsschrift im Jahre 1879 verdankt sich einer »Unzulänglichkeit der Sprache,« 3 die sich darin ausdrückt, dass alltägliche Wendungen immer dann an Genauigkeit einbüßen, wenn die Beziehungen, welche
sie auszudrücken versuchen, komplexer werden. Freges Bestreben, arithmetische Begründungen nachzuzeichnen und als rein logisch auszuweisen,
gilt in besonderem Maße als solch ein Fall, in welchem die Komplexität des
Gedankengangs nur allzu leicht dafür Sorge trägt, dass die Unschärfe der
Alltagssprache die Genauigkeit des Beweises beeinträchtigt. Daher betont
Frege die Notwendigkeit einer formalen Sprache des reinen Denkens wie
folgt:
Das Verhältnis meiner Begriffsschrift zu der Sprache des Lebens glaube ich
am deutlichsten machen zu können, wenn ich es mit dem des Mikroskops
zum Auge vergleiche. Das Letztere hat durch den Umfang seiner Anwendbarkeit, durch die Beweglichkeit, mit der es sich den verschiedensten Umständen
anzuschmiegen weiss, eine grosse Ueberlegenheit vor dem Mikroskop. . . . Sobald aber wissenschaftliche Zwecke grosse Anforderungen an die Schärfe der
Unterscheidung stellen, zeigt sich das Auge als ungenügend. Das Mikroskop
hingegen ist gerade solchen Zwecken auf das vollkommenste angepasst . . . 4
Obwohl die »Formelsprache des reinen Denkens« und die darauf aufbauenden Erweiterungen durch Russells und Whiteheads Principia Mathematica
als Beitrag zur Philosophie der Mathematik intendiert sind, zählen sie neben
Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus zweifellos zu den wichtigsten
Anstößen für den linguistic turn im beginnenden 20. Jahrhundert. Die formale Logik Freges ermöglicht es, philosophische Argumentationen auf ihre
syntaktische Grundstruktur herunterzubrechen und so argumentative Fehler
nachzuweisen. Innerhalb der Philosophie wird die Ersetzung der Alltagssprache durch eine ideale Sprache zu Zwecken der Wissenschaft in der ersten
Hälfte des letzten Jahrhunderts nur umso dringender, wenn man in Betracht
zieht, welche Revolutionen sich in der Physik sowohl durch die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie als auch durch die Quantenmechanik
vollziehen. Das intellektuelle Klima jener Zeit, das einerseits durch den im2
3
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Dies geschieht hier, ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Wer diese
Vollständigkeit dennoch sucht, der sei unter den vielen hervorragenden Einführungen zu Freges
Werk auf Lothar Kreisers Buch hingewiesen, das an Detailliertheit unübertroffen ist. Siehe
Kreiser, Lothar: Gottlob Frege. Leben – Werk – Zeit. Hamburg: Meiner 2001.
Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Halle:
Louis Nebert 1879, S. IV.
Ebd., S. V.
Frege
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mensen naturwissenschaftlichen Erfolg und andererseits durch die Bereitstellung eines exakten Instruments zur Analyse philosophischer Argumentation
etabliert wird, bildet die Keimzelle des Wiener Kreises. Der philosophische
Zeitgeist greift die systematische Konstellation, in welcher sich die Werke
Freges zusammen mit denen Russells, Whiteheads und Wittgensteins befinden, auf und findet beispielsweise in Rudolf Carnap einen Proponenten, der
die neuen methodischen Mittel gebraucht, um die kontinentale Tradition der
Metaphysik mit ihren Scheinproblemen zu konfrontieren. 5 Der Stillstand der
Philosophie, welcher sich im steten Kreisen um die immer selben Probleme
ausdrückt, gegenüber dem Fortschritt der Naturwissenschaften kann nun –
so sagt der Zeitgeist – relativiert werden, indem philosophische Argumentationen dahingehend untersucht werden, ob sie frei von demjenigen sind,
was (im Sinne Freges) nichts zum assertorischen Gang der Argumentation
beiträgt oder was (im Sinne Wittgensteins) das Gesagte derart verunstaltet,
dass es zum Unsinn wird. Als einer der wirkmächtigsten Trabanten dieser
Konstellation in der frühen analytischen Philosophie ist daher der logische
Empirismus anzusehen, welcher zunächst in einer Rotation um die Achse
Jena /Cambridge entsteht, um schließlich eigenständig zu werden und weite
Bereiche der Philosophie im beginnenden 20. Jahrhundert zu prägen. 6
Frege selbst spielt in diesen Zusammenhängen die stille Rolle des Initiators, welcher derweil mit seinen eigenen Problemen kämpft, die sich keineswegs als Scheinprobleme entlarven lassen. Das Erwachsen der Psychologie als
eigenständiger Wissenschaft aus dem Schoße der Philosophie und die darauffolgende Gründung erster psychologischer Institute in den 1870er und 1880er
Jahren erwecken den Verdacht, dass die Psychologie zur Leitwissenschaft
avanciert, die ihre Thesen und Methoden auf andere Wissenschaftsbereiche
ausweitet. Die Naturalisierung des Geistes in Form des Psychologismus, welcher für sich in Anspruch nimmt, klassische Probleme der theoretischen und
praktischen Philosophie lösen zu können, kann Frege nur ein Dorn im Auge
sein. Der Psychologist deklariert die Gesetze des Denkens – also die Gesetze
der Logik – zu wesentlich naturwissenschaftlich erfassbaren Mechanismen,
welche in Ergänzung durch sozio-kulturell geprägte psychologische Dispositionen unsere Überzeugungsbildung bestimmen. 7 Frege zufolge drückt sich
hier »der verderbliche Einbruch der Psychologie in die Logik« aus, welcher
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Carnap, Rudolf: Scheinprobleme in der Philosophie. Hamburg: Meiner 2005.
Eine immense Kritik erfährt der logische Empirismus spätestens mit Wilfrid Sellars Kritik am
myth of the given. Vgl. sein »Empiricism and the Philosophy of Mind,« in: Feigl, H. & Scriven,
M. (Hrsg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 1. Minneapolis: University of
Minnesota Press 1956.
Vgl. beispielsweise Wundt, Wilhelm: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntiss
und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Stuttgart: Enke 1880 und Erdmann, Benno:
Logik. Logische Elementarlehre. Halle: Max Niemeyer 1892. Freges psychologistischer Gegner
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Bastian Reichardt
dazu führt, dass die Logik als Disziplin nicht mehr auf eigenen Füßen steht,
sondern »durch und durch psychologisch verseucht« ist. 8 Der Psychologist
zieht demnach eine Analogie zwischen raumzeitlichen Ereignissen in der
Außenwelt und den mentalen Vorgängen unserer Überzeugungsbildung –
oder wie Frege es ausdrückt:
. . . das Wort »Denkgesetz« verleitet zu der Meinung, diese Gesetze regierten
in derselben Weise das Denken, wie die Naturgesetze die Vorgänge in der
Aussenwelt. Dann können sie nichts anderes als psychologische Gesetze sein;
denn das Denken ist ein seelischer Vorgang. Und wenn die Logik mit diesen
psychologischen Gesetzen zu thun hätte, so wäre sie ein Theil der Psychologie.
Und so wird sie in der That aufgefasst. 9
Wenn es allerdings die Gesetze des reinen Denkens in dem Sinne geben soll,
wie Frege sie sich zum Thema macht, so kann es sich dabei nicht um psychologische Dispositionen handeln, die das individuelle Denken lenken, sondern
vielmehr um Gesetze, die vorschreiben, wie überall dort gedacht werden
soll, wo überhaupt gedacht wird. 10 Freges Grund, auf der Selbständigkeit
der Logik zu bestehen, liegt in seiner Diagnose, dass der Psychologist einem fundamentalen Irrtum aufgesessen ist, der sich in der Verwechslung von
Wahrheit und Fürwahrhalten ausdrückt:
So setzt Herr B. Erdmann . . . die Wahrheit mit Allgemeingültigkeit gleich
und gründet diese auf die Allgemeingewissheit des Gegenstandes, von dem
geurtheilt wird, und diese wieder auf die allgemeine Uebereinstimmung der
Urtheilenden. So wird denn schliesslich die Wahrheit auf das Fürwahrhalten
der Einzelnen zurückgeführt. Dem gegenüber kann ich nur sagen: Wahrheit
ist etwas anderes als Führwahrgehaltenwerden . . . Es ist kein Widerspruch,
dass etwas wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird. Ich verstehe
unter logischen Gesetzen nicht psychologische Gesetze des Fürwahrhaltens,
sondern Gesetze des Wahrseins. 11
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11
könnte uns auch heutzutage wieder in Form neurowissenschaftlicher Forschung begegnen. Der
Umstand, dass technische Innovationen wie die funktionale Bildgebung dazu geführt haben,
prominente Neurowissenschaftler zu philosophischen Thesen zu verführen, kann durchaus
als Wiederbelebung des Psychologismus gedeutet werden. Siehe hierzu etwa Singer, Wolf: Der
Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt /Main: Surhkamp 2002 und Roth,
Gerhardt: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen
Konsequenzen. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1996.
Frege: Grundgesetze der Arithmetik. Begriffsschriftlich abgeleitet. Paderborn: mentis 2009,
S. XIV.
Ebd., S. XV.
Vgl. ebd., S. XV. Die Normativität der Denkgesetze wird Frege bis zum Lebensende beschäftigen. Ausdruck dessen sind die Logischen Untersuchungen. Vgl. dafür auch Stuhlmann-Laeisz,
Rainer: Gottlob Freges »Logische Untersuchungen«. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
Frege: Grundgesetze der Arithmetik, S. XVf.
Frege
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Besonders die Grundlagen der Arithmetik (1884) und das Vorwort zum ersten
Band seiner Grundgesetze der Arithmetik (1893) sind davon geprägt, die
Folgen dieser Verwechslung des Psychologisten sichtbar zu machen und als
untragbar auszuweisen. Frege geht es hierbei um die Nicht-Überführbarkeit
von Rationalität in Kausalität. Jede Reduktion rationaler Verhältnisse auf
kausale Bestimmungen ist Frege zufolge mit nicht zu plausibilisierenden
Eliminationen verbunden. Gegen den Psychologisten drängt Frege auf das
unabhängige Bestehen eines »Reichs der Gedanken«, das weder in eins mit
der empirischen Außenwelt noch mit den subjektiven Vorstellungen fällt,
jedoch mit der Außenwelt gemeinsam hat, dass es ebenso selbständig besteht
und mit den Vorstellungen, dass es nicht in kausale Relationen eingebettet
ist. 12
Seinen größten Beitrag zur Sprachphilosophie leistet Frege in den Jahren 1891 und 1892 in Form der Aufsatz-Triade »Funktion und Begriff«,
»Über Sinn und Bedeutung« und »Über Begriff und Gegenstand«. Freges
Umdeutung des Subjekt /Prädikat-Schemas von Sätzen zu einem Argument /
Funktion-Schema erlaubt es ihm, zu zeigen, wie der semantische Gehalt von
Sätzen durch den semantischen Gehalt seiner Bestandteile konstituiert wird.
In Analogie zu mathematischen Funktionen begreift Frege Prädikate (wie
etwa ». . . ist sauer«) als Funktionen, die für sich genommen ergänzungsbedürftig sind und durch die Sättigung durch einen Gegenstand (wie etwa
»Die Zitrone«) das Wahre oder das Falsche als Funktionswert liefern. Die
Bedeutung von Sätzen ist demnach ein Wahrheitswert. Die Gedanken, welche durch die Sätze »Michael Dummett hat Bücher über Frege geschrieben«
und »Gottfried Gabriel gehört zu den Autoren des vorliegenden Buches«
ausgedrückt werden, stehen also für denselben Gegenstand: das Wahre. Einen
Wahrheitswert an dieser Stelle als Gegenstand zu begreifen, begründet sich
durch die berühmte Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, die Frege vornimmt. Offensichtlich können verschiedene Argumente in ein und
demselben Funktionsausdruck gegeneinander ausgetauscht werden, ohne
dass dadurch ein anderer Funktionswert geliefert würde. Betrachten wir die
Funktion ». . . ist die frühere Hauptstadt Deutschlands« und sättigen sie mit
verschiedenen Argumenten, wie z. B. in:
(1) Bonn ist die frühere Hauptstadt Deutschlands.
(2) Die Geburtsstadt Beethovens ist die frühere Hauptstadt Deutschlands.
Dass (1) und (2) denselben Wahrheitswert haben, liegt daran, dass sich die
Ausdrücke »Bonn« und »Die Geburtsstadt Beethovens« auf denselben Gegenstand beziehen. Der Funktionsausdruck ». . . ist die frühere Hauptstadt
12
Vgl. Frege: »Der Gedanke,« in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1 (1918/19),
S. 58–77.
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