Bastian Reichardt, Alexander Samans (Hrsg.) Freges Philosophie nach Frege mentis MÜNSTER Einbandabbildung: Alexander Samans – Frege in Bonn Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier © 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-831-2 (Print) ISBN 978-3-89785-849-7 (E-Book) Bastian Reichardt FREGE Eine ganz kurze Wirkungsgeschichte zur Einführung Das Werk Gottlob Freges (1848–1925) erlebt im 20. wie im 21. Jahrhundert ein kaum nachlassendes Interesse. Sowohl historisch als auch systematisch präsentieren sich seine Arbeiten immer wieder als bedeutsam. Einer der Hauptgründe dafür ist sicherlich, dass Freges Werk – wie das jedes Klassikers – Einfluss auf unterschiedlichste Bereiche der Philosophie nimmt. Frege entwickelt seine Grundlegungsgedanken zur Philosophie der Mathematik auf eine Weise, die Einflüsse auf die meisten Disziplinen der theoretischen Philosophie nach sich zieht. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Implikationen seiner mathematischen Grundlegungsversuche bis in die Ontologie, Epistemologie und Sprachphilosophie reichen und die modernen Debatten in diesen Feldern essentiell prägen. Freges Bemühungen geschehen in einem historischen Umfeld, welches ihn in Verbindung mit weiteren Vätern der analytischen Philosophie – wie etwa Bertrand Russell, George Edward Moore oder Ludwig Wittgenstein – bringt. 1 Die systematischen Verflechtungen in dieser Frühphase der analytischen Philosophie bilden gleichsam den Kreißsaal der idealsprachlichen Philosophie und werden philosophiehistorisch zunächst zu einem der systematischen Stützpfeiler des logischen Empirismus, der sich im Wiener Kreis etablierte. So nehmen die in der Begriffsschrift entwickelte formale Sprache und die daraufhin entstandenen Versuche, das logizistische Programm durchzuführen – also die Rückkopplung der Arithmetik an die Logik – welche zunächst in den Grundlagen der Arithmetik vorbereitet und schließlich in den beiden Bänden der Grundgesetze der Arithmetik versucht wird, eine zentrale Rolle in den philosophischen Entwicklungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein, indem sie ebenso wesentlich auf die Philosophie der Mathematik wie auf die Sprachphilosophie wirken. Detaillierte Ausführungen zur Wirkungsgeschichte, die vom Werk dieses Mathematikers und Philosophen ausgeht, können und sollen an dieser 1 Dieses Umfeld ist natürlich noch sehr viel dichter besiedelt. Im vorliegenden Band stellt Gottfried Gabriels Beitrag dar, aus welch reichhaltigen Quellen die frühe analytische Philosophie schöpfen kann. 8 Bastian Reichardt Stelle nicht geschehen. Einleitend lassen sich jedoch die Impulse, die Frege dem weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte gab, andeuten, indem man grundlegende Stationen seiner Arbeit nachzeichnet. 2 Das Entstehen der Begriffsschrift im Jahre 1879 verdankt sich einer »Unzulänglichkeit der Sprache,« 3 die sich darin ausdrückt, dass alltägliche Wendungen immer dann an Genauigkeit einbüßen, wenn die Beziehungen, welche sie auszudrücken versuchen, komplexer werden. Freges Bestreben, arithmetische Begründungen nachzuzeichnen und als rein logisch auszuweisen, gilt in besonderem Maße als solch ein Fall, in welchem die Komplexität des Gedankengangs nur allzu leicht dafür Sorge trägt, dass die Unschärfe der Alltagssprache die Genauigkeit des Beweises beeinträchtigt. Daher betont Frege die Notwendigkeit einer formalen Sprache des reinen Denkens wie folgt: Das Verhältnis meiner Begriffsschrift zu der Sprache des Lebens glaube ich am deutlichsten machen zu können, wenn ich es mit dem des Mikroskops zum Auge vergleiche. Das Letztere hat durch den Umfang seiner Anwendbarkeit, durch die Beweglichkeit, mit der es sich den verschiedensten Umständen anzuschmiegen weiss, eine grosse Ueberlegenheit vor dem Mikroskop. . . . Sobald aber wissenschaftliche Zwecke grosse Anforderungen an die Schärfe der Unterscheidung stellen, zeigt sich das Auge als ungenügend. Das Mikroskop hingegen ist gerade solchen Zwecken auf das vollkommenste angepasst . . . 4 Obwohl die »Formelsprache des reinen Denkens« und die darauf aufbauenden Erweiterungen durch Russells und Whiteheads Principia Mathematica als Beitrag zur Philosophie der Mathematik intendiert sind, zählen sie neben Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus zweifellos zu den wichtigsten Anstößen für den linguistic turn im beginnenden 20. Jahrhundert. Die formale Logik Freges ermöglicht es, philosophische Argumentationen auf ihre syntaktische Grundstruktur herunterzubrechen und so argumentative Fehler nachzuweisen. Innerhalb der Philosophie wird die Ersetzung der Alltagssprache durch eine ideale Sprache zu Zwecken der Wissenschaft in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nur umso dringender, wenn man in Betracht zieht, welche Revolutionen sich in der Physik sowohl durch die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie als auch durch die Quantenmechanik vollziehen. Das intellektuelle Klima jener Zeit, das einerseits durch den im2 3 4 Dies geschieht hier, ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Wer diese Vollständigkeit dennoch sucht, der sei unter den vielen hervorragenden Einführungen zu Freges Werk auf Lothar Kreisers Buch hingewiesen, das an Detailliertheit unübertroffen ist. Siehe Kreiser, Lothar: Gottlob Frege. Leben – Werk – Zeit. Hamburg: Meiner 2001. Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Halle: Louis Nebert 1879, S. IV. Ebd., S. V. Frege 9 mensen naturwissenschaftlichen Erfolg und andererseits durch die Bereitstellung eines exakten Instruments zur Analyse philosophischer Argumentation etabliert wird, bildet die Keimzelle des Wiener Kreises. Der philosophische Zeitgeist greift die systematische Konstellation, in welcher sich die Werke Freges zusammen mit denen Russells, Whiteheads und Wittgensteins befinden, auf und findet beispielsweise in Rudolf Carnap einen Proponenten, der die neuen methodischen Mittel gebraucht, um die kontinentale Tradition der Metaphysik mit ihren Scheinproblemen zu konfrontieren. 5 Der Stillstand der Philosophie, welcher sich im steten Kreisen um die immer selben Probleme ausdrückt, gegenüber dem Fortschritt der Naturwissenschaften kann nun – so sagt der Zeitgeist – relativiert werden, indem philosophische Argumentationen dahingehend untersucht werden, ob sie frei von demjenigen sind, was (im Sinne Freges) nichts zum assertorischen Gang der Argumentation beiträgt oder was (im Sinne Wittgensteins) das Gesagte derart verunstaltet, dass es zum Unsinn wird. Als einer der wirkmächtigsten Trabanten dieser Konstellation in der frühen analytischen Philosophie ist daher der logische Empirismus anzusehen, welcher zunächst in einer Rotation um die Achse Jena /Cambridge entsteht, um schließlich eigenständig zu werden und weite Bereiche der Philosophie im beginnenden 20. Jahrhundert zu prägen. 6 Frege selbst spielt in diesen Zusammenhängen die stille Rolle des Initiators, welcher derweil mit seinen eigenen Problemen kämpft, die sich keineswegs als Scheinprobleme entlarven lassen. Das Erwachsen der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft aus dem Schoße der Philosophie und die darauffolgende Gründung erster psychologischer Institute in den 1870er und 1880er Jahren erwecken den Verdacht, dass die Psychologie zur Leitwissenschaft avanciert, die ihre Thesen und Methoden auf andere Wissenschaftsbereiche ausweitet. Die Naturalisierung des Geistes in Form des Psychologismus, welcher für sich in Anspruch nimmt, klassische Probleme der theoretischen und praktischen Philosophie lösen zu können, kann Frege nur ein Dorn im Auge sein. Der Psychologist deklariert die Gesetze des Denkens – also die Gesetze der Logik – zu wesentlich naturwissenschaftlich erfassbaren Mechanismen, welche in Ergänzung durch sozio-kulturell geprägte psychologische Dispositionen unsere Überzeugungsbildung bestimmen. 7 Frege zufolge drückt sich hier »der verderbliche Einbruch der Psychologie in die Logik« aus, welcher 5 6 7 Carnap, Rudolf: Scheinprobleme in der Philosophie. Hamburg: Meiner 2005. Eine immense Kritik erfährt der logische Empirismus spätestens mit Wilfrid Sellars Kritik am myth of the given. Vgl. sein »Empiricism and the Philosophy of Mind,« in: Feigl, H. & Scriven, M. (Hrsg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 1. Minneapolis: University of Minnesota Press 1956. Vgl. beispielsweise Wundt, Wilhelm: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntiss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Stuttgart: Enke 1880 und Erdmann, Benno: Logik. Logische Elementarlehre. Halle: Max Niemeyer 1892. Freges psychologistischer Gegner 10 Bastian Reichardt dazu führt, dass die Logik als Disziplin nicht mehr auf eigenen Füßen steht, sondern »durch und durch psychologisch verseucht« ist. 8 Der Psychologist zieht demnach eine Analogie zwischen raumzeitlichen Ereignissen in der Außenwelt und den mentalen Vorgängen unserer Überzeugungsbildung – oder wie Frege es ausdrückt: . . . das Wort »Denkgesetz« verleitet zu der Meinung, diese Gesetze regierten in derselben Weise das Denken, wie die Naturgesetze die Vorgänge in der Aussenwelt. Dann können sie nichts anderes als psychologische Gesetze sein; denn das Denken ist ein seelischer Vorgang. Und wenn die Logik mit diesen psychologischen Gesetzen zu thun hätte, so wäre sie ein Theil der Psychologie. Und so wird sie in der That aufgefasst. 9 Wenn es allerdings die Gesetze des reinen Denkens in dem Sinne geben soll, wie Frege sie sich zum Thema macht, so kann es sich dabei nicht um psychologische Dispositionen handeln, die das individuelle Denken lenken, sondern vielmehr um Gesetze, die vorschreiben, wie überall dort gedacht werden soll, wo überhaupt gedacht wird. 10 Freges Grund, auf der Selbständigkeit der Logik zu bestehen, liegt in seiner Diagnose, dass der Psychologist einem fundamentalen Irrtum aufgesessen ist, der sich in der Verwechslung von Wahrheit und Fürwahrhalten ausdrückt: So setzt Herr B. Erdmann . . . die Wahrheit mit Allgemeingültigkeit gleich und gründet diese auf die Allgemeingewissheit des Gegenstandes, von dem geurtheilt wird, und diese wieder auf die allgemeine Uebereinstimmung der Urtheilenden. So wird denn schliesslich die Wahrheit auf das Fürwahrhalten der Einzelnen zurückgeführt. Dem gegenüber kann ich nur sagen: Wahrheit ist etwas anderes als Führwahrgehaltenwerden . . . Es ist kein Widerspruch, dass etwas wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird. Ich verstehe unter logischen Gesetzen nicht psychologische Gesetze des Fürwahrhaltens, sondern Gesetze des Wahrseins. 11 8 9 10 11 könnte uns auch heutzutage wieder in Form neurowissenschaftlicher Forschung begegnen. Der Umstand, dass technische Innovationen wie die funktionale Bildgebung dazu geführt haben, prominente Neurowissenschaftler zu philosophischen Thesen zu verführen, kann durchaus als Wiederbelebung des Psychologismus gedeutet werden. Siehe hierzu etwa Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt /Main: Surhkamp 2002 und Roth, Gerhardt: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1996. Frege: Grundgesetze der Arithmetik. Begriffsschriftlich abgeleitet. Paderborn: mentis 2009, S. XIV. Ebd., S. XV. Vgl. ebd., S. XV. Die Normativität der Denkgesetze wird Frege bis zum Lebensende beschäftigen. Ausdruck dessen sind die Logischen Untersuchungen. Vgl. dafür auch Stuhlmann-Laeisz, Rainer: Gottlob Freges »Logische Untersuchungen«. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. Frege: Grundgesetze der Arithmetik, S. XVf. Frege 11 Besonders die Grundlagen der Arithmetik (1884) und das Vorwort zum ersten Band seiner Grundgesetze der Arithmetik (1893) sind davon geprägt, die Folgen dieser Verwechslung des Psychologisten sichtbar zu machen und als untragbar auszuweisen. Frege geht es hierbei um die Nicht-Überführbarkeit von Rationalität in Kausalität. Jede Reduktion rationaler Verhältnisse auf kausale Bestimmungen ist Frege zufolge mit nicht zu plausibilisierenden Eliminationen verbunden. Gegen den Psychologisten drängt Frege auf das unabhängige Bestehen eines »Reichs der Gedanken«, das weder in eins mit der empirischen Außenwelt noch mit den subjektiven Vorstellungen fällt, jedoch mit der Außenwelt gemeinsam hat, dass es ebenso selbständig besteht und mit den Vorstellungen, dass es nicht in kausale Relationen eingebettet ist. 12 Seinen größten Beitrag zur Sprachphilosophie leistet Frege in den Jahren 1891 und 1892 in Form der Aufsatz-Triade »Funktion und Begriff«, »Über Sinn und Bedeutung« und »Über Begriff und Gegenstand«. Freges Umdeutung des Subjekt /Prädikat-Schemas von Sätzen zu einem Argument / Funktion-Schema erlaubt es ihm, zu zeigen, wie der semantische Gehalt von Sätzen durch den semantischen Gehalt seiner Bestandteile konstituiert wird. In Analogie zu mathematischen Funktionen begreift Frege Prädikate (wie etwa ». . . ist sauer«) als Funktionen, die für sich genommen ergänzungsbedürftig sind und durch die Sättigung durch einen Gegenstand (wie etwa »Die Zitrone«) das Wahre oder das Falsche als Funktionswert liefern. Die Bedeutung von Sätzen ist demnach ein Wahrheitswert. Die Gedanken, welche durch die Sätze »Michael Dummett hat Bücher über Frege geschrieben« und »Gottfried Gabriel gehört zu den Autoren des vorliegenden Buches« ausgedrückt werden, stehen also für denselben Gegenstand: das Wahre. Einen Wahrheitswert an dieser Stelle als Gegenstand zu begreifen, begründet sich durch die berühmte Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, die Frege vornimmt. Offensichtlich können verschiedene Argumente in ein und demselben Funktionsausdruck gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass dadurch ein anderer Funktionswert geliefert würde. Betrachten wir die Funktion ». . . ist die frühere Hauptstadt Deutschlands« und sättigen sie mit verschiedenen Argumenten, wie z. B. in: (1) Bonn ist die frühere Hauptstadt Deutschlands. (2) Die Geburtsstadt Beethovens ist die frühere Hauptstadt Deutschlands. Dass (1) und (2) denselben Wahrheitswert haben, liegt daran, dass sich die Ausdrücke »Bonn« und »Die Geburtsstadt Beethovens« auf denselben Gegenstand beziehen. Der Funktionsausdruck ». . . ist die frühere Hauptstadt 12 Vgl. Frege: »Der Gedanke,« in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1 (1918/19), S. 58–77.